Begegnung nicht Behandlung – Jesus der Heiler

1. Jesus, Heiland oder Medizinmann?

Die Suche nach dem Neuen

Schon die Frage „Ist Jesus Heiland oder Medizinmann?“ erscheint gläubigen Christen als Zumutung. Sie beleidigt den Glauben an die unantastbare Größe und Würde der Gottheit Jesu; denn mit „Medizinmann“ verbinden viele sofort Unseriöses, Zauberei, Magie, heidnischen Aberglauben. Im Zeitalter der Esoterik werden wir jedoch mit solchen Themen konfrontiert, und wir tun gut daran, uns darauf näher einzulassen.
Es fällt auf, daß in den Esoterik - Publikationen, die durchaus ein ernsthaftes spirituelles Anliegen haben, der Name Jesus kaum auftaucht. Unter all den spirituellen Wegen, die heute den Suchenden angeboten werden, wird die Nachfolge Christi nicht einmal erwähnt. Das Christentum, wie es von seinen heutigen Jüngern vertreten wird, muß – so hat es den Anschein – auf Außenstehende eher Abschreckung ausüben, sodaß es als mögliches Lebenskonzept nicht einmal annähernd in Betracht gezogen wird. Fast bei allen Diskussionen um diese Frage wird der obersten Kirchenleitung die Schuld zugeschoben und die Stimmung entsprechend angeheizt. Eine solche Kritik trifft jedoch nicht den Kern der Sache. Es sollte zu denken geben, daß auch die nichtkatholischen Kirchen in den westlichen Industrieländern mit den Problemen des Glaubensschwunds, der Säkularisierung, im Grunde mit ihrer Bedeutungslosigkeit zu kämpfen haben.
Was die Leser von Esoterik – Zeitschriften anzieht, ist die Lebendigkeit und Frische in der Vermittlung des Neuentdeckten, eines oft sogar sensationell anmutenden spirituellen Erfahrungsraumes; das allerdings wird in den üblichen kirchlichen Veröffentlichungen und in der gängigen religiösen Literatur vermißt. Die theologische Begriffswelt erscheint den meisten verbraucht und inhaltsleer – gerade auch die Bezeichnung „Heiland“ und das ihm verwandte Wort Heil; ebenso Gnade, Erlösung, Sünde und Sündenvergebung und vieles mehr, was in kirchlichen Verlautbarungen und Predigten als feststehendes Vokabular der Verkündigung immer wieder zu hören ist.
Aufmerksamkeit und Interesse werden nur dem geschenkt, der seine Aussagen mit der eigenen Erfahrung abdecken kann, wo im Sprechen noch etwas vom Erlebten mitschwingt; nur er kann Zeuge sein für etwas, was weder im Rahmen des modernen rational - wissenschaftlichen Denkens noch in einer auf oberflächlichen, auf Ablenkung ausgerichteten, banalen Lebenseinstellung gefunden werden kann.
Es sollte zu denken geben, daß die Evangelien eine Fülle von Neuheitserfahrung des Religiösen überliefern, daß wir auf Schritt und Tritt Überraschungen begegnen; daß Ungewohntes und Ungewöhnliches den Charakter dieser Schriften ausmacht. Hätten wir Christen unseren Stifter wirklich verstanden – könnte man folgern – so müßten die spirituell Interessierten auch heute nach christlichen Zeitschriften und Büchern greifen und jede Auflage innerhalb kürzester Zeit „vergriffen“ sein. Statt dessen erleben wir das Sterben von kirchlich orientierten Verlagen und deren Produkten. Wenn es den im Neuen Testament beschriebenen neuen Menschen (vgl. 2 Kor 5, 17; Eph 2, 15; 4, 25) auf breiter Basis gäbe, dann würde es nicht fehlen an intelligenten, kraftvollen und wirksamen Ideen zur Lösung der Probleme unserer Zeit.
Um Aufmerksamkeit für Hergebrachtes und Eingeschliffenes, in diesem Fall für die christliche Tradition mit ihren Grundüberzeugungen, zu wecken, ist es kein falscher Weg, das Alte in einem Rahmen zu zeigen, der das Interesse eines großen Publikums schon gefunden hat. Ein solcher ist die Vorliebe vieler für die Naturvölker, die man früher Primitive genannt hatte. Die Anziehung, die von ihnen ausgeht, mag ihren Grund darin haben, daß Esoterisches schon immer fasziniert hat. Eher ist es aber die Enttäuschung über den modernen wissenschaftlichen Fortschritt, der sich als unfähig erweist, die von ihm verursachten Probleme zu lösen. Denken wir an die Zerstörung der Grundlagen menschlichen Lebens auf dieser Erde, der Erwärmung der Umwelt einfach deshalb, weil Menschen Tag für Tag mit technischen Hilfsmitteln leben, arbeiten und auf Reisen gehen. Eine weitere Erwärmung der Erdatmosphäre und der Weltmeere wird gewaltige Veränderungen des Klimas auslösen, und das bedeutet Vernichtung der Lebensgrundlage für viele Völker. Damit gehen Unruhen, Fluchtbewegungen und unüberschaubare Konflikte einher. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, welche Verheerungen die heute vorhandenen Waffen anrichten, wenn es tatsächlich zum Krieg kommt, oder wenn diese in die Hände von vom Wahn Besessenen geraten.
Ohne noch Katastrophen zu erwägen muß man eingestehen, daß der sogenannte Fortschritt menschliche Probleme geschaffen hat, die es in diesem Ausmaß früher nicht gab. Die Anonymität der Großstädte und die Mobilität ist der Nährboden, auf dem Drogenkonsum, organisierte Kriminalität und viele Formen zerstörerischen Verhaltens gedeihen. Entwurzelung und Heimatlosigkeit sind Ergebnisse einer Entwicklung, die den Menschen die Seele genommen hat. Im Bereich der Gefühle, eines gelingenden Zusammenlebens und einer erfüllenden Gestaltung der verfügbaren Zeit erweist sich die vorherrschende zweckrationale Einstellung und Bildung als völlig unzureichend. Was menschliche Beziehungen anbelangt – Partnerschaft und Familie – so scheint es, daß oft gerade die äußerlich Erfolgreichen den Mechanismen der unbewußten Seele besonders ausgeliefert sind. Die Zerbrechlichkeit privaten Glücks zeigt, wie wenig die Menschen ihren tiefsten Wünschen nach Nähe und lebendigem Austausch Dauer verleihen können.
Selbst die medizinischen Leistungen, die das Leben des Einzelnen erheblich verlängern – wovon man früher nur geträumt hatte – schaffen gesellschaftliche Probleme von gewaltigem Ausmaß. Wer wird die alten, gebrechlichen, pflegebedürftigen Menschen versorgen?
Zudem ist auch die moderne Medizin gegenüber Aids und Krebs ziemlich ohnmächtig. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sie in mancher Hinsicht den Menschen mehr beherrscht als ihm dient, wenn sie ein menschenwürdiges Sterben eher verhindert als fördert.

Der Ruf nach dem Heiler

In weitem Umfang ist heute von einer krankmachenden Gesellschaft, Arbeitswelt, Familie, Ernährung und Umwelt die Rede und der Ruf nach dem Heiler erwacht. Es ist sehr aufschlußreich, die genannten Esoterikzeitschriften unter diesem Aspekt zu untersuchen. Eine einzige Ausgabe (1) bringt mehr als zwölf Anzeigen zum Thema „Heilung“ – einmal, wo man selbst Heilung finden kann, und zum anderen, wo man sich zum Heiler ausbilden lassen kann; Angebote von der einfachen Heilpraktikerausbildung über die Wiederentdeckung der Heilpflanzen, über „altorientalische Musiktherapie“, „Reinkarnationstherapie“ bis zur „Reise zu den Geistheilern“ und „Heilen durch den Geist“. Gerade der starke Andrang zur Heilpraktikerausbildung, zum Therapeuten auf den verschiedensten Ebenen, zu Gruppen, wo durch Gebet und Handauflegung Heilungen gesucht wird, läßt den Schluß zu, daß der alte Medizinmann der Naturvölker in unserer Zeit wiedererwacht ist und gewissermaßen als Urbild die Menschen in seinen Bann zieht. Nichts ist in diesem Zusammenhang angebrachter als die alten, entwertenden Vorurteile gegen die Vertreter einer ernsthaften Heilkunst auf anderem kulturellen Hintergrund aufzugeben und die Vorstellungen von Aberglaube und Betrug aus dem Weg zu räumen, weil sie dem ehrlichen Bemühen jener Menschen nicht gerecht werden und echtes Verstehen verhindern.


Der Medizinmann – der Mann der heilenden Kraft

Bei dem Ausdruck „Medizin“ im Sinne der Indianer dürfen wir nicht an Medizinfläschchen denken; es ist die Übersetzung eines indianischen Begriffes, der viel weiter und umfassender ist als unser deutsches Fremdwort. Es bedeutet ungefähr so viel wie heilige, heilende und das Heil bringende Kraft. Die Indianer sagten zu den Kirchen, welche die Weißen gebaut hatten, „Medizinhütten“. In ihrer Vorstellung war das Heilige auch das Heilende; es gab Orte oder man errichtete Hütten, wo sie dieser heiligen und heilenden Kraft begegneten. Es wäre also gar keine verkehrte Motivation würden wir sagen: Am Sonntag gehen wir in die „Medizinhütte“, weil wir uns einer heilenden Kraft aussetzen wollen.
Die Frage, was denn nun ein Medizinmann sei, läßt sich demnach etwa so beantworten: ein Mensch, mit heilenden Kräften, was mehr als Wissen um Krankheiten und Heilkräuter; es ist eine Fähigkeit aus der Mitte seines Wesens, die er sich durch seine ganz persönliche Lebensgeschichte erworben hat. Dazu gehört der Aufenthalt in der Einsamkeit, das Erleben einer großen Vision; ein Ereignis, das mit gewaltigen inneren Krisen und Umbrüchen verbunden ist und das ihn mit der in der Natur und in ihm selbst wirkenden Kraft in Verbindung bringt. Zwei der berühmtesten Medizinmänner unserer Zeit waren Schwarzer Hirsch aus dem Stamm der Sioux, der mit 19 Jahren einen im Sterben liegenden Knaben heilte, und Archie Fire Laime Deer, der zuerst Rodeoclown, Soldat, Polizist und Schäfer war und dann zum „wicasa wakan“, zum heiligen Mann seines Volkes wurde. Er bedauert, daß es keine bessere Übersetzung für Medizinmann gibt, denn er ist Priester, Seher, Arzt und geistiger Führer in einem, also jemand, der mit den existentiell bedeutsamsten Lebensgebieten umzugehen versteht und deshalb um Rat angegangen wird.
Es ist einer ernsten Nachforschung wert, wieviel heilende Kraft unser Christentum noch hat. Gewiß, man kann sich auf Wallfahrtsorte wie Lourdes, Fatima, Altötting berufen; man darf nicht unerwähnt lassen, daß die Heiligen der Kirche mit wunderbaren Heilungen in engster Verbindung stehen, aber Tatsache ist: in der säkularisierten Gesellschaft wird eher außerhalb als innerhalb der Kirche heilende Kraft gesucht. Ob es nicht daran liegt, daß die Menschen den Anschluß an die Tradition, das heißt aber auch zu den eigenen Wurzeln verloren haben und daß noch kein Weg entdeckt wurde, der überzeugend wieder dorthin führen könnte? Wichtiger, als sich auf außerordentliche Erscheinungen zu berufen, wäre es, in unseren ganz gewöhnlichen Gottesdiensten etwas von der heilenden und sinnstiftenden Kraft spüren zu können; wenn. Menschen z.B. durch das dort vorkommende Wort aufhorchen. Eine Aussage kann plötzlich so tief in die Seele fallen, daß sie Tränen der Freude und des Trostes hervorruft.

Ein Arzt kuriert das Symptom, ein Heiler verändert den Menschen

Während die moderne Medizin mit äußeren Mitteln in die physiologischen Abläufe einzugreifen versucht, geht es in der indianischen Heilkunst um die Beseitigung der Ursache, die in der gestörten Weltharmonie gesehen wird. Der Kranke - der einzelne oder auch der ganze Stamm - ist aus dieser Harmonie von Mensch, Kosmos und Schöpfung herausgefallen und muß wieder zurück gebracht werden. Anders ausgedrückt: Die indianischen Heiler verfügen über die Kraft, in die Schichten des Unbewußten einzugreifen, wo Körperliches, Psychisches und Spirituelles einander berühren. Von dorther, vom Seelengrund, geschieht denn auch eine Wandlung des ganzen Menschen.
Ein Amerikaner beschreibt den Unterschied zwischen einem weißen Arzt und einem indianischen Heiler wie folgt: Wenn ich einen Menschen heile, bin ich ein guter Arzt. Wenn ich einen Menschen heile und ihm helfe, seinen Platz im Universum zu verstehen, bin ich ein Heiler. Um es plakativ zu sagen: Ein Arzt heilt das Symptom, ein Heiler verändert die Einstellung zur Krankheit, zum Leben und zum Tod, den ganzen Menschen.
Entscheidend sind die psychischen Vorgänge, die durch eine Heilungszeremonie ausgelöst werden. Der Kranke ist in der Tiefe seiner Existenz herausgefordert, und auf dieser Ebene soll er auch reagieren. Hier berühren sich die ganzheitliche Betrachtung von Gesundheit und Krankheit einer Jahrtausende alten Tradition und die Heilungen Jesu, die wesentlich existentielle Begegnungen sind. Die moderne psychosomatische Medizin spricht heute dem psychisch – geistigen Faktor (wie dem Vertrauen in den behandelnden Arzt, der Bearbeitung von Lebensproblemen, der allgemeinen Atmosphäre) eine reale gesundmachende Bedeutung zu, obwohl die Praxis eher noch von der rein naturwissenschaftlich – technischen Auffassung geprägt ist. Nachgewiesen sind physiologische Zusammenhänge von psychischer Verfassung und dem Immunsystem des Körpers; positive Einstellung stärkt die Abwehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der sogenannte Placebo – Effekt. Dem Patienten wird ein Scheinmedikament verabreicht, welches aber aufgrund des Glaubens daran durchaus positive Wirkungen zeigt. Es ist sogar nachgewiesen, daß Stoffe, die vermeintlich – nicht in Wirklichkeit! – zugeführt wurden, tatsächlich im Blut des Patienten in erhöhter Konzentration vorkommen d.h. daß sie aufgrund seiner Vorstellung vom Körper gebildet werden.


Indianische Heilungen

Sehr beeindruckend ist, wie der schon erwähnte Medizinmann „Schwarzer Hirsch“ aus dem Stamm der Sioux von seiner ersten Heilung erzählt. Er hatte mit elf Jahren eine Vision, wo ihm ein heilendes Kraut gezeigt wurde, das er dann tatsächlich an einer abgelegenen Stelle eines Flusses fand. Genau am Tag, nachdem er die Pflanze gefunden hatte, wurde er, weil seine Berufung zum Heiler bekannt geworden war, zu einem Kranken gerufen. Hören wir ihn selbst:
„Ich war beim Abendessen, als ein Mann mit Namen Schlägt – in – Stücke eintrat und rief: „Hey, hey, hey!“ denn er war in großer Betrübnis. Ich fragte ihn, was der Grund sei, und er berichtete: „Ich habe einen Knaben, der ist sehr krank, ja ich fürchte, er wird bald sterben. Er war schon lange Zeit krank. Sie sagen nun, du habest durch den Pferdetanz und den Heyoka – Ritus große Kraft gewonnen, so könntest du ihn vielleicht retten. Ich hänge so an ihm.“ Ich sagte Schlägt – in – Stücke, wenn er wirklich Hilfe wünsche, so möge er heimgehen und mir eine Pfeife mit einer Adlerfeder bringen. Während er ging, dachte ich darüber nach, was ich tun sollte; und ich hatte Angst, weil ich noch niemanden mit meiner Kraft geheilt hatte. Aber Schlägt – in – Stücke tat mir sehr leid. Ich betete inbrünstig um Hilfe. Als Schlägt – in – Stücke mit der Pfeife zurückkam, sagte ich ihm, er solle sie links von mir herumgeben. Als er dies getan, schickte ich nach Eine Seite, damit er komme und mir beistehe. Darauf nahm ich die Pfeife und ging dorthin, wo der kleine kranke Knabe lag. Mein Vater und meine Mutter kamen mit uns, und mein Freund Stehender Bär war bereits dort.....
Alles war nun vorbereitet, und so begann ich auf der Trommel leise zu donnern, während ich in Abständen eine Stimme aussandte. Viermal rief ich: „Hey – a –a –hey“, und trommelte, während ich den Geist der Welt anrief; und während ich dies tat, fühlte ich, wie die Kraft von den Füßen auf mich durchdrang. Nun wußte ich, daß ich dem kranken kleinen Knaben helfen könne.
Ich sandte weiter Stimmen, immer leise auf der Trommel donnernd, und sprach: „Mein Großvater, Großer Geist, du bist der einzige, und zu keinem anderen kann eine Stimme dringen. Du hast alles geschaffen, so sagen sie, und du hast es gut und schön gemacht. Die vier Viertel und die zwei Wege, die sich kreuzen, hast du gemacht. Du hast auch eine Kraft erweckt, dort, wo die Sonne niedergeht. Die Zweibeiner auf Erden sind in Verzweiflung. Für sie, Großvater, schicke ich eine Stimme zu dir. Du hast zu mir so gesprochen: Die Schwachen werden gehen. Im Gesicht hast du mich zur Mitte der Welt geführt, und dort hast du mir die Kraft der Hingabe gezeigt. Du gabst mir das Wasser in der Schale; durch seine Kraft wird der Sterbende wieder leben. Das Kraut, das du mir gezeigt hast – durch seine Kraft wird der Schwache aufrecht gehen“..........
Ihr habt gehört, ich hatte dies zuvor noch nie getan, und heute weiß ich, daß eine einzige Kraft genug gewesen wäre. Aber ich war so voller Eifer, dem kranken kleinen Knaben zu helfen, daß ich alle Kräfte anrief, die da sind.
Nach Westen hatte ich geschaut, als ich eine Stimme ausschickte. Nun wanderte ich gegen Norden und Osten und Süden, hielt dort an, wo die Quelle allen Lebens ist, und wo der gute rote Weg beginnt. Dort stehend sang ich also:

„Auf heilige Weise mache ich sie gehen.
Ein heilig Volk liegt darnieder.
Auf heilige Weise mache ich sie gehen.
Ein heiliger Zweibeiner liegt darnieder.
Auf heilige Weise wird er gehen.“

Während ich dies sang, empfand ich in meinem ganzen Leibe etwas Seltsames, etwas, das in mir das Verlangen weckte, über alle unglücklichen Geschöpfe zu weinen, und Tränen rannen über mein Gesicht.
Jetzt ging ich gegen den westlichen Weltteil, zündete dort die Pfeife an, bot sie den Mächten dar, und, nachdem ich einen Zug getan, gab ich sie weiter herum.
Als ich den kranken kleinen Knaben wieder ansah, lächelte er, und ich konnte fühlen, daß meine Kraft zunahm.
Ich nahm zunächst die Wasserschale auf, trank ein wenig und ging hinüber zu der Stelle, wo der kranke kleine Knabe lag. Vor ihm stehend, stampfte ich viermal auf die Erde. Darauf legte ich meinen Mund auf seine Magengrube und blies durch ihn den reinigenden Wind des Nordens. Dann kaute ich etwas von dem Kraut und legte es in das Wasser, darauf blies ich ein wenig davon auf den Knaben und nach den vier Weltgegenden. Die Schale mit dem Rest des Wassers reichte ich der Jungfrau; diese gab es dem kranken kleinen Knaben zu trinken. Hierauf sagte ich der Jungfrau, sie solle dem Jungen aufstehen helfen und mit ihm im Kreise gehen, im Süden, an der Quelle des Lebens beginnend. Er war sehr elend und sehr schwach, doch mit der Jungfrau Hilfe tat er das.
Dann ging ich fort.
Am folgenden Tag kam Schlägt – in – Stücke und berichtete mir, sein kleiner Knabe befinde sich besser, er sitze aufrecht und könne wieder etwas essen. Vier Tage später ging er wieder herum. Er wurde gesund und lebte bis zum dreißigsten Jahr.
Schlägt – in – Stücke gab mir ein gutes Pferd für diesen Dienst. Aber ich würde freilich immer umsonst geholfen haben“ (2).
Ergreifend ist das Gebet des jungen Medizinmannes: Da ist nichts von Magie, welche das Numinose herbeizwingen will; auch nichts von Scharlatanerie oder einem zauberischen Hokuspokus zu finden, sondern einzig und allein die demütige Bitte an den Großen Vater um Erbarmen für Menschen in Verzweiflung.
Was den Kranken heilt, ist nicht eigenes Können, sondern die Kraft der Hingabe, die sich im Wasser und in der gefundenen Pflanze ausdrückt. Heilung ist ein Geschenk des Großen Geistes bzw. der Mächte, die die Welt leiten.  Schwarzer Hirsch sieht sich selbst als jemand, dem die Gnade zuteil wurde, in die Mitte der Welt geführt zu werden. Weiter fällt auf, wie durch das Trommeln und das Singen seine Kraft zunimmt, wie ihn aber auch das Mitleid mit allen unglücklichen Geschöpfen überkommt. Der letzte Akt besteht darin, daß er die Seele des Kindes symbolisch an die Quelle des Lebens führt, in die Mitte der Welt, deren Zeichen das heilige Kraut und das heilige Wasser sind. Vom Ursprung her soll das gestörte Verhältnis von Mensch und Kosmos, von Seele und Leib wieder geordnet werden.


Der kraftlose Heiland – Jesus der Mann der Kraft

Auf dem Hintergrund eines durchaus glaubwürdigen Berichts über indianische Heilungen drängt es einen, den Blick auf Jesus und den ihm verliehenen Titel „Heiland“ zu werfen. Während – wie schon gesagt – der Archetyp des Medizinmannes heute Menschen in seinen Bann zieht, ist die Anziehung des „Heilands“ ziemlich erloschen. Nicht einmal bei Kommunionkindern reicht es, daß sie auch die Sonntage nach dem großen Fest ihre abgelegten Treuegelöbnisse halten. Das Bild des Heilandes hat offensichtlich seine Kraft verloren.
Wir werden an Darstellungen vom „lieben Heiland“ erinnert, der mit seinen allzu gütigen und milden Gesichtszügen und dem offenen Herzen eine eher abstoßende Gestalt aus einer fremden, irrealen Welt darstellt; der nicht nach einem Hohenpriester aussieht, „der mitfühlen könnte mit unseren Schwächen und der in jeder Hinsicht auf gleiche Weise versucht wurde“ (Hebr 4, 15).Der Heiland, wie er uns seit dem 19. Jahrhundert vermittelt wurde, ist freundlich und lieb, aber irgendwie kraftlos geworden; wir trauen es ihm nicht zu, auch die verworrenen, oft verdunkelten und beschämenden Anteile unserer Persönlichkeit zu verstehen und anzunehmen.
Ganz anders ist jedoch der Eindruck, den eine Christusikone des 11. Jahrhunderts auslöst (3). Das Gesicht trägt ernste, ruhige, besonnene Züge, die trotzdem etwas von Leichtigkeit an sich haben. Die dunklen Augen scheinen einen Blick in die Tiefe freizugeben, in der „Christus dem Drachen das Haupt zerschlagen hat“, wie es in der Liturgie von der Taufe Jesu heißt. Einen solchen Heiland könnten wir uns als sicheren Begleiter vorstellen, wenn die Fluten der Angst und Verzweiflung über uns zusammenschlagen. Einem solchen Retter – Heiland ist die deutsche Übertragung des hebräischen, griechischen und lateinischen Wortes für Retter – könnten wir uns anvertrauen, wenn wir in Dunkelheiten unseres Lebens verwickelt sind.


Jesus, der Heiler

Zunächst müssen wir uns noch einmal den Wunderheilungen Jesu zuwenden. Sie gehören zum Wesentlichen seines Wirkens. Nach dem Evangelisten Matthäus sieht Jesus selbst sie als Zeichen, daß mit ihm die Messiasherrschaft angebrochen ist. „Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: „Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote stehen auf, und Arme empfangen die Frohe Botschaft.“ Selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ (Mt 11,4 - 6).
Nun ist es aber so, daß sich die Menschen unserer Zeit gerade an jenen Ereignissen reiben.
Als bei einem Gottesdienst mit jungen Leuten eine Heilungsgeschichte zu hören war, brachte ein Schüler seine Skepsis mit der Frage zum Ausdruck; was es denn soll, ein solches Märchen vorzulesen? Woran liegt es, daß von heutigen Menschen das Wunderbare, das Außerordentliche, das ehemals zum Glauben geführt hat, eher als Hindernis erfahren wird?
In den älteren katholischen Bibelkommentaren werden die Heilungswunder Jesu als Beweis seines göttlichen Auftrags und seiner Gottesherrschaft gesehen. Kritische Menschen unserer Tage können diesem Gedankengang nicht folgen. Es kann sogar sein, daß Wunder Jesus in weite Ferne rücken einmal, weil solche Erscheinungen nicht in das wissenschaftliche Weltbild passen; man müßte ja seinem gesunden Menschenverstand abschwören, wenn man das glauben wollte, meinen viele.
Gerade weil die Wunder als Aufhebung der Naturgesetze in göttlicher Vollmacht verstanden wurden und als Begründung des Absolutheitsanspruchs und als Beweis der Gottheit Christi dienten, hat sich für viele um die außerordentlichen Ereignisse im Leben Jesu eine unüberwindbare Sperre aufgebaut. Selbst im Raum der Theologie ist man heute bestrebt, das „Ärgernis der Wunder“, die eher als Hindernis denn als Stütze des Glaubens empfunden werden, möglichst zu reduzieren im Sinne der Aufklärung, die sogenannte übernatürliche Vorkommnisse auf natürliche Ursachen zurückzuführen versucht. Zudem betrachtet die historisch – kritische Exegese die Heilungsgeschichten eher als Aussagemittel der frühchristlichen Verkündigung denn als historische Berichte.
Bei aller kritischen Forschung steht doch fest, daß vieles von dem, was von den Schamanen (Medizinmännern) gesagt wurde, auch auf Jesus zutrifft. Heilende Kraft, Visionen, Heilung und Wandlung des ganzen Menschen, Wiederherstellung der Einheit von Mensch und Gott sind Elemente, die im Leben Jesu als zentrale Ereignisse vorkommen. Die Heilung eines Gelähmten (Lk 5,17 - 26) wird eingeleitet mit dem Satz: „da überkam ihn die Kraft des Herrn zu heilen“(Lk 5,17). Und noch an vielen anderen Stellen ist davon die Rede, daß eine Kraft von ihm ausgeht, die heilt (Lk 6, 19), und, daß er dieses Ausgehen spürt (Lk 8, 46). Auch Jesus hatte zu Beginn seines Wirkens eine Vision, die ihm die innigste Nähe zu Gott und damit zur Mitte der Welt aufzeigte (Mk 1,11). Auch er ging in die Stille der Wüste und setzte sich dem Umgang mit den wilden Tieren aus (Mk 1, 12).
Es fällt auf, daß Jesus, bevor er den Gelähmten zum Aufstehen auffordert, die Vergebung der Sünden ausspricht (Lk 5, 20). Sünde ist aber ein anderes Wort für die Störung der Harmonie mit Gott, mit sich selbst und mit der Welt um sich herum. Darauf weist auch die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes „Hamartia“ hin, was nichts anderes als Verfehlung heißt.
Die Parallelen zwischen Jesus und den indianischen Heilern müssen unseren Glauben an die Gottheit und Einmaligkeit Jesu nicht entwerten. Sie sind eigentlich nur der konsequente Ausdruck für die Menschwerdung Gottes, für die Tatsache, daß sein heilendes Tun die Gestalt der Menschen annahm (Phil. 2, 7).
Es geht nicht darum, das Wirken nichtchristlicher „Wundertäter“ in Konkurrenz zu Jesus zu sehen; vielmehr ist es hilfreich, auf der menschlichen Folie eines indianischen Schamanen die Wunder Jesu unserem Verstehen zu öffnen, indem aufgezeigt wird, daß die seelische Kraft über physiologische Abläufe auf den Körper Einfluß hat.
Wir sollten weniger abstrakte theologische Begriffe in den Vordergrund stellen, sondern (wie z.B. Schwarzer Hirsch) vom einfachen Erleben ausgehen und erhöhte Aufmerksamkeit auf das seelische Geschehen lenken; nämlich darauf, was in den Menschen um Jesus und in ihm selbst vorgeht; wie sich Angst und Schmerz in Zuversicht und Freude umkehren; wie sich emotionale Abläufe gegenseitig beeinflussen.
Wir werden den Heiligen Schriften dann gerecht, wenn wir uns wie Jesus für das Schicksal der Menschen interessieren und fragen, was sich denn in ihnen abspielte, als sie von Jesus geheilt wurden. Wenn wir die Menschwerdung Gottes ernst nehmen, dann müßte es auch möglich sein, uns in Jesus selbst hineinzudenken. Allerdings setzt dies einen Erlebnisraum voraus, der dem von Jesus wenigstens annähernd ähnlich ist. Wir müssen vermeiden, mit theologischen Fachausdrücken wie „göttliche Vollmacht“, „Messianität“, „Königsherrschaft Gottes“ die Geschehnisse erklären zu wollen und dabei Unverständnis zu ernten; denn solche Begriffe bedürfen selbst der Erklärung, mehr noch der Erfahrung.

Glaube – die Innenseite der Wunder

Es führt nicht weiter zu diskutieren, ob bei den Wundern Jesu Naturgesetze aufgehoben wurden, oder zu beweisen, daß Jesus mit der Allmacht Gottes ausgestattet war. Gerade eine Argumentation dieser Art löst Widerstände aus. Besser ist es, die Innenseite dieser Ereignisse anzuschauen, und damit öffnet sich auch das Innere unserer Gesprächspartner. Das zentrale Wort für das Gemeinte heißt in den Evangelien: Glaube.
Den Glauben, den die Evangelien meinen, können wir etwa so umschreiben: Es öffnet sich ein Raum zwischen Jesus und den Hilfsbedürftigen und denen, die mit ihm gehen, in dem die Beteiligten aufatmen und sich wohl fühlen. Wir können auch heute erleben, daß die Anwesenheit eines Menschen oder die Atmosphäre einer Gruppe einfach gut tut, in der wir uns sicher erleben, wenn wir sagen, wie es um uns steht; wo Blockaden sich lösen und auch über Bedrückendes ausgesprochen werden darf; wo wir Überzeugungen austauschen können; in der die Gewißheit, in allem, was uns wichtig ist, verstanden zu werden. Es ist eine Nähe und Durchlässigkeit von Person zu Person, die auch körperliche Berührung miteinschließt; so wenn Jesus dem Taubstummen die Hand auflegt, sogar seinen Speichel in dessen Mund legt (Mk 7, 32 – 37) und wenn er sich selbst von einer Frau mit schlechtem Ruf die Füße küssen und sie mit ihren Tränen und ihrem Haar bedecken läßt (Lk 7, 36 – 50).
Dabei sollte bedacht werden, daß Tränen und aufgelöstes Haar Ausdruck intensivster Emotionalität und höchster existentieller Bewegtheit sind. Jesus läßt sich die körperliche Berührung gefallen, weil er die Offenheit ihres Wesens spürt. Was zwischen ihm und der Frau geschieht, nennt Jesus Glaube.
Denken wir auch an die Heilung eines gelähmten Mannes in Kapharnaum (Mk 2, 1 - 12), der blutflüssigen Frau und an die Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers (Lk 8,40 - 56), an die Heilung des blinden Bartimäus (Lk 18,35 - 43) und an die vielen anderen Perikopen, so ist die Antwort auf die Frage nach dem entscheidenden Moment des wunderbaren Ereignisses der eine Satz Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ (Lk 18,42).
Es herrscht heute allgemeines Einverständnis, daß es sich dabei nicht um dogmatischen Glauben handelt, etwa in dem Sinn, daß die Geheilten an die Gottessohnschaft Jesu geglaubt hätten, sondern es geht um einen ganz und gar existentiellen Vollzug im Sinne von Vertrauen. Selbst dieser Begriff ist schon zu häufig gebraucht und bedarf einer Entschlüsselung.


Begegnung nicht Behandlung

Vieles von dem, was hier mit Glaube umschrieben wurde, hat seine Entsprechung in dem von Martin Buber geprägten Begriff der Begegnung.
Für Buber ist die pädagogische Begegnung, die Ich - Du Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, Grundlage pädagogischer Einwirkung. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung,“ so Buber wörtlich, ..... der andere muß nur in seiner Potentialität erschlossen werden und zwar im wesentlichen nicht durch Belehrung, sondern durch Begegnung, durch existentielle Kommunikation zwischen einem Seienden und einem Werdenkönnenden (4).
Übertragen auf die Situation Jesu und der Menschen, mit denen etwas geschah, bedeutet das: Jesus hat wesentlich durch existentielle Kommunikation auf die Menschen eingewirkt, also nicht nur mit Worten, sondern mit der Tiefe seiner Existenz. Die Worte kamen aus den Wurzeln seines Wesens und haben Menschen in ihrem Sein angesprochen, aufgerüttelt und bewegt. „Und es geschah, als Jesus diese Reden vollendet hatte, da waren die Scharen außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten“. (Mt 7,28). So berichtet Matthäus über die Reaktion der Menschen auf die Bergpredigt und bestätigt, daß hier nicht Belehrung (im Sinne einer Wissensvermittlung), sondern Begegnung stattfand.
Begegnung ist einerseits die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung und andererseits die Wirkung zweier von einander unabhängiger Personen auf einander. Die gegenseitige Anregung und Herausforderung schafft bei beiden etwas Neues; es ist ein Geben und Nehmen auf der Ebene existentieller Betroffenheit.
Der eine wird buchstäblich von dem getroffen, was den (die) ander(e)n bewegt, und in ihm bricht etwas auf, was wieder zurückwirkt. Es geschieht auf einer Basis, auf der wir selbst nicht unmittelbar handeln, sondern eher nur zulassen können. Es ist dann immer die Frage: Was bei dem (der) einen löst was beim (bei der) anderen aus? Innere Ergriffenheit von etwas Großem, Erhabenen und Schönem - wir können auch sagen vom Religiösen - überträgt sich in einer guten Beziehung von selbst, besonders auch vom Redner auf die Zuhörer.
Wenden wir das Gesagte auf Jesus und die leidenden und hoffenden Menschen von damals an, dann heißt das: Die innere Befindlichkeit Jesu, die geistige Kraft seiner Persönlichkeit, sowie sein Berührt – und Gehaltensein von Gott, sein Heilsein wirkte sich auf die aus, die sich ihm öffneten. Eine personale Begegnung zeichnet sich dadurch aus, daß der eine den anderen an seiner inneren Welt teilhaben läßt. So wie sich für Jesus bei seiner Taufe der Himmel öffnete und er die volle Annahme und Einheit mit Gott erfuhr („Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“), so tat sich auch für jeden, der Jesus im Glauben begegnete, der Himmel auf, d.h. das Glück der vollen Bestätigung und Annahme. Denken wir an den Zöllner Zachäus, den Jesus aus seiner Isolierung herausholt. Durch die Freude, die ihm widerfuhr, wurde er total verwandelt. Er konnte auf die Hälfte seines Vermögens verzichten und Betrügereien wieder gut machen. Er war von seiner Habsucht geheilt (Vgl. Lk 19, 1 – 20).


Heilung verlangt den vollen Einsatz (Lk 8, 43 – 48)

Bei den Begegnungen Jesu mit den Leidenden interessiert, was auf der einen Seite - nämlich von den Hilfe – Suchenden - und was auf der anderen Seite – von Jesus – eingebracht und bewirkt wird.
Seitens der kranken, gestörten, von Leid heimgesuchten Menschen geschehen Erschütterungen, Einbrüche bis zu Todesnöten und vollste Hinwendung zu Jesus als einem letzten Rettungsanker; und er reagiert mit dem Grad an Zuwendung, mit dem er angesprochen wird.
Es sei noch einmal die Frau erwähnt, die im Gedränge Jesus berührt, um geheilt zu werden. (Vgl. Lk 8,43 - 48). Sie riskiert alles, sogar die Möglichkeit, vom Meister zurückgewiesen und als Gesetzesübertreterin bloßgestellt, eventuell sogar gesteinigt zu werden.
Erinnern wir uns an den blinden Bartimäus, der buchstäblich um sein Leben schrie gegen den Lärm und die Zurückweisung der Umstehenden und auf die Gefahr hin, dem Meister lästig zu fallen. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Frau aus Syrophönizien (Mk 7,24 - 30, Mt 15,21 - 28). Sie, die gar kein Recht auf Jesu Wohltat hatte, drängte sich ihm auf, angetrieben von ihrem Schmerz, und diese Tat hat er ihr, genauso wie dem Blinden von Jericho, als Glaube bestätigt.
Was die Menschen in die Begegnung mit Jesus einbringen und was seine positive Reaktion auslöst, ist der Einsatz aller Kräfte und aller Aufmerksamkeit auf den einen Punkt hin, daß Jesus helfen kann. Es geht buchstäblich um alles oder nichts; es ist ein Einsatz, wo man alles gewinnen oder verlieren kann.
In der mittelalterlichen Alchemie, deren psychologische Bedeutung C. G. Jung erschloß, gab es den Spruch: Die Kunst erfordert den ganzen Menschen; es ist die Prozedur der Wandlung von Blei zu Gold oder die Herstellung des Steins der Weisen gemeint. Dem tieferen Sinne nach geht es aber um die Wandlung des Meisters, welcher die Prozedur ausführt. Den von der Alchemie geprägten Satz kann man deshalb so interpretieren: Die Wandlung und das Heilwerden als das letzte, kostbarste aber nur schwer zu erreichende Ziel erfordert ganzen Einsatz, alle Aufmerksamkeit und alle Kräfte; genau das, was Jesus als Glaube gelobt hat.
In einem gewaltigen Aufstand des Inneren, wie er in manchen dramatischen Szenen in den Evangelien geschildert wird (Vgl. die Heilung des mondsüchtigen Knaben Mt 17,19 ff), verdichtet sich alle Energie auf einen Punkt hin und schafft damit die Voraussetzung für eine endgültige innere Einheit, d.h. Heilung.
Erst, wenn wir uns ganz bewußt dem Leidensdruck stellen und die Zerrissenheit aushalten, erreichen wir den Wendepunkt, wo schöpferische Keime geweckt werden.
Das bedeutet für uns, die Verantwortung für unsere Befindlichkeit voll und ganz selbst übernehmen zu müssen, wenn wir Heilung von Gott erlangen wollen, und nicht andere, die Eltern, den Lebenspartner, die Gesellschaft, die Kirche für unser Unglücklichsein zu beschuldigen. Jesus stellte dem Gelähmten am Teich Bethesda, der seit 38 Jahren sein Gesundwerden von der Zuwendung anderer abhängig machte, die Frage: „Willst du gesund werden?(Joh 5, 6). Man müßte den Satz als banal empfinden – welcher Kranke möchte nicht gesund werden? –, würde nicht die Aufforderung folgen: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Damit sagt Jesus zugleich: Nimm dein Schicksal (Joh 5, 8) selbst in die Hand! Mach dich nicht abhängig vom guten oder schlechten Willen anderer, von deren Stimmung und Launen!


Der verwundete Heiler

So wie es auf der Seite der Kranken und Leidenden Bedingungen für eine Heilung gibt, so hat auch das heilende Tun Jesu seinen besonderen Charakter. Hier dürfen wir durchaus eine Parallele sehen zu den Bedingungen und Anforderungen, die eine ernstzunehmende Psychotherapie an den Therapeuten stellt. Nach C. G. Jung sollte der Arzt der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner ganzen Persönlichkeit entgegentreten. Im Fall einer seelischen Krankheit ist das Mittel der Heilung kein anderes als der Arzt selbst; daß dies auch für den Seelsorger gilt, sei nebenbei nur kurz angemerkt. Das heilende Moment beginnt dann, wenn der Heiler anfängt, sich für den Leidenden ganz persönlich zu interessieren. Die Ärzte werden sogar aufgefordert zu fragen, welche Botschaft der Patient für sie selber bringt. „Was bedeutet er für mich? Wenn der Patient nichts für mich bedeutet, habe ich keinen Angriffspunkt. Nur wo der Arzt selber betroffen ist, wirkt er. „Nur der Verwundete heilt“... (5).
Wie war das nun mit Jesus? Er war der verwundete Heiler schon lange, bevor ihn römische Soldaten folterten, sogar noch bevor er an die Öffentlichkeit trat.
Die Versuchungsgeschichten und der Aufenthalt in der Wüste bei den wilden Tieren, die Auseinandersetzungen mit dem Teufel können nur andeuten, daß auch er zu den Leidenden gehörte und wußte, was es heißt, isoliert, unverstanden, „aussätzig“ d.h. draußen, ausgestoßen und von Dämonen bedroht zu sein. Er selbst mußte durch Dunkelheit, Ängste, Zweifel und Einsamkeit.
Bei seiner Taufe, so berichtet Markus, öffnete sich der Himmel (Vgl. Mk 1,10) und wir dürfen hinzufügen: auch die Hölle; denn wer vom Teufel persönlich geplagt wird, für den tun sich nicht nur die Verlockungen, sondern auch die Schrecken der Hölle auf. Mit Himmel und Hölle sind intensivste Erfahrungen der Nähe und der Ferne Gottes gemeint, wie sie uns auch von großen Mystikern überliefert sind. Der heilige Ignatius erlebte beides in einer solch verwirrenden Fülle, daß er Kriterien zur Unterscheidung der Geister entwarf. Wer einen Menschen in seinem Prozeß begleitet, muß deshalb über Umsicht und Durchblick verfügen, daß er in der Enge der Beziehung nicht in jedes Loch mit hineintappt; daß er nicht von Gefühlen, die den anderen in Beschlag genommen haben, angesteckt und ebenso überwältigt wird; er muß den dargebotenen Konflikt, biblisch gesprochen den Dämon, in sich schon überwunden haben.
Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, daß Jesus diese Eigenschaften besaß; überragende Kraft ist das wesentliche Kennzeichen seiner Persönlichkeit. Besonders Markus schildert ihn als den, der die Dämonen herausfordert und ihnen überlegen ist (Vgl. Mk 1,21 - 28, Mk 3,22 - 30). Jesus macht die Tatsache, daß er stärker ist, durch das Gleichnis vom Hausherrn und Einbrecher deutlich. Wenn der Wächter trotz all seiner Rüstung überwältigt wird, zeigt sich, daß der Räuber doch der Stärkere ist. Damit will Jesus sagen: Wenn schon offenkundig ist, daß der Dämon besiegt wurde, sollten die Schriftgelehrten auch zugeben, daß er die Macht hat, und ihn als den Mächtigeren anerkennen (Vgl. Mt 12,29, Mk 3,27, Lk 11, 21 - 22).
Hierin unterscheidet sich Jesus von den Schamanen, in denen die Angst vor bösen Geistern und deren unberechenbarem Treiben nicht erlischt.


Der bedingungslose Einsatz Jesu

Jesus erfüllt – so viel kann man sagen – jene Forderung Jungs, daß der Psychotherapeut der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner eigenen Persönlichkeit entgegentreten müsse; daß die persönliche Ausstrahlung des Therapeuten die heilende Kraft weckt und daß in der Heilkunst allein die schöpferische Persönlichkeit das Entscheidende ist (6).
Es lohnt sich genau hinzuschauen, wie Jesus auf die Bitten der Hilfesuchenden reagiert, wie er sich in die Begegnung eingebracht hat. Markus berichtet von der Heilung eines Aussätzigen: „Da kam ein Aussätziger zu ihm, fiel auf die Knie und bat ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Voll Erbarmen streckte er die Hand aus und sprach zu ihm: Ich will, sei rein.!“ (Mk 1,40 - 45). In einer anderen Textüberlieferung steht statt „er erbarmte sich“ (splagnistheis) „er geriet in Zorn“. Nach einer Regel der Textkritik sollte man die schwierigere Lesart bevorzugen. Drewermann meint, es sei wahrscheinlicher, daß beide Lesarten auf ein und dasselbe hebräische (oder aramäische) Wort zurück gehen, das ursprünglich „wejaham - „er erhitzte sich“ lautete. Und er bemerkt dazu: „In jedem Falle wird deutlich, welch einer inneren Anspannung es bedarf, um sich auf eine Wunderheilung einzulassen.“ (7). Zugleich sollten wir nicht außer Acht lassen, daß das Wort „er berührte ihn“ etwas von der bedingungslosen Zuwendung Jesu zum Kranken aussagt. Einen Aussätzigen zu berühren ist mehr als eine wohlwollende Geste; es wird hier eine Barriere durchbrochen, welche die Angst der Menschen errichtet und welche einen Kranken seines Menschseins beraubt hat. Berühren bedeutet in diesem Fall, daß eine Art Einheit und Gleichheit des Heilers mit dem Leidenden geschaffen wird.
Ganz auf dieser Linie liegt auch das Bekenntnis des hl. Franziskus in seinem Testament, daß er durch die Begegnung mit den Aussätzigen ein anderer Mensch wurde. „Als ich in Sünden lebte, kam es mich sehr bitter an, Aussätzige zu sehen. Aber der Herr selbst führte mich unter sie, und ich erwies ihnen Barmherzigkeit. Als ich von ihnen ging, ward mir dasjenige, was mir vorher bitter vorgekommen war, in Süßigkeit für den Geschmack des Leibes und der Seele verwandelt“(8).In diesem Zusammenhang dürfen wir auch die Stelle sehen, wo Jesus einen Taubstummen gesund macht. (Vgl. Mk 7,31 - 37). Die Berührung von Ohren und Mund ist weniger ein magischer Ritus als vielmehr ein Zeichen, daß Jesus diesem Menschen einen Raum der Nähe und Geborgenheit bietet und sich mit ihm so sehr gleichsetzt, daß er an seiner Stelle seufzt.
Es ist auch wichtig, sich die innere Bewegtheit Jesu beim Tod seines Freundes Lazarus und bei der anschließenden Auferweckung vorzustellen. Bei Johannes 11, 33f lesen wir: “Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die mit ihr kommenden Juden weinten, wurde er im Geiste tief erschüttert und voll innerer Erregung sprach er: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ Sie antworteten ihm: „Komm, und sieh!“ Jesus weinte. Abermals wurde Jesus in seinem Innern erschüttert und ging zum Grab.“ (Joh 11,33,35,38). Selbst wenn man die Einwände der modernen Forschung gegen die Historität dieser Erzählung gelten läßt, so dürfte doch die Schilderung der Gemütsbewegung Jesu der historischen Wirklichkeit entsprechen: tiefe Erschütterung, innere Erregung, Weinen um den Tod eines Freundes.
Ein weiterer Hinweis, wie sehr sich Jesus für das Schicksal von armen und unglücklichen Menschen eingesetzt hat, sind die Heilungen am Sabbat (Vgl. Mt 12,9 - 14, Lk 13,10 - 17, Lk 14,1 - 6). Er riskiert die Feindschaft der religiösen Obrigkeit, sogar sein Leben zu verlieren.
Fassen wir noch einmal zusammen, was Jesus in die Begegnung mit leidenden Menschen eingebracht hat: er ließ sich vom Schmerz der Menschen aufwühlen; er stellte sich mit dem ganzen Einsatz seiner Person dem Schicksal dieser Menschen entgegen; er bot einen Raum der vollen Sicherheit und Geborgenheit; er zeigte, wie viel mehr ihm ein Mensch wert war als das Gerede der Leute, als die Auffassung einer starren Tradition, als die Meinung der religiösen Obrigkeit, als die Drohungen, die an sein Leben gingen.
Jesus hat dem Menschen in Not wohl vermittelt: „Ich bin ganz für dich da. Dein Schicksal und das deines Kindes ist für mich so viel wichtiger als mein eigenes Leben“. So wie sich die Hilfesuchenden ganz in ihren Hilfeschrei und in das Vertrauen fallen ließen, so hat ihnen Jesus mit seiner ganzen Existenz geantwortet.
In seinem Vortrag auf der evangelischen Pastoralkonferenz, 1932 in Straßburg, erklärt C. G. Jung den versammelten Seelsorgern, daß ein Arzt bzw. Seelsorger die Seele nur führen oder begleiten könne, wenn er mit ihr Fühlung habe. Diese Fühlung kommt nie zustande, wenn der Arzt verurteilt. Genauso wenig dürfe er dem Patienten gegen die eigene Überzeugung in allem unbesehen Recht geben. „Fühlung, d.h. das Einschwingen des eigenen Empfindens in das des anderen, entsteht nur durch vorurteilslose Objektivität... es ist etwas Menschliches,  etwas wie eine Hochachtung vor der Tatsache, vor dem Menschen, der an dieser Tatsache leidet, vor dem Rätsel eines solchen Menschenlebens. Der wahrhaft religiöse Mensch hat diese Einstellung. Er weiß, daß Gott allerhand Wunderliches und Unbegreifliches erschaffen hat und auf den allerabsonderlichsten Wegen des Menschen Herz zu erreichen sucht. Deshalb fühlt er in allen Dingen die dunkle Gegenwart des göttlichen Willens. Unter „vorurteilsloser Objektivität“ meine ich diese Einstellung“ (9). Wir dürfen annehmen, daß Jesus dieser religiöse Mensch war, und sogar jeden noch so bemühten Arzt übertroffen hat. Hinter den dürftigen Worten: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden“ (Lk 8,48) verbirgt sich jene Einstellung, die Jung mit seelischer Fühlung, Hochachtung vor dem Schicksal des einzelnen und Erahnen des Willens Gottes bezeichnet, und wir dürfen hinzufügen, daß sie mit ihrer Kraft bis in unsere Zeit herein leuchtet.
Die Wunderberichte sind Geschichten von äußerster Not, von tiefsten Erschütterungen, von dramatischen Ereignissen, mit denen Jesus sich konfrontieren läßt und die er zum Guten führt. In ihm ist die Intensität und Fülle der Kraft, mit welcher er die bedrohte Existenz der Hilfesuchenden auffängt.
Die Heilungen des Neuen Testaments sind mehr als Erfolge, die auch gute ärztliche Kunst mit den Methoden moderner Medizin hätte leisten können. Sie sind Neuheitserfahrungen, welche den eingeschliffenen Mechanismus der sich wiederholenden Enttäuschungen durchbrechen, die Grundeinstellung eines Geheilten umkehren und in ihm die Gewißheit wecken: mit dem Namen Jesus ist Verstehen, Nähe, Zuversicht, Fülle und Freude verbunden, und im Aussprechen dieses Namens ist eine Kraft, welche Verzweiflung, Einsamkeit, Angst und Sinnlosigkeit überwindet.

2. Jesus – tiefenpsychologisch

Verwirrungen um die Tiefenpsychologie

Mit dem Wort „tiefenpsychologisch“ verbindet sich in theologischen Kreisen zur Zeit viel Skepsis, Unsicherheit, Zurückhaltung, wenn nicht Ablehnung, vor allem aber Verwirrung. Im Mittelpunkt steht der Name Eugen Drewermann. Als er vor mehr als zehn Jahren mit seiner tiefenpsychologischen Schriftauslegung an die Öffentlichkeit trat, weckte er gewaltiges Interesse - sogar beim nichtkirchlichen Publikum. Mit seinem Ausscheiden aus dem kirchlichen Lehrbetrieb scheint auch der von ihm vertretene Ansatz eines neuen Zugangs zur Hl. Schrift, zur Person Jesu und zum Glauben der Vergessenheit anheimzufallen. Es entstand der Eindruck, daß die Tiefenpsychologie auf diesem Gebiet doch nicht brauchbar, ja sogar ein Irrweg sei. Von dem, was Drewermann vermitteln wollte, ist meist nur die Lehre von den Archetypen angekommen, welche hinter den als symbolisch zu bezeichnenden Berichten über die Auferstehung Jesu stünden. Eine solche Auffassung entwertet natürlich die Zeugnisse der Jünger, so Rudolf Schnackenburg (10).
Doch Eugen Drewermann vertritt nicht die ganze Tiefenpsychologie, in seinem Grunddenken folgt er der Linie Sigmund Freuds. Ansätze C. G. Jungs wie die der Archetypen gebraucht der Paderborner Theologe nach eigenem Ermessen. Selbst wenn man für Eugen Drewermann Sympathien hat, muß man eingestehen, daß ihm eine harmonische Verbindung von Tiefenpsychologie und Glaube nicht gelungen ist. Der Grund darf in der erwähnten Fixierung Drewermanns auf Freud, welcher die Welt des Religiösen ausschloß, vermutet werden. Hingegen sind für Jung die religiösen Erscheinungen eine Fundgrube bei der Erforschung der unbewußten Seele. Er nimmt sie als solche ernst und sieht in den religiösen Fragen seiner Patienten den Ausdruck der geistig – transzendenten Seite des Unbewußten.
Nicht reduzieren – sondern amplifizieren

Damit ist einiges gesagt über die Brauchbarkeit der Tiefenpsychologie Jungs für die Seelsorge. Wie ist es aber mit den Quellen unseres Glaubens, mit der Hl. Schrift, mit Jesus selbst? Man befürchtet, daß die Wissenschaft von der Seele – ganz gleich welcher Richtung – den Menschen jeweils in ein Schema preßt und das eigentliche unsagbare und unverstehbare Geheimnis entwertet. Der Zweifel ist berechtigt bei einer sogenannten reduktiven Einstellung, d.h. bei einem sogenannten wissenschaftlichen Erklärungsversuch, welche die außerordentlichen Phänomene auf einige bekannte Ursachen zurückführt. Ihr Kennzeichen ist die Aussage: „Es ist nichts als“. So sieht Freud in der Vorstellung von Gott nichts als den überhöhten Vater. „Alles ist das Sohn – Vater – Verhältnis, Gott ist der erhöhte Vater“ (11). Jung wendet sich entschieden gegen diese Auffassung, weil sie den wahren Schöpfungen des Geistes nicht gerecht wird. In seinem Kommentar zum Tibetanischen Totenbuch macht er auf den Unterschied zwischen dem Charakter einer Dissertation und dem eines heiligen Textes aufmerksam. Ein Wissenschaftler sollte nicht vergessen, daß seine objektivierende Betrachtung die emotionalen Werte eines Textes möglicherweise in unverzeihlichem Ausmaß verletzt. „Der Psychologe, der einen heiligen Text behandelt, sollte sich zum mindesten bewußt sein, daß dieser Stoff einen unschätzbaren religiösen und philosophischen Wert repräsentiert, der nicht durch profane Hände entweiht werden sollte“ (12). Er will den Text nicht durch plumpe Kritik zergliedern , sondern dessen symbolische Sprache amplifizieren, d.h. durch Parallelen zu schon Bekanntem erweitern. Damit verliert Unverständliches von seiner Fremdheit und wir können eher damit umgehen. Warum sollten wir dieselbe Haltung (der Ehrfurcht), die Jung gegenüber dem Tibetanischen Totenbuch für angemessen empfindet, nicht auch einnehmen, wenn wir die Texte der christlichen Überlieferung, die Hl. Schrift vor uns haben?
Tiefenpsychologische Schriftauslegung – so verstanden – will eben nicht durch Begrifflichkeiten die Ursprungszeugnisse entwerten und banalisieren, sondern sie dem Verstehen und Erleben öffnen. Wie in der Therapie und im seelsorglichen Gespräch geht es um Fühlung, welche der Zuhörer bzw. der Leser mit der Seele des Verfassers bzw. den handelnden Personen der hl. Texte aufnimmt. Fühlung bedeutet, daß sich der Erlebnisgrund des einen auf den des anderen einschwingt. Voraussetzung ist allerdings eine Ähnlichkeit und zumindest eine partielle Gleichheit des Rahmens, in dem man denkt, fühlt und von dem man inspiriert wird. Ziel muß sein, den emotionalen und den spirituellen Gehalt der Hl. Schrift im Hier und Jetzt wachzurufen.

Träume und Bilder: Momentaufnahmen des Inneren

Voraussetzung für die Besserung und Heilung eines Menschen sind Begegnung, Verstehen und Annehmen. Der Ansatz der Tiefenpsychologie ist insofern hilfreich, als er durch die Traumarbeit auch die noch nicht bewußten Faktoren und Aspekte des Erlebens und Denkens berücksichtigt. Träume sind Momentaufnahmen des Unbewußten und ihre Deutung ein Hineinleuchten in die noch dunklen d.h. unbewußten Innenräume. Ähnliches kann man auch von selbstgemalten Bildern und Phantasiegeschichten sagen.
Wenden wir das Gesagte auf die Auslegung der Hl. Schrift an, heißt das, daß gerade jene Texte, die von der historisch – kritischen Methode als legendär oder als mythologisch bezeichnet werden, das reale Erleben der handelnden Figuren zum Inhalt haben. Es geht um eine Wirklichkeit, welche den Denk- und Erfahrungsrahmen des normalen und gewöhnlichen Menschen von damals und heute sprengt und deshalb nicht mit festabgegrenzten Begriffen einzuordnen, sondern nur in Bildern angemessen auszudrücken ist.
Die Tiefenpsychologie fordert eine Aufwertung der Symbole und symbolischen Aussagen, weil sie die existentielle Bedeutsamkeit vermitteln und einen ganzheitlichen Wandlungsprozeß auslösen. Statt mit einem reduktiven „Nichts als“ den Wert der heiligen Texte zu zerstören, ist die Einstellung, welche um numinose Erfahrungen weiß und sie ernst nimmt, davon überzeugt, daß es immer um ein „Mehr als“ das Wahrgenommene und Gesagte geht.

Erkenntnis ist Begegnung

Angewandt auf das Thema „Jesus – tiefenpsychologisch“ heißt dies, daß eine tiefenpsychologische Betrachtung der Gestalt Jesu in erster Linie Begegnung ist. Wie für Jung Psychotherapie ein Heilsystem ist, das sich in der Auseinandersetzung und im vertrauensvollen Zwiegespräch entfaltet, und wie sich das Innere eines Menschen nur unter „vorurteilsfreier Objektivität“ (Jung) und „bedingungsloser Wertschätzung“ (Carl Rogers) öffnet, so geht nur unter diesen Voraussetzungen die Wirklichkeit Jesu auf. Inhalt einer tiefenpsychologischen Betrachtung ist der Raum des Emotionalen, welcher zwar an historische Fakten gebunden ist, aber nicht mit diesen in Konkurrenz treten kann. Dazu gehört auch, daß der Fluß der Gefühle, Antriebe, Impulse und Reaktionen seine eigenen Gesetzmäßigkeiten mit einer zeitlosen Gültigkeit hat – was Jung mit dem vielzitierten Begriff  der Archetypen ausdrückt.

Das Reich Gottes – eine tiefenpsychologische Größe

„Erfüllt ist die Zeit, und gemacht hat sich das Reich Gottes; bekehrt euch und glaubt an die Frohbotschaft“ (Mk 1, 14).
Es herrscht heute allgemeine Übereinstimmung, daß im Mittelpunkt des öffentlichen Wirkens Jesu das Reich Gottes steht. Nun steht sofort die Frage vor uns: Was ist damit gemeint? Es wäre zu vordergründig, würde man sofort an das große kosmische Ereignis der apokalyptischen Reden denken.
Es ist unter Theologen hinreichend bekannt, daß – wie es in exegetischen Erörterungen heißt – die Kräfte des kommenden Äons in Jesu Wort und Text schon wirksam sind; daß es um eine real dynamische Anwesenheit des Reiches Gottes geht, die jetzt nur vorläufig ist und erst in der Zukunft vollendet wird (13). Deshalb entspricht es sowohl den Evangelien wie der alten kirchlichen Lehre, wenn gesagt wird: das Reich Gottes ist unmittelbar mit der Persönlichkeit Jesu verbunden. Jesus verkündet nicht nur die Anwesenheit Gottes, er ist auch das, was er verkündet. Sonst wäre seine Botschaft nicht angekommen.
Das Reich Gottes ist weder eine rein jenseitige noch eine nur äußere Größe – auch wenn es äußere Zeichen dafür gibt – ,sondern primär eine personale mit den bewußten und unbewußten Anteilen der Seele, deshalb auch tiefenpsychologisch durchaus relevant.
Zudem bedarf der Eintritt in das Reich Gottes der Umkehr, der als ganz realer innerer Vorgang in der Tiefe der Seele stattfindet. Es wäre falsch zu meinen, „innerlich“ bedeute unwirklich! Liebe und Haß sind die allerinnersten, aber auch allerwirksamsten Gegebenheiten!
Die Tiefenpsychologie Jungs kann durchaus einiges über einen Menschen sagen, in dem die Herrschaft Gottes angebrochen ist.
Jung bejaht im Gegensatz zu Freud eine bewußtseinstranszendente Beziehungsmöglichkeit der Seele mit Gott und sieht sie im mächtigsten, umfassendsten und eigentätig wirkenden psychodynamischen Faktor, dem Archetyp des Selbst verwirklicht, welcher vom Archetyp des Gottesbildes nicht zu unterscheiden ist. Jung kommt es darauf an zu betonen, daß der Boden des Unbewußten nicht wie bei Freud biologischer und triebhafter, sondern geistiger, sogar göttlicher Natur ist. Hinter der Triebdynamik, die Freud entdeckte, steht noch eine mächtigere Geistesdynamik! Jung beruft sich auf die christliche und außerchristliche Tradition, auf einen Meister Eckehart, der vom Seelenfünklein spricht, auf Taulers Seelengrund und andere Mystiker, welche vom Gott im Menschen sprechen, schließlich auf das Wort von Paulus im Galaterbrief „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal 2, 23). Jung sieht das Selbst als psychische Erscheinung nicht aber als Gott selbst, sondern als Gefäß für die Gnade Gottes.
Wenn also von einem Menschen gesagt wird, daß in ihm Gott gegenwärtig ist, dann muß der Archetyp des Selbst aktiviert sein. Er ist primär an seinem numinosen d.h. überwältigenden Charakter zu erkennen. Er ist zugleich der Archetyp der Ganzheit, welcher die Gegensätze umschließt und ihnen ihren zerstörerischen Charakter nimmt. In ihm ist eine eigentätig wirkende und schöpferisch wirkende Entelechie, welche eine sinnvolle Wandlung und Entwicklung der Persönlichkeit – Individuation genannt – zum Ziel hat. Dieser Punkt, der als numinos erfahren wird, ist universal und individuell zugleich. Bei Selbsterfahrungskursen stellt sich immer wieder heraus, daß die Teilnehmer einander umso näher kommen, je dichter und intensiver sie ihr eigenes Gefühl erleben und es zum Ausdruck bringen. Die abschließende Eucharistiefeier ist immer auch von einer außerordentlichen Tiefe des Erlebens geprägt. Das bedeutet, daß dieser Vorgang, wo man sich selbst, dem anderen und Gott zugleich nahe kommt, wo man die eigene Entwicklung und die des anderen voll bejahen und zulassen kann und wo man von Gott ergriffen und gelenkt ist, dem nahekommt, was im Neuen Testament Reich Gottes genannt wird.
Der hl. Franziskus gehört zu denen, die Jesus am meisten verstanden haben und ihm bis in die Tiefenschichten der Seele ähnlich geworden sind. Der Sonnengesang, den er am Ende seines Lebens verfaßte, drückt als spontane Schöpfung unmittelbar seine seelische Struktur aus, nämlich Nähe zu Gott, zu allen Geschöpfen, zu allen Menschen, und Überwindung des Todes. Der Erlebnisraum des hl. Franziskus ist dem von Jesus ähnlich.

Jesus – der Mensch in der Mitte der Welt

Von selbst ergibt sich, daß Jesus selbst – wie er uns in den Evangelien überliefert wird – an diesem Punkt steht. Da ist zunächst die Erscheinung des Numinosen. Es hat etwas zu tun mit erschrecken, mit erschüttert sein; es ist der Eindruck des Unfaßbaren, d.h. das kleine Ich kann die gewaltige Dynamik des Geschehens nicht aufnehmen.
Ein solches Erlebnis ist jenes Ereignis, welches als Verklärung Jesu bei Matthäus, Markus und Lukas geschildert wird.
„Da wurde er vor ihnen verwandelt, und sein Antlitz leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht“ (Mt 17, 2). Die Tiefenpsychologie Jungs hat hier keine Schwierigkeit, eine solche Erscheinung ganz wörtlich zu nehmen. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier nicht die Offenbarung einer dogmatischen Wahrheit, sondern der Erlebnischarakter des berichteten Ereignisses. Jung hat sich eingehend mit östlichen Religionen beschäftigt und dem japanischen Zen – Meister Suzuki ein Vorwort zu seinem Büchlein „Die Große Befreiung“ geschrieben. Hierin schenkt er dem Satori, dem Erleuchtungserlebnis, seine erhöhte Aufmerksamkeit. Er läßt es nicht gelten, daß man Berichte von Erleuchtungen bei Zen – Leuten als amüsante Märchen abtut, sondern er nimmt sie als erfahrbare Bewußtseinsveränderung ernst. Die oft recht paradoxen Schilderungen solcher Erlebnisse drücken für Jung eher die Sprachlosigkeit in Hinblick auf eine Wirklichkeit aus, die er als Erfahrungen des Selbst als des Nicht – Ich bezeichnet. Sie läßt sich beschreiben als der „Durchbruch der übergeordneten Ganzheit oder des ganz Anderen, welches vom Bewußtsein numinos, als Tremendum und Fascinosum erlebt wird“ (14).
Der bei Zen – Praktizierenden bekannte Jesuitenpater Enomya Lasalle berichtet von Satori – Erfahrungen von Zen – Übenden und vergleicht sie mit den Erleuchtungserlebnissen großer christlicher Mystiker. Er findet auffallende Parallelen zwischen den einzelnen Erscheinungen verschiedener Traditionen.
Das Wort „Erleuchtung“ erhält seinen realen Inhalt zurück. Wir brauchen uns nicht scheuen, die Verklärung Jesu in diesen Rahmen zu stellen, ohne ihr etwas von ihrer Einzigartigkeit und Größe zu nehmen. In diesem Sinne geschieht die schon erwähnte Amplifizierung.
Erleuchtung kann nach der Darstellung Lasalles und seiner angeführten Mystiker beschrieben werden als ein Einswerden des kleinen Ich mit dem Seelengrund, als ein Freiwerden von bedrängenden Emotionen und widersprüchlichen Impulsen, als ein Zustand von tiefster Ruhe und sprühender Vitalität; als ein Einblick in die tiefsten Geheimnisse des Daseins. Jung betont, daß es sich wesentlich um Wandlungserlebnisse handelt, daß in den Texten nicht bloß ein anderes (sonst unzugängliches) Bild oder Objekt beschrieben, daß nicht anderes gesehen wird, sondern daß man anders sieht.
Lasalle führt zudem christliche Mystiker an, deren Erlebnis mit Lichterscheinungen verbunden war, so bei Ignatius von Loyola und Benedikt von Nursia. Auf dem Berg Athos gebe es Mönche, die das Taborlicht ausstrahlten (15). Allerdings könnten es nur Menschen sehen, denen die Gnade Gottes dafür zuteil werde.
Erwähnt sei auch die Begegnung des großen russischen Starzen Seraphim von Sarow mit dem Gutsbesitzer und Richter Nikolai Motowilow, wo Einblick in die Zustände Erleuchteter gegeben wird. Hier ist auch vom Leuchten der Sonne im Antlitz eines Menschen die Rede (16). Aus dem Bericht geht deutlich hervor, daß das Wahrnehmen des erleuchteten Zustandes des anderen die eigene Erleuchtung voraussetzt.
In diesem Zusammenhang ist auch die Taufe Jesu zu nennen. „Als er gerade aus dem Wasser heraufstieg, sah er den Himmel sich öffnen und den Geist wie eine Taube auf sich herabkommen. Und eine Stimme kam vom Himmel: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich mein Wohlgefallen“ (Mk 1, 10, 11). Es ist der Einbruch des Ganz – Anderen in den Lebensraum Jesu, welcher seinem Leben eine ganz neue Richtung gibt. Dies ist wohl auch ganz wörtlich ausgedrückt: „Der Geist trieb ihn in die Wüste“ (Mk 1, 12). Aufgrund der Neuheitserfahrung mußte er weg von der bisherigen Umgebung.
Wie immer nun die historisch - kritische Forschung die Erscheinungen bei der Taufe Jesu und die der Verklärung beurteilt – ob als Niederschlag nachösterlicher Reflexion oder als mythologische Darstellung, eines dürfte man nicht übersehen: numinose Phänomene nehmen im Raum des Neuen Testamentes einen breiten Raum ein und können als seelische Wirklichkeiten nicht übergangen werden.
Wenn aus den verschiedensten Religionen unabhängig voneinander außerordentliche Phänomene dieser Art überliefert werden, wie es Lasalle nachweist, vor allem aber wenn die Verfassung dieser Menschen ein höchstes menschliches und spirituelles Niveau aufweist, dann würde man sich die Sache zu leicht machen, hier von Halluzinationen oder anderen psychotischen Zuständen zu sprechen. Psychosen sind Realitätsverlust und Mangel an Unterscheidungsvermögen. Erleuchtete hingegen werden beschrieben als Menschen mit wachem Verstand; gerade das Durchschauen der Wirklichkeit ist ihr Kennzeichen.
Die großen Gestalten der christlichen Mystik, die Lasalle anführt, Benedikt von Nursia und Ignatius von Loyola, haben gerade durch die genannten positiven Eigenschaften Geschichte gemacht. Die Quelle ihrer Einsichten waren Erleuchtungserlebnisse. Namen wie C. G. Jung, Karlfried von Dürckheim, Enomya Lasalle stehen für eine Geistesrichtung, welche numinose Erfahrungen als persönlichkeitsprägende Kraft ernst nimmt und damit aber auch einen Zugang zu den hl. Texten öffnet.
Die Wirklichkeit Jesu zeigt sich in absoluter Güte im Umgang mit den Kranken, mit Zöllnern und Sündern (Mk 1, 32 – 34; Mk 1, 40 – 45; Mt 8, 3 – 13; Mk 2, 1 – 12 u. andere). Es wird sogar gesagt, daß von ihm eine heilende Kraft ausströmte (Lk 8, 46), daß ihn die Kraft zur Heilung trieb (Lk 5, 17).
Wer sich eingehend mit Mystik beschäftigt, wird zum Schluß kommen: Warum sollte das, was bei Jüngern Jesu und sogar bei solchen, die ihn nicht kannten, an religiösen Erfahrungen geschah, bei Jesus selbst nicht möglich gewesen sein? Könnte es nicht auch so gewesen sein, daß das Phänomen, das bei anderen Mystikern, z.B. der hl. Teresa von Avila, als Ekstase geschildert wird, auch bei Jesus häufig auftrat und daß er einmal die drei ausgewählten Jünger daran teilnehmen ließ?
Was kann man eigentlich einwenden, wenn man sagt: Die Anwesenheit Gottes in einem Menschen ist wesentlich in seiner Ausstrahlung zu erkennen!

Den Menschen nahe sein

Der Erlebnisraum Jesu ist einerseits durch die Erfahrung des Numinosen geprägt. Dies war für ihn der Urgrund, zu dem er immer zurückkehrte und aus dem er schöpfte. Er brauchte deshalb die Einsamkeit und das Abgeschiedensein. „In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten“ (Mk 1, 35). Der kurze Satz bei Markus drückt die eine Seite des Wesens Jesu aus. Die andere ist die Zuwendung zu den Menschen und die Begegnung mit ihnen. Seine Zuwendung zu den Menschen ist die erlebnishafte Folge – nicht die logische Folgerung seiner personalen und unmittelbaren Gottesbeziehung, welches in den Worten „Abba, Vater“ (vgl. Mt 11, 27; Mk 14, 36) und „Mein geliebter Sohn“ (Mt 3, 17; Mk 1, 11; Mt 17, 5) zum Ausdruck kommt. Es wurde schon gesagt, daß Jesus ans Selbst angeschlossen war, an dem Punkt stand, wo man Gott, sich selbst und dem anderen nahe ist. Im Lexikon Jungscher Grundbegriffe steht unter Selbstverwirklichung: „Indem sich der Mensch auf das Selbst als das „ganz Andere“ beziehen lernt, wird er zugleich beziehungsfähiger für das Du und den Nächsten sowie offener für Gott“ (17). Das heißt: die Ausrichtung der Gefühle verändert sich zugunsten des Nächsten. Wir können andere besser verstehen und annehmen. Daß die drei Aspekte: Gott – Ich – Du – harmonisch zusammengehen, ist Ausdruck eines gereiften Menschseins und einer geläuterten Gottesbegegnung. Es ist keine Selbstverständlichkeit, daß das Religiöse auch mit Nächstenliebe einhergeht.

Der projizierte Archetyp – die blinde Religiosität

Es gibt eine Form des Religiösen, die unfrei macht, sogar fanatisiert, die den Druck, unter dem man steht, an andere weitergibt, die sogar in der Bekämpfung von Menschen anderer Herkunft, anderer Lebensart, Religion und Weltanschauung den Willen Gottes sieht. Jesus trifft bei den Frommen seiner Zeit eine solche Einstellung an; man muß hinzufügen: auch bei seinen Jüngern (Lk 9, 53 – 55), bis in unsere Tage! Er hat diese Haltung von Grund auf in Frage gestellt!
Als Jesus von den Pharisäern wegen seines Umgangs mit den Personen, die ein anständiger Mensch meidet, abgelehnt wurde, hielt er ihnen seine Auffassung von Gottes Willen entgegen: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer (Hos 6, 6); denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Mt 9, 12, 13). An anderer Stelle wird die Aussage ergänzt mit „Dann hättet ihr Schuldlose nicht verurteilt“ (Mt 12, 7).
Die von Jesus kritisierte Religiosität kann bezeichnet werden als Äußerung des blinden und dunklen Aspekts des religiösen Archetyps, der mit seinen Ängsten und verheerenden Aggressionen in den Begriff Gott hineinprojiziert wird.
Jeder Archetyp bedarf der Bewußtwerdung, Erhellung und Differenzierung, auch der religiöse. Das bedeutet: Nicht alles, was religiös ist, ist deshalb schon der Wille Gottes. Aus gutem Grund hat Ignatius für die Exerzitanden die Unterscheidung der Geister eingeführt. Ein Eifer, der aus blinden religiösen Impulsen kommt, hat zu allen Zeiten schreckliches Unheil angerichtet. Jesus selbst ist zum Opfer einer solchen „gut“gläubigen Einstellung geworden.

Die größere Persönlichkeit

Bewußtwerdung heißt: wissen, was man tut! Es besteht vor allem darin, den Menschen hinter den Mauern eines Freund – Feind Schemas wahrzunehmen und nicht mehr seinen eigenen Schatten d.h. seine ungelösten Konflikte und unbewältigten Ängste in den persönlichen und weltanschaulichen Gegner hineinzuprojizieren. Dazu bedarf es aber einer geistigen Weite, eines höheren Standpunktes und einer emotionalen Kraft, welche über das Gewöhnliche hinausgehen. Sie sind das Ergebnis eines Entwicklungsweges, der vom schöpferischen Keim des Archetyps des Selbst angeregt und vorangetrieben wird.
Dürckheim hat die Gipfelerfahrungen in den verschiedenen Religionen als „durch – sein“ bezeichnet. Ihr Kennzeichen sind Freiheit von Angst und universale Liebe. Er hatte Begegnungen mit japanischen spirituellen Meistern, die von großer Dichte und Bereicherung waren. Es fällt auf, daß die Mystiker mit den unterschiedlichsten Traditionen ohne Schwierigkeit zueinander Zugang finden.
Jesus steht – rein empirisch von der Tiefenpsychologie gesehen – auf dieser Linie, wo er die Mauern, die Menschen trennen, sprengt. Man kann auf den schon erwähnten Umgang mit den Sündern verweisen. Wer wie Jesus unmittelbar am göttlichen Funken teil hat, nimmt diesen in jedem Menschen wahr, gerade in solchen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen und deshalb offener für neue Erfahrungen sind; deshalb kommen die Dirnen und Zöllner eher in das Reich Gottes als die selbstsicheren und arroganten Frommen (vgl. Mt 21, 31). Der größere Umfang der Persönlichkeit, des Denkens wie des Lebensgefühls – Eigenschaften, welche Jung mit dem Begriff der Ganzheit meint – ist der Hintergrund des öffentlichen Auftretens Jesu, seiner auffallenden, oft Anstoß erregenden Handlungen wie seiner Gleichnisse und Spruchweisheiten. Aus allem spricht eine innere Freiheit und Überlegenheit im Vergleich zu dem, was ein Durchschnittsfrommer der damaligen Zeit denkt. Er durchbricht immer wieder die Enge des religiösen Milieus.
Ein gutes Beispiel ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 30 – 37). Im Rahmen des herkömmlichen Verständnisses wird die von Jesus erzählte Geschichte als der Idealfall tätiger Nächstenliebe dargestellt. Der Nächste, den ich lieben soll, ist jeder, der in Not ist – das ist gewöhnlicherweise die Interpretation. Tatsächlich hat der Samariter Geschichte gemacht und Geschichte geprägt im Sinne der Hilfe an Hilfsbedürftigen, Armen und Kranken, in dem, was wir als karitative Tätigkeit bezeichnen.
Den wenigsten fällt auf, daß die gute Tat des Samariters nur die eine Seite des Gleichnisses ist. Am Schluß stellt nämlich Jesus die Frage: „Wer ist dem zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen war“ (Lk 10, 36)? Sie ist gerade umgekehrt gestellt als die herkömmliche gutgläubige Auffassung sie sieht. Wen soll nun der Verwundete und Gerettete als seinen Nächsten betrachten, ihn achten und lieben? Die Antwort lautet: Den, „der Barmherzigkeit übte an ihm“ (Lk 10,37) als den Samariter!
Jesus beantwortet die Frage eines Juden nach seinem Nächsten mit dem Hinweis, daß es nicht nur der ist, der zum eigenen Volk und zur eigenen Religion gehört, sondern einer von denen, die recht feindselig und ungastlich sein können (Lk 9, 53), mit denen man nicht verkehrt (Joh 4, 9), denen man nichts Gutes zutraut, auf die wie immer das Feindbild paßt. Dafür spricht auch, daß Jesus gerade einen Samariter zum Helden der Geschichte macht. Er will sagen, daß auch einer von der ganz anderen Seite zum Guten fähig ist und Achtung verdient.
Hier ist eine einschneidende Kritik an der traditionellen Frömmigkeit und ihrer gewiß oft heroischen Taten der Nächstenliebe enthalten. Es ist wahr: es ist viel geschehen im Bereich christlicher Barmherzigkeit. Auch das moderne Denken ist davon geprägt zumindest in den westlichen Industrieländern, wo die medizinische Versorgung der Kranken eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Das jüngste Beispiel dieser Einstellung im Geiste Jesu ist die 1997 verstorbene Mutter Teresa von Kalkutta, die durch ihren Einsatz für Menschenwürde selbst in einer nichtchristlichen Kultur große Achtung erfahren hat. Niemand darf diese Form der Nächstenliebe in Frage stellen oder entwerten. Sie bedarf aber der Ergänzung und zwar in folgender Hinsicht: Sie wird nur dann hervorgerufen und in Bewegung gesetzt, solange der / die andere schwach ist. Das Mitleiden mit dem / der anderen regt zum eigenen Tun an. Es entsteht eine Art der emotionalen Verschmelzung. Deshalb wird die Besserung oder zumindest das Wohlbefinden des / der anderen zur eigenen Belohnung.
Aber wie ist es, wenn der / die andere stark ist? Wenn er mein Mitleid gar nicht will, sondern nur meine Achtung und seine Freiheit, daß er so sein darf, wie er ist, daß er so denken, fühlen und reden darf, wie es ihm zumute ist? Daß er seine Überzeugungen haben darf, auch wenn sie ganz anders sind?
Man muß zugeben, daß man in der Geschichte des Christentums das Gebot Jesu in diesem Sinn sehr wenig verstanden hat und daß es auch heute noch unter Christen gerade innerhalb der Kirche allzu wenig beachtet wird. Der tiefere Grund dürfte sein, daß es für diese Form der Nächstenliebe auch starke Persönlichkeiten braucht, die sich durch das Anderssein des Nächsten nicht verunsichern lassen und die sich gegenüber den hervorgerufenen Ängsten als stärker erweisen. Im Grunde geht es um Liebe und Freiheit.

Freiheit und Liebe

Von zeitgenössischen Theologen werden beide Begriffe als die Sache Jesu bezeichnet (18). Nun ist Sache insofern ein unglückliches Wort, als es etwas Beziehungsloses, Unpersonales, eben Sachliches bezeichnet. Das Gemeinte ist das Allerpersönlichste Jesu und kann nur durch personales Engagement verstanden, angeeignet und weitergegeben werden. Entscheidend ist die Atmosphäre, in der über Jesus geredet wird. Sie sollte der, die um Jesus in den Evangelien ist, zumindest ähnlich sein, nämlich von Liebe und Freiheit geprägt. Einen Hinweis darauf finden wir in den Sätzen: „Kommt zu mir alle, die ihr voll Mühsal und beladen seid: ich will euch ausruhen lassen.... mein Joch ist mild und meine Bürde ist leicht“ (Mt 11, 28, 30).
Ausruhen bedeutet das Ende von ständiger Anspannung, von Druck, von Überforderung, von Fremdbestimmung, von abgelehnt, verachtet, gehetzt (im wörtlichen Sinn) sein. Es ist das Gefühl, daß ich sein darf, wie ich bin und daß ich meinen innersten Impulsen trauen und folgen darf; daß ich so wie ich mein eigenes Leben auch das des anderen wie selbstverständlich, aus Überzeugung, mit allen Gefühlen bejahe.
Man darf konkret an die Sünderin denken, die Tränen der Erschütterung, der inneren Lösung und Befreiung, des Glücks und der Dankbarkeit vergießt (Lk 7, 38 – 50), ebenso an den Zöllner Zachäus, der aus Freude über den Besuch Jesu in seinem Haus sein Vermögen aufteilt (Lk 19, 1 – 20).
Man darf mit Recht vermuten, daß die Atmosphäre um Jesus, die der absoluten Annahme und Bejahung, der Freiheit und der Liebe diesen Prozeß bei der Frau ausgelöst hat.
Weil Jesus unmittelbar aus dem absoluten Grund – theologisch: dem Vater; tiefenpsychologisch: dem Archetyp der Ganzheit – lebt, kann er einen Raum der ungebrochenen Sicherheit und uneingeschränkten Vertrauens verbreiten, wo Spannungen und Ängste abfallen und das verschüttete Gute sich von selbst: automatiké („automatisch“) durchsetzt (vgl. Mk 4, 28).
Es ist sicher nicht falsch, wenn wir die Atmosphäre um Jesus mit dem von ihm am liebsten gebrauchten Wort „Glaube“ in Verbindung bringen (vgl. Mt 8, 10; Mt 9, 2,22,29; 15, 28; Mk 5, 3; 10, 52; Lk 7, 30).
Nur wenn sich ein Mensch der Atmosphäre Jesu, d.h. seinem Wirkungsbereich öffnet, brechen die Kräfte der Heilung wie die der totalen Wandlung auf.
Tiefenpsychologisch könnte man sagen: Jesus hat durch sein Wesen, durch die Kraft seines geordneten und vom Geist durchdrungenen Unbewußten das persönliche Unbewußte eines jeden, der sich ihm öffnete, angesprochen und verändert, bzw. das Selbst, welches von innen her Bewußtes und Unbewußtes lenkt.
Es heißt, daß die Leute von der Rede Jesu auf dem Berg ergriffen waren (Mt 8, 29). Ergriffensein überträgt sich von selbst. Das heißt: jene Kräfte, die den Redner zuinnerst bewegen, werden auch in den Hörern wach gerufen. In diesem Sinne ist Jesus suggestiv, aber nicht, um Menschen für sich zu vereinnahmen, sondern um sie zur eigenen Freiheit zu führen.
Die Freiheit, die Jesus meint, hat wesentlich damit zu tun, daß ich als Glaubender nicht mehr dem Erwartungsdruck meiner Umgebung ausgesetzt bin, ganz gleich ob diese unmittelbar auf mich Einfluß nehmen will oder ob ich deren Forderungen in mir verinnerlicht habe. Es ist der unmittelbare Kontakt mit dem Urgewissen, mit der Seite des Lebens, welche sich als Sinn für Echtheit und Wahrhaftigkeit gegen alle Widerstände in der Tiefe des Herzens auftut und welche frei ist von dunklen, ungeklärten Emotionen.
Hier wäre der Entwicklungsweg des hl. Franziskus unter den vielen Großen der Kirchengeschichte zu nennen. In jener Szene vor dem Bischof von Assisi, wo der Heilige nicht nur das Geld sondern auch die Kleider seinem Vater zurück gibt, ist er verdichtet dargestellt und in den Worten ausgedrückt: „Bisher nannte ich Pietro Bernardone meinen Vater... und von nun an will ich sagen: Vater unser, der Du bist im Himmel, nicht mehr: Vater Bernardone“ (19). Franziskus hat die Freiheit errungen, seiner Inspiration oder, wie gewöhnlich gesagt wird, dem Willen Gottes zu folgen. Dabei muß auch gesagt werden, daß er um die Klärung seiner Impulse gerungen hat; die Gebete aus der Zeit seiner Wandlung um Erleuchtung seines Herzens lassen etwas von den inneren Prozessen seines Unbewußten ahnen.
Das oberste Kriterium für die Echtheit einer Eingebung Gottes war für ihn die Freude, die nicht getrübt war von Gefühlen des Zorns, der Rache und der Begierden. Durch seine ganze Lebensbeschreibung ziehen sich wie ein roter Faden die Berichte von „unsagbarer Freude“, von einem „gewaltigen Jubel“, von „einem wunderbaren Licht“. Unter keinen Umständen wollte er Emotionen anschüren oder zum Kampf aufwiegeln. Für ihn war Freiheit jener Zustand, wo Menschen wie er den Leidenschaften und den Streitigkeiten um Besitz und Weisungen enthoben sind.
Nimmt man den hl. Franziskus ernst, dann gewinnt auch die Diskussion um Freiheit und Liebe neue Akzente. Es könnte bedeuten, daß man sich als erstes selbstkritisch der eigenen noch ungeklärten inneren Befindlichkeit stellt, daß man sich auf eine Entwicklung einläßt, wo die Freiheit von Druck, Ängsten und aggressiven Gestimmtheiten immer mehr wächst und die echte Freude zunehmend das Innere erfüllt; wo zugleich die beiden Begriffe Freiheit und Liebe nicht wie eine Fahne als Forderung oder Argument vorangetragen werden, sondern sich im Augenblick im menschlichen Miteinander ereignen. Freiheit im Sinne des Evangeliums bedeutet den Raum der eigenen Entwicklung für sich in Anspruch nehmen, ihn aber auch jedem anderen gewähren. Dies ist zugleich der Weg zum Grund allen Seins, der allen gemeinsam ist und alle zusammenführt.


Ist das Christentum lebensfeindlich?

Bei der Diskussion um das Besondere an Jesus wird gewöhnlich das Gebot der absoluten Nächstenliebe angeführt; daß er Gottes- und Nächstenliebe zusammengebracht hat. Es wird zugleich auch bestritten, daß Jesus hier einmalig dasteht, ebenso wird von Kritikern in einem Atemzug gesagt, daß die Jünger Jesu sich doch kaum daran hielten. Die Gebote Jesu sind – so deren Meinung – für den gewöhnlichen Menschen Überforderung und machen depressiv, weil sie die wirklichen Impulse der Aggression und der sexuellen Lust unterdrücken. Christentum ist lebensfeindlich – so wird es heute gesehen. Der Abschied vom Christentum heute auf breiter Basis ist nur die Konsequenz dieser Einsicht.
Die Kritik hat recht, wenn die Gebote Jesu nur als Handlungsanweisungen für Wille und Intellekt gesehen werden, wenn der gesamte emotionale und spirituelle Prozeß, der zur Formulierung der Gebote geführt hat, ausgeklammert wird.
Einmal sollte gesehen werden, daß die hohe Ethik Jesu Ausdruck seines Wesens, d.h. seines Erlebnisraumes, ist und daß sie nur aus einem ähnlichen Rahmen des Fühlens und Denkens, von einem ähnlichen Lebensgefühl verstanden und eingehalten werden kann.
Deshalb hat Jesus als erstes die Menschen für diesen Erlebnisraum – der Nähe zu Gott, der Selbstannahme, der Achtung des Nächsten geöffnet. Denken wir noch einmal an die Sünderin (Lk 8, 36 – 50) und an Zachäus (Lk 19, 1 – 20). Es sind nicht Anmahnungen und Appelle und nicht eiserner Wille, welche die Änderung bewirken, sondern es ist der Prozeß, den Jesus durch seine Persönlichkeit ausgelöst hat. Das Besondere an Jesus ist nicht, daß er die hohen Normen aufgestellt, sondern daß er durch die persönliche Begegnung die Menschen befähigt hat, sie zu halten.

Nachfolge: Eintauchen in die Atmosphäre Jesu

Die Gebote Jesu können deshalb nicht nur richtig gesehen werden, wenn man rechte Verständnis von Nachfolge im Auge behält. Jene Auffassung von Nachfolge, welche Jesus als das edle Vorbild betrachtet, das es mit Eifer nachzuahmen gilt, kann als Ursache für vielfaches Scheitern oder für langweilige Mittelmäßigkeit vermutet werden.
Überzeugende und wirksame Nachfolge gelingt dann, wenn der Archetyp der Ganzheit erwacht und die Führung übernimmt in einem lebenslangen Entwicklungs- und Wachstumsprozeß.
Dazu bedarf es eines Einstiegs- oder Neuheitserlebnisses, wie es Jesus selbst und die großen Gestalten des Christentums hatten (Mk 1, 9 – 12)! Wem sich beim Eintauchen in die Atmosphäre um Jesus „der Himmel aufgetan“ hat, der wird von innen her („vom Geist getrieben“ Mk1,12) in eine andere Richtung gelenkt, weg von der gewohnten Umgebung. Er braucht Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten. Erst dann kann er in die Öffentlichkeit gehen als Gewandelter. Zwischen ihm und seinen Verwandten kann sich eine große Kluft auftun (Mk 3, 31 – 33). Sie verstehen ihn nicht mehr. Dafür gewinnt er neue Freunde und deren Nähe und Verstehen. Er ist ein anderer Mensch geworden.
Die Nachfolge Jesu wird dann wieder Glanz gewinnen, wenn sie auf diese Weise als Entwicklungsprozeß des ganzen Menschen erlebt wird. Unser Glaube sagt, daß Christus in uns wohnt (Gal 2, 20). Die Tiefenpsychologie Jungs geht davon aus, daß der schöpferische Keim der Entwicklung schon in uns vorhanden ist und – so dürfen wir sagen – daß Christus in diesem Keim in uns Gestalt annimmt. Wir werden sein Schicksal teilen.
Es ist deshalb angemessener, von Christus als von einem Urbild zu reden, das sich eigentätig entwickelt, als von einem Vorbild, dem es mit Mühe nachzueifern gilt. Die Akzente einer solchen Einstellung sind dann weniger sollen und müssen, sondern eher: zur Ruhe kommen, sich öffnen, sich für das tiefere Gefühl bereiten und sich von ihm ergreifen lassen; denn nach einem Wort von Spinoza werden Affekte nie durch die Vernunft, sondern nur durch stärkere Affekte aufgehoben (20).

3. Jesus – der Retter der Welt

„Heute ist euch ein Retter geboren“

Bei allen Klagen über die mißliche Lage der Kirche und über den zunehmenden Glaubensschwund sollte uns ein Ereignis, das sich jedes Jahr wiederholt, zu denken geben. In der Hl.. Nacht sind die Kirchen gefüllt, wenn jener Text gelesen oder gesungen wird, der lautet: „Heute ist euch ein Retter geboren“ (Lk 2, 11). Es ist fast, als ob die Leute jedes Mal darauf gewartet hätten. Ist hier tatsächlich der Glaube an Christus als den Retter maßgebend und motivierend oder folgen sie einfach einem hergebrachten Instinkt an diesem für sie wichtigen Fest?
Besser ist es auch an einem mehr von Tradition und Jahreszeit bestimmten Tun den Keim des Glaubens zu sehen, als den Kirchgang ungezählter Kirchenferner zu entwerten.
Es hilft eher weiter, nach den Barrieren zu fragen, die diesen Glauben verhindern, als über die Oberflächlichkeit und Glaubenslosigkeit zu klagen.
Man nimmt heute an, daß die erwähnte Botschaft der Hl. Nacht das Bekenntnis der frühen Christen zu Christus dem Retter ist.
Eine andere Stelle findet sich in der Apostelgeschichte, wo Petrus vor dem Hohen Rat erklärt, daß „Gott Jesus zum Fürsten und Heiland zu seiner Rechten erhöht hat, daß er Israel Bekehrung bringe und Vergebung der Sünden“ (Apg 5, 31).
Doch diese Aussage kann einem im modernen Denken Befangenen das Verständnis von Jesus als dem Heiland auch nicht näher bringen. Er kann mit Vorstellungen wie „Fürst“, „Erhöhung“, „Rechte Gottes“ nichts anfangen, schon gar nicht mit „Bekehrung“ und „Vergebung der Sünden“.
Jesus als den erfolgreichen Heiler seiner Zeit anzuerkennen und ihm auch die geistige Wirkung zuzugestehen, bereitet jedoch nicht mehr unüberwindbare Schwierigkeiten.
Wie ist es aber mit dem Titel „Retter“ und „Heiland“ für unsere Zeit?
Warum werden Heilsangebote aus dem indischen und fernöstlichen Kulturbereich begierig aufgesogen, während Christus als Retter bei spirituell Suchenden kaum in Erwägung gezogen wird?
Zuerst stößt sich der kritisch Eingestellte am Absolutheitsanspruch, der mit dem Namen Jesus verbunden wird. In einem Artikel über den buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh in einer  Esoterik - Zeitschrift bezeichnet es der Verfasser als wohltuend, daß dieser spirituelle Meister auch die Schätze anderer Traditionen anerkennt und seine Schüler sogar ermahnt, ihre eigenen Wurzeln zu entdecken, während im Christentum jener Satz Jesu gelte: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14, 6). Der Autor hat, wie viele andere, ein Kirchenbild vor sich, das die Wandlung des letzten Konzils noch nicht mitgemacht hat und das aber, so muß man eingestehen, durch manche Äußerungen von höchster Stelle anscheinend immer erneut bestätigt wird.
Ihm dürfte nichts bekannt sein von der Erklärung des 2. Vatikanischen Konzils über die nichtchristlichen Religionen, wo ausdrücklich gesagt wird, daß die Kirche nichts von dem ablehnt, was in ihnen wahr und heilig ist (21).
Selbst der so umstrittene Papst Johannes Paul II hat 1987 in Assisi mit Buddhisten, Moslems, sogar mit indianischen Schamanen für den Frieden in der Welt gebetet – ein Zeichen, daß er deren Gebet schätzt.
Die Überzeugung von Christus als dem Retter der Welt erklärt keineswegs das religiöse Tun Andersgläubiger für Null und Nichtig (oder, wie es in früheren Zeiten geschah, für das Werk des Teufels).

Überhöhung und Idealisierung?

Aber nicht nur bei Außenstehenden, selbst in den eigenen Reihen bestehen erhebliche Vorbehalte gegen die Hoheitstitel Jesu. In der wissenschaftlichen Exegese sucht man nach dem historischen Jesus, der gereinigt ist von Überlagerungen und Idealisierungen der ersten christlichen Gemeinden. Man gibt sich große Mühe zu unterscheiden, was authentische Worte Jesu sind und was sogenannte Gemeindebildung ist, d.h. was in den ersten christlichen Gemeinden schöpferisch entstand und Jesus in den Mund gelegt wurde.
Unter diese Rubrik fällt auch das Bild von Jesus als dem Retter. Es klingt sehr ernüchternd, wenn es in einem biblischen Kommentar heißt: Jesus ist zu Lebzeiten wohl nie Heiland / Retter genannt worden (22). Erst nach seinem Tod und seiner Auferstehung wird der Titel Heiland / Retter auf Jesus übertragen, eine Bezeichnung, die im alten Testament nur Jahve vorbehalten war, weil er sein Volk vor dem Untergang bewahrte.
Wir dürfen hinzufügen: Das muß allerdings seinen Grund gehabt haben! Für Juden, sie waren ja die ersten Jünger Jesu, war es undenkbar, einem Menschen einen Namen zu geben, der nur Jahve zustand. Es muß ein Einbruch in das System ihrer religiösen Vorstellungen gewesen sein, was sie dazu veranlaßt hat; ein Erlebnis, das ihnen die Gewißheit gab, selbst gerettet zu sein. Und diese Überzeugung kann nicht auf das endgültige Scheitern eines Mannes aufgebaut sein.
Es gibt in der Geschichte Beispiele, daß sich im Hinblick auf die drohende Katastrophe der Glaube an einen Retter verfestigt und sich sogar bis zur Ekstase gegen jede Einsicht steigert, nach dem Zusammenbruch aber die totale Verzweiflung überwiegt. Zu denken ist z.B. an einen indianischen Stamm, in dem der Medizinmann Wowoka im Jahr 1888 die Religion des Geistertanzes begründete. Der Ritus des Geistertanzes hatte die Illusion geweckt, die Weißen würden in einer Art Sintflut verschwinden, alle Büffel und verstorbenen Stammesangehörigen würden auf die Erde zurückkehren. Als im Dezember 1890 derselbe Stamm von den weißen Truppen gnadenlos niedergeschossen wurde, war es aus mit dem „Traum seines Volkes“, wie es Schwarzer Hirsch in seinen Erinnerungen beklagt (23).
Ähnliches läßt sich auch von den letzten Tagen des Dritten Reiches sagen. Da gab es tatsächlich den Glauben an die Wunderwaffen, an die Allmacht und Allwissenheit des Führers. Als aber das Ende kam, gab es auch nichts mehr zu glauben und zu hoffen, was die Größe Deutschlands anbelangt. Daß eine totale Katastrophe einen überzeugten Glauben weckt, ist psychologisch unwahrscheinlich.

Dogmen – Lasten oder Schätze?

Argumente, auch wenn sie in sich schlüssig sind, können trotz allem die inneren Barrieren nicht abbauen, die ein volles Ja zu Christus als dem Retter nicht zulassen.
Es wurde schon gesagt, die Wunder trennen eher von Jesus als daß sie zu ihm hinführen; ebenso die Hoheitstitel, welche die Jünger ihrem Meister gegeben hatten. In vielen Stellungnahmen kommt zum Ausdruck, daß ein schlichter Jesus, der als aufrechter Mann mit Gott und mit seiner Zeit gerungen hat, wesentlich sympathischer ist als ein Heiland, König oder gar Sohn Gottes. So gelten viele Dogmen und Aussagen des kirchlichen Lehramtes als Hindernis, um zu einem befreienden und echten Glauben an Jesus zu gelangen.
In dem Artikel von Herbert Haag, „Verehren wir den falschen Gott? Was Jesus wirklich wollte“ (24)? ist diese Grundstimmung deutlich zu spüren. Der Verfasser betont, daß Jesus kein Religionsstifter sein wollte, daß er nur bei einem einzigen Dogma verblieben sei, nämlich bei der Einzigkeit und Alleinigkeit Gottes, während der Katholik heute in seiner Kirche auf mindestens dreißig Dogmen verpflichtet sei. Der Grundton ist, wie bei vielen ähnlichen Äußerungen: der sympathische Jesus – die unsympathische Kirche. Das eigentliche Problem besteht aber darin, wie man mit Dogmen umgeht. Sind sie eine Last, welche die Freiheit des Denkens einengt, oder Schätze, die es zu öffnen und auszuschöpfen gilt?
Zur Last können verbindliche Lehraussagen dann werden, wenn sie uns als bloße Fakten auf Grund der kirchlichen Autorität zum Fürwahrhalten vorgelegt werden; Tatsachen, die jedoch mit unserem inneren Erleben, mit unserer Einsicht, Not und Hoffnung nichts zu tun haben,. Gegen diese Art des Umgangs mit Dogmen regt sich Widerstand, vor allem wenn gegen bessere Einsicht und Überzeugung Druck ausgeübt wird.
Man kann die Dogmen aber auch anders sehen. Romano Guardini sagte in einem Gespräch zu Prof. Dürckheim, der die spirituelle Welt des Zen nach Europa bringen wollte: „Wir vergessen zu leicht, daß jeder religiöse Begriff in seinem Ursprung eine Deutung einer persönlichen Erfahrung ist“ (25).
Der Tiefenpsychologe C. G. Jung betont, daß man in religiösen Dingen nichts verstehen könne, was man nicht innerlich erfahren habe. Er beklagt es, daß christliche Erziehung nicht zu der Erfahrung hingeführt habe, die göttliche Gestalt – damit meint Jung auch alle Bilder und Aussagen des Religiösen – sei innerstes Eigentum der eigenen Seele,  „Ein Christus ist ihnen nur außen begegnet, aber nie aus der eigenen Seele entgegengetreten; darum herrscht dort noch finsteres Heidentum“ (26). Die Kirche müsse deshalb mit ihrer Arbeit von vorne beginnen. Es sei nicht gelungen, die Seele des Europäers bis zu dem Grade zu christianisieren, daß Forderungen der christlichen Ethik irgendeinen maßgeblichen Einfluß auf die wichtigsten Belange des christlichen Europäers hätten.
Ich kann ein kirchliches Dogma als Zumutung abtun oder ich kann mir sagen: Ich möchte an jene Erfahrung hinkommen, die dem religiösen Begriff zugrunde liegt. Hier ist auch der Gebrauch des Koan im Zen – Buddhismus sehr hilfreich. Der Schüler fragt den Meister: Wo ist der Eingang in das Lotus – Land? Der Meister antwortet: Höre das Murmeln des Baches! Vom ersten Eindruck her ist die Antwort unsinnig, sogar absurd. In Wirklichkeit geht es darum, dem Schüler klar zu machen, das Ziel des inneren Weges kann nicht durch rationales Begreifen errungen werden. Der Schüler muß sich vom logisch – kausalen Denken lossagen und sich ganz auf die Übung des Atmens und Sitzens einlassen; dort wird er den Eingang in das Blütenland finden und den Bach murmeln hören, anders als vor dem Zustand der Erleuchtung; d.h. er tritt in einen Rahmen des Wahrnehmens und Verstehens ein, der außerhalb des Gewöhnlichen liegt und mit der herkömmlichen Logik nicht beschrieben werden kann; der jedoch den Kern des Lebendigen ausmacht. Für einen, der nie Zen geübt hat, wird der Satz des japanischen Meisters Suzuki immer ein Rätsel bleiben: „Wer eine bescheidene Blume an der zerbröckelnden Mauer in ihrem Wesen verstanden hat, der hat die ganze Welt und alle Dinge diesseits und jenseits der Welt verstanden“ (27). Hier kann man weder beweisen noch widerlegen, noch sich distanzieren, sondern hier gilt: Wer mit diesen Worten etwas anfangen will, muß sich auf das ganze System des Zen einlassen, d.h. nicht mehr aufhören zu üben. Zen lehnt alle Begrifflichkeit ab, er will das ursprüngliche, schöpferische, unmittelbare Sein, nicht die Diskussion darüber.
Die Priorität der Erfahrung ist das Kennzeichen der östlichen spirituellen Wege und der Grund, warum diese in der von Religion entleerten westlichen Welt eine gewaltige Faszination ausüben – im Unterschied zum Christentum, welches den Menschen ein festes System von Glaubenslehren vorlegt, die mit dem Leben des einzelnen nichts zu tun zu haben scheinen. Dabei sind die Aussagen der Hl. Schrift nichts anderes als der Versuch, einen überwältigenden spirituellen Erlebnisraum in menschliche Worte zu fassen. Wer genau hinschaut, wird sogar beeindruckende Parallelen entdecken zu den Gipfelerfahrungen des Zen. Um beim Satz von Suzuki zu bleiben: Die bescheidene Blume an der zerbröckelnden Mauer, durch die ein Erleuchteter die ganze Welt und alle Dinge versteht, erinnert an die Lilien des Feldes (Mt 6, 28), von denen Jesus sagt, daß sie wunderbarer seien als alle Pracht Salomons. Oder anders ausgedrückt: Wer in einer einzigen Wiesenblume mehr Schönheit sieht als in einem orientalischen Märchenschloß, der spricht aus einem Hintergrund, der dem, wovon Suzuki redet, nahe kommt. Es trifft auch auf den Schöpfer der Bergpredigt zu, daß er im Wesen der Lilie „die ganze Welt und alle Dinge diesseits und jenseits versteht“.
Ein Dogma wie ein Koan betrachten, sich an ihm reiben, sich auf eine tiefere religiöse Ebene einlassen, das kritische Denken in seine Grenzen verweisen, weil es die letzten existentiellen Belange nicht begreifen kann, den Schwerpunkt auf die Erfahrung setzen, dies ist der Weg, um eine jahrtausendalte Weisheit zu erschließen, um den Reichtum der eigenen Seele zu beleben und um jenem Horizont menschlicher Größe nahe zu kommen, unter dem die Zeugnisse der ersten Christen entstanden sind.
Jung meint zu diesem Thema: Die Dogmen der Kirche sind die schönsten Schöpfungen der Seele, welche die Entsprechungen, die das Dogma formuliert hat, enthält. Gerade das Paradoxe ist das eigentlich Wertvolle an ihnen; denn die Transzendenz, die unseren Intellekt überschreitet, wird – so Jung – eher durch paradoxe als durch eindeutige Aussagen angemessen ausgedrückt. Und es sei ein großer Verlust für die Seele, wenn man jene Inhalte, um deren Formulierung sich die großen Geister von Jahrhunderten bemüht haben, unverstanden auf die Seite legt.
„Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut; die Eindeutigkeit aber ist ein Zeichen der Schwäche. Darum verarmt eine Religion innerlich, wenn sie ihre Paradoxien verliert oder vermindert; deren Vermehrung aber bereichert, denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum ungeeignet, das Unerfaßliche auszudrücken“ (28).
Allerdings komme es auf die Geisteskraft an, damit man eine Paradoxie ertragen und darin sogar höchste religiöse Gewißheit finden könne. Seit der französischen Aufklärung, welche sich auf die Ausschließlichkeit des Rationalen festlegte, sei ein enormer Rückschritt im Hinblick auf das Erfassen existentieller Wahrheiten eingetreten. Es bestehe heute die Aufgabe, den unentwickelten Verstand wieder auf eine höhere Stufe zu bringen, damit er wenigstens eine Ahnung vom Umfang einer paradoxen Wahrheit aufbringe. Gelingt dies nicht, so könne der geistige Zugang zum Christentum als verschüttet gelten, und wir dürfen hinzufügen auch der zu jeder anderen Religion.
Damit steht Jung im Gegensatz zu allen aufgeklärten Geistern auch unter jenen Theologen, welche von Dogmen nicht viel halten und diese möglichst auf ihren einseitig – rationalen Verstehensrahmen zurechtschneidern wollen.
Die Frage ist, ob man das Dogma der Vernunft anpassen soll oder ob man, ähnlich wie im Zen, die Herausforderung einer paradoxen Aussage annimmt und sich auf einen Prozeß einläßt, der Räume des Erlebens und Denkens öffnet, wo uns Christus aus der eigenen Seele entgegentritt.
Um noch einmal ein Mißverständnis abzuwehren: Es geht nicht darum, daß wir blind gegen die eigene Überzeugung Unverständliches annehmen, sondern daß wir eine innere Beziehung zum Inhalt der Glaubensaussagen bekommen, daß „die Brücke vom Dogma zum Erleben“, wie Jung sagt, wieder hergestellt wird.
Von innen her, nicht von der genauen historischen Analyse, wird uns aufgehen, was Jesus als Retter für uns bedeutet. Es braucht das eigene volle, ernsthafte, persönliche Engagement, um in den Erlebnisraum Jesu einzutreten. Der Meister aus Nazareth konnte es nicht mit den Selbstsicheren und Satten, mit den Alles – Wissern und Alles – Erklärern, aber er hatte sehr guten Kontakt zu Menschen auf der Schattenseite des Lebens, mit jenen, die in den Evangelien als Sünder, Zöllner und Dirnen angeführt werden.
Auf unsere Zeit übertragen heißt das: Von der Rückseite unseres Lebenshauses her, wo unsere Schwachstellen sitzen, wo wir selbst „Sünder, Zöllner und Dirnen“ sind, wo wir der Hilfe, der Erlösung und Vergebung bedürfen, werden wir begreifen, was Rettung ist. Es ist die Welt der Gefühle, mit denen der moderne Mensch, selbst der äußerlich Erfolgreiche oft nicht zurecht kommt. Er bildet sich so viel ein auf die errungene Freiheit im Denken und in moralischer Hinsicht. Verschwiegen wird das Leid, das man gerade im Gefühlsbereich einander zufügt, und die Tatsache, wie sehr man den Strömungen der eigenen Seele und denen der Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Einseitiger Jugendlichkeitswahn, wo nur der Starke und Gesund etwas gilt, und Überschätzung der sogenannten Aufklärung und der Vernunft verstellen den Blick für die Wahrheit, daß Leid, Krankheit, Alter und Tod genauso zum Menschen gehören wie Jugend, strotzende Gesundheit und überschießende Lebensfreude. „Lebenlernen“ ist heute ein oft gehörtes Wort. Es gelingt aber nur, wenn wir der anderen Seite, die uns eher bedroht als lockt, ins Auge schauen. Erst wenn wir erkennen, wovon wir erlöst werden müssen, wie nötig wir einen Retter brauchen, werden wir im Verständnis des Begriffes Heiland / Retter weiterkommen.
Was ansteht, ist die bewußte Auseinandersetzung mit Angst, Einsamkeit, Tod, mit den Gewalten, über die nicht wir sondern die uns bestimmen. Die Frage ist: gibt es eine Kraft, die stärker ist als jene Mächte; eine Kraft, die unser Glück will und nicht unser Unglück.
Bei ganz persönlichen Problemen ist es klug, die Erfahrungen anderer Menschen mit heranzuziehen, und wir dürfen uns auch nicht scheuen bei anderen Religionen anzufragen, weil sich diese, solange sie lebendig waren, als Heilungssysteme erwiesen haben.

Den Tod entmachten

Versuchen wir nun, das Gesagte auf die Aussage von Jesus als dem Retter anzuwenden. Der Verfasser des zweiten Timotheusbriefes (nach der wissenschaftlichen Forschung ist es nicht Paulus) erinnert daran, daß Gott uns (die an Christus- Glaubenden) gerettet hat... „nach seiner Gnade, die uns gegeben wurde in Christus Jesus vor ewigen Zeiten, die aber jetzt offenkundig wurde durch das –Erscheinen unseres Heilandes Christus Jesus, der den Tod entmachtete, das Leben aber und die Unsterblichkeit aufleuchten ließ“... (2 Tim 1, 10).
Der Verfasser ist dem Tod schon häufig begegnet und weiß, daß er das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen wird. Er weiß, wovon er spricht. Er zählt die Verfolgungen und Leiden auf, die ihn getroffen haben, aus denen ihn der Herr errettet hat (2 Tim 3, 11) und er ist sich seines bevorstehenden Endes bewußt. „Denn ich werde nun hingeopfert und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe“ (2 Tim 4, 6). Für ihn ist der Tod nicht der Schrecken oder das absolute Nichts, sondern die Begegnung mit Christus, dem Herrn, der ihm den „Kranz der Gerechtigkeit überreichen wird“ (2 Tim 4, 8).
Hier liegt ein Bekenntnis vor, welches die innere Befindlichkeit im Angesicht des Todes wiedergibt. Der Tod ist nicht das Ende, sondern die zu erwartende große Vollendung. Dies ist die Überzeugung eines Mannes der frühchristlichen Zeit. Sie macht sich am Namen Christus Jesus fest, „der den Tod entmachtet hat“ (Tim 1, 10).
Wir wissen nicht, wie der Schreiber des zweiten Timotheusbriefes zu seiner Überzeugung gekommen ist, welche Art von Christus – Begegnung er erlebt hat. Eines ist sicher: eine solche Einstellung erklärt sich nicht durch fromme Wünsche, Projektionen oder Visionen, wie der liberale Bibelwissenschaftler Gerd Lüdemann (29) behauptet. Sie ist Ergebnis eines sehr schmerzhaften und existentiell tiefgreifenden Wandlungsprozesses. Man sollte bedenken, was es kostet, sich mit der Gewißheit des eigenen Todes und dem eines geliebten Menschen auseinanderzusetzen.
Dazu brauchen wir nicht nur auf die Erfahrungen der ersten Christen zurückzugreifen; wir kennen Zeugnisse aus der allerjüngsten Vergangenheit und bei genauerem Hinschauen aus allernächster Nähe bei Angehörigen und Freunden. Ein Beispiel unter vielen ist der Pater Alfred Delp, der wegen seiner christlichen Überzeugung und seiner Zugehörigkeit zum Jesuitenorden am 11. Januar 1945 vom berüchtigten Vorsitzenden des Volksgerichtshofes Roland Freisler zum Tod verurteilt wurde. Die aus dem Gefängnis Berlin Tegel an seine Freunde gerichteten Briefe und Aufzeichnungen geben den seelischen Werdeprozeß wieder, den der Verurteilte bis zu seiner Hinrichtung durchmachte. Es läuft einem beim Lesen eiskalt über den Rücken, wenn vom „Aufgehängtwerden“ die Rede ist, vom Schreiben in Handschellen, davon, daß die Freunde und Gefährten bereits tot sind, davon, daß der Zeitpunkt der Hinrichtung nicht mitgeteilt wird, bis der Wachtmeister ruft: „Alles fertig machen! In zehn Minuten kommt das Auto“. Es steigen in einem verschiedenste Gefühle auf: ohnmächtige Wut über die erbarmungslose Brutalität der Nazis, der Schrei nach Gerechtigkeit und Scham über die Verbrechen im Namen des deutschen Volkes.
Umso mehr geht einem die menschliche Größe auf, zu der der Jesuitenpater in den Wochen und Monaten vor seinem Tod gefunden hat. Am Tage der Verhandlung hatte er sich auf das Schlimmste vorbereitet und in der Gefängniszelle die Messe zelebriert; denn gewöhnlich wurden die Verurteilten anschließend sofort hingerichtet, was dann bei Delp und seinen Freunden doch nicht geschah. So konnte er sich noch von denen, die ihm nahe standen, verabschieden.
Seinen inneren Zustand nach der Verurteilung beschreibt er als große Freiheit. „Die Welt ist in dieser Woche der letzten Bereitschaft ganz anders geworden. Auch wenn ich wiederkommen sollte, dieser 11. Januar hat die Dinge sehr verändert“ (30). Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, wie es einem Menschen zumute ist, der bei voller Gesundheit auf seinen bevorstehenden gewaltsamen Tod wartet. Delp spricht von einer inneren Kraft, die ihm Zuversicht gibt und ihn hoffen läßt, von einem guten Gefühl, das nicht aus ihm stamme. Er vergleicht seine Verfassung vor der Verhandlung mit der nachher und bekennt, daß es jetzt ganz anders sei: da sei nicht mehr die Angst wie in den Bombennächten, Gott habe ihn getragen.
Sehr aufschlußreich ist auch, wie Delp sich mit seinen Zweifeln auseinandersetzt. Er habe überlegt, ob er Selbsttäuschungen zum Opfer gefallen sei, ob sich sein Lebenswille in religiöse Einbildungen sublimiert habe. Dagegen hält er dann „die vielen spürbaren Erhebungen mitten im Unglück; diese Sicherheit und Unberührbarkeit in allen Schlägen; dieser gewisse Trotz, der mich immer wissen ließ, es wird ihnen die Vernichtung nicht gelingen; diese Tröstungen beim Gebet und beim Opfer“(31). Nicht von Illusionen eingelullt empfindet er sich, sondern befreit, das wirklich Vorhandene und Gültige anzuschauen. Hell und unbestechlich sei das Auge bei der Wanderung über äußerste menschliche Ungeborgenheit geworden.
Die letzte schriftliche Notiz des Jesuiten Alfred Delp lautete: „Beten und Glauben. Danke.“ (32). Es fällt auf, daß am Schluß seines kurzen, aber doch so intensiven Lebens im Angesicht des unausweichlichen Todes das Wort „Danke“ steht; in einer Situation, die wir Menschen des Alltags eher mit Schrecken, Ratlosigkeit, Angst und Verzweiflung verbinden. Wenn das Gefühl des Dankes aufsteigt, dann muß das Leben für einen Menschen in diesem Augenblick die absolute Fülle gewesen sein, d.h. er war frei von Angst, Niedergeschlagenheit, Wut und Zorn. Es war kein Platz für Impulse der Vergeltung. Die „Fülle“, die er für das Überleben der Kirche gefordert hatte, war für ihn kein hohler Begriff gewesen, sie wurde in diesem Augenblick – so dürfen wir vermuten – zur lebendigen Wirklichkeit.
Es ist gewiß nicht übertrieben, wenn man sagt: Leben und Sterben eines Menschen wie Alfred Delp ist eine Illustration der Überzeugung, daß Christus den Tod entmachtete.
Zusammen mit dem Jesuiten sind noch andere Männer des Widerstandes aus christlicher Überzeugung zu nennen: z.B. der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer und der Rechtsanwalt Josef Wirmer.
Bonhoeffer kam soweit in seinem Ringen um die Überwindung der Angst, daß er den Tod als Fest betrachtete. „Nun komm, du höchstes Fest“, lautet ein Gedicht, das er kurz vor seiner Hinrichtung verfaßte.
Josef Wirmer war bei der Verschwörung des 20. Juli beteiligt,  wurde am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Außerordentliche an diesem Mann war, mit welcher Sicherheit er seinem Richter Roland Freisler gegenüberstand. Als dieser ihn anbrüllte, hat er so zurückgebrüllt, daß es selbst Freisler den Atem verschlug. Otto Betz schreibt in „Christ in der Gegenwart“ : Als Freisler ihn mit seinem Zynismus lächerlich machen wollte, sagte er: „Wenn ich hänge, müssen sie mehr Angst haben als ich“ (33).
Wer so reagieren kann im Hinblick auf das, was ihn erwartet, muß eine innere Souveränität und Gewißheit besessen haben, die auf der Ebene des normalen Psychologischen nicht mehr erklärbar ist. Er war durch; seine Kraft kam ihm aus einer Quelle jenseits des Todes zu.
Erfüllt sein von Dankbarkeit, ein Fest feiern, ungebrochener Widerstand vor dem Ereignis, an das wir nur mit Schaudern denken, das können Menschen nicht aus sich selbst. Es ist der Ausdruck des Glaubens an Christus als dem Retter. Hier berühren sich Christen unserer Tage mit denen der Frühzeit in der Tiefe ihrer Existenz. Dies ist zugleich auch der Weg, auf dem ein volles und ergreifendes Verstehen der Aussagen des Neuen Testaments geschieht.
Wer sich auf den Prozeß des Ringens und Reifens dieser Männer einläßt, wird mit nicht reflektierten psychologischen Fachausdrücken wie Projektionen oder Visionen zurückhaltend sein. Die menschliche und spirituelle Größe der Widerstandskämpfer wie die der frühen Christen verbietet es, ihr Zeugnis zu entwerten.

Der Tod – eine ferne Größe?

Die noch größere Schwierigkeit, um an Christus den Retter zu glauben, scheint aber heute zu sein: Interessiert überhaupt, was im Sterben und nach dem Tod geschieht? Ist nicht das Thema „Tod“ so verdrängt, daß die Frage nach dem Nachher gar nicht aufkommt?
Die Verheißung des ewigen Lebens entspricht einem Lebensgefühl, das voll auf das Jenseits, auf das Dasein nach dem Tod ausgerichtet ist. Greift diese Motivation bei einer Einstellung, die aus dem Hier und Jetzt lebt, wie dies dem modernen Menschen entspricht? Es ist wahr: früher waren die Gläubigen noch von der zu erwartenden Belohnung im Jenseits geprägt, sodaß sie aufgrund der Hoffnung auf die Ewigkeit auch selbstlos und selbstvergessen waren; und vor allem stellte die Furcht vor dem Tod und dem Gericht eine bestimmende Motivation dar.
Die Anklage der Neuzeit gegen das Christentum lautet, daß es die Menschen auf das Jenseits vertröste und sie am bewußten Leben in der Welt hindere. Den Theologen sitzt dieser Vorwurf so tief, daß sie vom Leben nach dem Tod kaum mehr zu reden wagen.
Auf Anfrage in einer Buchhandlung zum Thema „Seelenwanderung und ewige Seligkeit“ wurden über 100 Titel zu „Seelenwanderung“, dagegen nur drei zu „ewiger Seligkeit“ gefunden. Dies würde bedeuten, daß zwar Interesse für das Thema des Todes besteht, aber die Verheißung des ewigen Lebens seinen Glanz und seine Anziehung verloren hat.
Völlig überraschend hat der Tod von nichtkirchlicher und nichttheologischer Seite her ungeahnte Aktualität gewonnen. Begriffe wie „Sterbehilfe“, „Sterbebegleitung“, „Sterbeforschung“ waren die vor kurzer Zeit im allgemeinen Bewußtsein noch unbekannt; sie sind mit dem Namen Elisabeth Kübler - Ross  und Hospizbewegung verbunden.
Die esoterische Zeitschrift „Abenteuer Philosophie“ bringt in einer Ausgabe folgende Beiträge: „Leben und Tod verstehen“; „Dem Tod begegnen – das Leben erfahren“; „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“; „Das Tibetanische Totenbuch“. Das Heft will Ratschläge für Lebende und Sterbende geben (34), das Wort „Christus“ und „christlich“ kommt freilich nicht mehr vor.
Gerade von esoterischer Seite wird aufgezeigt, daß die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht die Aufmerksamkeit für die Probleme im Hier und Jetzt nimmt, sondern dem Leben eine neue Qualität verleiht.

„Nimm den Tod zum Ratgeber!“

In esoterischen Kreisen haben in jüngster Zeit die Bücher des Amerikaners Carlos Castaneda besonderen Bekanntheitsgrad erreicht. Es geht um die Einführung in die Welt der Schamanen oder, wie sie gewöhnlich heißen, der Medizinmänner. Es ist ein spiritueller Innenweg, an dessen Anfang die Konfrontation mit dem Tod steht. In einem der Bücher wird eine Begebenheit geschildert, wo der Meister Don Juan seinen Schüler in eine Art Todesbegegnung hineintreibt. Das Ergebnis ist nicht depressive Stimmung, sonder ein unendlich frohmachendes Gefühl. Hören wir einige Sätze dazu:
„Der Tod ist unser ewiger Begleiter... Er ist immer zu unserer Linken, eine Armeslänge entfernt...“.
 „Was du tun mußt, wenn du ungeduldig bist, ist dies: Wende dich nach links und frag deinen Tod um Rat. Ungeheuer viel Belangloses fällt von dir ab, wenn dein Tod dir ein Zeichen gibt“ (35).
Der Tod als Trennungslinie zwischen Wichtigem und Wertvollem auf der einen und dem Belanglosen und Wertlosen auf der anderen Seite – genau zu dieser Erkenntnis kam auch Alfred Delp.
Der alte Indianer Don Juan nennt das Leben ohne das Bewußtsein des Todes banal. Wer den schweren Momenten des Schicksals wie Krankheit und Tod schon einmal ausgesetzt war und sie bewußt an sich heran gelassen hat, dem wurde die Tiefe seiner Seele geöffnet und in dem wurden auch ungeahnte Energien freigesetzt.
Denken und Handeln gewinnen an Sicherheit und Kraft. Nutzlose Gewohnheiten z.B. stundenlanges Fernsehen und oberflächliche Bedürfnisse verlieren ihren zwingenden Charakter. Menschen, die davon geprägt sind, weisen eine innere Stimmigkeit auf, sie verbreiten Sicherheit und Vertrauen, was sie sagen, hat Hand und Fuß und hält kritischen Anfragen stand. Man spürt in ihren Worten die Lebensgeschichte, die dahinter steht. Von solcher Art ist der Lehrmeister Castanedas. Jeder seiner Sätze verdient Beachtung und ist Anlaß zum Nachdenken, gerade wenn er zum Thema Leben und Tod sagt: „Wichtig ist, was ich hier und jetzt spüre: ob ich hohl und langweilig bin oder ob ich die Ewigkeit berühre“. Oder "Der Tod gibt die letzte Prägung; und was vom Tod geprägt wird, verwandelt sich in wirkliche Kraft“ (36).
Die vermeintlich sich ausschließenden Alternativen des Diesseits und Jenseits bestehen so gesehen nicht, im Gegenteil: Die Konfrontation mit der Grundbedingung des Todes schafft gerade das erfüllte und dichte Leben – eine Weisheit, die im Mittelpunkt der frühchristlichen Schriften steht und die sich in den Worten wiederfindet: „Wir aber verkünden Christus, den Gekreuzigten... Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1Kor 1, 24).
Der Vorwurf, mit dem Glauben an ein ewiges beseligendes Leben werde die Aufmerksamkeit von der Erde abgelenkt, durch die Angst vor dem Tod würden die Menschen eingeschüchtert, sodaß sie ihr Leben auf dieser Welt nicht voll und ganz zu leben wagten, kann durch die rechte spirituelle Praxis widerlegt werden.

Ewig ist heute

Das ewige Leben, das uns verheißen wurde, hat schon jetzt begonnen. Es ist nicht eine Verlängerung des Diesseits ins Jenseits, sondern etwas qualitativ anderes, wie das Aufsprengen einer neuen Dimension, die die Tatsache des Todes mit einbezieht, aber sie weit überschreitet. Wer durchgegangen ist, ist den Dingen, welche Menschen quälen, überlegen im Sinne eines bewußteren, kraftvolleren Lebens, das nicht mehr von vordergründigen Motiven geprägt ist, sondern von der Kraft aus der Tiefe.
In diesem Rahmen des Denkens, Argumentierens und Erwartens bewegen sich die Schriftsteller des Neuen Testaments. Für den Apostel Paulus bedeutet das Eintreten in die Atmosphäre Christi die Taufe mit ihrem Wandlungsprozeß – zuallererst ein Sterben. Sätze wie: „Wir starben der Sünde“ (Röm 6, 2), „Wenn wir aber starben mit Christus, so glauben wir, daß wir auch leben werden mit ihm“ (Röm 6, 8) gehen – so dürfen wir mit Sicherheit annehmen – auf seine eigene Lebensgeschichte zurück. Es waren gewaltige Erschütterungen, welche den Zusammenbruch seiner bisherigen inneren Welt begleiteten und ohne die seine Aussagen leer und kraftlos wären. Sie sind vergleichbar mit den beschriebenen Reifungsprozessen Alfred Delps und anderer Männer des Widerstands.
Eines wird durch Paulus bestätigt: Seelische Einbrüche dieser Art setzen gewaltige schöpferische Kräfte frei, sie erschaffen einen „neuen Menschen“ (Vgl. Röm 6, 4); wer diesen Prozeß bestanden hat, ist wirklich ein „neues Geschöpf“ (2 Kor 5, 17). Die weitere Geschichte des Apostels nach seiner Bekehrung ist geprägt von einer gewaltigen inneren Dynamik, an die er durch sein Einstiegserlebnis – Paulus spricht davon, daß „Gott seinen Sohn in ihm geoffenbart“ habe (Gal 1, 15) – angeschlossen wurde. Dieses überwältigende Ereignis und dieser dem gewöhnlichen Denken nicht faßbare Zustand ist für Paulus unabdingbar verbunden mit dem Namen Christus Jesus. Ihm schreibt Paulus die wirkende Kraft zu, die das Ganze ausgelöst hat und trägt. Dieser Erlebnishintergrund ist mit einzubeziehen, wenn Paulus Christus den Titel Herr (Kyrios) gibt, der die griechische Übersetzung des Gottesnamens Jahve ist; dessen Bereich Leben und Tod umschließt. „Denn leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir nun leben, ob wir nun sterben, wir sind des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und lebendig geworden, daß er Herr sei sowohl über Tote wie Lebende“ (Röm 14, 8,9).


Anmerkungen
1. Esotera (Zeitschr.) 5, 98, Freiburg
2. Schwarzer Hirsch, Ich rufe mein Volk, Bornheim 1984
3. Vgl. Christuskopf aus Weißenburg im Elsaß jetzt Frauenhausmuseum in Straßburg
4. Martin Buber zit n. Grete Schaeder, Martin Buber, Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, 153 Vgl. Jean Danielou, Liturgie und Bibel, München 1963, 63, dazu werden zitiert: Cyrill von Jerusalem PG 33,1060 - 1069 und das griechische Weihegebet des Taufwassers.

5. C.G.Jung, Erinnerungen, Träume und Gedanken, Zürich 1962, 139
6. C.G.Jung, GW, 11, 367
7. Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Olten  1985,114
8. Vgl. Franz von Assisi, Legenden und Laude, hg. von Otto Karrer, Zürich 1975, 547
9. C.G.Jung zit. bei Heilung und Wandlung: C. G. Jung und die Meditation hg. von Helmut Barz, Verena Kast und Frank Nager, Zürich 1986
10.Rudolf Schnackenburg, Der essenische Jesus, in: Jesus von Nazareth, Für wen sollen wir ihn halten? hg. von Ludger Hohn – Kemmler, Freiburg 1997,52

11.Vgl. Sigmund Freud, Studienausgabe Bd IX, 158
12.C.G.Jung, GW Bd XI / 532
13. R. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich, Freiburg 1963
14. C.G.Jung GW Bd XI, 675
15. Enomya Lasalle, Zen Buddhismus, Köln 1996, 382, 369
16. Alla Selawry (Hgb.), Das immerwährende Herzensgebet, Bern 1976 / 226ff
17. Lexikon Jungscher Grundbegriffe, hg. von Helmut Hark, Olten 1988, A. Selbstverwirklichung
18. Vgl. Josef Nolte, Die Sache Jesu und die Zukunft der Kirche, in: Jesus von Nazareth, hg. von
Franz Joseph Schiersee, Mainz 1972
19. Dreigefährtenlegende, hg. von Otto Karrer, Zürich 1986 / 45
20. Zit. n. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1994, 201
21. Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, in LTHK. Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd I, 289
22. Bibeltheologisches Wörterbuch, hgg. v. Johannes B. Bauer Graz 1967 Art. Heiland
23. Schwarzer Hirsch, Ich rufe mein Volk, Bornheim 1984
24. Vgl. Herbert Haag in, Jesus von Nazareth, Für wen sollen wir ihn halten? hgb. von Ludger Hohn – Kemler, Freiburg 1997 / 114f
25.    Karlfried Graf Dürckheim, in: L' éxpérience réligieuse au – delà des réligions in: Cahiers du Centre Dürckheim / F Mirmaude 1981 / 1
26. C.G.Jung, Psychologie und Alchemie, GW 12, 26
27. D.T. Suzuki, Die große Befreiung, Einführung in den Zen – Buddhismus, Ffm 1975 / 60
28. C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, GW 12, 30
29. Gerd Lüdemann, Der große Betrug, Und was Jesus wirklich sagte und tat, Lüneburg 1998
30.  Alfred Delp, Kassiber aus der Haftanstalt Tegel, hg. von Roman Bleistein, Frankfurt 1987
31.  a. o. O. 115
32.  a. o. O. 96
33.  Christ in der Gegenwart 12/97/104
34.  Vgl. Abenteuer Philosophie, Kulturmagazin, Nr73 München, 1998
35.  Carlos Castaneda, Reise nach Ixtlan, Ffm 1976 / 46,47
36.  ebenda