Das Gespenst des Säkularismus

Man kann nicht mehr leugnen, dass die Kirche in Deutschland einen schweren Stand hat. Die Mißbrauchsereignisse haben die Kirche in das schlechteste Licht gerückt. Die Kirchenaustritte haben erschreckend zugenommen. Es laufen der Kirche einfach die Leute davon, nicht nur die religiös Uninteressierten, ebenso die religiös Suchenden. Manche Diözesen haben in den letzten Jahren ein Drittel ihrer zahlenden Mitglieder verloren und stehen am finanziellen Ruin. Mit der Zusammenlegung von Pfarreien und Umwidmung von Kirchen hat man die Entwicklung keineswegs in den Griff bekommen. Die Maßnahme wird die Entfremdung der vielen keineswegs aufhalten, eher noch fördern. Von oberster Stelle kann man lesen oder hören, es sei der Geist des Säkularismus, der solches Übel verursache. Wirksame Wege zu seiner Überwindung werden nicht genannt, auch nicht an theologischen Fakultäten. Man steht im gesamten kirchlichen Bereich der Entwicklung ratlos und hilflos gegenüber und starrt wie auf ein Gespenst, das alle lähmt.

Im Grunde sind es drei Themen, die mit Säkularismus verbunden sind und die eine überzeugende Antwort einfordern.

1. Das Thema der Säkularisierung oder: Wie werden Menschen wieder religiös?

2. Das Thema der Individualisierung und der so genannten Selbstverwirklichung. Läuft alles darauf hinaus, als Singles zu leben? Wie finden Menschen wieder zueinander und im Miteinander ihre Erfüllung?

3. Das Thema der Detraditionalisierung oder der Entwurzelung. Wie finden die Menschen des europäischen Kulturkreises ihre geistige und emotionale Heimat, aus der sie hervorgegangen sind? Soll alles nur bei einer Pop - und Cola - Kultur als dem gemeinsamsten Nenner aller Verschiedenheiten enden?  
 
Kein Hirtenwort und keine pastorale Anstrengung konnten diese Prozesse bisher aufhalten. Nicht die Kirche verändert die Gesellschaft im Sinne des Sauerteigs, sondern die Gesellschaft hat die Kirche verändert. Die weltanschauliche und religiöse Szene hat in den letzten 50 Jahren ein anderes Gesicht bekommen. Im Mittelpunkt steht die drohende und schon wirksame Klimakatastrophe und die Angst vor Überfremdung. Dabei lässt sich ein starker Trend zu bewussterer Lebensgestaltung beobachten, zur kritischen Einstellung gegenüber den gängigen Lebenskonzepten, zur Sinnfindung auf ganz eigene Weise. Im Hinblick auf ihre eigenste Aufgabe wird die Rolle der Kirche enger und unbedeutender. Um es pauschaliert und zugespitzt zu sagen: Die Spiritualität ist in die Meditationszentren und esoterische Zirkel ausgewandert, die Seelsorge in die psychologischen Beratungsstellen. Man kann dort Menschen mit einem spirituellen Engagement antreffen, das man in Ordenshäusern oder bei klerikalen Veranstaltungen nicht findet. Ebenso suchen Menschen in ihrer seelischen Not eher beim Psychologen Verständnis und Hilfe als beim Vertreter der Kirche, außer dieser ist selbst darin ausgebildet und dafür beauftragt. Die neuen spirituellen Wege und therapeutischen Ansätze haben den Vorteil, dass sie nicht die Zugehörigkeit und Zustimmung zur Kirche voraussetzen und von allen angenommen werden können. Sie wollen Menschen entlasten und nicht überfordern. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, dass die vielfach geübten spirituellen Praktiken, ebenso die therapeutische Methoden Urchristliches in sich tragen, das aber im Laufe der Geschichte im kirchlichen Raum verloren ging.

1.Das Thema der Säkularisierung oder wie werden Menschen wieder religiös?

Alle Aufregung und Diskussion in der Öffentlichkeit zum neu erwachten Thema der Religion darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religionslosigkeit, die so genannte Säkularisierung weiter rapide voranschreitet. Es gibt wohl kaum eine Familie, in der nicht beim Wechsel der Generation auch der Glaube Einbruch erleidet.

Das bisherige Angebot der Kirche setzt das Religiöse und die volle Zugehörigkeit immer schon voraus. Aber wie ist es bei denen, die davon weit entfernt sind? Alle Versuche einer so genannten Neuevangelisierung scheitern daran, dass der Sinn für das Religiöse abhanden gekommen ist. Man weiß einfach nicht mehr, wozu Religion gut sein soll. Wie soll die Botschaft von einem Gott, der im Bewusstsein der Leute einfach nicht vorkommt, die Menschen froh machen?

Die erste Frage lautet deshalb: Wie werden Menschen religiös? Wie kann den Menschen, die außerhalb der Kirche stehen, ein Weg zum Religiösen erschlossen werden? Deshalb einige Überlegungen grundsätzlicher Art zum Thema Mensch und Religion.

Gott ist innen.

Der erste und wichtigste Punkt, an dem sich die Frage entscheidet, ist die Aussage: Gott ist innen. Über Gott zu reden hat immer mit einem selbst zu tun. Gott als personales Gegenüber ist damit nicht aufgehoben. Aber es geht um das innere Organ, Gott wahrzunehmen. Welche Stelle nimmt Gott in der menschlichen Seele ein oder welche Bedeutung hat die Religion für die menschliche Existenz?

Hier ist es nützlich, einmal Stellungnahmen von einer ganzen anderen Seite als der kirchlichen Tradition anzuschauen. Nach Carl Gustav Jung, der zu den Vätern der Tiefenpsychologie gehört, hat die menschliche Seele eine Beziehungsmöglichkeit, eine Entsprechung zum Wesen Gottes in sich. “Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott”. Er spricht vom Archetyp des Gottesbildes, welcher vom Archetyp der Ganzheit nicht zu unterscheiden sei. Deshalb ist die Fülle des Lebens die einzig legitime Begründung der Religion. So ist der “religiöse Trieb” zugleich das Streben nach Erfüllung und Ganzheit, nach Entfaltung zum größeren Umfang der Persönlichkeit, nach mehr Authentizität und Intensität des Lebens.

Das Religiöse ist der stärkste Antrieb der menschlichen Seele, welche alle anderen Emotionen einbindet, ohne sie zu unterdrücken. Voraussetzung ist allerdings, dass er geweckt ist. Jung beruft sich auf die Erfahrung mit Patienten um die Lebensmitte, von denen kein einziger nicht vom Problem des Religiösen und der Sinnfindung umgetrieben wurde, auf die Erfahrung der christlichen und außerchristlichen Mystik und auf seine eigene Lebensgeschichte. Sein Menschenbild richtet sich nicht nach der platten Aufklärung des 19. Jahrhunderts, sondern nach den Überzeugungen auch früherer Jahrhunderte und anderer Kulturen, wo Menschen wie selbstverständlich religiös waren und die Heiligen ihren Platz hatten. Die Wirksamkeit des religiösen Archetyps ist allerdings an ein seelisches Erlebnis geknüpft, das man nicht willentlich herbeiführen kann. Für Menschen, die es erfahren haben, ist es ein einziges Geschenk, wie ein inneres Erwachen, ein Neu - Werden, ein neues Denken, neues Empfinden, ein Hingezogen sein zu neuen Zielen. Ich denke an die strengen Zenkurse - Sesshins - genannt, wo Personen, die man in der Kirche nicht so häufig sieht, wie von einer inneren Kraft gezogen sich dem Sitzen im Schweigen über Stunden und Tage hingeben.

Gott: das Symbol für das, was mich unbedingt angeht.

Jungs Aussage über den religiösen Charakter der Seele wird bestätigt vom evangelischen Theologen Paul Tillich, der den Satz geprägt hat: „Gott ist das Symbol für das, was mich unbedingt angeht”. Gott ist in der Tiefe des Seins, sagt der französische spirituelle Schriftsteller Marcel Légaut. Das heißt Gott ist psychologisch auf der Ebene zu finden, wo wir zu innerst berührt, betroffen, existentiell engagiert sind. Es sind die wichtigsten Ereignisse im Leben eines Menschen: Geburt, Hochzeit, Tod, wo dieses innere Engagement am stärksten ist. Deshalb wird bei diesen Anlässen von den meisten die religiöse Atmosphäre bzw. das Ritual der Kirche gesucht. Aber wie ist es sonst während des Jahres?

Wie kann das Religiöse auch im ganz normalen Leben zum Zug kommen und es prägen?

Überall dort, wo Menschen in ihrem tiefsten Anliegen, in ihren Ängsten, im Misslingen ihres Lebens, in Einsamkeit und Überforderung, ernst genommen und verstanden werden, kommen sie in Kontakt mit ihrer Tiefe, mit ihrem wahren Selbst. Dies kann sein im Angebot des seelsorglichen Gesprächs. Für viele war dies - so kann ich aus Erfahrung als Seelsorger seit mehr als fünfzig Jahren sprechen - der Beginn eines Prozesses, der sie zu einem vertieften, tragenden Glauben führte. Es muss nicht immer das Gespräch sein. Es ist die ganze Art der Verkündigung und des Gottesdienstes, ob sich eine beglückende Tiefe öffnet oder nicht. Entscheidend ist, ob der Verkünder von dem, was er sagt, ergriffen ist. Ergriffensein überträgt sich von selbst und prägt die Atmosphäre. Wenn sie als wohltuend, bergend und beglückend erlebt wird, tun sich Antworten auf die bedrängenden Fragen wie von selbst auf.

Die viel beklagte Gleichgültigkeit gegenüber Kirche ist gegenseitig. Wenn Menschen die Erfahrung machen müssen, dass sie mit der ganzen Last ihrer seelischen Not im Raum Kirche nicht vorkommen, entsteht in vielen Fällen ein Graben voller Enttäuschung und Bitterkeit. Die Menschen von heute sind bereitwilliger, das Religiöse zu erfahren, als wir meinen. Nur darf es nicht immer so heißen. Es seien noch einmal die Suchbewegungen außerhalb des kirchlichen Rahmens erwähnt, die so häufig belächelt, entwertet oder bekämpft werden. Meditation, östliche Wege zur Erleuchtung und transpersonale Psychologie sind für viele zum festen Begriff geworden, denen man die Echtheit der Suche und die Tiefe ihrer inzwischen davon geprägten Persönlichkeit nicht absprechen kann. Sie verweigern das kirchliche Angebot nicht immer aus Interesselosigkeit und anderen minderwertigen Motiven, sondern in sehr vielen Fällen ist es der höhere Anspruch an spiritueller Tiefe, an kritischem Denken und Verstehen, der sie von der Kirche fernhält.

Ich darf ganz ich selbst sein.

Wenn “Gott innen ist”, dann hilft alles, was nach innen, das heißt zur Tiefe und Echtheit der Existenz führt, ihn zu finden. Gemeint ist nicht eine folgenlose Innerlichkeit, sondern die Wandlung der Motivation, die Öffnung des inneren Auges für die Wirklichkeit Gottes und die Not der Menschen, die Überwindung der „Schwerhörigkeit für Gott”. Es geht um die Sensibilität für das, was echt und authentisch ist. Authentizität überzeugt. Sie ist der Einklang von Wort und Emotion, von Überzeugung und Ausdruck, die erlebte Tatsache, dass der ganze Mensch dahinter steht. Gott ist dort, wo ich ganz ich selbst bin.

Die frohe Botschaft lautet deshalb: Ich darf ganz ich selbst sein. Wenn ich das bin, kann ich auch anderen Menschen am meisten bedeuten, ihnen nahe kommen und ihnen helfen.

Die Veränderung, die wir uns wünschen, beginnt nicht mit neuen noch schwereren Anstrengungen. Es ist hilfreicher, sich zu fragen: Was bedrückt mich? Und was bereichert mich? Was bringt mich weiter? Damit ist eingeschlossen, dass man der Angst, Trauer und dem Schmerz nicht mehr ausweicht, dass man lernt, den Wert guter, entlastender Gespräche zu schätzen, ebenso den der Stille, die für einen wohltuend werden kann. Die erfahrenen Werte ziehen einen in ihre Richtung immer weiter. Daraus wird ein Prozess, der einen von sich aus weiterbringt, (lat.procedere = voranschreiten), ein innerer Weg, ein Wachstum der gesamten Persönlichkeit.

2.Das Thema der Individualisierung und der so genannten Selbstverwirklichung.

Vor nicht allzulanger Zeit wurde in Hirtenbriefen und Predigten vor der “Selbstverwirklichung” gewarnt. Gemeint waren Personen, die nur an den eigenen Vorteil denken, die eigene berufliche Karriere, ihre Beziehungen nach Lust und Laune leben, keine Verantwortung für eine Familie übernehmen wollen. Im Grunde sollte ein hemmungsloser Egoismus angeprangert werden.

Man steht nach wie vor ratlos vor der Tatsache, dass Ehen immer seltener gelingen und Familien immer weniger heil bleiben, dass man sogar andere Formen des Zusammenlebens als Familien anerkennen will. Die bloße Forderung von kirchlicher Seite, Solidarität, Beständigkeit und Treue als unaufhebbare Werte ändert an der Sachlage nichts. Es scheint so etwas wie ein Individualisierungsschub zu sein, in welchem der Einzelne mehr Raum und Zeit, mehr Rechte, ein höheres Maß an Lebenserfüllung und Lebensglück für sich beansprucht. Weil Einstellungen und Gesinnungen höchst emotional begründet sind, müsste man als erstes die Kunst lernen, Gefühle zu verändern. Jedoch ändern sich Gefühle nicht durch Verstand und Willen sondern nur durch ein stärkeres Gefühl. Das stärkere Gefühl und die tiefere Einsicht stellen sich am ehesten dadurch ein, dass Menschen in ihrer Art des Daseins bestätigt werden, ihre Not mitgefühlt und angenommen wird, ihr Verlangen nach mehr Selbstbestimmung und nach einem geglücktem Leben als berechtigt anerkannt wird. Je tiefer und echter wir einem Menschen in seiner Krise begegnen, desto eher wird in ihm der Drang zur eigenen Echtheit, der Anspruch des Urgewissens nach Mitgefühl und Mitverantwortung wach. Dies öffnet neue Nähe in Freiheit. In Selbsterfahrungsgruppen zeigt sich immer wieder, dass fremde Menschen zusammenfinden und Freundschaften auf einer tiefen Basis entstehen, wenn sie durch den Prozess des Innersten berührt werden. Entwicklungen lassen sich nicht rückgängig machen, aber sie können weitergeführt werden. Die psychologisch richtige Antwort auf die Erscheinungen unserer Zeit kann deshalb nur heißen:

Von der Individualisierung zur Individuation.

Damit ist gemeint: Sich in Bewusstheit dem Prozess öffnen, der von der Vereinzelung zu einer tieferen Gemeinsamkeit führt. Bei genauerem Hinschauen ist dies auch der Prozess, den die Apostel und die Jünger Jesu zu allen Zeiten und Jesus selbst durchmachten.

Die Nachfolge Jesu das heißt die Erfahrung der Atmosphäre und Nähe Jesu war so umwerfend und so radikal, dass der einzelne aus seinem Familienverband herausgelöst, sogar heraus gerissen wurde. Auf diesem Hintergrund ist manches hart klingende Wort Jesu zu verstehen so die Sätze vom Verlassen, sogar vom Hassen von Vater und Mutter (Mt 19,29, Lk 14,26). Jesus selbst verleugnet seine Verwandten und weist auf seine neuen Brüder und Schwestern hin (Mt 12, 46-50).
Dasselbe lässt sich bei den großen Gestalten der christlichen Geschichte feststellen. Das bekannteste Beispiel ist der junge Franziskus, der seinem Vater nicht nur das Geld sondern auch die Kleider hinwirft und sich von ihm als Sohn lossagt. Und doch war gerade er es, der so viele zusammen geführt hat und immer noch zusammenführt.

Die Nachfolge Jesu ist im wahren und ursprünglichen Verständnis die Wandlung zur größeren und höheren Persönlichkeit. Es ist an die Verheißung Jesu an Petrus zu denken; „Von nun an wirst du Menschenfischer sein” (Lk 5,10). In der Sprache der Psychologie gesagt ist darin “Selbstwerdung” oder auch “Selbstverwirklichung” enthalten. Es ist alles andere als Egoismus in Reinkultur, vielmehr eine bessere Befähigung zum sozialen Handeln.
Im Sonnengesang des heiligen Franziskus von Assisi wird deutlich, wohin die Nachfolge Christi führt: Es ist die Nähe zu Gott, die Nähe zur Schöpfung, die Nähe zu den Menschen, Überwindung von Leid und Angst vor dem Tod. Der Anschluss an die Tiefe der eigenen Existenz geht einher mit der Fähigkeit zu endgültigen Entscheidungen und Bindungen. Die Tiefe und der Ernst einer Beziehung sagt etwas aus über ihre Dauer. Nach dem Psychologen Stanislav Grof ist das Ergebnis einer spirituellen Entwicklung eine größere Freiheit der persönlichen Wahl und ein tieferes Gefühl von Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur und dem Kosmos. Der Drang der Menschen nach Ausprägung ihres individuellen Menschentyps muss nicht ratlos machen, sondern kann in einem spirituell geprägten und rational reflektierten Entwicklungsprozess aufgefangen und weiter geführt werden.

3.Das Thema der Detraditionalisierung oder der Entwurzelung

Der postmoderne Mensch beansprucht für sich die so genannte Detraditionalisierung das heißt den Bruch mit der Tradition, mit allem, was bisher als wertvoll, erstrebenswert und gültig anerkannt war. Es ist die radikalere Form der Aufklärung, die schon vor 200 Jahren die Überwindung des Mittelalters als ihr großes Ziel gesehen hatte. Das Ergebnis ist allerdings nicht das große Glück. Die geistige und emotionale Entfremdung vom Ursprung macht den Menschen heimatlos, ruhelos und orientierungslos. Es bedeutet den Verlust des geistig - emotionalen Instinktes, des Kontakts zu den Quellen seiner Seele. Der so Geprägte ist einer rein rationalen Welt ausgeliefert. Er steht vor der Aufgabe, sich seine geistige Welt immer neu erschaffen zu müssen. Dazu sind die meisten überfordert. Wenn das Alte nicht mehr gilt, wonach sollen wir uns ausrichten? fragen viele. Damit steigt die Anfälligkeit für Ideologien. Es fällt auf, dass bei den neuen spirituellen Konzepten der transpersonalen Psychologie aus Amerika das christliche Element gar keine Rolle spielt, eher schon Vorstellungen aus dem geistigen Raum Asiens. Man sollte nicht übersehen, dass die westliche Zivilisation aus einem geistigen und seelischen Urgrund hervorgegangen ist, der christlich geprägt war und der in den tieferen Stockwerken seiner Seele immer noch vorhanden ist. Auch der moderne Mensch braucht ein größeres Ganzes, Räume und Zeiten, wo seine Seele daheim sein, wo sie sich ausstrecken kann, ebenso die Bilder, die ihrer inneren Struktur entsprechen.
Im Grunde liefe nach dieser Überlegung alles darauf hinaus, wieder zum Christentum und zur alten Kirche zurückzukehren. Davor schrecken fast alle zurück. Sie möchten nicht bevormundet oder entmündigt werden und ihrer Vernunft Gewalt antun. Dies kann auch nicht der angedachte Weg sein. Vielmehr geht es darum, seine eigene Seele zu entdecken und sie in den Schöpfungen früherer Generationen wiederzufinden.

Es ist ein guter Weg, sich mit den eigenen Träumen zu beschäftigen und deren Symbole in den Bildern mittelalterlicher Kirchen und der Bibel zu erkennen. Bei der Bearbeitung von Träumen zeigt sich immer wieder, dass die erlebnishafte Erschließung der eigenen und kollektiven Symbole eine ungeahnte Kraft frei setzt.
Jung ist davon überzeugt, dass die Dogmen und Riten der Kirche einen kostbaren Schatz darstellen, dass sie die schönsten Schöpfungen der Seele sind, dass es darauf ankommt, ihre Verwandtschaft mit der Seele aufzuzeigen und sie als inneren Besitz zu erfahren.

Nehmen wir als Beispiel das Symbol des Kindes. Fast jeder hat schon einmal von Kindern geträumt. In der therapeutischen Arbeit ist vom „inneren Kind” die Rede als einem Lebensimpuls des Ursprünglichen, des Echten, des Neuen, auch des Zärtlichen und Fürsorglichen und des Hoffnungsfrohen. Wir dürfen an die Darstellungen von Kindern in mittelalterlichen Kirchen denken, an die zentrale Rolle des weihnachtlichen Jesus - Kindes, auch an das Kind, das Jesus auf den Arm nimmt und es zum Vorbild der Nachfolge erklärt.
Nach dem Schweizer Psychologen sind die Archetypen empirisch nachweisbare Entsprechungen der Dogmen. Damit meint er vor allem die Lehre von Christus als dem Haupt und der Mitte von allem. Nach der Vorstellung Jungs ist Christus ein Symbol für eine hinter dem empirischen Ich stehende geistige Mitte der Seele, für das Selbst, dem Archetyp der Ganzheit und des Gottesbildes.

Die Überwindung der Detraditionalisierung beginnt mit der Einsicht in die eigene Seele, in deren Bilder und Strukturen.

Konkret heißt das: Man sollte lernen, mit Symbolen umzugehen, deren Erlebnisgehalt zu erschließen, zu begreifen, dass sie Ausdruck von gewonnenen Erfahrungen sind und dass sie diese in uns wecken wollen. Dies hat sehr viel mit Gefühlen zu tun. Man sollte bedenken, dass die Riten und Symbole einmal die große Stärke der Kirche waren, als sie noch fähig war, Menschen zu wandeln.

Das Gespenst des Säkularismus verliert von seiner lähmenden Kraft, wenn wir genau hinschauen, worum es den Menschen von heute geht. Sie wollen in ihrer oft so bitteren Geschichte, in ihrer Angst, Einsamkeit und ihrer Sehnsucht nach Glück ernst genommen werden. Dies ist der Weg, wo Gott auch in der modernen Zeit anwesend ist.

 


Anmerkungen
1. Rede des Papstes in München  9.Sept.2006
2. CG.Jung,Psychologie und Alchemie,GW 12 Olten 1976,S 24