Esoterik als Einstellung


 

1.1. Esoterik als Einstellung

Gewöhnlich wird als"Esoterik" das Geheimwissen verschiedener uralter Lehrtraditionen bezeichnet: wie der Kabbala, des Tarot, der Gnosis, der Alchemie, der Astrologie. Man meinte, es gehe um ein geheimes, nur dem Innenkreis bekanntes Wissen. Esoterik kommt vom Griechischen eso, heißt innen, exo, - außen, deshalb esoterisch, dem Innen zu-, exoterisch, dem Außen zugehörig.

Schon in der Beurteilung der Esoterik kommt die Einstellung eines Betrachters zum Ausdruck. Eine nur von außen ausgehende, exoterische Sicht sieht ein "Wissen", das Esoterik vermitteln will, eine Sammlung von Fakten, ein faktisches Wissen, wie das der Naturwissenschaft. Es gehe um bloße Inhalte, um ein objektives Wissen um etwas.

Esoterik kann jedoch nur verstehen, wer eine Innenschau der Wirklichkeit, des eigenen Schicksals verbunden mit dem Kosmos kennt. Damit ist eso innen nicht nur auf den Kreis der Anhänger bezogen, sondern auf eine Grundeinstellung. In dieser Innenschau geht es darum, Aussagen mit der eigenen Lebensgeschichte zu verbinden, sie erlebend nach zu vollziehen und damit Anschluss an die Emotionen zu gewinnen. Auskünfte über mein eigenes Schicksal z. Beispiel berühren mich zutiefst, ob sie positiv oder negativ sind und damit kommt der innere Mensch in Bewegung. Dies ist zumindest ein Schritt in Richtung zur Sinnhaftigkeit des Daseins. Denn die Sinnleere, unter der besonders viele mit höherer Schulbildung leiden ist durch die strikt durchgezogene Trennung von Lerninhalten und Arbeitsvorgängen mit den Erfahrungen des eigenen Lebens und den tieferen Bedürfnissen der Seele bedingt. Das ständige rein rationale Vorgehen über den Intellekt und die bloßen Willensanstrengungen reißen den Menschen vom Grund seiner Seele los, dort, wo der fundamentale Sinn, das Erleben von Ganzheit und Einheit seinen Sitz hat.

Die Innere Sicht der Dinge ist ein wahrnehmen, spüren, Gefühle zulassen, Zusammenhänge sehen, den inneren Einfällen nachgehen, Pflege der Intuition. Im Gegensatz dazu ist die äußere Betrachtung der Wirklichkeit geprägt von klaren Unterschieden, von Einordnen, Ausschließen der eigenen Gefühle und Beteiligung. Es geht um "objektive Tatsachen".

Die erstere Sicht verbindet einmal den Menschen mit sich selbst und dann Menschen untereinander. Es wird verständlich, dass, wenn eine Gruppe zusammen diese Art des Lernens betreibt, sehr bald enge Verbindungen entstehen mit eigenen Symbolen und eigenem Vokabular. Während im objektivierenden Lernen z. Beispiel in einem Hörsaal einer Universität nur ein gleichgültiges Nebeneinander herrscht.

Die esoterische Sicht der Wirklichkeit verstanden als Innenschau ist deshalb ein Weg der Menschen zueinander.

Noch gar nicht wurde die transzendente oder religiöse Seite der Esoterik erwähnt. Die Innenschau ist in dem Sinn keine Nabelschau, welche nur in der eigenen Lebensgeschichte nach Gefühlen herumwühlt. Ganz allgemein will Esoterik einen Zugang zur transzendenten, das heißt die bloße Sinnerfahrung überschreitende Wirklichkeit vermitteln. Denn die Sinnhaftigkeit des Daseins ist mehr als Anschluss an die Emotionen; denn deren Einbindung und Ordnung ist nur durch eine transzendente, die Gegenstände umfassende und ordnende Instanz möglich.


 

1.2.


 

Schon gesagt wurde, dass Esoterik kein Sammelbegriff objektiver Daten und Fakten ist. Deshalb kann man auch nicht von Geheimlehren sprechen, denn was ernsthafte Esoterik an Symbolen und verschlüsselten Aussagen enthält, kann nur erfassen, wer die Innenschau der Wirklichkeit praktiziert und sich zugleich auf eine innere Entwicklung einlässt. Denn die Lehren der verschiedenen Traditionen werden Niederschlag von Erfahrungen und zugleich Anleitungen, wie solche möglich werden und wie das Ziel erreicht werden kann.

Esoterik ist abwegig, wenn es nur um Befriedigung der Neugierde geht. Das, was die alten ernst zunehmenden Schulen wollten, zum Beispiel die Alchemisten war zuinnerst Wandlung des Menschen. Reifung, Heilung, Vollkommenheit bzw. Vollständigkeit, Überwindung der Polarität, der Gespaltenheit, Vereinigung mit Gott, das kosmische Bewusstsein werden als Ziele des inneren Weges genannt. Und der erfordert den Einsatz aller Kräfte des Menschen. Ars requirit totum hominem. "Die Kunst erfordert den ganzen Menschen". Detlevsen sagt, die esoterische Lehre hat Verbindlichkeit. Sie schließt ein: eine andere Einstellung zur Welt, Änderung der Gewohnheiten und vor allem die Verantwortung für sein Schicksal voll und ganz übernehmen! Das heißt im tiefenpsychologischen Fachausdruck: die Projektionen nach außen zurücknehmen. Nicht mehr meine Eltern, die Vorgesetzten und Nachbarn, die Gesellschaft sind es, die mein Glück oder Unglück bestimmen, sondern ich ganz allein. Wie innen so außen, wie außen so innen, heißt einer der obersten Sätze des esoterischen Weges. Was immer in der Welt verkehrt ist und mir zu schaffen macht, das ist auch in mir. Durch die umgreifende Sicht von Seele und Kosmos ist es möglich auch ohne die Abhängigkeit und die Zustimmung von außen mein Eigenes zu ordnen. Es kommt darauf an, die universalen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und sich ihnen zu unterwerfen. Oder anders gesehen: die ordnenden Kräfte des Unbewussten und des Kosmos, welche eins sind, in sich zum Zug kommen lassen.

Die wichtigsten sind folgende:

1. Die Wirklichkeit als Polarität.

Dahinter steht die Vorstellung von der Einheit der Seele und des Kosmos. Die gesamte Wirklichkeit besteht aus Gegensätzen: Leben und Tod, Licht und Schatten, kalt und warm, gut und bös, Gesundheit und Krankheit. Die Polaritäten im eigenen Leben anerkennen heißt zum Beispiel: seinen eigenen Schatten erkennen und seinen eigenen Anteil am Bösen eingestehen.

Wer bloß für etwas, seien es auch noch so hohe Ideale, oder nur gegen etwas, seien es noch so schlimme Erscheinungen, kämpft, bleibt in seinen Meinungen haften und verhindert den inneren Fortschritt.

2. Dazu gehört dann die Paradoxie der Aussagen. Die Gesamtheit der Wirklichkeit lässt sich nur in Gegensätzen ausdrücken. Wer das Leben haben will, muss auch den Tod bejahen. Das tibetanische Totenbuch lehrt: "Wer nicht das Sterben gelernt hat, kann nicht das Leben lernen". Hier drängt sich ein Hinweis auf die Art, wie Jesus verkündet hat, auf. "Wer sein Leben gefunden hat, wird es verlieren und wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden (Mt 10,39).

  1. Das Resonanzgesetz besagt, dass jeder die äußere Wirklichkeit so wahrnimmt, wie sie in ihm Resonanz findet. Für jede Wahrnehmung ist der Wahrnehmungsrahmen entscheidend, den ein Mensch hat. Wenn einer z.B. die Innenschau, sein Selbst nicht kennt, wird er so etwas wie inneren Weg für Phantasie halten.
  2. Die Umwelt darf deshalb als Spiegel des eigenen Weges betrachtet werden. Um mich zu erkennen muss ich fragen: "Warum geschieht gerade mir, gerade jetzt, gerade dies?" 1

Zusammengefasst könnte man sagen: Esoterik ist eine praktische Lehre vom Unbewussten, und vom Kosmos und von deren Harmonie. Sie gehört in dem Bereich der Tiefenpsychologie vom kollektiven Unbewussten unter dem Aspekt des Individuationsprozesses, der die Entfaltung des transzendenten Kernes der Persönlichkeit zum Inhalt hat.


 

1Thorwald Detlevsen: Schicksal als Chance

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