Glaubensseminar: Religion und Psychologie
Tiefenpsychologie und christliche Existenz.
„Muss man als Christ alles glauben?" „Warum soll man sich durch den Tod Christi erlöst empfinden?" „Wie kann ich mein Leben aus dem Glauben heraus gestalten?"
Diese Fragen werden jeden bedrängen, der als Christ versucht, wach in unserer Zeit zu leben. In diesem Vortrag soll versucht werden, aus der Sicht der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, in Zusammenschau mit der Hl..Schrift und dem Leben der Heiligen aufzuzeigen, wie christliche Existenz aussehen kann, welche Voraussetzungen zu ihrem Vollzug notwendig sind und welche Möglichkeiten in ihr enthalten sind.
1. Grundzüge christlicher Existenz.
1.1 Das Grenzgebiet von Psychologie und Theologie.
Nach alter Lehre der Kirche ist die konkrete Glaubensexistenz eines Christen bestimmt durch Vollzug und Inhalt des Glaubens. Diese beiden Aspekte fallen keineswegs immer zusammen. Es kann sogar sein, dass Christen alle Glaubensinhalte bejahen, aber in der Art ihres Glaubensvollzug, d.h. wie sie im Alltag leben und woraus sie ihre Wertvorstellungen beziehen ganz und gar unchristlich sind. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die unheiligen Zerwürfnisse unter Christen, ganz zu schweigen von Glaubenskriegen.
Die Überbetonung der Glaubensinhalte vor dem Glaubensvollzug drückt sich in einem starren Festhalten an Lehrsätzen und Erfüllen von Vorschriften aus. Darin liegt sicher eine Ursache, warum heute christlicher Glaube so wenig durch sich selbst überzeugt, warum es in christlichen Kreisen vielfach an Ausstrahlungskraft, Mut zum Wagnis und Toleranz fehlt.
Diese Einstellung trifft aber nicht die Fülle der Möglichkeiten christlicher Existenz. Glaube ist Sache des ganzen Menschen, nicht nur des Verstandes und des Willens. Die Analytische Psychologie betont die Erfahrung der Glaubensinhalte. Nur was erlebt und erfahren wurde, wird lebendig. Zugleich wird hier der menschliche Reifungsprozess mit gesehen, ohne den der Glaubensvollzug nicht gedacht werden kann. Glaube und Wandlungsprozess, Selbstwerdung und Wachstum zum größeren Umfang der Persönlichkeit sind nicht zu trennen. Die Fixierung auf Glaubensinhalte und Vorschriften hat vielfach den Reifungsprozess behindert. Die Existenz der Getauften in Christus ist engstens mit diesem Prozess verbunden. Deshalb gilt es die einzelnen Wahrheiten nicht nur zu „glauben" im Sinne von Fürwahr halten, sondern sie voll und bewusst zu verstehen und zu leben. Die heiligmachende Gnade, die durch die Taufe gewonnene Wiedergeburt, die neue Schöpfung sind nicht nur Begriffe, an denen man um des rechten Glaubens willen festhalten muss, sondern die man auch zu einem großen Stück auch erfahren kann und die in den Ursprüngen das Leben voll geprägt haben.
Die Theologie befasst sich mit den Glaubensinhalten als solchen, die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen mit dem Glaubensvollzug, mit der seelischen Verfasstheit und dem Reifungsprozess des Glaubenden. Die Psychologie kann durchaus psychologische Inhalte und Abläufe des Glaubenden erforschen, ohne die Glaubensinhalte zu zerstören. Sie kann sehr viel beitragen, dass Inhalte des Glaubens lebendig werden. Während die Theologie auf der sogenannten ontologischen, einer gedachten und geglaubten Ebene operiert, geht es in der Psychologie darum, was Menschen konkret erleben, denken und tun. Es ist ein Unterschied, ob ich glaube, dass ich erlöst bin, weil es die Kirche lehrt, oder ob ich es wirklich erfahren habe.
Man kann mit Recht sagen, dass die höchsten Möglichkeiten christlicher Existenz in den Heiligen verwirklicht sind. Sie sind deshalb zu der bewunderten und verehrten Größe gelangt, weil sie Erlösung durch die Nähe Gottes tatsächlich erlebt haben. Sie werden den Gläubigen als Vorbilder hingestellt. Die Beschäftigung mit den Heiligen kann aber für den einzelnen nur dann hilfreich sein, wenn sie über den Rahmen einer bloßen Verehrung, Bewunderung und naiven (doch nie gelungenen) Nachahmung hinausgeht und nach den Bedingungen, Möglichkeiten und dem Verlauf auch deren Entwicklung fragt. Allzu sehr wurden die Heiligen vom normalen Christen weggerückt, indem in den Heiligenbeschreibungen das Bild eines von Kindheit an vollkommenen Menschen geschildert und ihre echt menschliche Art verdeckt wurde. Die „Bekenntnisse" des heiligen Augustinus haben zu allen Zeiten ehrlich Suchende angesprochen, weil hier der Heilige von seiner eigenen Not und Wandlung berichtet.
2. Die Grundannahmen der Analytischen Psychologie C. G.Jungs.
Carl Gustav Jung (1875 - 1961), Psychiater und Psychotherapeut, hat Wesentliches zur Entdeckung und Erhellung des Unbewussten geleistet, Er trennte sich von Sigmund Freud, weil er das sogenannte Okkulte, religiöse Phänomene ernst nahm und zum Objekt seiner Forschungen machte. Seine Hauptaussage gipfelt darin, dass der Mensch von Grund auf religiös ist und erst dann seine volle seelische Gesundheit erlangt, wenn er seine religiöse Einstellung gefunden hat.
Deshalb ist seine Auffassung von der menschlichen Psyche am ehesten geeignet, Grundstrukturen christlicher Existenz zu erfassen.
Die wichtigsten Grundannahmen:
2.1 Das Bewusstsein (alles, was der Mensch denkt, erlebt, will) ist nur ein geringer Ausschnitt aus der Gesamtheit der menschlichen Psyche. Das Unbewusste steht dem Bewusstsein als das weitaus Wirksamere und Mächtigere gegenüber. Das Bewusstsein ist nur eine Insel im Ozean des Unbewussten.
Uns Europäern und allen von dieser Kultur Geprägten ist nur ein Minimum der Möglichkeiten der menschlichen Psyche bekannt. Zum Beispiel kann nach dieser Auffassung die Frage, ob Wunderheilungen möglich sind, wegen der uns unbekannten Kräfte des Unbewussten nicht mit „nein“ beantwortet werden. Die Meinung, nur das sei Wirklichkeit, was dem denkenden Verstand eingeht, ist ein verhängnisvoller Irrtum.
Das Unbewusste bzw. der Umgang mit dem Unbewussten spielt in anderen Kulturen, besonders in Asien und bei allen Naturvölkern, eine viel größere Rolle als bei uns.
2.2 Das Unbewusste hat eine eigene Wirksamkeit, besitzt Autonomie und Spontaneität. Wir drücken das aus, wenn wir sagen: Ja es freut mich, es ekelt mich. Gefühle, Sympathie und Antipathie, Sinnerfahrungen unterliegen nicht unmittelbar unserem Verstand und freiem Willen, sondern werden ganz entscheidend vom Unbewussten bestimmt. Wenn sich zwei Menschen verlieben, ist das nicht geplant und absichtlich herbeigerufen. Es ist etwas, was von selbst geschieht. Nach Jung müsste man eigentlich sagen: „Nicht ich habe einen Komplex, sondern der Komplex hat mich". Gefühle können deshalb nicht vom Willen verändert werden, sondern nur durch ein stärkeres Gefühl.
Auf den Glauben bezogen heißt das: Glaube ist nicht nur Sache des guten Willens, sondern hängt wesentlich davon ab, ob die autonomen, bestimmenden Kräfte des Unbewussten für den Menschen fruchtbar werden. Es ist - theologisch gesagt - Gnade.
Die Theologie arbeitet ausschließlich mit Begriffen, die im besten Fall nur den Verstand erreichen. Christliche Verkündigung ist solange steril, ohne Ausstrahlung und Überzeugungskraft, als nur das Bewusstsein angesprochen wird. Es bleibt meist bei bloßen Appellen an den guten Willen und bei guten Vorsätzen. Um die Spontanität der Gefühle, der Freude, der Zuwendung zu wecken braucht es Bilder. Es sind einerseits die Träume, durch welche die Seele spricht und durch welche ein Zugang möglich ist. Andererseits sind es die Gleichnisse und Bilder der Hl. Schrift, durch welche die unbewusste Seele angeregt, sogar verwandelt wird.
2.3 Weitere Eigenschaften des Unbewussten sind: Geistigkeit und Kollektivität, d.h. bestimmte Inhalte des Unbewussten sind allen Menschen gemeinsam; diese werden Archetypen genannt. Unter Archetypen versteht Jung vorgegebene Reaktionsweisen auf typische Situationen, in die ein Mensch verwickelt ist, wie Geburt, Hochzeit, Tod. Ein Archetyp hat einen numinosen Charakter, das heißt, dass eine außer dem Bewusstsein tätige Instanz die Führung übernimmt.
Die Geistigkeit des Unbewussten besagt, dass der Mensch nicht hoffnungslos seinen Trieben ausgeliefert zu sein braucht. Hinter der von Freud entdeckten Triebdynamik liegt eine Geistesdynamik, eine innere Orientierung und Ordnung, die bewirkt, dass man von sich aus das Gute und Richtige will und auch ausführen kann.
2.4 Die nicht wahrgenommenen Inhalte des Unbewussten werden „Schatten" genannt. Er umfasst alles, was unbewusst und unbearbeitet das denkende Ich behindert und in die falsche Richtung treibt. Der Schatten ist zunächst nicht negativ, sondern beinhaltet positive, nicht zum Tragen gekommene Kräfte und Möglichkeiten. Menschen, die es versäumen, ihren Gefühlen Beachtung zu schenken, aber immer nur Gutes tun wollen, merken meist nicht, mit welcher Intoleranz, Ablehnung und Aggression sie anderen begegnen.
Der Schatten wird fast immer nach außen projiziert, meist in den politischen und weltanschaulichen Gegner.
2.5 Der Archetyp, der den gegengeschlechtlichen Seelenanteil des Mannes repräsentiert wird Anima, der den der Frau darstellt, Animus genannt. Im Mann lebt auch die Frau, in der Frau der Mann. Die Anima ist das Erosprinzip im Unbewussten des Mannes, die Beziehungsfunktion, das Verbindende oder, wenn sie negativ ist, das irrational Trennende. Es gibt Symbolfiguren der Anima in den Mythen und Märchen. Die Anima - Figur (Madonna, Hexe, Dirne) symbolisiert Urerfahrungen des Mannes mit der Frau, z.B. mit der eigenen Mutter oder überlieferte Erfahrungen der Menschheit (Loreley - Eva). Die Animus - Figur der Frau beinhaltet eigene Stärke, Selbstbewusstsein, kritisches Denken und Unterscheiden, aber auch negative Momente wie emotionale Kälte und Distanz. Symbolfiguren, in denen diese Eigenschaften projiziert werden, sind der rettende Held, der Weise, Männer, die Stärke zeigen bei Abenteuern. Sie sind auch verführerisch mit tödlicher Bedrohung. Dazu gehört das Märchen vom „Blaubart.“
2.6 Der mächtigste Archetyp ist das „Selbst".
Es ist die letzte ordnende Instanz, die Bewusstsein und Unbewusstes umfasst, ein höheres „Ich", die Erfahrung der Ganzheit, die Versöhnung der Gegensätze, die Lösung der Konflikte auf einer höheren Ebene.
Es entspricht dem Bild Gottes im Menschen, dem Seelenfünklein bei Meister Ekkehard und dem Tao der Chinesen. Das Selbst äußert sich in der Transzendenzerfahrung der Seele: In Freude, Friede, Harmonie, Ausstrahlung, Authentizität und Überzeugungskraft. Für Christen symbolisiert Christus den Archetyp des Selbst.
Alle Aussagen, die über die Wirkung des auferstandenen Christus gemacht wurden, entsprechen der Erfahrung des Selbst. Der Apostel Paulus bekennt im Brief an die Galater: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Seine Bekehrung ist - psychologisch - die Wirkung des Selbst. In demselben Schreiben sagt er:
„Die Frucht des Geistes aber ist die Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte" (Gal 5, 22).
Die Transzendenzkräfte der Seele werden hier angesprochen.
Das Selbst ist jene Instanz, die die Zerrissenheit des Menschen, die innere Trennung und den Konflikt, welcher sich in äußerer Feindschaft oder Neurose kundtut, aufhebt und die innere und äußere Freiheit herstellt. Gleiches ist von Christus gesagt:
„Denn er ist unser Friede, der aus den beiden eins werden ließ und die trennende Scheidewand, die Feindschaft beseitigte ..... und so in sich die zwei zu einem neuen Menschen werden ließ" (Eph 2,14).
3. Was bedeuten nun die Grundannahmen für die christliche Existenz?
Christliche Existenz ist personale Selbstverwirklichung in Christus.
Der Christ muss - psychologisch gesehen - den Weg der Selbstfindung oder Individuation gehen. Das beinhaltet die Entfaltung der Kräfte des Bewusstseins ebenso wie die des Unbewussten.
3.1 Die Entfaltung des Bewusstseins
Um sich überhaupt erfolgreich mit dem Unbewussten auseinanderzusetzen, ist ein starkes Ich notwendig. Das bedeutet:
Bevor der Mensch überhaupt fähig ist, sich hinzugeben (die autonomen Kräfte des Unbewussten wirken zu lassen) muss er erst fähig sein, sich zu behaupten. Mangel an gesunder Selbstbehauptung und Durchsetzungsvermögen ist in keinem Fall als die von Gott gewollte christliche Tugend der Demut zu verstehen.
Dazu gehören Kommunikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Bereitschaft, Kritik anzunehmen und zu üben, positiver Realitätsbezug, Offenheit und Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, mit der wir es Tag für Tag zu tun haben. Die Zeiten mangelnder Religiosität sind meist durch die Entwicklung des Bewusstseins bedingt. Gemeint ist, dass man so stark mit dem Aufbau der beruflichen Existenz und der Familie beschäftigt ist, dass für die andere Seite keine Aufmerksamkeit und keine Zeit vorhanden sind.
3.2 Die Entwicklung des Unbewussten.
Es geht darum, mit den Kräften des Unbewussten umgehen zu lernen, als erstes überhaupt in Kontakt zu treten und dann sie so zu wandeln, dass sie einem zum Guten werden und den Prozess des persönlichen Wachstums voranbringen. Er beginnt dann, sobald ich mich von einem äußeren Ereignis, einem Wort, einem Gespräch oder von einem inneren Geschehen, z. B. einem Traum zutiefst betreffen lasse.
Es ist vorzüglich die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte. Der entscheidende Einschnitt im Leben eines Menschen beginnt damit, indem er begreift, dass er den äußeren Konflikt, ob in der Ehe oder am Arbeitsplatz in sich selbst trägt und dass er den äußeren Konflikt dann löst, wenn er den inneren überwindet. Wegen der Eigenwirksamkeit der inneren Kräfte genügt der gute Wille allein nicht. Aus guter Absicht und gutem Glauben geschah schon viel Unheil.
Die entscheidende Veränderung geschieht mit der Rücknahme der Projektion des eigenen Schattens auf den persönlichen oder politischen Gegner. Dies meint Jesus mit der Gleichnisrede vom „Splitter“ und „Balken". „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge siehst nicht“ (Mt 7,3).
Der „Erzfeind" repräsentiert den eigenen Schatten. Zur wahren Selbsterkenntnis kommen wir dann, wenn wir das beachten, was wir an unserem Gegner kritisieren und sogar etwas vom eigenen darin sehen. Das, was ich beim andern so schlecht finde, bin ich auch - auf meine Weise, zumindest hat es mit mir zu tun.
Dazu sagt der Dalai Lama: „Unser Feind ist unser größter Lehrmeister“. Er sagt uns das, was wir versäumt und falsch gemacht haben."
Den größten Gewinn haben wir dann, wenn wir die berechtigten Motive und Ziele des Feindes erkennen und sie uns zu Eigen machen. Dies gilt sogar für die Terroristen. Wir Christen müssen uns mit der Gewissensfrage befassen: Wo ist bei uns die spirituelle Kraft der vollkommenen Hingabe an den Gott, der sich für die Menschen in Liebe verströmt und nicht andere tötet?
Wie steht es mit der Armut der Kirche, mit Solidarität und Brüderlichkeit? Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, dem Unglauben und dem Bösen in uns selbst, weckt in uns die Kraft des Transzendenten und lässt uns toleranter werden gegenüber Andersdenkenden.
3.3 Christliche Selbstverwirklichung:
Im Mittelpunkt steht die Überwindung der Spaltung von Denken und Reden in hohen Idealen und Grundüberzeugungen und den frustrierenden, niederdrückenden, beängstigenden Erfahrungen der täglichen Wirklichkeit.
Zur Realität des Lebens gehören auch Widerstände der Entwicklung. Wir sprechen vom Kreuz. Ob wir es wollen oder nicht: Unser Leben wird durchkreuzt. Der Widerstand ist das Kreuz, das zu tragen ist. Wer ihn annehmen kann als sein Eigenes, in dem werden Kräfte des Unbewussten wachgerufen. Das seelische Wachstum wird dadurch vorangetrieben. Der Mensch kommt so der Erfahrung des Selbst immer näher.
Adolf Heimler, der Salesianer, Professor und Psychoanalytiker in Benediktbeuern war, definiert den Glauben so: „Glaube als Vollzug christlicher Existenz ist die entgrenzende, Ich-übergreifende personale Entwicklungsdynamik. Glaube ist Befreiung als Prozess und als Entwicklungshilfe des ganz Anderen". (1) Mit anderen Worten: Wir wachsen über uns selbst hinaus, wir werden sicherer, klarer und bestimmter im Auftreten, verständnisvoller und toleranter für andere, erfüllter und zufriedener, können mit Konflikten und Rückschlägen besser umgehen, können neue Perspektiven für die Schwierigkeiten und Nöte der Gesellschaft und der Kirche aufzeigen und sie auch überzeugend darstellen. Menschen in Krisen finden bei uns Trost und Hilfe. Wir sind nicht mehr ratlos im Hinblick auf die Herausforderungen der Zeit.
Selbstverwirklichung trotz oder in der Gebrochenheit des Kreuzes ist psychologisch verständlich auf dem Hintergrund der Lehre vom Unbewussten, von den Archetypen und vom Selbst.
Christliche Existenz bedeutet Verwandlung des ganzen Menschen, des Verstandes und des Herzens, des Bewusstseins und des Unbewussten durch Christus. Psychologisch ausgedrückt: Das Selbst übernimmt die Herrschaft.
Es ist die Höchstform menschlicher Existenz, die Intensität des Lebens, welche die Anziehungskraft der Heiligen ausmacht; Denn diese Form der Selbstwerdung bedeutet zugleich höchste Nähe zum Mitmenschen.
4. Selbstzeugnisse christlicher Existenz.
4.1 In seinem Brief an die Philipper schildert Paulus seinen inneren Werdegang, seine Umkehr und totale Verwandlung.
„Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt. Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen. So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen. Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin“ (Phil 3,7 - 11).
Es soll der versucht werden, die theologische Aussage in eine psychologische Verfremdung zu fassen. Diese ist deshalb notwendig, weil theologische Begriffe wie Gerechtigkeit und Gnade zur Leerformel geworden sind. In ihr wird die gewaltige Dynamik, die Paulus erfasst hat, nicht spürbar. Die psychologische Ausdrucksweise ersetzt keineswegs die theologische Sprache, welche über die menschliche Erfahrung hinausgeht.
Das Bekenntnis des Apostels im Philipperbrief lässt sich in psychologischer Verfremdung etwa folgendermaßen darstellen:
„Ich habe eine völlige Umstrukturierung meiner Wahrnehmung - und Erlebnisweise erfahren. Ich habe erkannt, dass es nur einen Wert gibt, für den es sich lohnt zu leben: Den eigenen Reifungs - und Wachstumsprozess anzustreben und dadurch höchste Intensität des Lebens zu erreichen. Innere Harmonie, Identität, Frieden, Sicherheit, Erfüllung erlange ich nicht durch die Kräfte des Bewusstseins, durch Intellekt und schlussfolgerndes Denken, durch Festhalten an Glaubenshülsen und Erfüllen von Vorschriften, sondern auf der Grundlage, dass ich mich auf die Kräfte des Unbewussten einlasse, dass ich mich deren Eigenwirksamkeit anvertraue, auch in den Widerständen und Einbrüchen, die mir das Leben aufgibt. Ich weiß, dass ich erst auf dem Weg bin. Meine Vergangenheit hindert mich nicht, auf ihm fortzufahren, ich nehme sie an, wie sie ist und richte meine ganze Arbeit und Energie auf das eine Ziel, immer mehr über mich selbst hinauszuwachsen und so eine letzte Vollendung zu erreichen."
4.2 Franziskus
Franziskus berichtet in seinem Testament von seiner inneren Wandlung: „So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus gegeben, das Leben in Buße zu beginnen: Denn, da ich in Sünden war, erschien es mir unerträglich bitter, Aussätzige anzublicken.
Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und während ich fortging von Ihnen, wurde mir gerade das, was mir bitter erschien, in Seligkeit des Geistes und des Leibes verwandelt." (2)
Als Franziskus vom bloßen herkömmlichen Denken und überkommenen Wertvorstellungen bestimmt, war, „erschien es ihm unerträglich bitter, Aussätzige anzublicken". Der Anblick von Aussätzigen ist für einen „normalen" Menschen einfach widerlich. Der entscheidende Umschwung kam, als „der Herr ihn selbst unter sie geführt hat."
Franziskus spricht hier von seinem inneren Wandlungsprozess.
Es ist nicht eine Leistung guter Vorsätze, vielmehr ist hier die Eigenwirksamkeit des Unbewussten, des Selbst angesprochen. Diese hat ihn in Ihrer umwerfenden Wucht erfasst. Das Selbst, das Bild oder der Funke Gottes hat die Herrschaft über Bewusstes und Unbewusstes übernommen und hat Ihm solche Kräfte vermittelt, dass ihm sogar das, wovor ihn am meisten ekelte, zur Freude wurde.
Franziskus beschreibt hier einen totalen inneren Umbruch, eine Umkehrung der Motivation und der Werte. Dieser Prozess lässt sich auch in seinen Gebeten erkennen: „Erleuchte die Dunkelheit meines Herzens" drückt sein Ringen um Echtheit und Klarheit aus. „Mein Gott und mein alles" gibt seine unmittelbare Nähe zu Gott wieder.
5. Wege zur Verwirklichung christlicher Existenz.
5.1 Gebet und Meditation
Gebet und Meditation halten den Kontakt mit dem Unbewussten aufrecht. Erst der betende Mensch ist der ganze Mensch. Das Gebet vor der Arbeit, vor dem Schlafen, vor einer wichtigen Entscheidung ist nicht nur eine Bitte an Gott um gutes Gelingen, sondern zunächst Sammlung aller Kräfte, ein völliges bei sich sein.
5. 2 Sakramente und Liturgie
Die liturgischen Handlungen sind Symbole der unbewussten Kräfte und Vorgänge. Sie bezeichnen die innere Ordnung und führen sie auch herbei. Sie werden deshalb auch Gefäße der Archetypen genannt. Die Wirksamkeit der Sakramente hängt vom Ausmaß der Ergriffenheit des einzelnen ab. Das bedeutet: Wie tief ist einer mit dem Unbewussten verbunden? Die Wichtigkeit der liturgischen Handlungen besteht darin, dass die Kräfte des Unbewussten in Formen gegossen werden und damit Menschen zugänglich werden. Reine Spontaneität im religiösen Erleben und eine totale Ablehnung von festen Formen erschöpft sich im Laufe der Zeit oder führt zum Sektierertum.
5.3 Exerzitien
Die Exerzitien des Ignatius von Loyola haben nach der ursprünglichen Absicht ihres Stifters den Sinn, den ganzen Menschen auf Gott hin auszurichten. Psychologisch gesprochen: Es geht darum, alle Kräfte des Unbewussten auf das Selbst hin zu ordnen.
Die Erfahrung der Geschöpflichkeit und die Entscheidung für Christus sind wesentliche Momente des Exerzitienprozesses.
Es ist die Erfahrung, dass ich mir selbst geschehe. Mein denkendes Ich besteht nicht aus sich selbst, sondern wird von einer höheren Instanz bestimmt. In der Entscheidung für Christus wird bewusst diese höhere Instanz, nämlich das Selbst als Medium des Göttlichen anerkannt.
Nur wenn der Vollzug der Exerzitien auch das Unbewusste anspricht, erfüllen sie ihre Aufgabe. Die Gefahr, dass Exerzitien im bloßen Intellekt steckenbleiben, ist immer zu beachten. In den Anfängen des Jesuitenordens haben sie durch ihre ganzheitliche Wirkung eine gewaltige Dynamik entfacht.
5.4 Selbsterfahrung
Die Selbsterfahrungsgruppen haben sich in ihren Anfängen einer großen Beliebtheit erfreut und sind auch eine wirksame Methode, den Menschen von innen her umzugestalten. Es geht um eine Sensibilisierung für Gefühle, der eigenen wie der anderen, Bedürfnisse, Möglichkeiten und die Beziehungen zum andern. Verbesserte Selbst - und Fremdwahrnehmung und eine erhöhte Kommunikationsfähigkeit werden meist als Lernziele ausgeschrieben.
5.5 Psychotherapie
Psychotherapie ist die intensivste Form, auf das Unbewusste Einfluss zu nehmen, Wachstum und Veränderung anzuregen. Speziell in der Psychoanalyse werden anhand von Träumen Vorgänge, ungelöste Konflikte und auch Lösungen offengelegt und dem Bewusstsein zugänglich gemacht.
Zusammenfassung:
Als ein Ausweg aus den Glaubensschwierigkeiten des heutigen Menschen erweist sich die religiöse Erfahrung. Die Analytische Psychologie von C.G. Jung liefert ein Modell der menschlichen Psyche, das der religiösen Erfahrung eine entscheidende Rolle zuspricht.
Religiöse Erfahrung wird ermöglicht durch Erschließen der Kräfte des Unbewussten, deren wichtigste die Anima - bzw. Animus - Figur, der Schatten und das Selbst sind. Dieses ist der wichtigste Erlebnisfaktor und die Stätte der Seele, wo wir Gott begegnen. Das bedeutet, dass der Mensch in seinem innersten Kern auf Gott bezogen ist. Christliche Existenz besteht darin, dass dieser Kern erschlossen wird, dass der Mensch sein Selbst findet. In der Analytischen Psychologie wird dieser Prozess Selbstwerdung oder Individuation genannt. In den Selbstzeugnissen der Heiligen lässt sich deren seelische Entwicklung deutlich nachweisen. Beispiele dafür sind Paulus und Franziskus. Ihre Geschichte ist durch höchste Lebenssteigerung und zugleich durch innigste Nähe zu Gott und den Menschen gekennzeichnet.
Das religiöse Leben, sowohl das private und öffentliche in der Liturgie, hat ursprünglich die Funktion, den Menschen den rechten Umgang mit dem Unbewussten und sein Wachstum im Glauben zu ermöglichen.
(1) Adolf Heimler, Selbsterfahrung und Glaube, München 1976, S.43
(2) Kajetan Eßer, Die Schriften des hl. Franziskus von Assisi, Werl 1972, S.94