Kirchenaustritte ohne Ende?                 
Wo bleibt die Wende?



I. Schlagzeilen der FAZ: Zahl der Kirchenaustritte steigt dramatisch.

Massenweise treten Kirchenmitglieder derzeit aus, nach FAZ - Informationen sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr teilweise um mehr als 50 Prozent gestiegen. Zumindest eine Mitverantwortung hierfür trägt Peer Steinbrück.

Diözese Rottenburg: Von Januar bis Juni traten rund 10.000 Menschen aus der Kirche aus. Im gesamten Jahr 2013 waren es 14.617, in der Diözese Essen wird von einer Zunahme von 71% berichtet.

Kirchenaustritte:
2010                    181.193

2012                    118.335  

2013                    178.805                                                                                

2014                     ?                                                                            

Für das laufende Jahr darf man an eine Zahl denken, die noch höher ist als die von 2013. Hauptgrund ist die Diskussion um die Kirchensteuer im Zusammenhang mit der sogenannten Kapitalertragssteuer. Damit wurden Ängste und schlummerndes Misstrauen  geweckt, die zu überschnellen Reaktionen führten. Schlagzeilen wie „Kirchensteuer auf Kapitalerträge wird bald automatisch einbehalten“ und dazu die Ereignisse um den ehemaligen Bischof von Limburg haben eine Art Panik ausgelöst.

Zunächst zur Kapitalertragssteuer: Sie ist die Steuer, die auf Kapitalerträge wie Zinsen von Sparguthaben, Dividenden von Aktien oder Kursgewinnen erhoben wird. Sie beträgt pauschal 25%. (1) Gemessen an deren Höhe wird je nach Bundesland 8 oder 9 Prozent Kirchensteuer dazu geschlagen und mit Einverständnis des Kunden von der Bank automatisch abgeführt.
Dazu Die Zeit on-line: „Die Geldinstitute fragen deshalb seit vielen Monaten nach der Konfessionszugehörigkeit. Das sieht für viele Kunden so aus, als sei die Gier der Kirche unstillbar. Es ist keine neue Steuer, versichern die Kirchen“. (2)

Bei Wikipedia steht dazu folgendes: „Anleger können per Antrag bei der Bank auch die Kirchensteuer abgelten lassen. Dazu müssen sie dem Kreditinstitut ihre Religionszugehörigkeit und den für sie zutreffenden Kirchensteuersatz mitteilen“. Diese Auskunft klingt anders als die oben zitierte Schlagzeile. Die Versuche von kirchlichen Stellen klarzustellen, dass es sich um keine neue Steuer handelt, ebenso das Bemühen um öffentliche Transparenz des kirchlichen Vermögens, konnten die vorherrschende Stimmung nicht beruhigen. Damit wird eine Entfremdung eines großen Teils der Kirchenmitglieder offenbar, deren tieferen Grund zu erforschen sich lohnen würde.
                     

II. Die Reaktion der Kirchenleitung, der Bischofskonferenz:

Die Deutsche Bischofskonferenz ist durch die rapide wachsenden Zahlen beunruhigt und hat sich in einem Pastoralschreiben dazu folgendermaßen geäußert: Kirchenaustritt ist eine schwere Verfehlung gegenüber der Gemeinschaft.  
Als Folge ist die aktive Teilnahme am kirchlichen Leben eingeschränkt. Die Pfarrer sind verpflichtet, einen Brief an die Ausgetretenen zu senden mit folgendem Inhalt:                     

Die Erklärung des Kirchenaustritts zieht folgende Rechtsfolgen nach sich: Die aus der Kirche ausgetretene Person darf die
-- Sakramente der Buße, Eucharistie, Firmung und Krankensalbung - außer in Todesgefahr - nicht empfangen,-
kann 
-- keine kirchlichen Ämter bekleiden und keine Funktionen in der Kirche wahrnehmen,
kann nicht
-- Taufpate und nicht Firmpate sein,
kann nicht
-- Mitglied in pfarrlichen und in diözesanen Räten sein,
verliert das
-- aktive und passive Wahlrecht in der Kirche,                                                                        
kann nicht
-- Mitglied in öffentlichen kirchlichen Vereinen sein.                                                                                
Es kann 
-- die kirchliche Beerdigung verweigert werden“. (3)


III. Aus der Sicht des Ausgetretenen:

Um Missverständnisse auszuräumen und um den fortlaufenden Prozess der Entfremdung  aufzuhalten, ist es unumgänglich, sich einmal voll und ganz in die Situation der Betroffenen hineinzuversetzen und die Dinge aus deren Sicht zu betrachten.

1.Autorität Kirche ist abgesetzt.

Die Bischofskonferenz hat ihre Sicht im Falle eines Austritts erklärt und die Maßnahmen, welche im Kirchenrecht vorgesehen sind, dargestellt. Sie greifen aber nur bei denen, welche die Kirchenleitung, das Kirchenrecht als für sie zuständige Autorität noch anerkennen, das heißt nur bei denen, die noch drinnen sind. Mit dem Austritt haben die betreffenden Personen zum Ausdruck gebracht, dass sie die Oberhoheit des kirchlichen Amtes ablehnen. Argumente und Maßnahmen, welche die Anerkennung und existentielle Verbundenheit mit der Autorität Kirche voraussetzen, zeigen keine Wirkung.
 
2.Kirchenzugehörigkeit: Ruf nach eigener Entscheidung

Die folgenden Meinungen zum Kirchenaustritt tauchen in Leserzuschriften und in den sogenannten sozialen Netzwerken, Facebook und Twitter auf.
Lassen wir Personen sprechen, die diesen Schritt getan haben: „Ich wurde nicht gefragt, ob ich zu dieser Kirche gehören will. Der Austritt ist für mich die erste freie Entscheidung in Sachen Religion“. „Ich bin verärgert über den Automatismus, mit der die Kirche Geld schöpft. Sie greift mit Hilfe des Staates in meinen Geldbeutel, ohne mich zu fragen….Ich fühle mich entmündig“. „Ich will mit dieser Institution, die in vielem meine Auffassung von Humanität, von Jesus Christus, von Gott in vielen (unverständlichen) Aussagen, wie in ihrem praktischem Verhalten nicht vertritt, nichts mehr zu tun haben“.    

3.Mein Glaube lebt auch ohne die Institution Kirche 

„Der Austritt berührt meine persönliche Überzeugung, vor allem meine Auffassung von Jesus nicht. Die Kirchenoberen können mir nicht vorschreiben, was ich darf oder nicht darf, schon gar nicht im Bereich meiner Beziehung zu Gott. Der offizielle Austritt ist für mich der Protest gegen die Art, wie die Kirchenleitung mit ihren Mitgliedern umgeht, vor allem mit deren Geld, gegen die Banalität, wie im Raum der Kirche über Gott gesprochen wird, wie der Auftrag des Evangeliums verfehlt wird…Wenn schon Religion, dann gehe ich zu einem  Zen-Kurs. Dort erfahre ich höchste Herausforderung, aber auch höchste Erfüllung“.

                                        
IV. Stimmen der frühen Kirche

Es lohnt sich, Stimmen aus der Frühzeit des Christentums zu vernehmen, in der sich  die Zahl der Glaubenden trotz Verfolgungen ständig vermehrte. Die Aussagen der sogenannten Kirchenväter, der führenden Theologen der damaligen Zeit sind Grundlage der theologischen Arbeit von heute.

Hören wir den zum Christentum bekehrten Philosophen Justinus aus dem zweiten Jahrhundert. Er schildert die Wandlung der Heiden zu Christen mit folgenden Worten: „ ... wie auch wir, nachdem wir dem Logos gefolgt sind, von jenen uns losgesagt haben und Gott allein, dem Ungezeugten, durch seinen Sohn anhangen. Hatten wir früher an unzüchtigen Dingen Gefallen, so huldigen wir jetzt der Keuschheit allein; gaben wir uns mit Zauberkünsten ab, so haben wir uns jetzt dem guten und ungezeugten Gotte geweiht; wenn wir Geldmittel und Besitz über alles schätzten, so stellen wir jetzt, was wir haben, in den Dienst der Allgemeinheit und teilen jedem Dürftigen davon mit; hassten und mordeten wir einander, und hielten wir mit denen, die nicht unseres Stammes sind, wegen der verschiedenen Stammesgewohnheiten nicht einmal Herdgemeinschaft, so leben wir jetzt nach Christi Erscheinen als Tischgenossen zusammen, beten für unsere Feinde und suchen die, welche uns mit Unrecht hassen, zu bereden, dass auch sie nach Christi schönen Weisungen leben und guter Hoffnung seien, dass auch sie dieselben Güter wie wir von dem allherrschenden Gott erlangen werden." (4)

Ähnlich schreibt der christliche Apologet Minucius Felix: „Wenn sich ferner unsere Zahl täglich mehrt, so ist das nicht ein Beweis für Verirrungen, sondern ein ruhmvolles Zeugnis. Denn einer schönen Lebensweise bleiben die alten Freunde treu und schließen sich neu an ... So haben wir gegenseitige Liebe, weil wir von Hass nichts wissen." (5)

Diese Sätze drücken die Freude darüber aus, zum Glauben gefunden zu haben und in einer christlichen Gemeinschaft leben zu dürfen. Wichtig ist hervorzuheben, dass hier von Wandlungen Erwachsener gesprochen wird. Damit ist gesagt, dass die Kirche damals die Kraft hatte, Menschen vom Grunde ihres Wesens her zu verändern. Sie konnte sich gegen die Strömung der Zeit behaupten.

Vielfach kann man von außerkirchlicher Seite hören, das Christentum ist überholt; offensichtlich nimmt es die Stelle ein, die der damalige griechisch-römische Götterkult innehatte, die des Verfalls. Glaubende, aber auch kritisch Denkende sagen: Es kann nicht am Christentum als solchem liegen.

Nach wie vor dürfen wir davon ausgehen, dass Christus auch für unsere Zeit die Wahrheit ist - es muss vielmehr an der Art liegen, wie der christliche Glaube landauf, landab verstanden, gelehrt und gelebt wird.
Der französische Religionsphilosoph Marcel Légaut, der auf der Suche nach der Echtheit seiner Lebensform den Lehrstuhl des Mathematikprofessors aufgab und Bauer wurde, sieht den Hauptgrund für die Krise der Kirche in der spirituellen Mittelmäßigkeit.
Es ist der Mangel an spiritueller Tiefe, welche den Niedergang verursacht. (6)
Für ihn ist Gott in der Tiefe des Seins, welche nur durch einen Prozess der Bewusstwerdung und Wandlung gewonnen werden kann. Sollte jemals in der Kirche etwas besser werden, bedarf es der Bekehrung des einzelnen. Damit zeigt er auch den Weg auf, wie die Kraft der frühen Kirche gewonnen werden und die Strömung der Zeit, welche sich in Vereinzelung und Unverbindlichkeit ausdrückt, überwunden werden kann. Es kann nicht genug gesagt werden, dass Tiefe des Spirituellen letzte, endgültige Verbindlichkeit meint und Menschen auf diese Weise zusammenführt. Nach dem Pastoraltheologen Viktor Schurr war die große Leistung der frühen Kirche (1.bis 4.Jahrhundert) die Schaffung einer „neuen Menschenart“ allein vom Glauben her gegen eine Übermacht des Heidentum. Warum sollte dies nicht auch heute möglich sein?

Darin besteht heute die große Herausforderung für alle, die in dieser Kirche leben und in ihr arbeiten, die sich für sie einsetzen, an ihr leiden, sie lieben, weil sie noch um ihre verborgenen Kostbarkeiten wissen.


V. Die Entfremdung des heutigen Menschen von der Kirche

1.Die Trennwand der theologischen Sprache.
  
Im neuen Gotteslob steht: „Alle Christen sind durch die Taufe geheiligt. In der Kraft des Heiligen Geistes können sie dem Wort Jesu folgen: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). (7)
Es muss die Frage erlaubt sein: Wer von den Lesern und Gottesdienstbesuchern spürt, dass er durch die Taufe geheiligt ist, dass er die Kraft des Heiligen Geistes besitzt, und deshalb dem Wort Jesu vom Streben nach Vollkommenheit folgen kann? Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich einige aufgefordert fühlen, mehr zu tun als bisher.

In Wirklichkeit ist aber den meisten eine solche Aussage vollkommen fremd. Eine Predigt oder ein Hirtenbrief, welche in diesem Stil reden, stoßen auf totales Unverständnis und erreichen nicht die Menschen, um die es geht. Darin darf man einen der tieferen Gründe des Unbehagens und der Unzufriedenheit sehen.
Die Theologie operiert auf der sogenannten ontologischen, einer gedachten und geglaubten Ebene und übersieht den konkreten Menschen, wie er denkt, erlebt, wie es ihm geht, was ihm möglich ist. Sie beruft sich auf die frühchristlichen Texte, ohne zu bedenken, dass deren Inhalte heute nicht gegeben sind.

Um den Unterschied zur heutigen Verkündigung deutlich zu machen: 
Die Taufe, die zum Ausgangspunkt christlichen Lebens und Verhaltens genommen wird, war in den Ursprüngen Ausdruck der eigenen Lebensgeschichte, eines existentiellen Umbruchs, eines Wandlungsprozesses Erwachsener, wie sie Justinus in im obigen Text schildert.
Die Leser oder Hörer fühlten sich berührt und sie konnten das Gesagte als eigene Geschichte nachvollziehen. Wenn dem Neugetauften gesagt wurde: „Du bist jetzt wiedergeboren aus Wasser und Geist“, dann wusste er, was damit gemeint war, er hörte in diesen Worten den wichtigsten Abschnitt seines Lebens wiedergegeben und konnte voll und ganz dazu Ja-sagen. Eingehend können wir den Prozess der Wandlung in den Bekenntnissen des Augustinus nachlesen.

In diesem Sinne sind auch die Paulusbriefe zu verstehen. Seine Abhandlungen im Römer- und Philipperbrief spiegeln seinen eigenen dramatischen Weg vom fanatischen Gesetzesanhänger zum freien, beglückten Jünger Christi wider. 
Paulus spricht vom Sterben, vom Tod und von der Auferstehung der Neugetauften. Dahinter steht seine eigene Geschichte. Ebenso spricht er Erfahrungen an, welche die bedeutsamsten im Leben seiner Leser sind. „Oder wisst ihr nicht, dass wir alle, die wir getauft wurden auf Jesus Christus, auf seinen Tod getauft wurden? Mit begraben wurden wir also mit ihm durch die Taufe auf seinen Tod“ (Röm 6, 3 - 4).
Für die Hörer von heute, die als Kinder getauft wurden, sind solche Worte eine fremde Sprache. Wenn bei einer Taufe einem Neugeborenen gesagt wird, „Du bist jetzt wiedergeboren aus Wasser und Geist… Du bist mit Christus gestorben und auferstanden“ ….„Bei der Firmung wirst du die Fülle des Heiligen Geistes empfangen“, können die Umstehenden nicht erkennen, worum es geht.
Worte, die einmal eine erlebte, wahrnehmbare spirituelle und existentielle Realität  ausgedrückt hatten, werden damit entleert und entfremden die Beteiligten mehr als dass sie sie zu einem tieferen Verständnis des Ritus hinführten.
Eugen Drewermann nennt eine solche Rede „Diebstahl an existentiellem Ernst“.
Man tut sich schwer zur Kenntnis zu nehmen, dass die Taufe, wie sie heute üblich ist, im Erleben der Beteiligten eine völlig andere Funktion hat als in der frühen Kirche.

2.Die Überbetonung von Lehre und Amt

Thomas Halik, Priester und Psychotherapeut aus Tschechien sieht die Schwierigkeit der Kirche hauptsächlich dadurch bedingt, dass Lehre und Amt überbetont werden, und die Erfahrung des einzelnen nicht zählt. „Das Christentum begann im Bereich des Denkens und im institutionellen Bereich als System zu erscheinen“. (8)
Gerade Lehren über Liebe, Sexualität, Erotik treffen die oft so schwierige, gerade verzweifelte Situation der Menschen von heute nicht, offenbaren vielmehr die schon bestehende Kluft und vertiefen sie. Dies hat die vom Papst angeordnete Umfrage gezeigt. Es werden einerseits hohe Normen gesetzt, sogar als göttlich bezeichnet wie die Unauflöslichkeit der Ehe, aber es werden keine konkreten Anleitungen gegeben, wie sie zu erfüllen sind.

Der Bereich der Gefühle müsste äußerst behutsam angesprochen werden. Er ist der letzte Rückzugsort für das ganz Eigene. Hier sind gerade Frauen äußerst verletzbar. An diesem entscheidet sich die Stimmung für oder gegen Kirche.
Der Seelsorger tut sich insofern schwer, weil er im Umgang mit Gefühlen nicht ausgebildet ist. Wenn er sich nur auf die Vollmacht der Sündenvergebung, das heißt auf sein Amt  beruft, verändert er in den so schwierigen Situationen, in denen Menschen feststecken, nichts, ganz im Gegensatz zum Psychotherapeuten. Für diesen ist die eigene Analyse, das heißt das Durcharbeiten der eigenen Lebensgeschichte mit allen dunklen und hellen Seiten vorgeschrieben. Damit ist er in Sachen Gefühle, deren Gesetzmäßigkeiten, Abläufe und Veränderungen geschult. Er erwirbt sich damit die Kompetenz, Menschen in ihrer Not und Verzweiflung eine wirksame Hilfe zu sein. Es kommt nicht von ungefähr, dass schon seit Jahren die Wartelisten der psychologischen Stellen immer länger, dagegen die Beichtstühle immer leerer werden.

Dazu sagt Eugen Biser, ehemals Professor am Guardini-Lehrstuhl der Universität  München: „Was den heutigen Menschen am Glauben irre macht, ist tatsächlich schon längst nicht mehr die Frage nach der Urzeugung oder der Tierabstammung des Menschen, sondern die Unfähigkeit der Kirche, auf seine Sorge verstehend einzugehen, seinem vielfach frustrierten Glücksverlangen entgegen zu kommen und ihm in seiner Überforderung, Vereinsamung und Lebensangst einen Raum des Aufatmens , der Solidarität und der Geborgenheit zu bieten“. (9)
Kirchliche Seelsorge in einer säkularen Welt ist soweit gefragt, als es ihr gelingt, diese Aufgabe zu erfüllen.


VI. Wie gewinnen wir die Kraft der frühen Kirche?

Ganz allgemein gilt: Es ist der Vorgang der Wandlung der frühen Christen - ihr Weg zur Taufe -  welcher das spirituelle Niveau der frühen Kirche begründet hat. Der Glaube, den Jesus meint, kann deshalb nicht wie ein festes System übernommen werden, sondern ist ein Prozess, der mit Unsicherheiten, Zweifeln genauso zu tun hat, wie mit Gewissheit, Überzeugung und Freude. Einbrüche und Dunkelheiten müssen nicht Scheitern bedeuten, vielmehr wächst gerade aus ihrer Verarbeitung die Kraft der Überzeugung. Dies gilt für den einzelnen wie für die Kirche als Gesamtheit. In diesem Sinne könnte die augenblickliche Krise zu einem neuen Aufbruch führen.

Der erste Schritt besteht darin: wahrnehmen, was ist! Alle düsteren Meldungen von Austritten, von Abbau und Rückzug einmal auf sich wirken lassen und dann die eigenen Angst, Enttäuschung und Bitterkeit wahrnehmen. An den eigenen inneren Zuständen kann man mit den Möglichkeiten, die es heute gibt, arbeiten und daran sogar wachsen. Man erwirbt dabei sogar die Fähigkeit, eine Atmosphäre zu schaffen, wo Vertrauen, Offenheit,  gegenseitiger Respekt, spirituelle Tiefe, wo christlicher Geist unmittelbar zu spüren ist. Es sei verwiesen auf den Satz von Karl Rahner, der gerne in Vorträgen zitiert wird. „Der Christ der Zukunft wird einer sein, der erfahren hat, oder er wird nicht sein“.        

Damit ist nicht der abgehobene Mystiker gemeint, sondern jeder, der sich durch Angst und Verzweiflung durchkämpft und daraus die Tiefe, Echtheit und ausstrahlende Kraft seines Wesens und Glaubens gewinnt, eine/, r  dem man abnehmen kann, was er sagt..
Wäre davon eine Gemeinde, eine religiöse Gemeinschaft, der große kirchliche Raum geprägt, würde etwas von der Kraft der frühen Kirche sichtbar.

Die wichtigsten Schritte:

1.Wie heute von Gott reden? Wie werden Menschen wieder religiös?

Nach dem evangelischen Theologen Paul Tillich ist der Name „Gott“ das Symbol für das, was mich unbedingt angeht. Gott ist dort zu finden, wo ich zutiefst berührt bin. Dies sind  einmal die wichtigsten Ereignisse im Leben, die jeden betreffen - auch den Atheisten, nämlich: Geburt, Hochzeit, Tod. Bei diesen Anlässen kommt die Mehrzahl immer noch zur Kirche. Man kann erleben, dass nicht nur Tränen der Trauer bei einer Beerdigung  sondern auch Tränen der Ergriffenheit und Freude bei einer Tauffeier fließen. Hier ist die Spur, auf der auch in unserer Zeit Gott spürbar wird.
Es gibt einen Ausweg aus der Gotteskrise unserer Zeit und der lautet: Gott ist innen! Es gilt, Gott in der Tiefe des eigenen Herzens neu zu entdecken!

Berührt, ergriffen, erschüttert sein sind Worte für bedeutsamste Erfahrungen, welche ein Leben total verändern können, ihm neuen Sinn geben und die viel beklagte Unverbindlichkeit durchbrechen. Außerhalb dieser großen Ereignisse gibt es viele andere Möglichkeiten, damit Gott wieder ins Leben kommt. Es geht um eine ganzheitliche Erfahrung, an der Geist, Leib und Seele beteiligt sind. Für viele hat sich das Sitzen im Stil des Zen als äußerst hilfreich erwiesen, um zur eigenen Seele wie zu den Wahrheiten des eigenen Glaubens, zur Heiligen Schrift wie zur Liturgie zu finden. Ein anderes hoffnungsvolles Zeichen sind die Fußpilger auf den uralten Wegen nach Santiago und anderen Wallfahrtsstätten. Auf kaum eine andere Art wird spürbar, dass das religiöse Erleben über den Leib geht und den ganzen Menschen beansprucht. Alle neu gefundenen Wege stimmen darin überein, dass sie den Sinn für das Wesentliche menschlicher Existenz wecken. Darin liegt eine Kraft, welche den Ton und die Atmosphäre des Redens und Auftretens bestimmt und von selbst andere anzieht.

2.Wie finden Menschen zusammen?

Damit geht die Frage einher, wie die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen von heute überwunden werden kann. Dies berührt das Problem, wie die Kirche wieder Vertrauen findet.
Einen wichtigen Hinweis kann uns dafür die Praxis des nicht - direktiven seelsorglichen Gesprächs geben, das vor 40 Jahren als wichtige Neuerung der kirchlichen Pastoral eingeführt wurde. Um das Ergebnis schon vorwegzunehmen: Es führt in die existentielle Tiefe und bringt Menschen einander nahe. Nicht - direktiv heißt, dass der Seelsorger dem Hilfesuchenden nicht die eigene Meinung, auch wenn sie objektiv begründet erscheint, aufdrängt, sondern den andern unterstützt, seine ihm mögliche und für ihn richtige Lösung  zu finden. „Ich weiß nicht, was für dich gut ist. Ich will dir helfen, es gemeinsam zu finden“. Im Mittelpunkt stehen nicht die Argumente als solche, sondern ein emotionaler, existentieller Prozess, in dem beide, Seelsorger und Hilfesuchender, beteiligt sind. Es ist ein gemeinsames Hinabsteigen in die Tiefe, dem Ort der Gottesbegegnung. Wenn jemand entlastet nach einem Gespräch das Zimmer verlässt, hat er auch etwas von der Güte Gottes wahrgenommen.
Damit ein Gespräch in dieser Art gelingt, braucht es auf der Seite des Beratenden und  Seelsorgers bedingungslose, positive Wertschätzung dessen, der mit seiner Geschichte zu einem kommt. Damit verbunden ist einfühlendes Verstehen. Man muss gewissermaßen in die Lebenssituation des andern einsteigen, mit ihm gehen und sich davon möglichst tief berühren lassen. Es ist nichts anderes als eine geübte Solidarität, die lautet: „Was dich trifft, trifft auch mich. Ich lasse mich berühren vom Rätsel deines Lebens.
Ich lasse sogar meine bisherige Auffassung von Gut und Bös, Falsch und Richtig in Frage 
stellen“.
Eine Einstellung dieser Art wäre die ideale Voraussetzung auch für den Umgang miteinander in Gruppen, in Beziehungen, in der Ehe und in den Familien. Es ist leicht einzusehen, dass auf diesem Weg eine Lösung gegen das beklagte Übel der Vereinzelung gefunden werden kann.
In Bezug auf das verlorene Vertrauen der Kirche könnte es heißen: Kirche wird als Gemeinschaft von unten neu aufgebaut. Man braucht nicht auf die Beschlüsse der Kirchenoberen zu warten. Modell könnten die von Carl Rogers durchgeführten Encounter-Gruppen sein, an denen er das Bild eines neuen Menschen entwickelte. (9)

Um in die eigene Tiefe zu kommen und zum andern zu finden hat sich auch die Arbeit mit den Träumen als sehr wirksam erwiesen. „Träume sind Briefe der Seele an uns - schade, dass sie nicht gelesen werden“. So steht es im Talmud, einer altjüdischen Schrift. Sie spiegeln wider, was im Untergrund vor sich geht, was unsere Gefühle, Motive, unser Denken und Handeln bestimmt, was eine Beziehung -die Liebe- und unser Dasein gelingen lässt oder verhindert. Träume bearbeiten und verstehen bedeutet, Konflikte lösen, sein Schicksal in die Hand nehmen, mehr Freiheit und Nähe zugleich und ein erfülltes Leben gewinnen. Es wird möglich, ganz anders aufeinander zu zu gehen, nicht mehr kalt und distanziert, sondern offen und voller Herzlichkeit. Dies zeigt sich immer wieder in den Seminaren, in denen mit Träumen gearbeitet wird.

3.Die Wurzeln der eigenen Tradition entdecken.

Wer die Bilder der eigenen Seele versteht, gewinnt auch Zugang zu den Schöpfungen vergangener Generationen, seien es Dichtung, Musik, Bauwerke oder Gemälde.
Wer existentielle wie spirituelle Wachheit besitzt, dem öffnen sich wie von selbst die Erlebnisräume der Kathedralen wie die der Mystiker des Mittelalters. Es entsteht ein großes Interesse an Meister Eckehard, am heiligen Franziskus von Assisi, an Hildegard von Bingen, Teresa von Avila und manch anderen, ganz abgesehen von den Reformatoren des 16.Jahrhunderts.


VII. Die Kraft, Menschen zu wandeln - Von der Psychotherapie lernen

Gelebte Psychotherapie hätte für die Krise der Kirche insofern eine entscheidende Bedeutung, als sie Methoden kennt, um Gefühle, Stimmungen und emotionale Ausrichtungen wahrzunehmen. Dies ist ein Weg, um Menschen nahe zu kommen, sie in ihren persönlichsten Motiven zu erreichen und sie von Grund auf zu verändern. Menschen verstehen, heilen und wandeln ist nichts anderes als den Auftrag zu erfüllen, den Jesus seinen Jüngern gegeben hat.
Dazu kommt, dass ein Seelsorger mit therapeutischer Ausbildung mit jedem arbeiten kann, während die reine Beichtseelsorge sich auf die beschränkt, die kirchlich geprägt sind.

Wären die Einstellungen, die in der psychotherapeutischen Praxis gefordert sind, im kirchlichen Raum, in der Leitung, in der Lehre, in Gemeinden und in Gruppen spürbar vorhanden, dann würde die Kirche die Gesellschaft im christlichen Sinn gestalten.
Dabei sollte beachtet werden, dass es hier nicht um irgendwelche Methoden geht, die man sich auf einem Wochenkurs schnell aneignen kann. Vielmehr ist jeder Seelsorger und jeder, der sich als solcher versteht, genauso wie jeder Psychotherapeut sein eigenes Instrument. Soll ein Gespräch wirksam heilend sein, ist das nur in der Begegnung von Mensch zu Mensch möglich.
Dies setzt voraus, dass der Beratende schon den Weg gegangen ist, den der Hilfesuchende noch vor sich hat. Gemeint ist damit die Umkehr zur Echtheit und Tiefe
des eigenen Wesens. Sie kann nur bei einem selbst beginnen. Die gute Botschaft lautet: Jeder, der an den Verhältnissen leidet, darf sich sagen: Wenn ich schon an der Kirche, an der Gesellschaft, an den Menschen nichts ändern kann, so kann mich niemand daran hindern, mich selbst zu verändern.

 

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(1) Darüber gibt die Sparkasse Saale-Orla folgende Auskunft: „Bei der seit 2009 geltenden Abgeltungsteuer werden alle Kapitalerträge wie Zinsen und Dividenden, aber auch erzielte Kursgewinne, mit 25 Prozent versteuert, dazu kommen Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchensteuer. Die Abgeltungsteuer soll zu einer Angleichung der Besteuerung aller privaten Kapitalerträge führen. ……….Ab 2015 wird die Kirchensteuer von den abgeltend besteuerten Kapitalerträgen automatisch einbehalten und an die Finanzbehörden abgeführt, die die Kirchensteuer entsprechend weiterleiten. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Sparkasse über Ihre Kirchenzugehörigkeit informiert wird, können Sie einen Sperrvermerk beim Bundeszentralamt für Steuern eintragen lassen. Sie sind dann selbst für die korrekte Besteuerung verantwortlich“.  www.sparkasse.de

(2) Die Zeit on-line vom 18. Juli 2014

(3) Deutsche Bischofskonferenz, Pastorales Schreiben vom 20.09.2012

(4) Justin, Apologie 14,2-3,BKV 24f

(5) Minucius Feli,Dialog Oktavius XXX,17, BKV 69

(6) GL 541 S. 547

(7) Thomas Halik, Nachtgebete eines Beichtvaters, Freuburg, 2012, 189

(8) Eugen Biser, Glaubensverständnis, Augsburg, 1976, 132

(9) Carl Rogers, Der neue Mensch, Stuttgart 1983


Literatur


Dürckheim Graf Karlfried, Meditieren, wozu und wie, Freiburg 1976

Jung, C.G. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GW 11 Olten 1973

Ders.  Psychologie und Alchemie,GW12, Olten 1976

Halik Thomas, Nachtgedanken eines Beichtvaters, Glaube in Zeiten der Ungewissheit, Freiburg 2012
 

Hippius Maria, Transzendenz als Erfahrung, Beitrag und Widerhall,
                         Festschrift zum 70.Geburtstag von Graf Dürckheim, Weilheim 1966


Rogers,Carl R. Entwicklung der Persönlichkeit , Stuttgart 1976
Ders.                Der neue Mensch, Stuttgart 1983


Watzlawik Paul, Die Möglichkeit des Andersseins, Bern 1976