Erlösung von der Sünde oder von der Angst?

Durch das Kreuz Christi oder durch die Psychoanalyse?

Theologische Begriffe wie Sünde und Erlösung haben heute allgemein auch im Raum der Kirche ihren Sitz im Leben verloren, ihren existentiellen Ernst eingebüßt.

"Warum soll ich mich durch das Kreuz Christi erlöst fühlen", sagen viele, die von Einsamkeit, Verzweiflung und unüberwindlichen Ängsten gequält werden. Und man kann ihnen die Berechtigung dieser Frage nicht absprechen.

Eugen Drewermann versucht nun, das Reden von Sünde und Erlösung von der abstrakten Ebene theologischer Lehre in das Zentrum menschlicher Erfahrung zu rücken. Ausgehend von der Existenzphilosophie sieht er die Angst als die Grundbefindlichkeit des Menschen, welche ihn in sein eigenes Unglück treibt. So kreist in seinem dreibändigen Werk "Strukturen des Bösen" die Auslegung der Schöpfungsgeschichte (Gen 1- 3) aus exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht um das eine Thema der Angst.1 Einer der Vorwürfe, die Rudolf Pesch und Gerhard Lohfink gegen D. erheben, lautet denn auch: "Ist der Mensch nur noch von seiner Angst zu erlösen, aber nicht mehr von der Sünde - der Sünde des Unglaubens.2 Die offizielle kirchliche Lehre lautet: "Christus hat uns durch seinen Opfertod am Kreuz losgekauft und mit Gott versöhnt.3"

Aber was hilft eine solche Aussage einem Menschen, der den Teufelskreis seiner Ängste und der daraus folgenden falschen Entscheidungen nicht durchbrechen kann? Was hilft das zum Beispiel einer schwer depressiven Frau, die ihren Mann verloren hat und deren Tochter aus dem Haus gegangen ist, deren Leben unerträglich geworden ist?

Es gilt, einmal den Begriff der Sünde aus dem abstrakten theologischen Rahmen, ebenso aus dem des moralischen Versagens und der falschen Schuldgefühle herauszulösen und aufzuzeigen, was Sünde mit Angst zu tun hat. Die Hauptaussage Drewermanns ist, dass Erlösung im christlichen Sinn nicht real wird und nicht verstanden werden kann, wenn sie nicht zugleich Erlösung von der Angst ist; vor allem aber, dass nur im Glauben als Vertrauen in ein absolutes Du diese Erlösung geschehen kann. Nicht zuletzt-

muss darüber nachgedacht werden, wie die Erlösung durch Christus am Kreuz neu interpretiert werden kann, ohne Wesentliches aufzugeben.

Überlegungen zur Angst

Wo kommt heute Angst vor?

Es macht zum Beispiel Angst, wenn alte Ideale, für die wir einmal gelebt haben, ihre Gültigkeit verlieren: etwa der Umbruch in der Kirche.

Es macht Angst, wenn der Mensch, den wir hochgeschätzt haben, gar nicht dem Ideal entspricht. Wenn ein junger Mensch in die Welt hineingeht, ist das mit tausend Ängsten verbunden; in der Schule sind es Prüfungsängste, im Beruf ist es die Angst, die Leistung nicht zu erbringen.

Oft ist auch die Angst da, ob man von den Gleichaltrigen geschätzt und angenommen wird. Findet man den Menschen, der zu einem passt? Viele Erwachsene plagt die Angst vor dem Älterwerden, vor Krankheit und Tod.

Erklärungen der Psychoanalyse

Nach Erik Erikson setzt Angst immer dann ein, wenn das Ich sich weitet und mit Aufgaben konfrontiert wird, für die es noch keine Lösungen hat; das heißt, wenn die neue Konstellation der Wirklichkeit nicht eingeordnet werden kann, wenn sich das Ich anhand der bisherigen gewohnten Maßstäbe, des geltenden Weltbildes nicht mehr orientieren kann.

Die eigentlichen Angstbedingungen - so die Meinung vieler Psychoanalytiker - sind die grenzenlose Hilflosigkeit des Kindes und das Erlebnis des Verlustes der Mutter, was auf Situationen im späteren Leben übertragen wird und zur Ursache von Fehlverhalten wird.

Nach Freud gibt es eine Realangst, die zu Recht eintritt, wenn Gefahr droht und eine neurotische Triebangst, die durch Triebverdrängung bedingt ist.

Jedoch reichen die psychoanalytischen Erklärungen dieser Art nur soweit, um auffallende, von der Norm abweichende Phänomene aus der frühen Kindheit zu erklären. Noch nichts ist gesagt über die Ängste des angepassten, normalen Bürgers, wenn er an Grenzen seines Lebens stößt und nach den Grundbedingungen seiner Existenz fragt.

Die Tatsache dieser Grundbedingungen oder anders gesagt, der Kontingenz oder Endlichkeit des Menschen und dass er darum weiß, wird zur Quelle ständiger Angst, wenn sie nicht durch die Nähe eines absoluten, personalen Gegenübers aufgehoben wird.

Drewermann greift auf S.Kierkegaard zurück, der "Sünde" und "Schuld" durch die Begriffe "Angst" und "Verzweiflung" ersetzt. In der Verzweiflung ist dann ein Mensch, wenn er im Missverhältnis zu sich selbst steht aufgrund eines Missverhältnisses zum Absoluten, dem er sich verdankt. Drewermann gebraucht dafür den Begriff Angst, die durch die Gottesferne bedingt ist. Im Felde der Angst missrät alles, was ein Mensch denkt und unternimmt. Er verfehlt in allem sein Leben. Selbst Gott wird zum grausamen Tyrannen, der einem die Freude am Leben missgönnt. Darin sieht D. die Aussage der Paradiesesgeschichte (in Gen 3, 1-6). Die Angst verbiegt unser Dasein; und deshalb ist es nicht möglich, einfach von heute auf morgen durch einen Entschluss des freien Willens, das Böse zu meiden und das Gute zu tun.

Es ist eine Erfahrung, die jeder auf seine Weise gemacht hat; Angst lähmt und entmutigt, verzerrt die Wahrnehmung, verhindert das klare Denken und das offene Gespräch, "macht dumm"; Angst treibt in Panik und Aggression. Wie ein scheues Pferd verhalten sich viele Menschen, wenn sie von der Angst plötzlich überflutet werden. Dies geschieht, wenn bisherige Sicherheiten, die man in einer Weltanschauung oder in einer politischen Vorstellung gefunden hatte, nicht mehr tragen. Man denke an den Aufstieg des Nationalsozialismus nach dem ersten Weltkrieg, an den Ausbruch des Terrorismus.Eine andere Form, mit der Angst umzugehen, ist die Absicherung durch noch strengere Gesetze und Glaubenslehren.

 

Was ist Sünde?

Allgemein verbreitet ist die Vorstellung, daß Sünde Übertretung der Gebote Gottes ist, wie sie konkret im Beichtspiegel stehen. Sehr viele, die in der Osterzeit zur Beichte gehen, sagen: "Ich weiß nicht, was ich beichten soll. Ich habe keine Sünden".

Das übliche Verständnis von Sünde, wie es im Beichtspiegel aufscheint, greift offensichtlich nicht. Andererseits werden in therapeutischen Sitzungen Fehlhaltungen bearbeitet, die aber nicht unter den herkömmlichen Begriff der Sünde fallen. Es führt weiter, wenn Sünde in Anlehnung an das griechische Wort hamartia als Verfehlung des Lebenszieles und -sinnes gesehen wird. Dieses Lebensziel fällt durchaus nicht mit der Befolgung eines Katalogs von Geboten zusammen; sondern entscheidet sich daran, ob ein Mensch an den Grundbedingungen des Daseins wie Geworden sein, Geschlecht, Alter, Leid, Tod verzweifelt oder daran reift, d.h. ob er gelassener, gütiger, weiser wird, d.h. dass ihm die Antworten auf diese Fragen durch leidvolle und mühevolle Auseinandersetzung aufgegangen sind.

Grundformen der Angst

Die vier Grundformen der Angst, die R.Riemann unterscheidet, geben gut die Möglichkeiten wieder, mit denen Menschen mit der Angst umgehen, ihr Dasein bestehen oder verfehlen.

Da ist die schizoide Charakterstruktur, die von der Angst vor Bindung geprägt ist. Sich auf niemand einlassen, nichts riskieren, sich ja nicht anstecken lassen von Stimmungen und Meinungen. Positiv daran ist die Selbständigkeit eines Menschen; negativ, daß der Schizoide keine Gefühle für andere hat. Er bedeutet niemand etwas, weil andere ihm nichts bedeuten; er sperrt sich gegen tiefere Gefühle, vor allem gegen die ernsten Fragen des Daseins. Er verfehlt sein Leben, indem er vereinsamt, verbittert, verhärtet, verschlossen wird. Niemand weiß, was in ihm vorgeht.

Die entgegengesetzte Form weist der depressive Mensch auf, der von der Angst vor Verlust der Bindung, vor Verlassen werden und Ablehnung bestimmt ist. Seine Devise ist: Alle müssen mich mögen, niemand wehtun! Er ist nicht fähig, zur rechten Zeit nein zu sagen, sich abzugrenzen. Sein Lebensideal besteht im Dienst und in der Aufopferung für andere, für die Familie, oder andere edle Zwecke. Die dunkle Seite ist allerdings, daß solche Menschen andere festhalten, wenn sie Eltern sind, die eigenen Kinder. Manche alte Menschen werden krank, wenn man sie nicht rechtzeitig besucht und ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Auf eine ganz subtile Weise üben sie Macht aus. Was sie erreichen wollten, erreichen sie nicht: daß man sie mag.

Eine dritte Form ist die zwanghafte Struktur. Der Zwanghafte ist fixiert an Normen, Gesetzen, festen Regeln, die ihm helfen, die Angst abzuwehren. Jede Veränderung bereitet ihm unerträgliche Zustände.Dem Zwanghaften fehlt die Wärme und Lebendigkeit eines erfüllenden Lebens; er hängt sich - wie es ein Traum ausdrückt - an einer Brücke fest, während der Fluss des Lebens unter ihm und ohne ihn vorbeifließt.

Dem steht wiederum die hysterische Form der Angst gegenüber. Während der Zwanghafte an den festen Normen seinen Halt sucht, glaubt der hysterische Typ an den Wert der Darstellung und Abwechslung. Auf sich aufmerksam machen, Sensationen und Aktionen - so meint er - würden die Rettung bringen. Er kommt nie zur Ruhe, sodaß er sich ernsthaft auf seine Problematik einlassen und sich ihr stellen würde. Er nimmt nichts ernst; Hinter allen Formen, sein Leben zu verfehlen, steht die Angst. Das heißt: Was wir Sünde nennen, ist ohne die Angst nicht denkbar; ob es sich nun um Ausbeutung und um Unterdrückung der Schwächeren, um Misslingen einer ehelichen Partnerschaft, um mangelnde Verantwortung gegenüber den Kindern, um Härte und Grobheit im Umgang miteinander handelt; es lässt sich sehen, dass im Grunde des Herzens die Angst vorhanden ist, der man sich nicht stellt, die die Sicht der Wirklichkeit verzerrt, die Gefühle erstarren lässt, das Verhalten in die verkehrte Richtung treibt.

Die Angst verkehrt alle guten Absichten in ihr Gegenteil: der Teufel vertauscht die Botschaften, alle gutgemeinten Worte und Taten kommen falsch an! Solange die Angst herrscht, gelingt es nicht, einander zu sehen mit den Augen des ändern, mit den Augen Gottes, einander voll und ganz zu bejahen und doch ganz man selbst zu sein, ein Leben miteinander in Frieden und Erfüllung zu führen.

Die Erlösung von der Sünde

Wenn es also eine Erlösung von der Sünde geben soll, d.h. von der Verfehlung des eigenen Lebens, dann muss diese Erlösung die Befreiung von der Angst miteinsch1ießen. Entscheidend ist, ob ein absolutes Vertrauen in den letzten, transzendenten Grund, auf Gott hin eröffnet wird, dass die Angst des Daseins beruhigt wird. Vieles kann heute in einer guten Psychotherapie geschehen/ wobei die Vertrauenswürdigkeit, die Echtheit des Therapeuten das ganz entscheidende Moment ist, ob ein Feld entsteht, wo sich Ängste auflösen. Sobald die Ängste geringer werden, schwinden auch die Fehlhaltungen wie Härte, mangelndes Einfühlungsvermögen, Sprachlosigkeit, Verschlossenheit, Gleichgültigkeit.

Menschen werden echter, lebendiger, kontaktfreudiger, überwinden ein Stück die jeweilige falsche Grundhaltung. Die Psychotherapie kann jedoch auf die letzten Fragen: Warum das Leid? Warum Krankheit und Tod? die Antwort nicht geben. Dazu bedarf es einer Erfahrung religiöser und personaler Art bzw. einer personalen Vertiefung, die den transzendenten Grund miteinschließt.

Wie ist das nun mit der Erlösung durch Jesus Christus?

Die Vorstellung, dass Jesus uns durch seinen Tod losgekauft hat, dass er Sühne für unsere Sünden geleistet hat, können Menschen von heute schlecht nachvollziehen. Wie lässt es sich mit einem all-gütigen Gott, von dem Jesus Kunde gebracht hat, vereinbaren, dass dieser Gott den grausamen Tod seines Sohnes gebraucht hat, um die Menschen zu erlösen?

Die Auffassung, dass Gott uns wegen der Verdienste Christi die Sünden nicht anrechnet, entstammt einem Gottesbild, das die Beziehung zu Gott mehr äußerlich sieht.

Wenn wir von der Seite der menschlichen Erfahrung ausgehen, wird uns manches verständlicher. Es lässt sich sagen: Jesus hat schon zu seinen Lebzeiten Menschen erlöst, und an der Art, wie er es tat, erkennen wir, wie Erlösung aussieht.

Die Taten Jesu werden bei Matthäus so geschildert:

"Blinde sehen, Lahme gehen; Aussätzige werden rein; Taube hören;

Tote stehen auf; den Armen wird das Evangelium verkündet"

(Mt 11, 5-6)'.

Jesus hat ein Feld des absoluten Vertrauens um sich geschaffen - das ist die Erfahrung der ersten Jünger. In diesem Feld der absoluten

Bejahung wurde die Angst eines jeden, der sich ihm öffnete, überwunden. Die junge Kirche sah in den Wundern Jesu mehr als die Heilung von körperlichen Gebrechen. Oie ersten Christen erlebten die Taten Jesu als an ihnen vollzogen, indem die Angst endgültig überwunden wurde. Es wurde gesagt, daß Angst lähmt; siehe da: Lahme gehen. Der spontane Antrieb zum Handeln wird entdeckt und zugelassen. Blinde sehen: Man sieht die Wirklichkeit nicht mehr verzerrt, verdüstert, verdunkelt, man sieht neue Wirklichkeiten, die trösten. Aussätzige werden rein: Die Unreinheit des Minderwertig seins, und das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht berechtigt zu sein, schwindet. Taube hören: Wir hören aufeinander. Das Gespräch ist möglich.... Die Erlösung, die Jesus bringt, besteht darin, daß er die Menschen in die Nähe Gottes bringt, wo die Angst beruhigt wird und die Lasten abfallen.

Warum mußte Jesus sterben?

Jesus hat seiner inneren Stimme gehorcht, er mußte zu seiner Wahrheit stehen, zum Willen des Vaters. Das brachte ihn in Gegensatz zu den von Ängsten beherrschten Schriftgelehrten und beamteten Priestern.

Weil sie sich ihm verweigerten, hat er sie verunsichert und ihre Angst ins Maßlose gesteigert. Die Beseitigung des Angsterregers ist eine Form der Absicherung.

Indem Jesus seinen Tod erlitt, ist er in die Mitte der Welt eingetreten, wo keine Angst mehr herrscht. So ist er zum Therapeuten geworden, der den Weg selbst gegangen ist, zum Heiland der Welt. Die Erfahrung der ersten Christen war, daß der Name Jesus sie in die Mitte der Welt bringt, in den Grund des Seins eintaucht. Deshalb geschah die Taufe auf seinen Namen. Bewußt war ihnen, daß diese Kraft des Namens Jesus aus seiner endgültigen Konsequenz zur Wahrheit, aus dem Tod kommt. Der Ausdruck "Loskauf" ist eine menschlich-mythologische Aussageweise; entscheidend ist, daß etwas mit uns selbst passiert, in uns selbst sich etwas wandelt. Die Frage: Erlösung durch das Kreuz oder durch die Psychoanalyse? kann deshalb so beantwortet werden: das Reden von Erlösung beinhaltet sehr wenig, wenn nicht auch die Wirkungen der Psychoanalyse miteingeschlossen sind.

So war es am Anfang! Andererseits kann die Psychoanalyse wichtige Schritte tun, um der Angst zu begegnen; sie kann die Angst ein ganz großes Stück abbauen, um in dieser Welt leben zu können und die Welt menschlicher zu gestalten.

Die Psychotherapie kann zwar die letzten Fragen des Menschen nicht beantworten, wohl aber dafür öffnen.

Endgültig kann uns nur das feste Vertrauen, das wir in der Tiefe unseres Seins auf die liebende und rettende Macht Gottes setzen, über den Abgrund der Angst hinwegtragen.

 

1 Eugen Drewermann: Strukturen des Bösen, Paderborn 1981

2 Vgl. Rudolf Pesch und Gerhard Lohfink: Tiefenpsychologie und keine Exegese, Stuttgart 1987/36

3 Ludwig Ott: Grundriß der katholischen Dogmatik, Freiburg 1954/215