Selbstverleugnung oder Selbstfindung

Selbstverleugnung als kirchliche Einstellung

Selbstverleugnung gilt als einer der unumstößlichen, unaufgeb- baren heiligen Werte des Christentums. Einmal kann man sich auf das Wort Jesu berufen: "Wenn einer mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16,24). Zum ändern werden die Beispiele christlicher Nächstenliebe wie Mutter Teresa,- Damian de Veuster, Vinzenz von Paul, die ungezählten Ordensschwestern im Dienste an den Kranken und Armen in Predigt und Katechese als heroische Vorbilder hingestellt und zur Nachahmung empfohlen. Als christlich gilt es, von sich selbst wegzuschauen, eigene Bedürfnisse hintanzustellen und ganz für andere dazusein. In seiner Enzyklika "Mulieris dignitatem" bezeichnet Papst Johannes Paul II. das Dasein der Frau als Dienst; sie soll Maria,der dienenden Magdynacheifern. Das kirchliche Ideal der Selbstverleugnung wurde im Priester- und Ordensstand verwirklicht gesehen, in den Gelübden der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit.

Deshalb auch die hohe Wertschätzung der Priester- und Ordensleute im christlichen Volk! Eine alte Maxime lautete: Priester leben - Opferleben. Als Begründung gilt das Opfer Christi, das er täglich vollzieht.

Die Kritik Drewermanns

Eugen D. greift in seinem Werk "Kleriker - Psychogramm eines Ideals" diese Grundhaltung an. Wenn totale Selbstverleugnung das Leben bestimmt, heißt das in der psychoanalytischen Sprache, daß das Ich eines Menschen sich nicht entwickelt, vielmehr von dem abhängig ist, was von außen kommt, von den Anforderungen der Umwelt, von Vater und Mutter, von den Autoritäten der Kirche und des Staates. Wer kein ausgeprägtes Ich hat, d.h. wer sich nicht auf das eigene Urteil, auf eigene Impulse des Denkens und Fühlens verlassen kann, wer nicht aus sich selbst seinen Wert bezieht, ist auf die Gnade der Menschen angewiesen, auf das, was man als wünschenswert, als heilig, vollkommen bezeichnet. Weil in der Kirche und in gut katholischen Familien das Ideal der Selbstverleugnung einen hohen Rang besitzt, entsteht aus der ontologischen Unsicherheit eines jungen Menschen, aus dem Bedürfnis nach Achtung, Anerkennung und Angenommensein der Wunsch, Priester zu werden. So erklärt D. die Berufungsgeschichte der Kleriker. Die Summe aller von außen kommenden Werte, Normen und Zie1vorstellungen - das ÜberIch-bestimmt diesen Berufsstand. Im Grunde ist es eine Selbstentfremdung, das Ich wird zum bloßen Empfänger von Befehlen und Meinungen der Institution und zum Träger von verinnerlichten Denkschablonen. Eine Glaubensgemeinschaft wie die katholische Kirche, welche das Opfer zur höchsten Norm erhoben hat, verlangt von den Priestern die vollkommene Identifikation mit der Berufsrolle.

„Aber dies" - so Drewermann - „führt psychologisch zur systematischen Unterdrückung und Verkümmerung des Persönlichen".1 Drewermann sieht also im Prinzip der Selbstverleugnung, mit dem die Kirche aufgebaut ist, Negatives, Schädliches für den einzelnen, weil es ihn seiner Persönlichkeit beraubt.

Hat er recht mit seiner Kritik?

Man wird schlecht widerlegen können, dass die Amtskirche eine auffallende Starrheit des Denkens aufweist, wenn es um Normen und Ideale geht. Man denke nur an die Behandlung der Geschiedenen, die wiederverheiratet sind, und an das Zölibatsgesetz. Die Priester, die einfühlend, situationsgerecht und helfend auf die schweren seelischen Nöte der Menschen eingehen, sind eher die Ausnahme. Dies würde nämlich eine ausgeprägte, entfaltete, umfassende Persönlichkeit voraussetzen. Weil die hohe Norm der Kirche besonders in Bezug auf Sexualität zum Bestandteil des eigenen Selbstwertgefühles wurde - in der psychoanalytischen Sprache ausgedrückt: Das Über-Ich ist mit dem Ich verschmolzen - würde eine Änderung der Norm und der hohen Ideale das eigene Ich gefährden, das eigene Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Der einzelne, der sich hingibt im Gehorsam, braucht die Institution Kirche zur eigenen Stütze.

Auf der Schattenseite der hohen Ideale, der Selbstaufopferung, welche ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl gewährleisten, liegt jedoch, dass eine ständige Angespanntheit und ein ständiger Gruppendruck herrscht. Wer sich der hohen Norm nicht fügt, wird mit schweren Strafen und mit Schuldgefühlen belastet. Der einzelne wird nur angenommen und geachtet,'weil und solange er in der Gruppe bzw.in der Kirche ist. -

Drewermann zeichnet allerdings ein Bild von der Kirche und den Klerikern, das h eute so allgemein nicht mehr stimmt. Seit dem Konzil hat doch ein weitreichender Prozeß der Liberalisierung auch in der Kirche eingesetzt. Der Druck, der früher einmal war, besteht in diesem Ausmaß nicht mehr.

Jedoch haben heute fundamentalistische und integraistische Strömungen, welche dem von D. gezeichneten Bild entsprechen, großen Zulauf. Er warnt vor solchen Gruppierungen, welche den einzelnen auf Grund hoher Zielsetzungen überfahren, weil daraus keine christlichen Gemeinden entstehen, welche die Freiheit und Berechtigung des einzelnen zur Grundlage haben. Deshalb ist er äußerst skeptisch gegenüber der integrierten Gemeinde in München, welcher er Terrorbruderschaft vorwirft, ebenso gegenüber der südamerikanischen Befreiungstheologie. Die Menschen müssten wesentlich von der Angst und dann erst von politischer Ungerechtigkeit, von sozialer Armut und ökonomischer Ausbeutung erlöst werden, weil die Angst auf allen Ebenen des menschlichen Daseins jene Symptome hervorbringt. Selbstverleugnung erlöst jedoch nicht von der Angst, sondern verlagert sie nur.

Selbstfindung als Grundlage einer christlichen Gemeinschaft.

Selbstfindung sieht D. als die Alternative gegenüber einer von der Kirche gewollten Einstellung, welche die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit verhindert. Die Ideale des Klerikers müssten so formuliert werden, dass sie überzeugend einen Beitrag zur Selbstfindung leisten können. Ehe das nicht geschieht, bleibt das Haus der Kirche nach wie vor auf Sand gebaut. "Nur wer sich selbst entfaltet, bewirkt Gutes". Dieses buddhistische Sprichwort steht auf der ersten Seite seines Werkes "Kleriker- Psychogramm eines Ideals".2

Die evangelischen Räte sind nur dann wahrhaftig, wenn sie als Teil einer inneren Entwicklung verstanden werden können. Der Wert einer bestimmten Haltung muß in durch sich selbst lebbar und erlebbar werden.

Was leistet die Psychoanalyse zur Selbstfindung?

Eines lässt sich ganz allgemein sagen: Psychoanalyse vermag zum eigenen Leben zu verhelfen. Sie will den Analysanden in Kontakt bringen mit seinen eigenen Gefühlen - ihm die Angst nehmen, die verdrängte seelische Verwundungen und angestaute Triebe verursachen. Zunächst geschieht das, indem der Schmerz in einer Atmosphäre des Vertrauens zugelassen wird. Was von außen zum Schaden der Person aufgesetzt wurde und am Leben hindert, soll schwinden. Liebe als von innen kommender, spontaner Zuneigung, als Herzlichkeit und Wärme soll möglich werden. Freud sieht in der Liebes- Genuss- und Arbeitsfähigkeit die Ziele der Therapie. Die Religion jedoch ist nach ihm etwas, was man in seiner Entwicklung wie eine Neurose durchlaufen müsse. Aber was bringt eine solche Therapie im Sinne des Christlichen, im Sinne der Religion? Die allerentscheidendste Frage lautet: inwieweit kann sie die Angst des Menschen endgültig, grundsätzlich beseitigen?

D. selbst gibt zu, dass dies nur das unbedingte Vertrauen auf das absolute Du kann. Die Sinnfrage - als die Frage nach der letzten Harmonie und Einheit, nach einem objektiiven Großen und Ganzen hat sich die Psychoanalyse Freuds nicht gestellt. Sie ist aber eine lebenswichtige Frage - so sehen es Viktor Frankl und C.G. Jung. Sie ist auch ganz entscheidend für die Bildung christlicher Gemeinschaften.

Selbstfindung bei christlichen Vorbildern

Bei allen christlichen Vorbildern lässt sich sehen, dass sie ihren Weg nicht damit begannen, indem sie sich dem Willen eines andern bedingungslos unterwarfen, mit einer willentlichen Verleugnung ihres Ichs, ihrer Identität, ihrer Überzeugungen. Es begann vielmehr mit einer Einstiegserfahrung, wo ihre bisherige kleine Welt erschüttert und auf Transzendenz hin aufgebrochen wurde. „Es öffnete sich der Himmel" (Lk 3,21) wird von Jesus gesagt, Paulus umstrahlte „ein Licht heller als die Sonne" (Vgl. Apg 26,13), Franziskus wurde von Gott berührt, sodass er sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Dieser Einbruch des Transzendenten in seiner beglückenden und absolut fordernden Form ist der entscheidende Punkt, wo Selbstverleugnung falsch oder richtig wird, wo sich Psychoanalyse von christlicher Selbstfindung als Glaubensweg unterscheidet. Wenn einmal der Zugang zum göttlichen Grund als dem Ureigensten in einem selbst eröffnet ist, dann braucht es immer wieder Akte, wo der Kontakt zum großen, transzendenten Kern erneuert wird.

Damit beginnt ein Prozess: man übt sich in Handlungen, die den Prozess vorantreiben.

Es sind dies Akte der Selbstverleugnung wie Fasten, Beten, Almosen geben, Dienste an den Kranken und Armen. Alles kommt darauf an, ob wir die guten Werke verrichten einfach deshalb, weil wir daran Freude haben und bereichert werden oder aus Berechnung; ob das Ureigenste auflebt, oder ob es geschieht, weil diese Taten allgemeine Anerkennung, das heißt eine äußerliche Belohnung bringen (Vgl Mt 6, 1-8). Wachsen wir an guten Taten innerlich, oder sind wir schon längst überfordert und verkümmern dabei?

Für Franziskus war die Begegnung mit dem Aussätzigen ein wichtiger Schritt zu seiner Selbstfindung. „Was mir zuwider war, wurde mir zur Freude für Seele und Leib".3

Brauchen wir Selbstfindung?

Selbstfindung ist die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Wer kann ich sein? Selbstfindung ist die Voraussetzung für personale Kompetenz, d.h. für die Fähigkeit, in persönlichen Angelegenheiten die richtige Entscheidung zu treffen. Es geht um das intuitive Gespür für das Wahre und Echte meines Lebens, konkret: Welcher Beruf, welche Aufgabe passt zu mir? In welchem Bereich will ich mich aus- und fortbilden? Hinter welcher Tätigkeit kann ich voll und ganz stehen? Welcher Art von Arbeit will ich den größten Teil meiner Zelt und meine Kraft hingeben? Eine Arbeit ist noch einmal so anstrengend, wenn man innerlich nicht dazu ja sagen kann. Ein Posten, der einem nicht liegt, der überfordert, macht angespannt, ist Ursache von vielen Konflikten. Berufswechsel ist heute sehr häufig, weil eine Entscheidung mit 16 oder 18, wo man über sich selbst noch so wenig wusste, nicht das ganze Leben durchgetragen werden kann. Noch mehr ist Entscheidungsfähigkeit und damit Selbstfindung im Bereich der intimen Beziehungen, in der Wahl des Lebensgefährten bzw. -Gefährtin, gefordert. Wer passt zu mir? Diese Entscheidung hängt fast ausschließlich vom Gefühl ab und davon, inwieweit es so gebildet ist, dass ich mich auf mein Gefühl verlassen kann.

Das heißt, dass die Entscheidung meine Gefühle eine solide Basis für eine Lebensgemeinschaft ist. Inhaltlich bedeutet emotionale Bildung, daß die Vorstellung und Erwartung, die man von Mutter und Vater hat, nicht auf den Lebenspartner übertragen werden. Mit anderen Worten.* daß ein junger Mann in seiner Frau, mit der er leben will, nicht seine Mutter sucht und alle Erwartungen eines Kindes - sie müßte so fürsorglich und so aufopfernd wie die eigene Mutter sein - überträgt. Und umgekehrt: dass eine junge Frau in ihrem Mann nicht den Vater wählt, dem sie sich gerne unterwirft, der tüchtig, groß und stark ist. Selbstfindung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Partner einander wahrnehmen, wie sie wirklich sind, und nicht wie man meint, dass sie sind. Wenn authentische Wahrnehmung und Wertschätzung, emotionale Reife die Voraussetzungen für eine gelungene Partnerschaft sind, heißt das, dass die Probleme auf diesem Gebiet weniger durch Selbstverleugnung - verstanden als ein ständiges Absehen von eigenen Bedürfnissen, indem man sich unterordnet und aufopfert - sondern eher durch Selbstfindung gelöst werden. Denn die Unterdrückung der eigensten Gefühle nimmt auch die Kraft der Liebe, versetzt in einen Zustand der Gespanntheit, welche immer wieder Konflikte ausbrechen lässt.

Selbstfindung in ehelicher Partnerschaft jedoch bedeutet, daß der andere einen Teil meines wirklichen Selbst vertritt, die andere Hälfte meiner Persönlichkeit. In diesem Fall gilt: wenn ich ganz bei mir bin, bin ich ganz beim andern.

Selbstfindung und kirchliche Gemeinschaft

Die meisten wachsen in die Kirche hinein, indem sie auf Grund der Erziehung und Gewöhnung die Normen und Ideale des kirchlichen Raums übernehmen. Die Mängel sind: Sie mögen sich, weil und solange sie dieselben Anschauungen haben.

Es gibt eine andere Art, wie christliche Gruppen bzw. Gemeinschaften entstehen können. Bei religiösen Selbsterfahrungs- kursen ist es so, daß Menschen lernen, über sich zu sprechen, ihre Probleme, Nöte und Schmerzen zulassen und von den ändern angenommen werden. Es entsteht ein Feld des Vertrauens, wo jeder immer mehr von sich selber zeigen, er selbst werden kann. Dazu kommt noch das Religiöse, wo jeder gleichermaßen vom Innersten, vom göttlichen Grund berührt wird. Es zeigt sich immer wieder, dass das Persönlichste das Allgemeinste ist, dass aber das Persönliche nicht vom Allgemeinen vereinnahmt wird.

Es muß kein Programm durchgezogen werden, es müssen keine Lehren vermittelt werden; einzig allein die eigene Erfahrung ist es, die in der Tiefe alle zueinander führt. Wenn das gemeinsame Interesse das Innerste eines jeden berührt, ist der Einsatz für die Gemeinschaft keine Überforderung, die dem bloßen Willen auferlegt wird. Selbstfindung und Selbstverleugnung, der einzelne und die Gemeinschaft schließen auf diese Weise einander nicht aus, sondern ergänzen sich.

 

1 Eugen Drewermann: Kleriker, Psychogramm eines Ideals, Olten 1989/249

2 Eugen Drewermann, Psychogramm eines Ideals, Olten,1988

3 Das Testament des hl. Franziskus in Franziskus-Quellen, Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, hrsg. Dieter Berg und Leonhard Lehmann, Kevelaer 2009,Test