Kranke Bäume
    
kranke Seelen

 

 

 

Die Antwort  des Franziskus von Assisi 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kranke Bäume- kranke Seelen



Inhalt

Einleitung                                              7

1.         Krankheiten der Zeit               9

2.             Der heile Mensch,

Franziskus, ein Heiliger der Natur         17

2.1.          Die Wirklichkeit des Heiligen   17

2.2.          Die Aussagen des Sonnengesangs       19

2.2.1.    Der innere Kosmos der Seele entspricht dem äußeren und umgekehrt        21

2.2.2.    Innerer und äußerer Kosmos haben eine Verbindung von der Wurzel her  26

2.2.3.    Es gibt eine allumfassende,

wirkende Ordnung              29

3.             Leben wie Franziskus         33

3.1.          Die Schwierigkeiten der Umkehr       33

3.2.          Trauerarbeit                        38

3.3.          Bilder, Träume, Visionen    46

Schluß                                         57

Anmerkungen                              59

Anhang: Die Waffenrüstung Gottes.

Ein Beitrag zum Frieden?  62

 

Einleitung

Vor 40 Jahren  war es üblich geworden, vom „Waldsterben" zu reden. Zuständige Behörden bezeichneten es als unbegründet und verantwortungslos, diesen Ausdruck für die sprunghaft angestiegenen Schäden an den Bäumen zu gebrauchen.1  Gleichwohl war  es ein Thema, das ernsthaft Denkende besorgt machte und traurig  stimmte.

Es machte sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Da gab es schon  pessimistische Voraussagen einer unaufhaltsamen Katastrophe, von Gegnern als „apokalyptische Visionen" bezeichnet.

Ohne Zweifel sahen sich Weitblickende einem verhängnisvollen Geschehen gegenüber. Ein großer Teil der Bevölkerung verleugnete schlicht­ weg das Problem. Die Tatsache, dass mit dem Wald die Grundlagen des menschlichen Lebens in unserem Land zerstört würden, wurde zwar zu­ gegeben, aber in ihrem Ernst nicht erkannt.

Gewiss darf man hier nicht unnötige Angst schüren. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass seit dem letzten Jahrhundert und insbesondere in der letzten Jahrzehnten Einbrüche in die Natur in unerhörtem Ausmaß erfolgt sind, dass Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich ausgestorben sind und dass nicht nur  für den Wald eine reale Gefahr besteht. Wie oft hat man geglaubt, Krankheiten in den Griff bekommen zu haben, Corona hat uns eines Besseren belehrt.

Wichtiger als alle Diskussionen um einen größeren oder geringeren Schaden ist die Überprüfung des modernen Lebensstils, welcher eine Störung des Gleichgewichts in der Natur zur Folge hat. Man sollte einmal den Menschen genauer ansehen, der fast tatenlos zu-

 

sieht, wie ihm mehr als sein Wohlstand genommen wird.

Welche Grundeinstellungen hat er, welche Werte bestimmen sein Handeln, wie ist er im Kern sei­ nes Wesens? Was vermittelt eine Bildung, für deren Verbreitung man mit missionarischem Eifer kämpfte? Im Folgenden soll die Überlegung Raum gewinnen, inwieweit eine solchermaßen erkrankte Natur auch auf einen kranken Verursacher schließen lässt, inwieweit das verlorene Gleichgewicht der Natur der verlorenen Mitte des Menschen entspricht. Gibt es da innere Zusammenhänge zwischen der Art, wie der Mensch mit sich selbst umgeht, wie er ist, und der Art, wie er mit der Natur lebt? Inwieweit sind Heil und Unheil des Menschen auch Heil und Unheil der Natur? Wie sieht der kranke Mensch, wie sieht der heile Mensch aus? Franziskus von Assisi (1181-1226) war ein Heiliger, ein heiler Mensch, mit sich und der Natur versöhnt. Aber ist er nicht doch nur eine fromme Legende, belanglos für unsere Verhältnisse? Das Interesse für den Mann aus Assisi sogar bei solchen, die außerhalb der Kirche und des Christentums stehen, lässt in seiner Persönlichkeit Bedeutsames vermuten.

 

1.          Krankheiten  der Zeit

Es ist üblich, Krankheiten von Lebewesen in Zahlen, meist in Prozentwerten auszudrücken. Doch haben sie nur bedingt einen überzeugenden Wert. Eindrucksvoller ist es, einen abgestorbenen Wald auf sich wirken zu lassen. Ein Betroffener erzählt, als er zum ersten Mal einen toten Wald sah, sei ihm ein ähnliches Gefühl aufgestiegen wie damals, als er als Kind in München die zerstörten Häuser sah. Es ist etwas Schweres im Magen, eine Stimmung, die man nicht los wird, etwas unerbittlich Hartes, etwas, was unverän­ derbar erscheint.So wird also in 30Jahren unsere Landschaft aussehen, wenn heute nichts geschieht. Was tatsächlich dagegen getan wird, sei - so die Naturschützer - viel zu wenig und zu spät. Das Dunkle, Unangenehme, die zukünftige Katastrophe nicht wahrhaben wollen, ist Zeichen des psychisch Kranken. In der Psychoanalyse  wird es Abwehr, Widerstand, Verdrängung genannt. Der Leidende will nicht hinschauen, was wirklich ist, wie er wirklich ist.

Der Schluss liegt nahe: Kranke Bäume entsprechen kranken Seelen. Wenn die Hälfte der Bäume vom Tod bedroht ist, dann können die, die solches mit gutem Gewissen verursachen, nicht mehr normal sein.

Die Bibel sieht in vielen Stellen im Baum ein Symbol für den Menschen. Man denke an Psalm 1, wo es vom Gerechten heißt: Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen.

Ohne auf den Symbolgehalt des Baumes im Einzelnen einzugehen, sei zunächst noch das Pro­blem erwähnt, das die Menschen mit dem Wort „Seele" haben. Unsere Zeit, die von Natur- und

 

Humanwissenschaften geprägt ist, ist es nicht mehr gewohnt , von der „Seele" zu reden. Das Innere des Menschen ist je nach Auffassung „black box" (dunkle Kiste) oder ein Sumpf, der trocken­ gelegt werden muss, ein System von Triebimpulsen, die mit den Ansprüchen der Realität in leid­ lichen Kompromiss gebracht werden müssen.

Selbst bei Theologen findet die Seele keine besondere Aufmerksamkeit. In der Bibel sei der Aus­druck „Seele" gleichbedeutend mit „Leben" und

,,ganzer Mensch".

Man muss sich fragen, ob eine Sprache, die das Wort „Seele" vermeidet, den Tatsachen des menschlichen Erlebens, wie es sich im kulturellen Erbe von Jahrtausenden kundtut, gerecht wird.

Die wissenschaftliche Ausdrucksweise ist buch­stäblich  „seelenlos",  das  heißt  nicht fähig, das

„Seelische" als die Erlebniswelt eines Menschen zu wecken. Nur wenigen fällt auf, dass mit dem Wegfall des Wortes „Seele" aus dem Sprachgebrauch ein tatsächlicher „Seelenverlust" verbunden ist. Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung erkannte aus eigener Erfahrung und im Umgang mit seinen Patienten den Eigenwert der Seele. Er beklagt bereits  in seinen frühen Werken den

,,Seelenverlust"  des  modernen  Menschen2•    Damit ist gemeint ein Mangel an echten und tiefen Gefühlen, an Festigkeit und Dauer von Bindungen, an innerer Verwurzelung, an Schutz und Geborgenheit, an Lebendigkeit und Reife. Die Kunst, einfach zu leben und dabei groß und sichtbar zu werden, ist dem Baum selbstver­ständlich, dem .Menschen genauso wesentlich, aber scheinbar nur noch Aussteigern möglich.

Seit alters her gilt der Baum als Symbol für das Wesen des Menschen. Ein Baum ist für die Dauer seines Lebens  an die Tiefe seines  Erdreiches gebunden, bezieht von dort seinen Halt und sein Wasser, ragt mit Stamm und Krone in den Him­ mel, breitet sich aus und spendet Schatten und Nahrung. Wir sagen: Menschen, die nicht mehr in einer festen Tradition der Werte verwurzelt sind, verlieren leicht den Halt. Es kann aber auch jemand ganz tief in der Erde stehen und trotzdem sich nicht nach oben entfalten. Man nennt einen solchen Menschen depressiv. Depression, unter der etwa ein Fünftel der Bevölkerung zumindest zeitweise leidet, heißt eigentlich Nieder­ drückung. Depressive d.h. niedergedrückte Menschen bringen die innere Stimmung auch in Haltung und Gang zum Ausdruck. Es fehlt ihnen das Aufrechte eines Stammes und das Offene und Weite einer Krone. Sie wollen sich am liebsten verkriechen und nicht sichtbar werden.

Der Wald ist das anschaulichste Modell der Gemeinsamkeit des Lebens. Ein Lebewesen, ob Tier oder Pflanze, lebt vom andern und dient dem andern. Wenn eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt, bedeutet das  eine erhebliche Störung des gesamten Symbiosegefüges. Wenn die Bäume verdorren, wird die Erde zur Wüste.

Ähnliches ist mit den Menschen schon gesche­hen. Die Gemeinsamkeiten seelischen Lebens sind zum großen Teil zerbrochen. Am deutlichsten wird das im Zerfall der Ehen und Familien sichtbar. Die Unfähigkeit zu endgültigen, tiefen Bindungen breitet sich aus. Es entsteht eine Vereinsamung von immer mehr Menschen; dörfliche Strukturen, wo jeder jeden gekannt hat, wo Men­schen gemeinsam den Ablauf des Säens und Ern­tens vollbrachten, wo sie in ständigem Austausch miteinander lebten, gehören zum größten  Teil der Vergangenheit an. Kinder wissen davon nur noch aus Schulbüchern oder von Erzählungen der Großeltern. Wer nicht mehr eingebunden  ist in eine Gemeinschaft, wo er sich emotional erholen kann, trocknet innerlich aus. So gibt es immer

' mehr Menschen, die von sich sagen : ,,Ich habe niemand,  dem ich etwas bedeute ."

Die Isolation ist eine Ursache der hohen Zahl von Selbsttötungen. Ein isolierter Mensch erfährt sich von anderen seelisch abgeschnitten. Er empfängt nicht mehr den Schatten und die Nah­ rung, die er für sein seelisches Überleben bräuchte.

Das Wort Jesu vom Baum, den man an seinen Früchten erkennt (Mt 7,16), verlangt von den Christen eine ernste Gewissenserforschung im Hinblick auf die Krankheiten unserer Zeit. Es ist üblich, Krankheiten nur als Sache derer zu sehen, die davon betroffen sind. Aufschlussreicher ist es, die äußeren Ursachen dazu zunehmen. Was und wer macht krank? Wer kränkt den lebenden Organismus des einzelnen und der großen Natur? Es gibt eine Atmosphäre, die nicht leben lässt. Im äußeren Bereich sind es die hohen Gehalte an Schwefeldioxyd und Stickoxyd, die sich als saurer Regen niederschlagen. Im Bereich des Zusammenlebens ist es die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, einander zu verstehen und aufeinander einzugehen. Dahinter steht aber meist eine Lebenseinstellung, die fast allgemein dem westlichen von der Industriekultur geprägten Menschen eigen ist. Gefordert von seinem Beruf, ist er in ständiger Anspannung auch dort, wo es nicht nötig wäre. Planung und Leistung bestimmen sein Verhalten. Die Werte des Inneren, der Seele, gelten ihm wenig.

In der Geschichte Europas war es nicht immer so. Im Mittelalter nahm das religiöse Leben einen beherrschenden Raum ein. ,,Wie finde ich einen

gnädigen Gott?" war zum Beispiel ein Thema, das in der Reformation ein ganzes Volk in Aufruhr versetzte .

Die Wende kam in der Aufklärung des 18. Jhd., die erst in den letzten 50 Jahren bis in das letzte Dorf durchgeschlagen hat. Mit Aufklärung ver­band man „Fortschritt". Damit sind die Erfolge der Naturwissenschaften, Anhebung des Wohl­stands, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz gegen jedermann, Freiheit von Aberglauben, von Bevormundung durch kirchliche und staatliche   Obrig­keit, Loslösung vom Religiösen verbunden. Das religiöse Element des geistigen Lebensraumes wurde „aufgeklärt", d. h. aufgelöst. Der aufgeklärte Mensch hält es für eine große Errungenschaft, wenn er alles Irrationale in seinem Leben durchschaut und für nichtig erklärt. Diese auf Null zurückgeführte (lat. reducere) reduktive Einstellung   drückt  sich  in   den  Worten   aus:

,,Nichts als". So ist nach dieser Auffassung Religion nichts als Angst vor den Mächten der Natur, kindlicher Wunsch nach dem allmächtigen Vater, oder Opium des Volkes. Moral ist nichts als eine Norm der jeweiligen Gesellschaft, Sexualität ist nichts als Lustgewinn und Reproduktion der Gesellschaft, das Leben ist nichts als eine durch Zufall entstandene Zusammenballung von Molekülen. Die Erde ist nichts als tote Materie, die Wälder sind nichts als Produktionsstätten von Holz und Erholungsstätten für die angeschlagene Gesundheit.

Was dem aufgeklärten Menschen fehlt, ist die Achtung und Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens und damit vor jedem lebenden Wesen. Ehrfurcht heißt eigentlich anerkennen, dass es Kräfte gibt, die über mich und mein Leben bestimmen. Der ehrfürchtige Mensch weiß um die Grenzen seines Seins; er spürt seine geringe Bedeutung im Hinblick auf die Ausmaße des Alls, auf die Geschichte  der Erde und der Bäume .   Ehrfurcht ist das Gegenteil von jener Überheblichkeit, die glaubt, mit sich und dem Leben ungestraft alles tun zu können. Leben gedeiht nur dort, wo es Achtung und Respekt erfährt, andernfalls erstickt es. Der ehrfurchtlos Fort­ schrittsgläubige ist von der Idee besessen, er könne die Natur mit allen ihren Kräften erforschen und sie sich dienstbar machen.

So etwas wie Geheimnis des Lebens erscheint ihm als Wahn oder überholte Vorstellung frühe­ rer Epochen. Er ist stolz darauf, die Natur entzaubert, die Bibel entmythologisiert, Hungersnöte und Krankheiten gebändigt zu haben. Aber mit dem Verlust der Ehrfurcht ist ein wesentlicher Teil des Seelischen unbewusst geworden; der Mensch hat wesentliche Fähigkeiten, mit der Natur friedlich umzugehen, verloren. Die Kräfte in der eigenen Seele sowie die ausserhalb melden sich und versetzen den Menschen in Unruhe und machen ihm Angst. Zu Recht! Man denke an das Po­ tential an Aggression, das in allen Waffenarsenalen der Welt angehäuft ist. Wer kann leugnen, dass diese Ansammlung von Vernichtungsinstrumenten der Angst und der Aggression im Innern des Menschen entspricht?

Die Aufklärung ist nicht fähig, dem Menschen die Angst zu nehmen. Unaufgeklärte, naiv Gläubige zündeten bei einem Gewitter eine Kerze an, in der Kirche sprach man den Wettersegen (auch heute noch), weil man Angst vor bösen Mächten hatte. Der kritisch denkende Mensch hält solches Tun für überflüssig. Aber er hat Angst vor Klimakatastrophe  und inzwischen auch vor dem Virus..

Aufklärung klammert die irrationalen Bedürfnisse des Menschen aus, nämlich: sein Bedürfnis nach Heimat und Geborgenheit,  nach Nähe und  Vertrautheit, nach Erleben des Numinosen, der Transzendenz. Es sind jene Bedürfnisse aus der Tiefe der Seele, über welche der aufgeklärte Mensch nicht mehr spricht. So wurde Aufklä­rung zur Wegerklärung, Leugnung, Vermeidung und Verdrängung wesentlicher Faktoren und Anteile der Seele. Der aufgeklärte Mensch ist von seinem Innersten, vom Kostbarsten,  Tiefsten und Echtesten seines Wesens getrennt. Er leidet an einer geistig-geistlichen Dürre, weil er von sei­ nen transzendenten, irratonalen Wurzeln abgeschnitten ist. Wie der Baum von den Wurzeln her krank ist, so ist es auch der Mensch. Die Quellen, von denen er einst seine Lebensfreude bezog und von denen seine Seele lebte, sind versiegt oder verdorben, wie das Quellwasser bedroht ist. Dieser kranke Mensch zeichnet sich aus durch Anfäl­ligkeit für Neurosen, durch Schwierigkeiten, mit sich und anderen zurecht zu kommen, durch Neigung, sich politischen oder religiösen Ideologen anzuschließen . Er erliegt der Einbildung, er durchschaue alles, in Wirklichkeit aber hat er sei­nen kritischen Verstand bei seiner Entscheidung für die gerade mitreissende Strömung der Zeit  abgegeben. Wenn die irrationalen Kräfte nicht beachtet werden, brechen sie wie reißende Bäche in das Bewusstsein ein, zerstören die noch vorhandene Kultur und lassen die seelische Landschaft verödet zurück.

Beispiele für zerstörte Seelenlandschaften bietet die moderne Literatur. Da ist viel von Verzweiflung, Einsamkeit, Zwietracht und Haß, Ohn­ macht und Machtkampf die Rede. Die Dichter drücken immer das Empfinden der Zeit und den inneren Zustand der Menschen aus. Es sind verbitterte, unglückliche Menschen, die alles und jedes anklagen; es sind Antriebslose, die keine Zukunft mehr sehen oder gestalten wollen, voller Leere und Langeweile.Es sind von ideologischen Strömungen Enttäuschte, die angespannt jede Gelegenheit zur Austragung von Gewalt wahrnehmen. Der Zusammenhang von kranken Menschen, krankmachender Gesellschaft auf der einen Seite und kranken Bäumen auf der anderen lässt sich empirisch-wissenschaftlich nicht erbringen. Aber man sollte darüber nachdenken, inwieweit Menschen, die die Werte der Seele nicht mehr achten, noch Sinn haben können für jenes lebende Wesen, das als Symbol des Menschen gilt.

 

2.         Der heile Mensch -

Franziskus, ein Heiliger der Natur

 

2.1.     Die Wirklichkeit des Heiligen

Der seelisch verödete, kranke Mensch bedarf zu­ nächst selbst der Heilung, um Wesentliches in der Einstellung zur geschädigten Natur zu verändern. Man darf deshalb die Frage stellen: Wie sieht der heile Mensch aus, der sich wieder mit der Natur versöhnt?

Es leuchtet zunächst nicht sofort ein, den heilen Menschen im Heiligen zu suchen. Doch die Ge­ schichte des liebenswürdigsten Heiligen, des Franziskus von Assisi, regt zum Nachdenken über den Zusammenhang von heil und heilig an. Der Begriff des „Heiligen" ist gewöhnlich ver­ bunden mit Vorstellungen des Legendären, Mystischen und Unwirklichen.

Die meisten Menschen, die von Franziskus gehört haben, kennen die auffallenden Ereignisse, wie Franziskus den Vögeln und Fischen predigt. In den Lebensbeschreibungen werden noch andere Geschichten aufgeführt. Franziskus gibt dem Kaninchen und dem Fasan die Freiheit, doch diese suchen immer wieder seine Nähe. Er mag die Tiere - die Tiere mögen ihn! Er wird von den Vögeln begrüßt, seinen Tod betrauern die Lerchen. Mit Recht wird sein Todestag zum Welttierschutztag. Aber was hat das Ganze mit der Realität zu tun? Was können Wundergeschichten und Legenden in unserer Zeit ausrichten?

Den Schlüssel zur Welt des Heiligen, als auch für ein vertieftes Verständnis unserer Beziehung zur Natur, bildet der „Sonnengesang", ein Preislied auf den Schöpfer Hier handelt es sich nicht mehr um  eine  Legende,  um  Glorifizierung  aus  der

 

Sicht der Nachwelt, sondern um ein authentisches Dokument über die innere Welt eines Menschen, sein Denken, Fühlen und Erleben.

Und diese Welt ist real.

Es lohnt sich diese Welt zu erschließen; denn einen Menschen zum Heiligen zu erklären, heißt: Dieses Leben ist vorbildhaft . So sieht der heile Mensch aus!

Entstanden ist der Sonnengesang im Spätsommer 1225. Franziskus war schwer krank und hatte Mühe, seiner Niedergeschlagenheit Herr zu werden. Die einfühlsame Pflege der heiligen Klara munterte ihn so sehr auf, dass bald die große seelische Last von ihm gewichen war. Auch körperlich ging es mit ihm spürbar aufwärts. In der ein­ setzenden Genesung erwachte eine tiefe Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber und eine übergroße Freude an allen lebenden und nichtlebenden Geschöpfen. Im Folgenden wird der Sonnengesang in der Übersetzung von Otto Karrer zitiert3:

Du  höchster,  mächtigster, guter Herr,

Dir sind die Lieder des Lobes, Ruhm und Ehre und jeglicher Dank geweiht;

Dir nur gebühren sie, Höchster,

und keiner der Menschen ist würdig, Dich nur zu nennen.

 

Gelobt seist Du, Herr,

mit allen Wesen, die Du geschaffen,

der edlen Herrin vor allem, Schwester Sonne, die uns den Tag heraufführt und Licht

mit ihren Strahlen, die Schöne, spendet; gar prächtig in mächtigem Glanze; Dein Gleichnis ist sie, Erhabener.

Gelobt seist Du, Herr,

durch Bruder Mond  und die Sterne. Durch Dich sie funkeln am Himmelsbogen und leuchten köstlich und schön.

 

Gelobt seist Du, Herr, durch Bruder Wind

und Luft und Wolke und Wetter,

die sanft oder streng, nach Deinem Willen, die Wesen leiten, die durch Dich sind.

Gelobt seist Du, Herr, durch Schwester Quelle;

Wie ist sie nütze in ihrer Demut, wie köstlich und keusch!

Gelobt seist Du, Herr, durch Bruder Feuer,

durch den Du zur Nacht uns leuchtest.

Schön und freundlich ist er am wohligen Herde, mächtig als lodernder Brand.

Gelobt seist Du, Herr,

durch unsere Schwester, die Mutter Erde, die gütig und stark uns trägt

und mancherlei Frucht uns bietet mit farbigen Blumen und Matten.

Gelobt seist Du, Herr, durch die, so vergeben um Deiner Liebe willen

und Pein und Trübsal geduldig tragen. Selig, die's überwinden im Frieden; Du, Höchster, wirst sie belohnen.

Gelobt seist Du, Herr,

durch unsern Bruder, den leiblichen Tod; ihm kann kein lebender Mensch entrinnen. Wehe denen, die sterben in schweren Sünden!

Selig, die er in Deinem heiligsten Willen findet! Denn sie versehrt nicht der zweite Tod.

Lobet und preiset den  Herrn.

Danket und dient ihm in großer Demut!

 

2.2.     Die Aussagen des Sonnengesangs

Um einen Zugang zur Seele eines Menschen zu gewinnen, sind einfühlendes Verstehen, Ach-

 

tung und große Ehrfurcht nötig. Genauso ist es mit ihren Schöpfungen. Welche Lieder Menschen singen, welche Geschichten sie erzählen, welche Träume sie haben, das sagt etwas aus über ihr Wesen. Deshalb ist es richtig, zu versuchen, im Text eines Liedes dem Dichter selbst zu begegnen. Eine sogenannte objektivierende Be­ trachtungsweise, welche etwa den Aufbau der Strophen oder den äußeren Zusammenhang mit provenzalischen Troubadourliedern und italieni­ schen Dichtungen der damaligen Zeit herstellt, mag interessant sein, öffnet aber nicht die innere Welt des Heiligen. Man kann durchaus von dem Tiefenpsychologen C.G. Jung lernen, wie man mit einem so bedeutenden Text wie dem Sonnengesang umgeht. In der Vorrede seines Kommentars zum Tibetanischen Totenbuch sagt er, dass eine Schrift von so hohem emotionalem Wert wie die vorliegende, keine kritische, distanzierende Betrachtungsweise ertrage, sondern angemessener sei die „amplifizierende" Methode.4 Hier wird die Erlebniswelt des Lesers und das der gesamten Menschheit miteinbezogen. Auf diese Weise bringt der Text in dem, der ihn verstehen will, selbst etwas zum Schwingen, was dem Erleben des Verfassers zumindest annähernd ähnlich ist. Das, was der Autor fühlte und dachte, wird eher verständlich und nachvollziehbar. So kann es gelingen, dass sich ein Feld der Zusammenhänge auftut, das der rein rationalen, objektivierenden Betrachtungsweise verschlossen bleibt. Durch einfühlendes Verstehen wird etwas von dem Anliegen des Schreibers lebendig.

Im Folgenden sollen die Aussagen hervorgehoben werden, die auf Grund von intuitiven Über­ legungen und in Zusammenschau mit der Tiefen­ und Religionspsychologie gewonnen wurden.

 

2.2.1.                      Der innere Kosmos der Seele entspricht dem äußeren Kosmos und umgekehrt.

 

Es gibt Anteile der Seele, welche die Nähe des Menschen zu den Elementen und der gesamten lebenden Natur beinhalten. Die Verwandtschaft der Seele mit den Elementen zeigt sich in der Sprache und in den Träumen. So sind Licht und Dunkel ein wichtiges Ausdrucksmittel, um seelische Zustände zu beschreiben. Wir sagen: die Augen eines Kindes leuchten, wenn es sich freut, ebenso die des geliebten Menschen oder des Heiligen. Ebenso wie vom hellen strahlenden Gesicht sprechen wir von einem dunklen und finsteren. Ähnlich drücken Kälte und Wärme Bedingungen der äußeren Natur wie des seelischen Kli­mas unter Menschen aus. In einer warmen, freundlichen Atmosphäre „tauen" die  Herzen auf, in einer eisigen „gefriert" selbst ein Lächeln.

-Besonders das Wasser und seine verschiedenen Zustände werden seit Menschengedenken als Symbol der inneren Verfassung des Menschen gesehen. Erinnert sei an das Gedicht Goethes:

,,Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen wie gleichst du dem Wind." 5

Ein Mensch kann wie die Oberfläche eines Sees aufgewühlt oder abgeklärt sein, in die Tiefe gehen, oder sich an der Oberfläche bewegen, ein bewegtes oder ein ruhiges Leben haben. Wie sehr das Wesen des Menschen der Natur nahe und aus ihr zu verstehen ist, wird vorzüglich in der Hl. Schrift deutlich. Jesus gebraucht das anschauliche Bild des Wachstums, das jedem lebenden Organismus ob Pflanze, Tier, Mensch oder menschliche Gemeinschaft eigen ist, um seine Erfahrung mit Gott auszudrücken. ,,Von selbst bringt die Erde Frucht" (Mk 4,21),  sie hat sogar ein  Herzfür den Menschensohn (Mt 12,40). Jenes unfassbare Geschehen, das einen Menschen überwältigt und ihn aus seiner Fassung bringt, wenn er Gott begegnet - die Geistsendung -wurde im Zusammenhang mit den Urgewalten des Feuers und des Sturmes gesehen (vgl. Apg 2,2-3).

Der andere, der wichtigste Zugang zur Seele und ihrer Erlebniswelt sind die Träume. Zum Beispiel können Träume vom Wasser, wenn sie beachtet werden, Gefühle wieder zum Fließen bringen, den Menschen neu werden lassen oder auch die Gefahr des Ertrinkens, d.h. der Psychose, des Irreseins andeuten . Die vier Elemente Wasser - Feuer - Erde - Luft wurden in asiatischen Weisheitslehren schon immer als die Grundbestandteile der menschlichen Seele angesehen. Ebenso können Träume von Tieren, wie sie auftreten und wie sie behandelt werden, viel darüber aussagen, wie ein Mensch mit seinen Antrieben und Gefühlen lebt. Ob er sie in den Käfig sperrt, ob sie Unheil anrichten, oder ob er mit ihnen gütig und klug umzugehen weiß, sagen Wesentliches über die innere Verfassung eines Menschen aus.

Franziskus nennt die Sonne seine Schwester, den Mond seinen Bruder (im Original ist Sonne Bruder, Mond Schwester), ebenso sind Wasser und Feuer seine Geschwister, die Erde seine Mutter. Diese aus spontanen Einfällen entstandenen Be­ zeichnungen drücken seine Nähe, Verwandtschaft und Verbundenheit mit der Natur aus. Das bedeutet aber, dass im Verfasser dieses Liedes die Anteile der Seele lebendig sind, welche dem äußeren Kosmos entsprechen. Die Klarheit und Durchsichtigkeit des Wassers spiegelt sich in seinem Innern wider, die Dankbarkeit gegenüber dem Leben und seinen Gaben ist  in der  Anrede

„Mutter Erde" enthalten, die innere Wärme und Kraft in der  Nähe  zum  Feuer.                   Der Harmonie, mit der Franziskus in der Natur lebt, entspricht seine innere Ausgewogenheit, Ausgeglichenheit und Lebendigkeit. Das Innere bedingt das Äußere.

Sein Bewusstsein steht in harmonischem Verhältnis zum Unbewussten. Sein Denken ist versöhnt mit dem Fühlen, das Rationale mit dem Irrationalen. Die bestimmenden Erlebnisfaktoren sind im wohlgeordneten Verhältnis. In alten Kulturen wurde diese innere Ordnung mit dem  Symbol des Sonnenrades ausgedrückt, in mittelalterlichen Kathedralen in der Gestalt der Rosette. Es wird verständlich, warum Franziskus sein Preislied auf die Schöpfung mit der Sonne beginnt. Ein innerlich Erleuchteter hat ein anderes Verhältnis zum Licht als ein Mensch, der in innerer Dunkel­ heit lebt.

Eine Frau, die Zeit ihres Lebens von schwersten Depressionen gequält wurde, berichtet: Die Nacht, die Dunkelheit und der Schlaf seien ihr lieber als der Tag. Die Helligkeit der langen Som­ mertage täten ihr besonders weh, deshalb sehne sie sich nach dem Winter mit den langen dunklen Nächten. Die Finsternis in ihr selbst verlangt offensichtlich die Entsprechung im Außen, nämlich den Schutz und die Dunkelheit der Nacht. Andererseits wird in allen Religionen die Nähe eines Menschen zu Gott mit dem Licht und dem Leuchten des Angesichts verbunden. Der Name Buddha heißt nichts anderes als der „Erleuchtete".

Ebenso ist die HI. Schrift des Alten und Neuen Testaments voll von Lichterscheinungen. Das Antlitz des Mose erstrahlte, nachdem er mit Gott geredet hatte (Gen 34,35). In den Psalmen ist das Leuchten des Angesichts Jahwes das Zeichen der Erhörung. ,,Lass  dein  Angesicht  leuchten,  dann ist  uns  geholfen",   heißt  es  im  Psalm  80. Jesus

 

weist auf das Licht hin, das von den Augen eines Menschen ausgeht. Es ist ein Zeichen, daß der Mensch innerlich erleuchtet ist (vgl. Mt 6_ ,23, Lk 11,34- 36).

In diesem Zusammenhang werden

 

 mittelalterl

che Darstellungen der Heiligen, besonders des heiligen Franziskus, mit Heiligenschein und Goldgrund verständlicher. Die Menschen der damaligen Zeit erlebten die Heiligen als solche, in denen das innere Licht durchgebrochen war. Der Goldgrund bedeutet den Seelengrund, die innerste „Sonne". ,,Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, dann wird er ganz licht sein, wie wenn das Licht dich mit seinem Strahl beleuchtet" (Lk 11,36). Wie „einleuchtend" wird die Erzählung von Jesus, wo be­ richtet wird, dass sein Antlitz wie die Sonne leuchtete (Mt 17,2). Unter diesem Aspekt darf man auch die Gemälde Giottos in der Grabeskirche zu Assisi betrachten. Der Mann, der zu solchen Bildern anregte, muss eine große Ausstrahlung im ganz wörtlichen Sinn, eine starke Aura besessen haben. Man darf sagen, dass sein Gebet um Erleuchtung in einem ganz umfassenden Sinn erhört wurde 6•

Die Vorstellung, dass der Mensch eingebettet ist in den großen Kosmos, dass er von dort Sinn und Freude am Leben empfängt, war den Naturvöl­kern selbstverständlich. Franziskus hat es intuitiv erlebt, weil er dem Grund des Seins nahe war, dem, wie der Mensch wirklich ist. Der Mensch der Neuzeit hat diese Ordnung durchbrochen. Die Seele gilt als nicht existierend, ihre Werte wie Gefühle der Achtung und Ehrfurcht vor jedem lebenden Wesen als Illusion.

Angewandt auf unsere Zeit heißt das: Es bestehen Zusammenhänge zwischen der Verschmutzung des Wassers, dem Abholzen und Absterben

der Wälder und der seelischen Verödung und Verrohung. In unserer Industriekultur fehlt die Kultivierung der Seele. In den Schulen und Universitäten lernen junge Menschen tüchtig zu werden, aber nicht, wie sie ihre Gefühle ordnen und pflegen. Um im Bild der Träume zu bleiben: Wil­ de Tiere als Sinnbild der inneren Antriebe, werden eingesperrt oder totgeschossen; man denkt nicht daran, dass uns deren Kraft und Instinkte zu Hilfe kämen. So werden sie zu zerstörenden Kräften. Man denke an die Ausbrüche von Aggression bis zum Terrorismus in den letzten Jah­ ren.

Es ist wert, zu überlegen, inwieweit die Gefühl­ losigkeit und Verständnislosigkeit der Erwachsenen junge Menschen in den Drogenkonsum treiben. Der Zusammenhang vom Gift in der Umwelt und dem Rauschgift ist gar nicht so weit her­ geholt. Dem Menschen der Industriekultur ist die Instinktnatur, welche ihn mit dem Kosmos verbindet, verloren gegangen. Erst wenn er sie entdeckt und annimmt, kann er wieder neu werden.

Jung berichtet vom Traum eines schwer gestörten Patienten, wo in einer magischen Handlung der Versuch gemacht wird, den Gibbon wieder herzustellen. Gibbon ist der tierische Ahne in der Stammesgeschichte des Menschen. Er steht als Symbol für die lnstinktnatur.

Es sind die tragenden vitalen Kräfte, die das Leben reich und sinnvoll machen. Wer davon abgechnitten ist, tut sich auch im Zusammenleben schwer.

 

 Der Instinkt für die äußere Natur

 

ist derselbe wie

für die innere. Es geht um das Gespür, was für einen wirklich gut ist, was schadet, was und wer zu einem passt und was und wer nicht.

 

 

2.2.2.                     Innerer und äußerer Kosmos haben eine Verbindung  von der Wurzel her.

Menschen wie Franziskus haben ein Gespür für die Tiefe des Seins, in dem alle Wesen zusammen­ hängen. Die Erfahrung ist in allen Religi"onen ausgesprochen, daß es so etwas gibt wie einen zentralen Kern der menschlichen Seele, welcher je nach Auffassung, Gott selbst oder nur Stätte der Gottesbegegnung ist. C.G. Jung spricht vom Selbst als dem Bild Gottes im M enschen . Mittelal­ terliche Mystiker sprechen vom Seelengrund, vom Seelenfünklein. Dieser Seelenkern ist Ur­ sprung und Ziel jeder menschlichen Entwicklung und zugleich Zentrum des Kosmos.

Indem der Mensch das Bild Gottes in sich trägt, ist er auch im Zentrum allen Geschehens, und alle Dinge sind auf ihn ausgerichtet. Zu diesen Aussa­ gen kommt Jung, indem er sich auf die Hl. Schrift und die Kirchenväter beruft und dazu die Riten, Gebräuche und mythischen Vorstellungen der Naturvölker heranzieht. Beim heiligen Franzis­ kus wird eine solche Sicht vom Verhältnis des Menschen zu Gott und zur.Natur besonders an­ schaulich. Sein erster Biograph, Thomas von Ce­ lano, führt die außerordentliche Hinwendung  des Heiligen zu den Geschöpfen auf die Tatsache zurück, daß er „auf wundersame, andern ver­ schlossene Weise Zugang in das Geheimnis der Dinge" fand. Er sei ein Mensch gewesen, de.m die

 

„herrliche Freiheit der Kinder Gottes" (Röm 8,21) gegeben war.8

Mit dem „Geheimnis der Dinge" ist wohl jenes Zentrum der Seele und des Kosmos gemeint, zu dem Franziskus einen inneren Anschluß  hatte. Es liegt nahe, hier eine Parallele zu den Naturvöl­ kern zu ziehen. Von den Angehörigen eines ln­ dianerstammes im Norden Kanadas wird berich­ tet, daß sie sich ganz auf die Botschaft ihres See­ lenkerns, des inneren Wegbegleiters, des „Gro­ ßen Mannes" verlassen. Seine Weisungen ver­ nehmen sie über die Träume, die ihnen eine voll­ ständige Orientierung auch in der Beziehung zur äußeren Natur, d. h. zu Jagdmöglichkeiten und Wetter  geben.  Auf  ihre  Art  kommen  sie dem

,,Geheimnis der Dinge" nahe. Dabei werden ho­ he   moralische   Anforderungen   gestellt. Denn

„Lüge und Betrug verscheuchen den „Großen Mann" im Innern, während Großzügigkeit, Nächstenliebe und Tierliebe ihn anziehen. "9

Der „Große Mann" oder der kosmische Mensch, in dem alle Menschen und die ganze Welt auf eine geheimnisvolle Weise enthalten sind, ist Thema der Mythen aller Völker. Bei den Hindus ist es Purusha, bei den Buddisten Buddha, bei den Chinesen P'an-Ku, bzw. das Tao. Im Christen­ tum ist Christus die zentrale Figur sowohl der menschlichen Seele als auch des Kosmos.

Wenn Paulus davon spricht, daß er von Christus ergriffen ist (Phil 3,13) und daß Christus in ihm lebt (Gai 2,20), so ist psychologisch gesehen die überwältigende und ganzmachende Instanz, das Selbst, das „große Ich" in ihm wirkmächtig ge­ worden. Die Erfahrung der ersten Christen mit dem Auferstandenen ordnete ihm eine zentrale Stellung in der eigenen Erlebniswelt und genauso auch im Kosmos zu. Dies wird im Kolosserbrief und  verschiedenen  anderen  Texten  des Neuen

 

Testaments zum Ausdruck gebracht: ,,Das All ist durch ihn und auf ihn geschaffen. Er ist vor dem All und das All hat in ihm Bestand" (Kol 1,17). In der Apokalypse heißt es: ,,Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige" (Offb 1,17). Hier ist eine Aussage getroffen über das Leben als sol­ ches, über dessen Ursprung und Ziel.

Kennzeichnend für Franziskus ist, daß er aus die­ sem Ursprung lebt. Dies äußert sich in einer ge­ waltigen spirituellen Kraft, die alle anderen An­ triebe wie Aggressivität, Sexualität und Besitz­ streben einbindet und integriert. Man muß sich fragen: Wie war es möglich, bei der Pflege von Aussätzigen mehr Freude zu empfinden als bei seinen bisherigen lockeren Vergnügungen? Wie ist es zu erklären, daß er die Einsamkeit aufsuch­ te, sogar brauchte, um seine innere Lebenskraft zu erneuern? Woher kommen seine Entschei­ dungen, gegen den Willen seiner Freunde, seines Vaters, der ganzen Stadt, seinen Weg zu gehen? Die spirituelle Kraft ist zugleich die Kraft der Überzeugung. Bei Bonaventura, einem Schüler des Heiligen, heißt es:

,,Seine Worte aber waren weder leer noch verachtens­ wert, sondern voll der Kraft des Heiligen Geistes; sie drangen ins Innerste der Herzen und brachten die Zu­ hörer sehr zum Staunen".10

Der Heilige hatte eine unmittelbare, erlebnismä­ ßige Verbindung zum Ursprung, zum Zentrum der Welt, zur Wurzel aller Dinge. Die Nähe zum Ursprung vollzog und erneuerte sich bei ihm in der Anbetung und im Lobpreis Gottes. Anbe­ tung heißt: ich anerkenne, daß ich geschaffen bin, daß ich immer noch geschaffen werde. Seit der Entdeckung des Unbewußten, vor allem durch C.G. Jung, hat das Erleben von Geschöpf­ lichkeit neue Bedeutung gewonnen. Man weiß nämlich,  daß  es Kräfte  gibt,  die mich denken,

 

fühlen, handeln lassen, daß das kleine vorder­ gründige Ich gar nicht soviel kann. Das Geständ­ nis: ,,Ich geschehe mir" entspricht der Wahrheit der menschlichen Seele. Zugleich ist der Lobpreis wegen seiner Absichtslosigkeit ein Raum der Freiheit. Die Verzweckung hört auf. Auf dieser Basis ergibt sich ein Verständnis von Leben und Atmen als Selbstzweck.

Bonaventura schreibt über Franziskus:

„Eingedenk dessen, daß alle Geschöpfe ihren letzten Ursprung in Gott haben, war er von überschwengli­ cher Liebe zu ihnen erfüllt. Auch die kleinsten Ge­ schöpfe nannte er deshalb „Bruder" und „Schwester". Wußte er doch, daß sie mit ihm denselben Ursprung hatten".11

Noch ausführlicher schildert Thomas von Cela­ no diesen Zug des Heiligen:

,,Das Überströmende seiner zarten Liebe und Barm­ herzigkeit erfuhren nicht nur notleidende Menschen, sondern sogar die stumme und unvernünftige Kreatur, alles, was da keucht und fleucht, was fühlen kann, und selbst noch fühllose  Wesen...  Bis hin zu den Würm­ lein erstreckte sich seine Zartheit ." Ganz hingerissen war er von den Blumen und forderte sie zum Lobpreis Gottesauf. ,,So auch die Saatfelder und Weinberge, die Steinschichten der Erde, Feuer, Luft und Wind; alles mahnte sein kindlich reiner Sinn zur Liebe Gottes und zum Gehorsam in Freude. "1 2

,,Ganz verwunderlich sei es, wie selbst die vernunftlo­ se Kreatur seine liebreiche Gesinnung verspürte und ein Gefühl für seine Zärtlichkeit bekundete."13

 

2.2.3.                 Es gibt eine allumfassende, wirkende Ordnung!

Es lohnt sich, von psychologischer Seite der Fra­ ge nachzugehen, inwieweit die lebendige Verbin­ dung zum Ursprung, in religiöser Sprache ausge­ drückt, wahre Frömmigkeit, Einfluß auf das Verhalten der unvernünftigen, sogar der leblosen

 

Natur  hat.  Im  Zusammenhang  mit  der  Frage:

,,Gibt es einen Zufall?" spricht Jung von Syn­ chronizität. Darunter versteht er ein sinnvolles zeitliches Zusammentreffen eines inneren mit ei­ nem äußeren Ereignis, ohne daß diese Ereignisse voneinander  abhängig  wären. 14

Von einem „sinnvollen" Zusammenhang kann man zum Beispiel dann sprechen, wenn sich eine Frau ein blaues Kleid bestellt und es wird ihr ein schwarzes geschickt. Zur gleichen Zeit stirbt in der Verwandtschaft jemand. Wenn wir aufmerk­ sam in unser Leben schauen, unsere Träume be­ obachten und äußere Ereignisse damit verglei­ chen, werden wir mehr solche sinnvolle zeitliche Zusammentreffen erkennen, als wir gemeinhin annehmen . Man kann nun daraus schließen, daß es so etwas wie eine über den Ereignissen stehen­ de Macht geben muß, welche Ereignisse anzieht und ordnet. Die Chinesen dachten von diesem sinnvoll wirkenden Ganzen aus und bauten dar­ auf ihre ganze Philosophie und Staatsform auf. Sie nannten es die „Große Ordnung" oder das Tao. Was damit gemeint ist, veranschaulicht die Geschichte vom chinesischen Regenmacher. Dieser kam in ein Dorf, wo eine übergroße Dürre herrschte . Die Leute klagten ihm ihre Not. Der Regenmacher ging darauf in den Wald und medi­ tierte. Nach drei Tagen kam der Regen. Er nahm, so wird von ihm gesagt, die Unordnung der Na­ tur in sich auf, brachte sich selbst wieder in Ord­ nung und heilte damit auch die Natur.

Es wundert nicht, wenn von Franziskus eine ähnliche Begebenheit erzählt wird.

Bonaventura berichtet aus dem Leben des Heili­ gen, daß er einst in eine Stadt kam, deren Bewoh­ ner arg von Hagelschlag und Wölfen heimge­ sucht wurden. Franziskus ermahnte sie zu einem frommen  Leben.  Dann würden  die Plagen von

 

Unwetter und  wilden  Tieren  aufhören.  Tatsäch­ lich „hielten sich Hagelschlag und Wölfe an das Ver­ sprechen des Gottesdieners und wüteten nicht mehr erbarmungslos gegen jene Menschen, die sich zu einem frommen  Leben  bekehrt  hatten."  Benaventura   be­

merkt weiter: ,,Wir müssen daher gläubig die Fröm­ migkeit des Seligen verehren, die mit so außergewöhn­ licher Milde und Macht die wilden Tiere zähmte, die Haustiere gelehrig machte und die Natur der vernunft­ losen Tiere, die sich gegen die sündigen Menschen auf­ lehnte, zum Gehorsam gegen sie führte. Das ist jene Frömmigkeit, die alle Geschöpfe miteinander versöhn­ te und zu allem nütze ist, denn sie hat die Verheißung für dieses und das zukünftige Leben._" 15

Wenn Jesus einen Feigenbaum verdorren läßt, erscheint das zunächst recht hart und naturfeind­ lich. Doch wird es verstehbarer, wenn man  in den beschriebenen Zusammenhängen denkt. Die geistig-religiöse Erstarrung des Volkes und sei­ ner Führung fällt mit dem Absterben des Baumes zusammen und ist zugleich der innere Grui:id da­ für. Der Zustand des Verschlossenseins und Nichtglaubens prägt ein äußeres Bild.

Parallelen für unsere Zeit liegen auf der Hand. Die emotional-geistliche Austrocknung des mo­ dernen Menschen, von der auch der noch religiö­ se Mensch angesteckt ist, schlägt sich im Außen nieder. Tote Bäume sind tote Seelen.

Das Reden über das Zentrum des Kosmos, über sinnvolle „Zufälle", über den Zusammenhang von Mensch und Natur offenbart  ein Denken, das dem modernen Menschen fremd ist, den Na­ turvölkern aber selbstverständlich war. Ob nicht gerade in dem Mangel, den Menschen in seiner Beziehung zur ihn umgebenden Welt auf diese Weise zu sehen, die Ursache für das Unheil liegt, das er mit sich und der Natur anrichtet? Der Mensch, der mit sich selbst entzweit ist, trägt et­ was  Zerstörendes  in sich.  Die alte  Vorstellung

 

vom Dämon hat hier sein Körnchen Wahrheit. Wer vom Grunde auf, ganz vom Innersten her mit sich im Reinen ist, ist auch eins mit dem Ur­ sprung aller Wesen. Er lebt Heilung und Versöh­ nung von der Wurzel her.

 

3.          Leben wie Franziskus?

 

3.1.     Die Schwierigkeiten der Umkehr

Leben wie Franziskus, einfach und selbstlos, ist Utopie und Herausforderung. Kann man das, was im besten Fall einigen wenigen möglich ist, der Gesamtheit der Bevölkerung empfehlen? Es hat den Anschein, als ob hier ein wirtschaftlicher Selbstmord angeraten würde. Der Verzicht auf das errungene Einkommen, auf ein Stück Be­ quemlichkeit und Freizügigkeit gilt als unzumut­ bar.

Die Gegner dieser Ideale sprechen von Wirklich­ keitsverlust. Wem ist mit Massenarbeitslosigkeit gedient? Wie soll hungernden Völkern bei schwindendem Einkommen in den Industrielän­ dern geholfen werden? Ist überhaupt eine Rück­ kehr zu einem weniger aufwendigen, weniger technisierten, weniger komplizierten Lebensstil möglich? Werden es die Menschen freiwillig tun oder nur auf den Druck einer äußeren Situation, wie es in der Kriegs- und Nachkriegszeit einmal geschehen ist?

So gesehen ist das Beispiel des Franziskus Uto­ pie. Aber es ist zugleich eine Herausforderung an das ethische Denken des Menschen, an den Be­ reich, der das Leben sinnvoll und wertvoll macht. Die bloße Befriedigung materieller, er­ kaufbarer Bedürfnisse treibt den Menschen im­ mer wieder in die beklagte Verödung des Da­ seins. Aber die hohen Ideale allein können den Menschen auch überfordern. Ethische Denkwei­ se läßt sich so umschreiben: Der Mensch soll das Sinnvolle erkennen und es mit gutem Willen aus­ führen. Es geht um Appelle an Einsicht und Ver­ nunft. Die Wirksamkeit solcher Aufrufe ist aber bis  jetzt nicht durchschlagend. Die bloße Infor-

 

mation veranlaßt noch keine Änderung der Ein­ stellung und des Lebensstils. Deshalb ist angera­ ten, zu fragen, ob eine ethische Denkweise allein ausreichend ist. Wenn von kranken Bäumen und kranken Seelen die Rede ist, dann ist die thera­ peutische Art, an die Probleme heranzugehen, hilfreicher. Das heißt, man sollte schauen, wor­ unter die Menschen leiden, und sie konkret dar­ aufhin ansprechen. Ihre Leiden verstehen und annehmen ist besser als anklagen.

Für die Neubegründung von Werten und für den Wandel des Lebensstils müssen tiefere Schichten der Seele aufgebrochen werden. Es geht darum, an den bestimmenden Punkt des Erlebens heran­ zukommen und diesen zu verände rn.

Genau das geschieht in der Therapie. Das Wort stammt aus dem Griechischen und heißt „Hei­ lung". Im therapeutischen Gespräch wird durch einfühlendes Verstehen der Herd der Krankheit offengelegt, werden heilende Kräfte geweckt und der Prozeß der Genesung angeregt. Dazu muß gesagt werden, daß jedes einfühlende Verstehen eine heilende Wirkung hat ganz gleich, ob es von einem beruflichen Therapeuten ausgeübt wird oder  nicht.  Die Abwehr  gegen lebensfördernde

. Erkenntnisse wird nach und nach abgebaut. Es werden Informationen angenommen und anders als früher gewertet. Durch eine emotionale Ent­ lastung werden Kräfte frei, die neues, unge­ wohntes Tun ermöglichen, ohne wiederum zu überfordern.

Neben allen dringenden Sofortmaßnahmen zur Rettung des Waldes sollte die Krankheit der See­ len im Mittelpunkt stehen. Jeder, auch der als normal geltende, sollte sich, darf sich sogar fra­ gen: Worunter leide ich selbst? An welchen ver­ kehrten Lebensinhalten, an welchen Gefühls­ blockaden, Ängsten, an welcher Langeweile und

 

Verödung des Daseins? Und was tue ich dage­ gen? Die beklagte Flucht in materielle Werte ist meist ein Davonlaufen vor den verborgenen Pro­ blemen und den Ansprüchen einer vertieften und gereiften Menschlichkeit. Die Suche nach den Quellen des seelischen Lebens und des menschli­ chen Glücks sollte im Mittelpunkt der Bemühun­ gen stehen.

Die Einsicht in die Krankheit ist Voraussetzung, für die Therapie. Tote Bäume können  gewiß  nicht mehr zum Leben erweckt  werden,  wohl aber tote Seelen, wenn der eigene desolate Zu­ stand voll und ganz wahrgenommen und durch­ litten wird. Überall dort, wo existen.t ielle Betrof­ fenheit zugelassen und Leidensdruck gemildert wird, werden neue Einstellungen möglich. Man sieht die Dinge anders. Prioritäten werden anders gesetzt. Von selbst legen solche Menschen mehr Wert auf das, was seelisches Wachstum und inne­ re Bereicherung fördert, als auf oberflächliche Bedürfnisbefriedigungen.

Gewiß ist noch nicht jeder, der eine Lebenskrise durchgestanden hat, Franziskus ähnlich, aber es ergibt sich doch ein Schritt von außen nach in­ nen, von der Veräußerlichung zum Wesentlichen des Menschseins. So gesehen bedarf die pessimi­ stische Schilderung unserer Zeit einer Ergän­ zung. Es gibt heute einen Einbruch in den naiven Glauben an den Fortschritt . Die Bewegung, die sich unter dem Namen „die Grünen" ein Dach gegeben hat, ist nicht mehr zu übersehen. Es geht hier nicht um die Beurteilung ihrer politischen Rolle. Aber sie kann als Signal gesehen werden für eine Zeitströmung, die von einem weiteren Ausbau der Technik nicht mehr das Heil erwar­ tet. Kritiker unserer Gesellschaft sprechen vom Ende der Aufklärung. Das Irrationale, also das, was nicht unbedingt vernünftig ist, sogar das Re-

 

ligiöse lebt bei Menschen auf, von denen man es am allerwenigsten vermutet hätte. Ob es ihnen zum Heil wird, steht auf einem anderen Blatt. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die Vorgänge um Shree Rajneesh Bhagwan, dessen Faszination zum großen Teil Intellektuelle zum Opfer fielen.

Die Alternativszeneist bevölkert von Leuten, die in der herkömmlichen Lebensform keinen Sinn und keine Zukunft mehr sehen. Sie suchen nach tragfähigen „Alternativen", nach Inhalten und Formen des Zusammenlebens und der Arbeit, die den Menschen weniger einseitig belasten, ihn weniger seelisch verkümmern und verkommen lassen. Auf den ersten Blick besaß Franziskus je­ nen Geist und jene Gesinnung, die heute einer unterschwelligen oder offenen Erwartung vieler kritisch Denkender entgegenkommt . Der Ver­ zicht auf ein Leben, dessen Inhalt eine ständige Überforderung und Eintönigkeit ist, klingt jun­ gen Menschen recht sympathisch, ebenso die da­ mit in Kauf genommene Auseinandersetzung mit den Autoritäten. Sie fühlen sich von ihm bestärkt in der Ablehnung einer Gesellschaft, die die Drit­ te Welt ausbeutet, den Boden zerstört, die Tiere ausrottet und die Schöpfung ihrer Würde be­ raubt. Aber ist die bloße Weigerung, eine Berufs­ ausbildung abzuschließen, ein festes Arbeitsver­ hältnis und eine Bindung auf Lebenszeit einzuge­ hen, schon die geforderte Umkehr und Nachfol­ ge des hl. Franziskus? Psychologen sagen: Es ist die Weigerung, erwachsen zu werden. Zweifellos mischt sich hier die Lust am Neuen, am Abenteu­ er, mit Lebensunlust, mit Depression und Ver­ zweiflung. Die Krankheiten der Zeit werden hier noch nicht geheilt, wohl aber mit aller Deutlich­ keit offenbar. Bei allen äußeren Ähnlichkeiten trennt ein tiefer Graben die im Grunde doch dü-

 

stere Welt der heutigen Aussteiger von der fro­ hen und hoffnungsvollen Art des hl. Franziskus. Wohl muß man zugeben, daß bei diesen jungen Leuten die Chance, den hl. Franziskus zu verste­ hen, größer ist als bei den „Normalen". Bei wem die Suche nach Sinn und Wahrhaftigkeit den Vor­ rang hat vor dem Streben nach Wohlstand und fi­ nanzieller Absicherung, befindet sich sicher auf dem rechten Weg. Vorausgesetzt muß allerdings werden, daß er die augenblicklichen Erkenntnis­ se und den momentanen Zustand nicht als Höhe­ punkt und Endzustand seiner Entwicklung an­ sieht.

Man kann heute mehr als früher Menschen ent­ decken, die mit großem Ernst und innerer Kon­ sequenz in aller Stille eine innere Linie verfolgen. Diese Menschen kommen auf Grund ihrer Ge­ radheit und Echtheit von selbst dem nahe, was Franziskus entdeckt hat. Die äußere Übernahme von Idealen und Programmen des Heiligen kann sich als Irrweg erweisen, wenn einer das Ureigen­ ste in sich selbst nicht entdeckt. Dieses Eigene trifft sich mit dem transzendenten Kern des Men­ schen, von dem eine Wandlung des Wesens aus­ geht. Wenn dieses nicht angerührt wird, bleibt ein Befolgen der Ideen und Mahnungen mühsam ' und ohne Elan. Sehr bald werden für die gebrach­ ten Opfer Kompensationen gesucht. Alles dreht sich um die Frage: Wird der Erlebnisraum des hl. Franziskus in mir selbst geöffnet oder bleibt er verschlossen? Werden die Quellen des seelischen Lebens entdeckt? Dies besagt eine Unmittelbar­ keit der Gefühle und der religiösen Erfahrung, wie Franziskus sie besaß und wie sie nachklingt in einem Bericht der Drei-Gefährten-Legende über   die   Anfangszeit   des   Franziskusordens:

,,Und wie sie ihres Weges nach der Mark dahinschrit­ ten, frohlockten sie laut im Herrn . . . und der  Heilige

 

sang helle und laute Lieder in provenzalischer Mund­ art. Groß war die Freude in ihnen, da sie überzeugt waren, daß sie jenen Schatz im Acker des Evangeliums gefunden hatten, den Schatz der hehren Frau Armut. Und die Liebe zu ihr ließ sie alles Irdische freien und frohen Herzens mißachten, als wäre alles nur Kot."16 Der aufmerksame Leser spürt etwas von der un­ begrenzten Freude, von der Freiheit und Überle­ genheit gegenüber allem, worum Menschen streiten.

Franziskus ist in einem Prozeß der Heilung frei geworden von dunklen Gefühlen. Es wird ein in­ neres Geschehen, vergleichbar mit dem Wachsen und Blühen eines Baumes. Um heute innerlich dahin zu kommen, wo Franziskus war, wird ein Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und Mühe diesem Prozeß zuwenden. Er achtet mehr auf in­ nere Vorgänge und läßt seelische Entwicklungen zu. Wenn einmal die Quellen des seelischen Le­ bens fließen, geht vieles von selbst, was früher unmöglich schien.

 

 

3.2.      Trauerarbeit

Als Einstieg in den Prozeß der Wandlung wurde die Schau nach innen angeregt. Zu fragen: Wie geht es mir wirklich? ist wirksamer, als sich blind guten Vorsätzen auszusetzen. Es befreit und legt das Eigene offen. Damit werden Schmerzen frei. Sie werden fruchtbar, wenn man sie zuläßt, beim Namen nennt und sie ausspricht, wenn es mög­ lich ist. Es tritt eine kathartische, d. h . reinigende Wirkung ein. Bonaventura spricht vom Wege der Läuterung. Heute ist dafür der Ausdruck Trauerarbeit gebräuchlich . Trauer sieht man bei Menschen, die einen Angehörigen oder Freund verloren haben. Sie dauert so lange, bis die seeli­ sche  Wunde  geheilt  ist.  Trauernde Menschen

 

sind in sich gekehrt; man gestattet ihnen zu wei­ nen, sie bekommen von den Freunden und Be­ kannten besondere Zuwendung. Früher wurde schon durch die Kleidung der innere Zustand zum Ausdruck gebracht, sodaß die anderen wuß­ ten, wie sie mit ihnen umzugehen hatten.

Eine nach außen gekehrte Lebensfreude paßt nicht zu der nach innen gekehrten Verfassung. Der psychische Organismus braucht alle Ener­ gie, um sich selbst zu heilen, ähnlich dem Kör­ per, der für die Genesung die Bettruhe braucht. Es ist wichtig, daß Menschen ihre Trauer ausle­ ben, sonst bleibt etwas von der Traurigkeit übrig und beeinträchtigt den normalisierten seelischen Ablauf.

Im Prozeß des Trauerns findet sich eine Spur zu dem, wie Franziskus lebte. Es gab in seinem Le­ ben eine Phase,  die  man  mit  gutem  Recht  als

„Trauerarbeit" bezeichnen darf. Historisch war es die Zeit von 1204 bis 1209, wo er vom norma­ len bürgerlichen Dasein „ausstieg" und - was  ihn  vom  Durchschnittstrauernden unterscheidet

- dorthin nicht mehr zurückkehrte. Sein Weg vom verwöhnten Sohn reicher Eltern zu dem Mann, als der er in die Geschichte einging, ist ge­ kennzeichnet durch Krisen, Sinneinbrüche und Leiden an der Dunkelheit. Bei Bonaventura sind der Anstoß seines Umbruchs eine langwährende Krankheit und verschiedene von Gott gesandte Träume. Die innere Stimme, die ihn lockte, be­ eindruckte ihn so sehr, daß er sich von der Öf­ fentlichkeit zurückzog.

„In dieser Zeit suchte er entlegene Gegenden, die Heimstätten der Trauer auf; während er dort immerzu mit unaussprechlichen Seufzern betete, verdiente er, daß sein inständiges Flehen erhört wurde."17

Eines tritt bei Franziskus deutlich hervor: Das Trauern  ist  keineswegs  ein  passives Sich-der-

 

Melancholie-überlassen; mit den Erschütterun­ gen und dem Weinen ist das inständige Beten als ein aktivierendes Moment verbunden. Hierin unterscheidet sich der fruchtbare Vorgang des Trauerns vom krankhaften, rein passiven Zu­ stand der Depression.

Was hat Franziskus betrauert? Nach den Berich­ ten war er unter Gleichaltrigen beliebt, hatte er offensichtlich eine glückliche Kindheit. Nach psychodiagnostischen Maßstäben war er gesund. Um seine „Trauer" zu verstehen, muß man noch ein einschneidendes Erlebnis heranziehen, das in die Anfangszeit seines neuen Lebens fällt und in der Drei-Gefährten-Legende überliefert ist. Bei einer nächtlichen Wanderung mit seinen Freun­ den hatte ihn „der Herr berührt".

,,Eine solche Süße (das italienische Wort „dulcezza" kann auch übersetzt werden mit „seliges Hingerissen­ sein", ,,inneres Erglühen") erfüllte sein Herz, daß er weder reden noch sich bewegen konnte."18

Es war ein unmittelbares Innewerden Gottes, das jeglichen Erfahrungshorizont des Menschen übersteigt. Die Wucht dieses Erlebnisses ließ ihm alles, was ihm bisher etwas bedeutet hatte, Geld, Bequemlichkeit, Beliebtheit, nächtliches Feiern, Zukunftspläne, als belanglos erscheinen. Als die Gottesbegegnung vorüber war, waren für ihn - so darf man annehmen - die Selbstverständlich­ keiten des Alltags, das banale Tun und Gerede seiner Freunde und Bekannten unerträglich. Es wurde ihm bewußt, daß er in die bisherige Welt nicht mehr hineinpaßte. Das Leben war für ihn aufgesprengt worden bis in die letzte Tiefe seiner Existenz. Mit einem Schlag wurde ihm das Unge­ nügen an einer nur weltlichen Welt klar. ,,Von je­ ner Stunde an begann er, sein eigenes Nichts zu verachten."19 Der Daseinsschmerz, der in ihm aufgebrochen war, war der Grund seiner Trauer.

 

Darin war der Abschied von Eltern und Freun­ den und deren Welt miteingeschlossen. Wenn ihm später das Sterben so leicht fiel - er nannte den Tod seinen Bruder - so läßt sich mit Berech­ tigung sagen, daß er es im Prozeß des Trauerns im voraus vollzogen hat. Er ist hier seinen Tod schon einmal gestorben. Indem Franziskus bis in die letzten Fasern seines Wesens aufgewühlt war, wurde eine Urangst aktualisiert, die ein Mensch nur in Todesgefahr erlebt. Nur in diesem Aufge­ wühltsein ist es möglich, sich dem Wirken Gottes voll und ganz zu öffnen. Damit wird die Grund­ angst, die sonst jedes Handeln ein Stück verdirbt, überwunden. Die besprochene Art zu trauern führt durch Schmerz und Angst hinüber zu ei­ nem neuen Zustand, in dem das Habenwollen aufhört. Der für unsere Zeit von Erich Fromm geforderte Überschritt von der Daseinsform des Habens in die des Seins wird hier Wirklichkeit. 20 In dem sich ereignenden höheren Menschsein ist zugleich die ökologische Umkehr eingeschlos­ sen. Die bloße Mahnung, arm und bedürfnislos zu werden, muß solange Überforderung und Utopie bleiben, bis das Habenwollen in seinen verschiedensten Ausprägungen durch einen Pro­ zeß des Werdens überwunden wird. Die Loslö­ sung von Dingen, von Personen, von Vorstellun­ gen und Ideen, kann als Trauerarbeit gesehen werden.

Die vielfach bewunderte radikale Armut des hl. Franziskus ist mehr Ergebnis einer Erfahrung als Inhalt guter Vorsätze. Weil er Kostbarstes spür­ te, konnte er auf Äußerlichkeiten verzichten.

Um zu lernen, wie Franziskus zu leben, ist es nützlich, das Thema des Trauerns noch einmal aufzugreifen. Jede seelische Wunde, ob das nun mangelnde Nähe und Zuwendung in der frühen Kindheit,   das  Zerbrechen   einer  Freundschaft

 

oder  einer  Ehe,  oder  der  Tod  eines geliebten

, Menschen ist, braucht eine Zeit der Heilung. Nicht betrauerte, verborgene  Verwundungen sind ein ständiger Herd der Unruhe und krank­ machender Symptome. Die Psychoanalyse ver­ sucht nun, solche nichtausgeheilten Bereiche, unbewältigte Probleme, unerledigte Handlun­ gen, aufzudecken. Der Analysand soll erlebnis­ mäßig mit jenen Schichten der Seele in Kontakt kommen, von wo die Krankheit ausgeht.

Für das Thema „Kranke Bäume - Kranke See­ len" heißt das, daß es durchaus ein Leiden an der erkrankten und getöteten Natur gibt. Es ist wie bei so vielen Neurotikern verborgen, nährt aber ständig Konflikte, wie die schon beklagten Krankheiten unserer Zeit. Wenn die Natur drau­ ßen aus dem Gleichgewicht geraten ist, dann nur, weil die innere des Menschen es vorher schon war. Die Selbstverständlichkeiten des modernen Lebensstils, wie die einseitige Bemühung um den materiellen Bereich, die völlige Abwesenheit ei­ ner bedeutsamen religiösen Erfahrung im Leben der meisten, die mangelnde Kultur im emotiona­ len Bereich, die ständige Ablenkung von sich selbst in der Freizeit, sind, gemessen an anderen Kulturen, Anzeichen einer kollektiven Neurose. Der Indianerhäuptling Seattle äußert 1855 in sei­ ner Rede an den amerikanischen Präsidenten sein Bedenken über die Art, wie die Weißen mit der Erde und den Tieren umgehen, ja wie sie über­ haupt leben.

,,Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Lehrt Eure Kinder, was wir unsere Kinder lehren: Die Erde ist unsere Mutter ... Wenn Menschen auf die Erde spucken, bespeien sie sich selbst."21

Ein Indianer aus dem Stamm der Omaha klagt in unse­ ren Tagen über die Verwüstung des Landes: ,,Ich sehe das Land verwüstet, und mich drückt unsäglicher Kummer." 22

 

Dieser „unsägliche Kummer" ist auch - man täusche sich nicht - dem Weißen nicht unbe­ kannt. Nur hat er hier andere Namen und es wer­ den andere Ursachen angeführt, falls er nicht ver­ drängt wird. Deshalb entspräche es heute der Wahrheit, um die geschändete Mutter Erde, wie um die lebendige Beziehung zu ihr, die innere ln­ stinktnatur, die verlorene Seele gleichermaßen zu trauern.

Es mag dem modernen Menschen so ergehen wie einem Mann, der in der therapeutischen Sitzung um seine längst verstorbene Mutter weint. Weil er es mit fünf Jahren nicht konnte, muß er sie jetzt begraben und den Schmerz der Trennung bewußt durchleiden. Erst dann wird die Mutter auch in ihm ruhen, ihn in Ruhe lassen, aber ihm auch die Kraft spenden, die er zum Leben braucht. Trauerarbeit heißt, daß ein Neuanfang, eine neue Beziehung zu den Toten und zu den Lebenden entsteht. Auf dieser Linie liegt auch ei­ ne Hoffnung für den modernen Menschen in sei­ nem Verhältnis zur Natur sowie auch eine Hoff­ nung für die Bäume.

Anschaulich wurde Trauerarbeit im Bereich Mensch und Natur auf einer Veranstaltung einer kirchlichen Akademie. Dort sollten Frauen zur Darstellung ihrer Probleme ein antikes Mysterienspiel aufführen. Eine der Anwesenden übernahm die Rolle der Unterwelt­ göttin so vollkommen, daß sie rein intuitiv wertvolle Lösungsmöglichkeiten anbot. Als Bedingung, um mit der Göttin in Kontakt zu kommen, legte sie den Bitt­ stellerinnen die Aufgabe vor, sie müßten zuerst mit ihr eine tote Schlange, die sie beim Spaziergang gefunden hatten, begraben. Erst dann könne die Bitte erhört werden.

Die Lösung der Probleme liegt in der Symbol­ handlung als solcher. Wer ein Lebewesen beer­ digt, erweist ihm Ehrfurcht und Achtung, ,,die letzte Ehre". Damit wird ein verlorengegangener

 

Erlebnisinhalt, nämlich die Ehrfurcht aktuali­ sert. Ihr Verlust wurde schon als Merkmal des aufgeklärten Menschen angeführt. Ihre Wieder­ gewinnung wäre der eigentliche Fortschritt. Der bloße Protest gegen die industrialisierte Lebens­ form schafft noch nichts Neues und macht Totes noch nicht lebendig.

Bei dem erwähnten Mysterienspiel verdient das zu betrauernde Wesen als solches besondere Be­ achtung. Die Schlange wird bei Naturvölkern als Symbol der Erdmutter betrachtet; eine tote Schlange ist deshalb ein treffendes Sinnbild für den Zustand der Schöpfung und den der mensch­ lichen Seele, nämlich für die abgestorbene Ver­ bindung mit der Ganzheit und Sinnhaftigkeit des Kosmos und mit den Quellen des seelischen Le­ bens, für die verlorene lnstinktnatur. Die sym­ bolische Handlung im Mysterienspiel könnte ebenso Inhalt eines Traumes gewesen sein. Seine Botschaft würde dann lauten: Begrabe zuallererst deine inneren Toten! Laß dich auf den Prozeß des Trauerns ein! Durchleide noch einmal bewußt die Not deiner entleerten Seele! Erst die Trauer und die wiedergewonnene Haltung der Ehr­ furcht bringen dich in Berührung mit dem Gött­ lichen in dir!

Wer sich vom Schmerz betreffen läßt, setzt sich der Eigentätigkeit der Seele voll und ganz aus. Weinen befreit. Der Prozeß der Wandlung ge­ winnt eine eigene Dynamik. Angestaute Ener­ gien können wieder fließen, aber in eine Rich­ tung, die ihnen bisher verwehrt war. Das Gespür für das Wesentliche und für Bedürfnisse, die vom Wesen kommen, erwacht. Angst, Spannung und Zerrissenheit fallen vom gequälten Menschen ab, statt dessen erfüllen ihn Friede und innere Freu­ de. Es sind Kräfte des Ursprungs, die am Werk sind.  Ein solcher  Mensch  gewinnt  seine Seele

 

wieder zurück, die Beziehungen zu den Mitmen­ ichen, zur Natur und zu Gott werden lebendig. Höhepunkt einer solchen Wandlung kann ein Ergriffensein von Gott sein, ähnlich dem, wie es bei Franziskus war oder wie es die russische Schriftstellerin Tatjana Goritschewa beschreibt. Ihre konsequente Suche nach der Wahrheit und nach ihrem Wesen, ihr Mut und ihre Bereit­ schaft, dafür zu leiden, führten zu einem Erleb­ nis, in dem sie mit sich, mit Gott und dem Kos­ mos eins wurde.

„Es passierte etwas ganz Unerwartetes, etwas ganz Unvorstellbares. Er machte mir klar, daß es Ihn gibt. Nicht den abstrakten, den anonymen Gott der Yogis, sondern den liebenden himmlischen Vater der Bibel. Er liebt mich und alles um mich herum. Das habe ich ganz klar gesehen, als würde sich mir der erste Tag der Schöpfung eröffnen. Die ganze Landschaft ringsum­ her, früher so arm, erstrahlte in ungewöhnlicher Fröh­ lichkeit. Es schien, als frohlockte jedes Gras, jedes Blättchen; als sei die ganze Welt gerade eben aus seinen liebenden Händen hervorgegangen. So bin ich neu ge­ boren."23

Die als Atheistin erzogene Philosophin, Frauen­ rechtlerin und Dessidentin reist heute durch Westeuropa und füllt mit den bewegenden Schil­ derungen ihrer Geschichte Kirchen mit alten und jungen Leuten. Sie wird als Zeugin eines neuen, aufbrechenden Glaubens überall willkommen geheißen. Wieviele aber nehmen ihre Kritik an der allgemein verbreiteten westeuropäischen Kirchlichkeit, an deren veräußerlichten Religiö­ sität, an der kalten, emotional und spirituell ent­ leerten Theologie ernst?2 4

Es hat den Anschein, daß wenigstens einige we­ nige jüngere oder ältere Menschen den anstek­ kenden und erlösenden Glauben dieser Frau, der ihrem Suchen entgegenkommt, entschlossen in Erwägung ziehen. Sie müssen allerdings den har-

 

ten Weg der Trauer auf sich nehmen und bereit sein, für die entdeckte tiefere Wahrheit einsam und unverstanden zu leiden.        '

 

3.3.      Bilder, Träume, Visionen

Im Sonnengesang lebt die Seele des hl. Franzis­ kus. Sie spiegelt sich wieder im Leuchten der Sterne, in der aufgehenden Sonne, im klaren und frischen Quellwassser, im Rauschen des Windes, im wärmenden und erhellenden Feuer, in der Güte der Mutter Erde. Erscheinungen der Natur sind Qualitäten und Bilder der Seele.25 So emp­ finden und fühlen wie Franziskus bedeutet, von diesen Bildern berührt zu werden. Sie entfalten dann eine eigene Wirksamkeit, tragen und inspi­ rieren den, der sich ihnen öffnet. Wenn einmal das Innerste der Seele erwacht ist, bringt sie ihre Schöpfung hervor. Dazu gehören als erstes die Träume. Man kann sie als Gestaltungen des un­ bekannten, dunklen Teils der Seele erkennen. Wenn im Schlaf das Wachbewußtsein abgesenkt ist, ist die innere Welt offener .

Jung nennt sie die objektive Seite der Psyche, welche eigenständig denkt und handelt. Die Träume sind ihre Spiegelungen. Visionen sind Träumen vergleichbar. Auch sie gehen auf die spontane und autonome Tätigkeit des hinter dem Ich stehenden Teils der Seele zurück. Aber sie überkommen im Unterschied zu den Träumen einen Menschen meist im Wachzustand. Ihre In­ halte sind besonders beeindruckend und ergrei­ fend. Sie haben eine wichtige Botschaft für die Lebensgestaltung des Empfängers allein schon durch die Erschütterung und den langdauernden Nacheffekt, den sie auslösen. Menschen, die für Visionen begabt sind, haben eine besonders dün­ ne Wand zum Unbewußten.26

 

Was in alltäglichen Träumen an Szenen und dra­ matischen Abläufen passiert, sieht auf den ersten Blick nicht nach göttlicher Führung aus. Träume gelten als unwirklich, als unverständlich und zum Teil als unangenehm. Deshalb haben sie kei­ nen hohen Rang.

Es ist gut, sich die Frage nach der Realität der Träume zu stellen. Was haben sie mit der Wirk­ lichkeit zu tun? Wirklich sind die Stimmungen und Gefühle, die von einem Traum ausgelöst werden oder ihn begleiten. Jemand wacht nach einem Traum mit einer ganz realen Angst auf. Manch gereizte und unruhige Stimmung begann in der Nacht mit einem Traum. Eines läßt sich festhalten: Die einzelnen Bilder und Ereignisse eines Traumes sind wörtlich und konkret genom­ men sicher nicht wirklich. Es stirbt  niemand, man fällt nicht herunter, man braucht keine schwierige Aufgabe in der dargestellten Form zu lösen. Aber die Träume weisen auf eine Wirklich­ keit hin, die am Werk ist. Es geht um innere Pro­ zesse und Ereignisse, die das Leben eines Men­ schen bestimmen, seine Einfälle, seine Gedan­ ken, seine Gefühle und sein Tun. Der Mensch ist mehr von diesem Bereich bestimmt, als er sich eingestehen will.

Die Wertschätzung der Träume ist in der Bibel offenkundig. Erwähnt seien der Traum Jakobs von der Himmelsleiter (Gen 28,1), die Träume Josephs, der nach Ägypten verkauft wurde (Gen 37,50), Hiob (Hiob 33,15), der in den Nachtge­ sichten die Stimme Gottes erfährt und schließlich Joseph, der Mann Marias (Mt 1,20), sowie die Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,12).

In Übereinstimmung mit der HI. Schrift, mit den

Naturvölkern und mit der modernen Psychothe­ rapie geht man also nicht fehl, diesen Erzeugnis­ sen  der Seele Beachtung,  Aufmerksamkeit und

 

Ehrfurcht zu schenken. Sie enthalten Weisungen für die Zukunft, heilende Kraft und Lösungen für anstehende Probleme. Gott selbst ist es - so die Bibel - , der durch sie den Menschen seine Botschaft zukommen läßt.

Eigentlich dürfte es nicht überraschen, daß Träu­ me und Visionen auch für den hl. Franziskus von großer Bedeutung waren. Sowohl die „Dreige­ fährtenlegende" al·s auch Bonaventura in seinem Großen Franziskusleben berichten den ersten Traum, der für die Entwicklung des Heilig n be­ deutsam wurde. Beide führen ihn auf Gott zu­ rück.

»Eines Nachts, da er schlief, erschien ihm jemand, der rief ihn beim Namen und führte ihn in einen weiten, herrlichen Palast. Da gab es der Waffen viel, prächtige Schilde und Rüstungen aller Art, die an den Wänden hingen und auf Kriegsruhm zu harren schienen.

Von höchster Freude erfaßt, fragte er sich voll Stau­ nens, was das bedeuten möge und wem die herrlichen Waffen hier und der prächtige Palast gehöre. Und es ward ihm gesagt, das alles mitsamt dem Palast gehöre ihm und seinen Edlen." 2 7

Mit Recht kann man hier einen Initialtraum se­ hen. So heißen in der analytischen Traumarbeit jene Träume, die den inneren Weg einer Analyse einleiten. Sie zeichnen sich durch ihre deutlichen und auffallenden Bilder aus und stellen das Le­ bensthema und die Aufgabe des Träumers dar. Sie enthalten Auftrag und Verheißung. Initial­ träume sind mit Berufungsvisionen vergleichbar. Ein Palast oder Schloß in einem Traum oder Mär­ chen ist zu allen Zeiten ein Symbol für die Ganz­ werdung. Das Finden der Ganzheit war für Fran­ ziskus gleichbedeutend mit dem Ruf in unmittel­ bare Nähe Gottes. So gesehen wird Franziskus durch den Traum seine Lebensaufgabe und -ver­ heißung vorgestellt. Es geht darum, in seinem Schloß  die  Herrschaft  anzutreten,  Ritter  oder

 

König zu werden. Ihm drängt sich zunächst eine wörtliche und naive Deutung auf. Er sieht eine Bestätigung seiner ehrgeizigen Pläne. Voller Ei­ fer bricht er für den dazu nötigen Kriegszug auf. Erst durch einen zweiten Traum wird ihm die rein äußerliche Verwirklichung verwehrt. Er müsse (vom Kriegszug) umkehren, wenn er dem Herrn und nicht dem Knecht dienen wolle. Da­ mit ist nach mittelalterlichen Verhältnissen ein­ geschlossen: Selbst Herr und nicht Knecht zu werden.

Die naive Auslegung bestätigt nur, was man schon weiß und will. Die tiefere Erkenntnis ver­ ändert die Einstellung und Richtung des Bewußt­ seins. War ein Mensch oberflächlich und nach außen gekehrt, so ist er jetzt ernster, wesentlicher und verinnerlichter. Zu Recht wird ein solches Ereignis „Umkehr" genannt. Mit Träumen um­ zugehen heißt nicht, seine intellektuelle Neugier­ de zu befriedigen, indem man Neues über sich er­ fährt, sondern die Art seines Denkens und Wahr­ nehmens und seine Wertprioritäten verändern.

 

Die Botschaft des Unbewußten, der andern Sei­ te, des zweiten, höheren Ichs geschieht meist in einer Reihe von Traumereignissen. So war es bei Franziskus in allen folgenden Visionen und traumhaften Begebenheiten, in denen er ange­ sprochen wurde. Im Kirchlein St. Damiano hört er die Stimme vom Kreuz: ,,Franz siehst du denn nicht, wie mein Haus zerstört wird? Geh und stelle es wieder her."28 Er denkt zunächst an die Renovierung der Kapelle. Erst im Laufe der Ge­ schehnisse kommt er zur Einsicht, daß ein ganz anderes Haus gemeint ist. Eines kann man fest­ machen: Das Leben des hl. Franziskus bekam wesentlich seine Richtung von der Stimme, die er in Träumen und Visionen hörte.

 

Eigentlich läge es nahe, anzunehmen, daß jeder, der die Lebensweise des Heiligen erlernen will, auf die Botschaft seiner Träume achtet und sich die Kunst, ihre Sprache zu verstehen , aneignet . Allein schon die Beachtung und Wertschätzung innerer Vorgänge ruft ein neues Lebensgefühl hervor; der Sinn für existentielle Auseinanderset­ zung, für die ureigenste Bestimmung und Wahr­ heit erwacht und damit Lebensgewißheit und Echtheit. Wenn ich einen Traum auf mich wirken lasse, mache ich das demütige Eingeständnis, daß ich über mich noch nicht alles weiß und daß noch andere Kräfte, auch dunkle, mich bestimmen und leiten. Träume sind ein Weg zu sich selbst und zugleich zur Natur. Darauf weist Eugen Drewermann eindringlich hin, wenn er die Ent­ fremdung des modernen Menschen von Religion und Natur beklagt. Die Zerstörung der Träume und die Zerstörung der Religion seien nur zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. Man müsse am ehesten bei den Träumen beginnen, wenn man den Menschen wieder mit sich selbst unq da­ mit zugleich mit der Natur verbinden wolle. .

»In der Seele des Menschen sind seit Jahrmillionen aus dem Gedächtnis der Evolution Wasser und Wind, Berg und Baum, Sonne und Mond, Wolke und Sterne, Schlange und Vogel, Höhle und Fels, Wald und Wü­ ste, Hitze und Schnee als archetypische Bilder und Symbole der Begegnung mit dem Absoluten im eige­ nen Innern gespeichert ."29

 

Im Bereich des Christentums ist das Wissen um die Botschaften der Seele und damit auch der Zu­ gang zum Unbewußten abgerissen. Der bloße Wille, religiös zu sein, ersetzt nicht die religiösen Kräfte, die in der Tiefe einer jeden Seele bereit lie­ gen, aber in der allgemein geübten Praxis nicht hervortreten. Man darf gewiß von einer Tragik in der   Geschichte   des   Christentums   sprechen,

50 .

 

wenn so wenig Verständnis für jene Ereignisse vorhanden ist, welche seine Anfänge geprägt ha­ ben. Gemeint sind die Traum- und Visionserfah­ rungen der Propheten, Jesu, der Apostel und der Heiligen. Warum sollte man das Wirken des Gei­ stes nicht im Innern des Menschen suchen?

Von den Vertretern der neueren Exegese wird be­ tont, daß es Jesus um die Gesinnung, also um die Wandlung der Herzen geht. Ein neues Wertge­ fühl bildet sich aber nur, wenn die zentralen Stel­ len im Unbewußten, die Tiefen der Seelen ange­ sprochen werden und sich verändern. Für die er­ sten Christen war die Ausrichtung an Träumen und Visionen, an „Gesichtern" eine Selbstver­ ständlichkeit. Die Pfingstrede des Petrus gibt da­ von etwas wieder, wenn er darin die unmittelbare Wirkung des Geistes sieht .

"Ich werde ausgießen von meinem Geist über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter werden prophe­ tisch reden, eure jungen Männer Gesichte schauen und eure Alten Traumgesichte haben  ...    "(Apg 2,17)30

Die Entfernung des alle orts praktizierten Christseins von der Kraft des Ursprungs wird häufig beklagt. Ob es nicht damit zu tun hat, daß die real tätige Seele und ihre Schöpfungen, die Träume, fast allgemein mißachtet werden und im geiebten Glauben so gut wie keine Rolle spielen? Nicht zu Unrecht darf man vermuten, daß davon die mangelnde Fähigkeit der christlichen Kir­ chen, einen befriedenden, heilenden und ordnen­ den Einfluß auf die Industriegesellschaft auszu­ üben, herrührt. Niemand wird leugnen, daß die Entwicklung im Augenblick ohne oder gegen die Kirche erfolgt.

Die Gabe, das Unbewußte zu ordnen und deren, Kräfte dem Lebendigen dienstbar zu  machen, war einst Priestern und Schamanen in den Natur­ religionen zu eigen. Wo sie im christlichen   Be-

 

 

reich neu entdeckt wird, gewinnt der alte Glaube seine durchsäuernde Kraft zurück und  deren Yert reter neues, ungewohntes Ansehen. Wird Kritik ernst genommen, entsteht Gespräch und lebendiges Miteinander. So gilt es, die von vielen Enttäuschten vorgetragenen Ä ßerungen auszu­ halten und auf ihren .w ahren Kern hin zu prüfen . wer die vernachläs igten und ausgeblendeten Wahrheiten beachte _t, trägt viel zur Belebung sei­ ner selbst, des eigenen Lagers und der Mensch­ heit bei. So ist es hilfreich, der Klage vieler nach­ zugehen, die sich schon lange fragen: Wieso' kommt es, daß von den Ländern, wo die christli­ che Lehre fast zwei Jahrtausende verbreitet wur­ de, soviel Gewalt, Zerstörung und Unterdrük­ kung ausging? Und warum mußte sich im Erbe des Christentums ein tödlicher Fortschritt ent­ wickeln?31

Der Begründer der analytischen  Psychologie, C. G. Jung, hat den Mangel und die Fehlhaltung der herkömmlichen religiösen Praxis im kirchli­ chen Bereich sehr deutlich gesehen und eine äu­ ßerst wertvolle, konstruktive Kritik geübt. Als wesentlichen Punkt seiner Kritik stellt er heraus , daß der westliche Mensch, auch der vom Chri­ stentum geprägte, seine ganze Aufmerksamkeit nach außen gerichtet hat. Das Gute  könne hur von außen kommen, meint er, selbst seinen Gott hat er nur draußen . Er sieht zwar das Einzelne klar, aber er hat den Blick für das Ganze, für ei­ nen sinnvollen Zusammenhang verloren ; er ist ich- und dingverhaftet und der tiefen Wurzel al- 7en Seins unbewußt.

Echte Religiosität unterscheidet sich von kraftlo­ ser, einengender und verkopfter darin, inwieweit der Urgrund im Menschen erwacht. Die ver­ schiedenen Namen dafür - der Große Mann, das Bild Gottes, der Seelengrund, der Archetyp  der

 

Ganzheit, das Selbst - weisen auf eine allen Menschen gemeinsame Erfahrung hin. Die sie hatten, waren getragen von einer umfassenden kosmischen Ordnung, waren eins mit allen Ge­ schöpfen, fühlten sich aufgehoben und geliebt von einer überbewußten Wirklichkeit (im christ­ lichen Bereich: von einem liebenden Gott). Und darin hatten sie ihr wahres Wesen gefunden.

Die Christen glauben, daß Christus im Grunde der Herzen und aller Wesen wohnt. Die Wahr­ heit aber, daß nur unmittelbaren Kontakt  mit  ihm haben kann, wer Zugang zur eigenen Seele hat, muß erst eindringlich in die Er- lnnerung im wortwörtlichen Sinn gerufen werden. Träume sind ein Weg ins Innere, manche sagen, der kö­ nigliche Weg.

Ob nun der moderne Mensch Träume schätzt oder nicht, an der Mitte seines Selbst und an der Mitte der Welt kann er nicht vorbeigehen, ohne sich und allen lebenden Wesen zu schaden. Das Symbol für die Mitte allen Seins war von jeher der heilige Baum, der Seelenbaum, die Achse der Welt. Im christlichen Bereich kennen wir den Baum des Lebens und den Baum des Kreuzes.

Es stünde uns in der Zeit der Bedrohung alles Le­ bendigen gut an, mit dem indianischen Schama­ nen Schwarzer Hirsch für die Bäume, die krank, für die Tiere, die am Aussterben, und für die See­ len, die ausgedörrt und verzweifelt sind, für alle verwundete Natur und alle entfremdeten Men­ schen, den Großen Geist anzurufen und um das Wiedererblühen des heiligen Baumes zu flehen. Schwarzer Hirsch, der Medizinmann oder besser gesagt der Gottesmann von Sioux, hatte als Kna­ be in einer Vision von der Mitte der Welt deutlich vor sich gesehen, woran Menschen gesunden könnten. Er versuchte, seine Berufung zu leben, konnte  aber sein  eigenes  Volk  nicht  retten. Im

 

Originaltext lautet das Gebet dieses großen Man­ nes so:

„In die Mitte der Welt hast du mich gebracht und mir die Güte und die Schönheit und die Seltsamkeit der grünenden Erde gezeigt, der einzigen Mutter - und dort hast du mir die Geist-Formen der Dinge gezeigt, so wie sie sein sollten, und ich habe gesehen. In der Mitte dieses heiligen Kreises hast du gesagt, ich solle den Baum zum Blühen bringen . Unter rinnenden Trä­ nen, o Großer Geist, Großer Geist, mein Großvater - unter rinnenden Tränen muß ich nun bekennen, daß der Baum nie geblüht hat. Ein beklagenswerter alter Mann, so siehst du mich hier, und ich bin abtrünnig geworden und habe nichts getan. Hier, in der Mitte der Welt, wo du mich hingebracht und unterwiesen hast, als ich jung war; hier, nun alt, stehe ich, und der Baum ist verdorrt, Großvater, mein Großvater! Nochmals, und vielleicht zum letzten Mal auf dieser Erde, rufe ich das große Gesicht wieder auf, das du mir gesandt hast. Es könnte ja sein, daß eine kleine Wurzel des heiligen Baumes noch lebte. Nähre sie, auf daß sie Blätter und Blüten trage und sich mit singenden Vögeln fülle. Hö­ re mich, nicht um meinetwillen, um meines Volkes willen. Ich bin alt. Erhöre mich, auf daß sie wiederum in den heiligen Ring zurückkehren und den guten ro­ ten Weg finden, und den beschirmenden Baum."32

 

Im letzten der christlichen Offenbarungsbücher gibt es die Vision vom Lebensbaum, der in der Mitte und zu beiden Seiten des Stromes vom Wasser des Lebens steht. ,,Seine Blätter dienen zur Heilung der Völker." (Offb 22,1-3) Für alle, die sich um kranke Bäume und kranke Seelen sor­ gen, bleibt die Aufgabe, dieses große Gesicht der Christenheit, wie einst Schwarzer Hirsch das sei­ ne, wieder aufzurufen und seinem Wirken zu vertrauen.

Visionen in Büchern nachzulesen ist hilfreich, wenn sie eigenes Erleben wachrufen. Der Baum des Lebens wird dann blühen, wenn er jeweils in einem  von  uns  seine  Wurzeln  schlagen,  semen

 

Stamm bilden, seme Äste und Blätter treiben darf.

Der Rat, durch den Umgang mit Träumen zu sich selbst zurückzukehren, und damit die Pro­ bleme der Zeit zu lösen, mag vielen als Aufforde­ rung zum tatenlosen Zusehen erscheinen. Man würde damit den Gang der Geschichte anderen überlassen.   Dazu   seien   einige Überlegungen

C.G. Jungs zur Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart angeführt.33

Er meint, wir sähen in der Menschheitsgeschich­ te nur die alleräußerste Oberfläche der Ereignis­ se. Das eigentliche geschichtliche Geschehen sei dem Blick des Historikers verborgen. Es seien die geheimsten privatesten seelischen Grundhal­ tungen jedes einzelnen von vielen gewesen, die Kriege entfacht, Dynastien begründet oder abge­ löst, Reiche aufgebaut oder zerstört hätten. Die Leidenschaften und Ideen hätten den einzelnen und den Lauf der Dinge bestimmt. Das subjekti­ ve Leben des einzelnen allein zähle, äußere Ereig­ nisse seien so gesehen belanglos. Alle großen Wandlungen der Weltgeschichte fänden zu­ nächst in den unbewußten seelischen Tiefen der einzelnen statt, und die Zukunft stamme als un­ geheure Summation aus diesen verborgenen Quellen der einzelnen.

„Wir sind in unserem privatesten und subjektivsten Leben nicht nur die Erleider, sondern auch die Macher einer Zeit. Unsere Zeit -  das sind wir!" 34

Die Gedanken Jungs darf man kurz so zusam­ menfassen: Weil durch die Arbeit mit Träumen die ganze innere Welt eines Menschen verändert wird, geht ihre Bedeutung über den Rahmen ei­ ner bloßen „psychotherapeuthischen Behand­ lung" weit hinaus.

Träume geben uns die Möglichkeit, mit den be­ stimmenden  Faktoren  der  Geschichte   unseres

 

Lebens und damit auch einem Stück der Mensch­ heit ins Gespräch zu kommen. Wir geben etwas auf von unserer verkehrten, lebensfeindlichen Einstellung und gewinnen etwas von der Weis­ heit und Kraft der unbewußten Natur. Wir ver­ hindern damit, daß diese zu unserem Unglück gegen uns entscheidet. Wer auf seine Träume achtet, kehrt zum Allersubjektivsten, der Quelle seiner Existenz und seines Daseins zurück. Er er­ reicht jenen Punkt, wo er - so Jung - Weltge­ schichte macht. Er gewinnt Anschluß an eine der Menschheit und allen lebenden und nichtleben­ den Wesen gemeinsame Weisheit und an die un­ mittelbar wirkende Kraft des Lebens.

Wer weitergeht, dem wird sich auch die  Nähe zum Heiligen auftun. Nicht in der ausschließli­ chen Beschäftigung mit dem Geistigen ist das Heilige zu finden, sondern  man muß es zugleich in der ganz einfachen eigenen Natur, die in den Träumen als niedrig und eklig erscheint, suchen. Das mag vielen ungewohnt klingen. Im Himmel und auf Erden soll ja Gottes  Wille  geschehen. Und dieser ist das Heil und die Heiligung aller. Manchen erscheint letzteres  überflüssig.  Dabei ist es, seit Menschen leben, die Nähe zum Heili­ gen, die wirklich gesund macht. Im Tempel des griechischen Gottes Asklepios gab es  erfolgrei­ che Therapien, in Persien übten Priester die Heil­ kunst aus, bei den Naturvölkern die „Medizin­ männer", die die Verbindung zu den Geistern hatten.

Die Geschichte von Jesus und den Heiligen ver­ bindet mit ihren Heilungen. Der Grund ist, weil das „Heilige" als der Einbruch der ganz anderen Welt, selbsttätig wirkt und Geis!, Seele und Leib in die rechte Ordnung rückt, in die Ausrichtung zur Mitte aller Dinge.

 

Schluß

 

Der Gegensatz -  moderner  Lebensstil  und Recht aller Wesen auf Würde und Leben - er­ scheint unlösbar. Seelen und Bäume müssen den Konflikt erleiden. Die Weiterentwicklung der Technologie mag in vielen Bereichen hilfreich sein, ist es aber nicht, wenn Denken und Tun sich noch weiter vom Wesen des Menschen und der gemeinsamen Mitte entfernen.

Viele in und außerhalb des christlichen Lagers schauen nach Angeboten von Seiten des Chri­ stentums aus. Von selbst, so meint man, biete sich der heilige Franziskus an, wenn es um die Themen von Umwelt, Naturschutz und friedvol­ le Zukunft der Menschheit geht. Sein Leben in unsere Zeit zu übersetzen, ist jedoch schwieriger, als man gemeinhin annimmt . Seine Nachfolger heute erscheinen einer säkularisierten Gesell­ schaft als bedeutungslos. Die Mühe, mit der sein Leben erforscht und seine Ideale befolgt werden, erbringt offensichtlich nicht den Einfluß und die überzeugende Kraft, die für eine grundlegende Umorientierung nötig wären.

Deshalb sollten alle, die den Heiligen von Assisi mögen und von ihm lernen wollen, darüber nachdenken, ob der Eifer nicht in die falsche Richtung geht. Wenn man kritiklos die Lebens­ form eines andern übernimmt, kann man an einer echten Nachfolge gehindert werden, nämlich daran, sich selbst zu spüren, seinen eigenen Schatten und seine Kräfte zu erkennen und sein Leben so zu bestehen, wie es das große Vorbild bestanden hat. Fixierungen an einer fremden, noch so edlen Person werden zum Übel, wenn sie der eigenen Entwicklung im Wege stehen. Wer jedoch das kritische Gespür für die eigene Wahr-

 

heit in sich erweckt und ihr bedingungslos folgt, wird dahin kommen, wo Franziskus war,  und zur Heilung der erkrankten Wesen beitragen.

 

Anmerkungen

1 Im Rheinischen Merkur vom 15.6.1985 werden für Waldschäden  folgende  Zahlen angegeben:

Die Waldschadenserhebung 1983 und 1984 des Bun­ desministers für Ernährung, Landwirtschaft und For­ sten hatte zum Ergebnis, daß der Anteil der geschädig­ ten Waldfläche allein innerhalb eines einzigen Jahres von 34 % auf 50 % der gesamten Waldfläche der Bun­ desrepublik angewachsen ist. Am meisten sind die Tannen geschädigt bis zu 87 %, dann folgen die für die Alpenregion wichtige Kiefer mit 59 %, die Fichten mit 51 %, die Buchen mit 50 %, die Eichen mit 43 %. Die über 60jährigen Baumbestände sind bereits zu 82 % angeschlagen. Die Waldschäden treten auch in den tie­ fer gelegenen Regionen auf. Im Vergleich zum Vorjahr war 1984 eine deutliche Verschiebung in die höheren Schadensstufen erkennbar.

2 Vgl. Gerhard Wehr: C.G. Jung und das Christen­ tum, Olten 1975, S. 19

3 Otto Karrer, Franz v. Assisi, Legenden und Lande, Zürich 1975, 519

4 Vgl. C.G .  Jung:  Kommentar  zu:  Das  Tibetische Buch  der  Großen Befreiung:

,,Der Psychologe, der einen heiligen Text behandelt, sollte sich zum mindesten bewußt sein, daß dieser Stoff einen unschätzbaren religiösen und philosophi­ schen Wert repräsentiert, der nicht durch profane Hände entweiht  werden sollte."

Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GW XI, Olten 1971, S. 532

5 J. W. Goethe: Gesang der Geister über den Wassern, Edgar Hederer: Das Deutsche Gedicht vom Mittelal­ ter bis zum 20. Jahrhundert,  Frankfurt 1972

6   Vgl.   Das  Gebet   in  der  Zeit  seiner   Bekehrung:

„H öchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens ... in K. Eßer und L. Hardik: Die Schriften des hl. Franziskus von Assisi, Werl 1972, S. 166

7    Vgl. C . G. Jung, S. 34 s   Vgl. Karrer, S. 103

9     Vgl.  Marie-Luise  v.  Franz :  Der Individuationspro-

 

 

zeß, in: C.G. Jung : Der Mensch und seine Symbole, Olten 1977, S. 161

10  Sophronius Clasen: Franziskus, Engel des sechsten

Siegels, Werl 1962, S. 270

11    a.o.O . S. 323

12   Vgl. Karrer, S. 97, 101,  102

13   Vgl. Clasen S. 324

14   Vgl.  C.G. Jung: Der Mensch  und seine Symbole,

s. 211

15   Clasen, 329

16   Vgl.   Die  "Drei-Gefährten-Legende",   m Karrer,

s. 55

1 7   Vgl. Clasen, 258, 260

18 „Nur jene Süße fühlte er und konnte nichts anderes wahrnehmen. Und so sehr war er der Empfindung der Sinne entrückt - er erzählte es später selbst - daß er sich nicht von der Stelle hätte bewegen können, auch wenn man ihn in Stücke geschnitten hätte."

(bei Karrer, S. 35)

19   a. o.O ., S. 35

20 Vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein, Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 1980

21 Vgl. Die Rede des Häuptlings Seattle zit. nach: Eu­ gen Drewermann: Der tödliche Fortschritt, Regens­ burg 1983, S. 163

Vgl. auch die Begegnung C. G. Jungs mit dem Pueblo­ Indianer Ochwiä-Biano und dessen Meinung über die Weißen: "Siehe", sagte Ochwiä Biano, ,,wie grausam die Weißen aussehen . Ihre Lippen sind dünn, ihre Na­ sen spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, sie su­ chen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wol­ len immer etwas, sie sind immer unruhig und ratlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht.  Wir  glauben,  daß  sie verrückt  sind."  (C. G .

Jung: Erinnerungen,  Träume, Gedanken, Olten 1979,

s. 251)

22 Werner Müller: Indianische Welterfahrung, Stuttgart 1975, S. 46

23 Tatjana Goritschewa: Die Rettung der Verlorenen, Wuppertal 1984, S. 27

 

 

24 Vgl. den Bericht in der FAZ  v.  21.12.1985,  Num­ mer 296 von Paul Badde: Eine Schwester der Karama­ sows

2s  s. 2.2. dieser  Ausgabe

26    Vgl. C.G. Jung GW Bd. 11, S.  49 und   347

27   Karrer, 32

28   ebenda, 32

29 Eugen Drewermann: Der tödliche Fortschritt, Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums, Regensburg 1983, S. 152

3 0      Vgl.  Mt 17,1-9  „VerklärungJesu"

Apg. 9,1-6 „Bekehrung des Saulus", 10,1-6 Der Hauptmann Kornelius 10,10-17 Das Gesicht des Pe­ trus, 16,9 Ein Mazedonier ruft Paulus. 27,25 Paulus in Seenot

2 Ko 12,1 „So will ich kommen auf die Gesichter ... des Herrn"

31   Drewermann: Titel

32 Schwarzer Hirsch: Ich rufe mein Volk, Bornheim 1984, s. 253

33 Vgl. C.G.Jung: Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart, in Zivilisation im Übergang GW Bd 10 Olten 1981, S. 157

34    ebenda S. 173