Der Sonnengesang: die  Wende ist möglich 

In diesen Tagen feiern wir Franziskus von Assisi (1181-1226). Zu gleicher Zeit meldet sich aus allen Ecken die Krise: Krieg, der Schrei nach Frieden, Klimakatastrophe, Bewahrung der Schöpfung, eine zerstrittene Kirche mit Massenaustritten, Ratlosigkeit auf allen Ebenen. Was hat der Mann aus dem Mittelalter damit zu tun? Der Heilige verfasste den bekannten Sonnengesang, der einen Menschen spiegelt, der Gott, den Geschöpfen und den Menschen zugleich nahe ist. Er nennt die Sonne Schwester, weil er Gott in sich wie eine Sonne spürt. Sie leuchtet aus ihm selbst. Ihm, der die Sterne, das Feuer und selbst einen Wurm als Bruder, als Schwester, die Erde als seine Mutter sieht, ist die Natur Heimat wie eine Familie. Der Tod ist für ihn ein willkommener Bruder. Er hat seinen Schrecken verloren, ebenso die Feindschaft, die Menschen trennt. Damit ist auch die Angst vor der Zukunft geschwunden. Wir bewundern eine Gesinnung dieser Art, sie würde eine Wende herbeiführen. Wir würden in Harmonie mit der Schöpfung und miteinander als Menschheit in Frieden leben. Die von ihm gelebte Armut würde unsere Lebensweise total verändern. Aber die Aufrufe greifen nicht. Der tiefere Grund liegt darin, dass die Nachfolge des Heiligen eher als Verzicht erscheint denn als existentieller Gewinn. Man sieht darin nur Einschränkung der Lebensqualität. Dabei ist Substanz seines Lebens ein einziger Jubel, der ihn erst zum Verzicht veranlasst. Es ist eine Dichte der Existenz, welche die alten Bedürfnisse abgelegt hat. Der Verzicht als solcher stellt noch keinen Wert dar. Warum sollte die völlige Armut erstrebenswert sein?                                                                                                                                                                                                                          Anders ist es, wenn man den Sonnengesang als Ausdruck einer Grundeinstellung sieht, die dazu inspiriert hat. Daraus könnte ein Motiv werden, das so lautet: „Ich möchte den Sonnengesang des heiligen Franziskus mit der Freude und Überzeugung singen können, mit der ihn der Heilige verfasst hat. Ich möchte so wie er Gott, den Menschen und den Geschöpfen nahe sein! Ich möchte frei sein von der Angst vor den Menschen und sogar vor dem Tod, vor allem möchte ich, dass die Liebe gelingt, ganzgleich welche Wege sie nimmt!" Allein schon die Einsicht lohnt sich, dass es nichts Größeres, Kostbareres und Schöneres gibt, als diese Atmosphäre des Erlebens. Die Auswirkung auf die Umgebung und der Einsatz für Leidende und Arme ergeben sich von selbst. Das Sonnenlied ist nicht die Erfindung eines exzentrischen Dichters, auch nicht das Ergebnis von guten Vorsätzen oder der Befolgung der Gelübde. Es ist eine freie Schöpfung aus dem Seelengrund eines Mannes, der von Gott durchdrungen ist, das Resümee seines Lebens. Dahinter steht ein Werdeprozess, der auch anderen möglich ist. Es beginnt damit, dass man sein Innerstes in der Tiefe der Seele zu erspüren versucht, indem man die Fragen zulässt: Was berührt mich, was bewegt mich, was ergreift mich am Tiefsten? Im Grunde ist es das, was in der Selbsterfahrung mit Träumen, der sogenannten Psychoanalyse angestrebt wird. Ein anderes Wort lautet: sein Herz erforschen, sich selbst kritisch überprüfen und die Keime des Guten wecken.                                                                     

Die andere Seite des inneren Weges ist die absolute Stille, wie sie im Zen praktiziert wird. Hier dürfen wir an das Meditationshaus St. Franziskus in Dietfurt denken, wohin Menschen von allen Seiten strömen, wo kaum ein Platz zu bekommen ist. Teilnehmer eines Kurses verlassen den Ort mit freudigen Gesichtern. Es scheint, dass sie dem Sonnengesang ein Stück nähergekommen sind, den ein Erleuchteter verfasst hat. Franziskus kann als rettende Figur für die ernsten Probleme unserer Zeit betrachtet werden. Aber es genügt nicht, ihn als leuchtendes Vorbild hinzustellen, zu bewundern und mit viel Mühen Ähnliches zu tun. Vielmehr geht es darum, sich wie er für die Erfahrung zu öffnen, die nur die ganz eigene sein kann. Er kann uns zu einem Wandlungsprozess anregen. Deshalb muss es heißen: Nicht Imitation, sondern Inspiration! . Wie Franziskus sein Eigenstes gelebt hat, so ist jeder von uns dazu bestimmt, sein Eigenstes zu verwirklichen. Der Heilige aus Assisi steht dafür, dass im Kern des Menschen eine Kraft bereit liegt, welche die eingeschliffenen Gewohnheiten, Denkweisen und Bedürfnisse aufheben kann. Alles hängt davon ab, ob der Zugang zu diesem Zentrum gelingt. Dazu gibt es durchaus konkrete Wege und Anleitungen für alle, welche die Augen dafür offenhalten.