Massenaustritte aus der Kirche -  wie reagieren?

Mit den Missbrauchsskandalen werden Kirchenaustritte für die Leitung der Kirche Immer belastender. Sie sind  in einem Jahr so hoch wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Für viele mag es eine Genugtuung sein, dass ihre Entscheidung, den sie als Protest gegen kirchliche Erscheinungen vollzogen, endlich oben angekommen ist. Die Frage ist, ob daraus die richtigen Folgerungen gezogen werden. Wenn die Leute der Kirche davonlaufen, dann ist es angebracht zu fragen: wo laufen sie hin? Sie gehen nicht mehr in die Beichtstühle, sondern in die Psychologische Beratungsstellen. Sie gehen nicht mehr in die Messe und zum Rosekranz, sondern in ein Meditationszentrum zu einem Zen - oder Vipassana - Kurs. Sie gehen dorthin, wo sie wirksame Hilfe bekommen. Noch wichtiger ist: Was geschieht dort?
Die Hilfe  der Psychotherapie
Es geht in der psychologisch-therapeutischen Arbeit ganz einfach um die existentielle Not der Menschen, um Streit und Gewalt, um Verzweiflung, um Trennung und um den Weg zu richtigen Entscheidungen. Sie werden mit dem, wie sie sind, ernst genommen, ganz gleich, wie verworren ihre Lebensgeschichte ist. Dies ist genau der Punkt, in dem die meisten mit der Kirche zerstritten sind. Ich selbst bin Priester seit 55 Jahren und musste nach fünf Jahren Seelsorge feststellen, dass die ganz konkreten Probleme der Menschen von heute in der theologischen Ausbildung und in den Erzeugnissen der Theologen nicht vorkommen. Ich habe deshalb noch Psychologie studiert und dem Studium eine volle eigene Psychoanalyse angeschlossen. Dies ist nichts anderes als intensivste Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Schatten, mit seiner Geschicht Und es ist der Weg zum größeren Umfang der Persönlichkeit, zu mehr Authentizität, zu mehr Glaubwürdigkeit, zu Spontaneität und Kreativität. Damit ist gemeint, dass ich mehr Menschen verstehen und annehmen kann, auch wenn sie anders denken, andere Werte vertreten, andere Interessen hABEN: Alles in allem ist es angewandte Tiefenpsychologie, die zu einer anderen Form der Seelsorge befähigt:                                                                             Es kann jeder kommen,                                                                                 ganz gleich ob gläubig oder nicht-gläubig, ob kirchlich gültig oder nicht gültig verheiratet. Und es geschieht echte Besserung. Es ist möglich, die geheimen Motivationen, die das Schicksal eines Menschen bestimmen, zu erschließen und neu zu gestalten. Es ist der Punkt, ob die Liebe gelingt - in der Ehe, in der Familie, ebenso, ob Entscheidungen richtig sind, zuletzt ob die Kirche glaubwürdig ist. Seit dem Aufkommen der Psychotherapie wäre die Chance gegeben, in die geistige und emotionale Strömung der Zeit einzugreifen. Im Hinblick auf den katastrophalen Auszug aus der Kirche müsste man den Tagesbetrieb anhalten und die Frage zulassen: Was läuft schief in unserem herkömmlichen theologischen Denken? Was wird vermieden? Wie kommt die Kirche zu dem Vertrauen, das ihr verloren ging? Es genügt nicht, ständig zu mehr Glauben, zu mehr Mut, zum Weitblick, zur Toleranz, zur Einheit aufzurufen. Entscheidend ist, wie man zu diesen Tugenden gelangen kann. Wie schaut der nächste Schritt aus?
Hier hat Eugen Drewermann einiges richtig gesehen, was die theologischen Vor-denker und Vor-schreiber übersehen.
Der Zugang zum Herzen
Dazu kann die Tiefenpsychologie nicht nur einiges sagen, es ist das A und O ihrer täglichen Arbeit! absoluten Vertrauen möglich. Das wirksame Mittel ist dabei nicht die Theorie, sondern der Therapeut selbst. Er ist sein eigenes Instrument und dann erfolgreich, wenn er die Einstellung aufbringt, die der amerikanische Therapeut Carl Rogers fordert: bedingungslose Wertschätzung, einfühlendes Verstehen und Authentizität. Wer diese Einstellung aufweist, strahlt Vertrauen aus, gerade das, was die Kirche heute bräuchte. Die geforderte Einstellung ist allerdings Ergebnis eines inneren Weges, wozu die eigene Analyse gehört.
Im Letzten geht es darum, jenen Teil der menschlichen Seele zu erreichen, der in der Heiligen Schrift „das Herz", in der therapeutischen Methode das „Unbewusste"" genannt wird. Es ist nichts anderes als der Sitz der Gefühle und Motivationen. Hier treffen wir unmittelbar auf das zentrale Anliegen Jesu, dessen Enttäuschung über die geistliche Führungsschicht seiner Landsleute der Evangelist mit den Worten des Jesaia ausdrückt: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz aber ist weit von mir"(Vgl.Mt15,8).
Wie werden Menschen wieder religiös?                                                                                                                      Die existentielle Suche und die  spirituelle Hoffnung                                                                                                   Die andere Seite der Krise ist die Frage, nach dem Religiösen oder nach dem Sinn. Eines muss deutlich gesagt werden: Die Menschen  wollen nicht Belehrung, sondern Erfahrung! Noch so klug durchdachte Verkündigung greift nicht, wenn nicht die Aufnahmefähigkeit für das Religiöse geweckt ist. Dazu gibt es heute viele Möglichkeiten. Grundsätzlich braucht es die Konfrontation mit sich selbst, weil Gott innen ist. Er ist in dem zu finden, „was mich unbedingt angeht"(Paul Tillich)., in dem, was mich unbedingt betroffen macht, wo ich zuinnerst ergriffen bin. Es ist eine Einstellung, die im Gegensatz steht zu der Absicht, alles begreifen zu wollen und einzuordnen.

Dazu gehören die wichtigsten Ereignisse im Leben: Geburt, Hochzeit, Tod. Gerade bei diesen Anlässen suchen die Menschen noch die Kirche auf. Darin liegt immer noch eine große Chance. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, eine Feier zur tiefen Ergriffenheit zu gestalten.
Jedoch außerhalb der großen Ereignisse sind Methoden zugänglich, das Religiöse als solches, die Erfahrung von spiritueller Tiefe zu erschließen. Die wichtigste davon ist das Sitzen in absoluter Stille und absoluter Bewegungslosigkeit, in der sogar das Denken angehalten wird, wo die ganz andere Seite der menschlichen Existenz zum Zuge kommt. Dies ist das ganze Konzept der sogenannten Zen-Meditation, die im kirchlichen Raum verdächtigt, aber einen hohen Zulauf hat. So sind die Zen-Kurse im Nu ausgebucht. Dazu gibt Übungen, die den Leib für das Religiöse öffnen, ihn sogar als Organ höherer Erfahrung wirken lassen, ein Aspekt, der für den Vollzug der Liturgie von äußerster Wichtigkeit ist.
In der modernen Welt ist doch eine intensive Suche nach dem Spirituellen festzustellen. Nur der Anspruch ist wesentlich höher, als der kirchliche Ritus zu bieten hat. Man kann Personen treffen mit höchst existentiellem Ernst und spiritueller Tiefe, die aber mit dem Angebot der Kirche nichts anfangen können.
Wenn die Kirche aus der Krise herauskommen will, dann müsste das Führungspersonal anders geschult werden, nicht nur wie bisher auf der intellektuellen Ebene, sondern auf der existentiellen - emotionalen und spirituellen Ebene. Man wird für die Belehrung, aber nicht für die Erfahrung ausgebildet.
Eine akademische Ausbildung plus Promotion befähigt noch lange nicht, eine Gruppe - ob Pfarrgemeinde, Diözese oder Ordensgemeinschaft - zu leiten. Es braucht nicht eigens an die Schwierigkeiten erinnert zu werden.
Gibt es ein vernünftiges Argument gegen den Anspruch, dass jemand, der das Wort Gottes zu verkündigen vorgibt, die Fähigkeit haben sollte, jeden Menschen bedingungslos wertzuschätzen mit Einfühlungsvermögen und Echtheit, wie es von einem Psychotherapeuten verlangt wird? Müsste ebenso auch jeder und jede, der oder die Gott verkündigen oder sogar vertreten will, die spirituelle Kompetenz haben, welche der eines Zen-Meisters vergleichbar ist?
Auf diesem Hintergrund würde die Diskussion um kirchliche Ämter, - ob verheiratet oder nicht verheiratet, ob Mann oder Frau - andere Akzente bekommen.
Im Blick auf die Geschichte des Christentums sei noch erwähnt:
In den ersten Jahrhunderten des Christentums war die Gesellschaft gewiss nicht besser als die von heute. Es gab Verstöße gegen die Menschlichkeit, die uns erschaudern lassen. Bei alldem hat sich das Christentum durchgesetzt. Es war die spirituelle Kraft, welche sich in einem anderen, neuen Mensch-sein zeigte. Es bringt nicht weiter, die Welt außerhalb der eigenen Reihen für die Krise verantwortlich zu machen. Die Lösung liegt ausschließlich darin, alle Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wie die Kraft des Ursprungs geweckt werden kann.

 

 

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