Das kostbare Totengebein

In der Barockzeit hat man Knochen von Heiligen mit Edelsteinen umgeben und auf den Altären zur Verehrung ausgesetzt, sogar ganze Kirchen damit geschmückt. Nur ein Schauder erregender Brauch? Warum eigentlich können tote Knochen eine solche Faszination ausüben, dass man dafür Zeit, Geld, größte Mühen z.B für eine Wallfahrt aufwendet? Oder eine zutiefst menschliche Wahrheit im Hinblick auf den Tod?
Kann auf diesem Weg dessen Schrecken überwunden werden?
Die sterblichen Überreste von Heiligen wurden oft an einem prominenten Platz in der Kirche beigesetzt, entweder in einem vollständig umschlossenen Grab oder dort ausgestellt, wo die Gläubigen sie betrachten konnten. Und einige Überreste waren in aufwendig gestalteten Sarkophagen eingeschlossen. Es handelt sich um Skelette, Knochen, Körperteile, Gebeine von Heiligen. Ihnen wurden seit jeher Kräfte zugesprochen, deren Wirkung durch Berührung erfahren werden konnte.
Kirchenbesucher, die zu den Reliquien gepilgert waren, durften sich dem Grab mit den sterblichen Überresten des Heiligen nähern und die es umgebenden Reliquienbehälter berühren. Manchmal wurden in das Grab des Heiligen kleine Handlöcher gemeißelt, damit die Gläubigen ihre Hand hineinstecken konnten, um die Überreste zu berühren.
Der Umgang mit den sogenannten Reliquien der Heiligen ist für uns heute zum großen Teil nicht mehr verständlich, klingt sogar makaber und verstörend. Allein schon dass Teile vom Körper getrennt werden entspricht nicht unserer heutigen Auffassung von der Würde und Ruhe des Toten. Die Überreste der heiligen Katharina von Siena sind auf verschiedene Kirchen verteilt, Haupt und ein Daumen befinden sich in Siena, ihr Leib ist in der Kirche Maria sopra Minerva. in Rom bestattet..
Ein Beispiel der Verehrung bietet der heilige Fidelis von Sigmaringen.
An seinem Fest am 24.April wird den Gläubigen die Hirnschale des Heiligen in kostbarer Einfassung aufgelegt. Er wurde am 24.April 1622, in der Zeit der Glaubenskämpfe des dreißigjährigen Krieges in Seewies in Graubünden/Schweiz von aufständischen Bauern erschlagen. Man kann sogar den Einschlag der Waffe, des sogenannten Morgensterns sehen. Er gehörte dem damals neuen, aufblühenden Orden der Kapuziner an. Als seine Mitbrüder davon hörten, kamen sie, konnten aber den ganzen Leichnam nicht mitnehmen und über den Berg schleppen. So nahmen sie nur den Kopf mit, den sie abgeschnitten und in einen Regenschirm gewickelt hatten. Es war eine kostbare Reliquie, die dem Orden und dem Kloster ein großes Ansehen und erheblichen Zulauf brachte.
Ähnliches, das durchaus auf historische Tatsachen beruht, wird von anderen Heiligen berichtet, Der große Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin, stand schon zu seinen Lebzeiten im Rufe der Heiligkeit. Seine Gebeine galten deshalb als großer Schatz. Man wollte sie sobald als möglich haben. Die Sage geht um, dass man seinen Leichnam gesotten hat, um möglichst bald an die kostbaren Reliquien zu kommen.
Eine andere Geschichte wird von der heiligen Teresa von Avila erzählt. Sie wurde zunächst ganz normal nach dem damaligen Ritus in einer Mauernische der Klosterkirche beerdigt. Nach einiger Zeit ging von der Grabstelle ein wunderbarer Duft aus, der so durchdringend war, dass man die Fenster öffnen musste. Das Grab wurde geöffnet, der Leichnam war unverwest. Das war für die Anwesenden ein offensichtliches Wunder und jedes Stück der Heiligen eine kostbare Reliquie. Davon wollten jede/r ein Stück haben. So schnitt ihr Beichtvater und bester Freund Pater Gracian ihre linke Hand ab, um diese als wertvollstes Andenken zur Verehrung aufzubewahren. Dazu kommt, dass aus jedem Teil ihres Leibes, auch ihres Kleides der wunderbare Duft aufstieg und Heilung brachte. Gerade wegen ihrer hohen Wertschätzung fand die Verstorbene so schnell keine Ruhe. Ihr Leib wurde von Alba, vom Ort ihres Todes und ihrer ersten Beerdigung zurück nach Avila überführt, wo sie Oberin war. Die führenden Personen von Alba jedoch erreichten in Rom, dass der Leichnam wieder zurückgegeben werden musste. In Alba drängten sich dann die Leute um die Reliquie. Man hatte den rechten Fuß, einige Finger der rechten Hand, einige Rippen abgenommen. Sogar der Kopf war abgenommen worden und eigens aufbewahrt worden. Jedes Körperteil strömte einen ganz eigenen, wunderbaren Wohlgeruch aus.
Das Sakrament des Zigarettenstummels oder die Kraft der Gebeine
Man fragt sich heute, warum Gebeine von Heiligen ein Menschen in ihren Bann zogen, auch wenn kein Wohlgeruch zu vernehmen war. Es muss mehr gewesen sein als dass man nur ein Wunder erwartet hätte. Dazu könnte der Theologe Leonardo Boff ein Stück weiterhelfen. Er stammt aus Brasilien. Als sein Vater in seiner Heimat starb war er beim Studium in München. Seine Angehörigen bewahrten die letzte, nicht mehr ganz gerauchte Zigarette auf, die sein Vater vor seinem Tod geraucht hatte. Für den beim Sterben abwesenden Sohn bekam dieses Stück aus Papier und Tabak ungewohnte Bedeutung. Es war ihm, als ob der sterbende Vater darin unmittelbar anwesend sei gerade wie im Moment des endgültigen Abschieds. So spricht er vom Sakrament des Zigarettenstummels. Wenn schon eine nicht ganz gerauchte Zigarette eine solche Wichtigkeit bekommt, dass man sie aufbewahrt, dann erst der Körper und jeder Teil des Körpers. Denken wir noch einmal an den Beichtvater der Teresa. Es herrschte schon zu Lebzeiten eine ganz tiefe Verbundenheit zwischen den beiden. Es ist anzunehmen, dass die Berührung mit nur einem Teil ihres Körpers diese wieder hervorruft und in einem noch viel tieferen Sinn neu belebt. Die Verstorbene ist auf diese Weise für ihn unmittelbar spürbar anwesend. Damit ist aber die Anziehung der toten Gebeine noch nicht ganz erklärt.                                                                                                                                                                                            Bei der Verehrung der allermeisten Heiligen spielt die ganz persönliche Beziehung zu Lebzeiten gar keine Rolle. Denken wir an die hochverehrten Reliquien der heiligen drei Könige, von deren Leben man außer dem Bericht des Matthäus so gut wie nichts weiß. und trotzdem waren sie der bedeutsamste Schatz, welche der Reichkanzler Reinald von Dassel 1162 aus dem von Kaiser Barbarossa eroberten Mailand mitnahm. Für den Bischof waren sie die kostbarste Kriegsbeute, die dann in einem prächtigen Sarkophag ihre letzte Ruhe fanden. Hier lag keine persönliche Beziehung vor, wohl aber verband sich mit den Reliquien eine Erlebnisqualität, die man als numinos, oder als transzendental, auch als das Heilige bezeichnet. Sie war den Menschen früheren Jahrhunderte wie selbstverständlich. Selbst uralte Kirchen strahlen es noch aus. Nicht alle spüren dies, wenn sie solche Gebäude betreten. Man begnügt sich mit der historischer Architektur. Entscheidend ist, ob die innere Aufnahmefähigkeit, das Organ geweckt ist. Als die Menschen noch voll und ganz die Wirkung des Numinosen spürten, war für sie die Gegenwart und die Berührung des Heiligen ein ergreifendes Erlebnis. Mit den Gebeinen ist auch das Heilige und der /die Heilige anwesend. So wurde es nicht nur geglaubt, sondern erfahren. Dies war ein ergreifendes und kostbares Erlebnis. Diesem entsprechen die kostbaren Einfassungen und mit Edelsteinen geschmückten Sarkophage der Überreste der Heiligen.

Nimm den Tod zum Ratgeber
Es war nicht immer der Ruf der Heiligkeit, weswegen man Gebeine von Toten aufbewahrte.Die Krypta in der Kapuzinerkirche Maria Empfängnis in Rom lässt andere Deutungen zu.. Man sieht dort gut erhaltene Skelette, die mit dem Ordenshabit bekleidet sind und unzählige einzelne Knochen, die zu Ornamenten zusammengefügt sind.. Für moderne Besucher makabre Kunstwerke! Die Krypta geht auf eine Zeit eines üppigen und schöpferischen Totenkultes zurück. Dieser war auch Teil der Verkündigung. Die Zuhörer sollten mit der Tatsache des Todes konfrontiert und damit auch für das Sterben vorbereitet werden. Der Prediger der Barockzeit -meist ein Kapuziner- stieg mit einem Totenkopf, besser noch mit dem Kopf eines Toten- auf die Kanzel, zeigte ihnen
den Hörern mit den Worten: Das bist du auch!
Man darf annehmen, dass diese bildhafte Darstellung des Schicksal eines jeden den Sätzen, die heute noch als Inschrift unter den Gebeinen zu lesen sind. die angemessene Wirkung verlieh
Was du bist, das waren wir!
Was wir sind, das wirst du sein!

Zu dieser Aussage gibt es keinen Einwand! Jede Kritik ist hier nutzlos! Die einzige Möglichkeit, mit der man sinngemäß reagieren kann, besteht darin, dass man dieser Wahrheit nicht mehr ausweicht, sondern sich damit voll und ganz auseinandersetzt.
In der christlichen Tradition, bei den Exerzitien des Ignatius und bei den Volksmissionen gehörte die Konfrontation mit den vier letzten Dingen, Tod, Gericht, Himmel, Hölle zur Substanz der religiösen Einkehr. Bei der Auflegung der Asche am Aschermittwoch jeden Jahres kann man den Satz hören:
Staub bist du und zum Staub kehrt du zurück."
Kritische Stimmen sagen heute: Damit hat man den Leuten Angst eingejagt, um sie zur Buße und zur Besserung im Sinn der Kirche zu bewegen. Jedoch ist die Begegnung mit dem Tod als Lebensaufgabe nicht die Erfindung der Kirche. Es gibt sie in anderen Religionen und anderen Kulturen. Erwähnt sei das „Tibetanische Totenbuch", dessen Anwendung den Tod zum Eingang in das wahre Licht machen will.
Aufschlussreich ist auch, wie indigene Völker, noch unberührt von westlicher Zivilisation, die Tatsache des Todes bewältigen. Vor 50 Jahren machte der amerikanische Anthropologe und Schriftsteller Carlos Castaneda mit seinen Erfahrungen mit dem indianischen Medizinmann Don Juan auf sich aufmerksam. Zur Einführung in seine Lehre und Praxis gehörte die Konfrontation mit dem Tod. In einer Art Psychodrama hatte ihn Don Juan in einen maßlosen Schrecken versetzt, dann aber waren angesichts seines drohenden Todes seine Ängste und seine Wut sinnlos geworden. Nach dieser Erfahrung habe ihn eine wunderbare Stimmung der Harmonie erfasst. Don Juan meint, man brauche nicht den Tod sehen, sondern, es genüge, seine Anwesenheit zu spüren.
Der Mensch der westlichen Zivilisation hat den Tod aus dem Blickfeld verloren.
Verdrängung des Todes und nichtssagendes Dasein gehen Hand in Hand. Ein Krieger im Sinne , d.h. einer, der den inneren Weg eine Medizinmannes geht, kennt diese Tabuisierung nicht. Für ihn ist die Spannung zwischen Leben und Tod, Sein und Nichtsein, ein Schlüssel für ein erfülltes Dasein. Die Aussage des alten Medizinmannes lautet demnach: Sterben ist eine erhabene Sache!
Nimm den Tod zum Ratgeber!
Für den Indianer ist es selbstverständlich, dass außerbewusste Kräfte Mensch und Tier leiten. Sie sind es, die Ihn eines Tages auch zu seinem Tod führen. Weil er sie in seinem Leben vorbehaltlos anerkennt, ihre Begegnung immer sucht, fühlt er sich auch von ihnen getragen, und bei ihnen geborgen. Wenn der Tod von diesen Kräften kommt, kann er ihn an¬nehmeDie Konfrontation mit dem Tod muss nicht depressiv machen. Eher wird ein Prozess ausgelöst, der einen von selbst auf die Suche nach tieferer Wahrheit treibt, zu spirituellen Übungennd Veranstaltungen, zu entsprechender Literatur. Wenn die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass man sterben muss, in aller Ehrlichkeit und allem Ernst geführt wird, bedeutet dies nicht Verneinung der Lebensfreude, sondern Vertiefung des Lebens. Personen, die den Prozess des vorausgenommenen Todes durchgemacht haben, strahlen Ruhe, Sicherheit, Überlegenheit aus. Eddie Hillesum, eine junge jüdische Frau aus Holland kann dafür genannt werden. Nachdem sie ihren Freund verloren hatte und vor dem Transport nach Auschwitz stand, sagte sie „Das Leben ist schön, reich und voller Sinn."

Die intensivste Konfrontation mit Ende des Lebens ist die Nahtoderfahrung. Betroffene waren in höchster Lebensgefahr bei einem Unfall oder bei einer Operation. Fast ausschließlich berichten Betroffene, dass sie sich wie durch einen dunklen Tunnel bewegten, an dessen Ende sie ein wunderbares Licht erwartete, dass sie in Licht und Liebe eingetaucht waren und sich von diesem Licht nicht mehr trennen wollten. Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio, sagt,: „ Die meisten Menschen, die eine NTE erlebt haben, berichten, ihre Angst vor dem Tod danach deutlich geringer geworden und ihre Einstellung zum Leben ruhiger und gelassener ist." Der Tiefenpsychologe C.G.Jung hatte auch eine Nahtoderfahrung  und kam nach der Erforschung der Seele bei seinen Patienten und bei sich selbst zu dem Ergebnis: Der Tod ist nicht das Ende, sondern die Vollendung des Lebens.
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