Glaube und Unglaube - eine gemeinsame Dynamik

1. Der "Unglaube" der Jugend als Aufgabe der Glaubenden.

1.1. Mögliche Reaktion der Glaubenden

Seit der Reformation und Aufklärung hat die Bewegung der Loslösung von der Kirche nicht mehr aufgehört und ein Abschluss dieses Prozesses ist weit und breit nicht in Sicht. Eher ist er noch im Anwachsen. Es kommt eine immer größer werdende Welle des Neuheidentums auf die alte Kirche zu. Das heißt aber doch, dass deren bisher übliche Reaktion auf den Auszug des modernen Menschen allen Ernstes hinterfragt werden muss, nicht nur nach ihren Methoden, sondern vielmehr noch danach, ob sie der Gesinnung und dem Geiste Jesu entspricht.

Heute lässt sich das Ausscheiden und Ausbleiben der jungen und erwachsenen Generation aus der Kirche nicht mehr verdrängen. Aber man steht dem Phänomen ratlos gegenüber. Fromme Eltern flüchten sich in das Gebet und hoffen im Stillen, dass einmal eine Sinneswandlung ihrer Kinder eintritt. Selbst wenn man den Wert des Gebetes nicht gering schätzt, so ist man im Raume der Kirche von einer Verarbeitung des Phänomens “Auszug aus der Kirche" noch weit entfernt. Die Bewältigung des Problems beginnt dann, wenn man die Frage zulässt: "Was will uns ein Mensch sagen, wenn er die Annahme des Glaubens zumindest wie wir ihn verstehen   verweigert?" Ob wir nicht allen Grund hätten, die Art unseres Glaubensvollzugs und vor allem die Beziehungen untereinander zu überprüfen? Der schon seit einigen Jahrhunderten bestehende Aufstand gegen die Tradition tritt im Leben der Öffentlichkeit immer krasser zu Tage. Erst wenn die berechtigten Anliegen der Reformation und Aufklärung - der freie, selbständig denkende Mensch in seiner unmittelbaren Begegnung mit Gott - in einer lebendigen Kirche integriert, wenn also die geistigen Bewegungen der Neuzeit eingeholt sind, hat die heutige Kirche wieder festen Boden unter den Füßen. Solange dies nicht geschehen ist, bleibt christliche Unterweisung und Erziehung eher Sandkastenspiel. Es wäre weiter zu überlegen, ob nicht die Verweigerung des traditionellen Glaubensvollzugs mit sonntäglichem Kirchgang ein Schritt zur Selbstwerdung des jungen Menschen sein kann und als solcher gewürdigt werden müsste. Dabei ist wichtig, dass in der Respektierung der Entscheidung des jungen Menschen ein Vertrauensverhältnis nicht abgebrochen, und die Tür zum Glauben nicht zugeschlagen wird. Es ist ein Unterschied, ob die Entscheidungsfreiheit dem jungen Menschen aus Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit und Resignation oder aus einem mitfühlenden Verständnis gewährt wird. Die zuletzt angesprochene Haltung ist nur möglich, wenn sich auch die Eltern und die Vertreter der Kirche in einem Wandlungsprozess befinden. Deshalb kann das Problem “Fernstehende und Kirche” nur auf der Basis des gemeinsamen Suchens, Reifens und Sich Entwickelns von Menschen außerhalb und innerhalb der Kirche gelöst werden. Ob man nicht neue Maßstäbe von Glauben und Unglauben setzen müsste in dem Sinne, dass zwischen Selbstwerdung und innerer Echtheit einerseits und Glauben im religiösen Sinn andererseits kein unüberbrückbarer Gegensatz besteht, sondern dass beide einander bedingen? Es lässt sich schwer vorstellen, dass ein Firmkandidat, der die Firmung aus innerer Überzeugung ablehnt, weniger ehrlich ist als einer, der dem Druck der Verwandten nachgibt.

1.2 Inhalt der Anfrage: Welche Lebens - und Glaubensmöglichkeiten werden von den Christen nicht gelebt?

Die traditionelle Theologie hat sich fast ausschließlich mit Glaubensinhalten und dem Glauben an sich beschäftigt. Weniger wird darüber reflektiert, wie der Glaube konkret gelebt wird, wie der einzelne Glaubende die geoffenbarten Wahrheiten in sein Leben umsetzt und sie als Lebenshilfe, als Erhellung seiner Existenz erfahren kann. Es müsste jedem, der sich um die Zukunft des Glaubens sorgt, zu denken geben, dass gerade bei den ganz treuen Gläubigen so viel Ängstlichkeit, Engherzigkeit und mangelnder Realitätsbezug vorherrscht. Zu prüfen wäre, ob nicht das Unbehagen an der Kirche von dem Verdacht ausgeht, dass die Kirche ein grundsätzliches Misstrauen gegen Vitalität, Freiheit und Selbstbestimmung hegt und die darin eingeschlossenen echten menschlichen Werte ablehnt. Es kann als Faustregel gelten, dass bei Konflikten der Gegner die nicht gelebte Identität des andern vertritt. Man kann von Löchern in der Identität, Schatten oder nicht gelebten Lebensmöglichkeiten sprechen. Dies gilt nicht nur für den Einzelfall, sondern für das gesamte Verhältnis von Kirche und säkularisierter Gesellschaft. Am deutlichsten wird es beim Thema der Gefühle und Sexualität. Gefühle können so überwältigend aber auch so wechselhaft sein, dass sich Menschen ihnen wie ausgeliefert vorkommen. Starrheit, Unverständnis und Anmahnungen von Seiten eines Seelsorgers helfen nicht weiter. Sie verraten eher die eigene Unsicherheit auf diesem Gebiet und verstärken die des andern. Anderseits bestätigt sich immer wieder die Tatsache: Wird in seelsorglichen Gesprächen Sexualität in ihrem fundamentalen Wert für die menschliche Persönlichkeit anerkannt, dann baut sich ein Stück Gewissheit auf. Es bildet sich eine Grundlage für eine Entscheidung, die am ehesten allen gerecht wird. Voraussetzung ist allerdings, dass dieses Thema beim Seelsorger, bei der Seelsorgerin nicht eigene Ängste auslöst sondern angenommen und bewältigt ist. Erst dann hat Zuhören und einfühlendes Verstehen eine überzeugende Kraft. Weiter wäre nach nicht gelebten christlichen Lebensmöglichkeiten bei denen zu fragen, die nicht nur aus der Kirche, sondern auch aus der Gesellschaft ausziehen wie Jugendsekten, Zeugen Jehovas und radikale politische Gruppierungen. Ob nicht diese Erscheinungen einen tief greifenden Mangel an christlich gelebten Sinnstrukturen offenbaren, Mangel an echter und tiefer Gotteserfahrung, an echter zwischenmenschlicher Beziehung, an sozialem, weltweitem Bewusstsein, an Brüderlichkeit und Solidarität? Zumindest müsste man die Frage zulassen.

1.3 Die eigentliche Antwort: der integrale Glaube als personale Entwicklungsdynamik.

Der gelebte Glaube kann nicht gedacht werden ohne die psychische Verfasstheit und die menschliche Reifung des aktuell Glaubenden. Glaube als bloßes Führwahrhalten auf Grund einer Lehrautorität überlässt die Leben prägenden Einstellungen und Werthaltungen irrationalen Faktoren. Wer die psychische Verfasstheit des Glaubenden ausklammert, riskiert damit, dass der eigentliche Glaubensvollzug nicht übereinstimmt mit den vorgegebenen Normen und verkündeten Lehrinhalten, dass er steril, intolerant, unlebendig, neurotisch, oder sogar ganz und gar unchristlich wird. Welchen Sinn hat es, in Kirchenliedern und liturgischen Gesängen die Herrlichkeit und Schönheit der Erlösung zu preisen, wenn von dieser Erlösung im konkreten Umgang miteinander wenig zu spüren ist? Die Verkündigung als solche greift nicht mehr. Glaubenswahrheiten sind nicht deshalb geoffenbart, um dem Menschen einen Gehorsamsakt aufzuerlegen, sondern damit er daraus leben kann.
Eher ist es so, dass die geoffenbarten Wahrheiten Interpretationen von ganz tiefen und lebendigen Glaubens - und Lebenserfahrungen sind. Deshalb geht es mehr darum, dem Menschen von heute neue Erfahrungen des Glaubens und sei es zunächst nur menschliches Vertrauen zu erschließen.
Dies kann dadurch geschehen, dass man die Entscheidung einer zeitweiligen religiösen Abstinenz respektiert und die Gründe anerkennt. Glaube kann nicht ohne den lebendigen Fluss der Kommunikation und der Konfrontation mit der gesamten inner - und außerpsychischen Wirklichkeit aufbrechen. Darin vollzieht sich menschliche Reifung, von der er nicht getrennt werden darf. Auf diese Weise wird auch der emotionale, nicht nur der kognitive Inhalt des Glaubens einbezogen. Es ist zweifellos ein längerer und mühsamerer Weg, dafür wird aber der ganze Mensch erfasst: seine Gefühle, Motivationen, Einstellungen und Beziehungen, genauso wie sein Denken und Verhalten.
Heimler bezeichnet diesen Glauben als reif oder integral, d. h. umfassend (1); denn er umfasst die ganze innerseelische Wirklichkeit, Bewusstes und Unbewusstes, die vitale Seite, Lebensbejahung und Realitätssinn genauso wie die Begrenztheit des menschlichen Daseins durch, Leid und Tod oder durch auferlegten Verzicht. Mit Recht sieht Heimler die Zielrichtung des integralen Glaubens ausgedrückt in den Worten, mit denen Paulus die Stellung Christi im Kosmos beschreibt: "alles zusammenfassen in Christus, was im Himmel und auf Erden ist" (Eph 1,10 vgl. Kol 1,19). Das Aushalten und bewusste Wahrnehmen der Gegensätze eröffnet erst die Dynamik christlicher Existenz. Dort, wo einer der gegensätzlichen Pole aus dem Lebensvollzug ausgeklammert wird - sei es die vitale Seite durch eine falsch verstandene "christliche" Kreuzesnachfolge, oder seien es die negativen Seiten des Lebens wie Krankheit, Behinderung, Schuld und Versagen, Leere und Angst - misslingt menschliche und christliche Existenz. Zumindest wird sie in ihren eigentlichen großen Entfaltungsmöglichkeiten aufs Schwerste behindert. Der Glaube als Entwicklungsdynamik lebt von den Gegensätzen, von der vitalen Schicht des Menschen genauso wie von der Gnade Gottes, von den Belohnungen des Lebens genauso wie von den Herausforderung durch die Widerstände des Daseins.

2. Konfrontation mit den Grundbedingungen des Daseins als Anruf zur Selbstwerdung: existentielle Erschütterung, Offenheit

Zwischenmenschliche Konflikte können so einschneidende Lebenskrisen auslösen, dass die bisherigen Lösungsstrategien versagen. Die Betroffenen stoßen an die Grundbedingungen und Grenzen des Daseins. Sie äußern ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht in Worten wie: "Mir ist es zu viel!" "Ich kann nicht mehr!" “Ich weiß nicht mehr weiter!" Man stößt in einer gewissen Weise an die Grenzen seines Denkens, seiner Vorstellungen und seines Handelns und damit an die Grundbedingungen seines Daseins.

2.1. Grundbedingungen des Daseins

Mit Grundbedingungen sind jene Gegebenheiten der menschlichen Existenz gemeint, auf die der Mensch nicht mehr mit Verstand und Willen allein, sondern nur durch Weiterentwicklung seiner Existenz - theologisch gesprochen durch den integralen Glauben - antworten kann. Grundbedingungen äußern sich in Fragen wie: "Warum trifft mich so viel Leid?" "Warum gelingt mir die Beziehung zum Gatten oder zur Gattin nicht?" "Warum musste gerade ich diese Eltern und diese Erziehung haben?" "Warum bin ich zu kurz gekommen im Leben?"
Folgende Grundbedingungen lassen sich anführen:

Das Geworden sein: es ist die ganze bisherige Lebensgeschichte mit allen Höhen und Tiefen.

Das Geschlecht: der Konflikt mit dem Ehegatten oder Gattin bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit der gegengeschlechtlichen Seite in einem selbst noch nicht gelungen ist. Seelische Reife bedeutet Rücknahme der Projektion des eigenen unbewussten Seelenanteils (Anima oder Animusfigur) in den Partner oder in andere Vertreter des anderen Geschlechtes. Projektion ist zunächst notwendig, um die eigene Anima der Animusfigur wahrnehmen zu können. Eine Rücknahme ist aber notwendig, um überhaupt eine echte Begegnung zu ermöglichen, den anderen um seiner selbst willen anzunehmen und die eigenen Reifungskräfte zu mobilisieren.

Die Zeit: die Grundbedingungen der Zeit bewältigen bedeutet das Hier und Jetzt annehmen ohne Flucht in die Vergangenheit oder Zukunft.
Die großen weltanschaulichen Fronten (konservativ oder progressiv) beziehen die Argumente entweder aus einer heilen Vergangenheit ("die gute alte Zeit") oder aus einem noch zu schaffenden Glückszustand der Zukunft, um dessentwillen man heute zu Opfern bereit sein müsse und in der Wahl der Mittel nicht zimperlich zu sein brauche. Beide Richtungen sind mehr oder weniger blind für das Hier und Jetzt. Die Annahme der Grundbedingungen der Zeit würde den Streit um das bessere oder schlechtere Programm, um richtige oder falsche Lehrmeinungen durch die Frage ersetzen: "Wie gehen wir miteinander um? Wie viel Intoleranz, Ängste und Aggressionen verbreiten wir um der rechten Lehre willen?"

Der Schatten: Darunter werden alle nicht gelebten Lebensmöglichkeiten und alles, was die gewohnten Erwartungen und Sinnerfahrungen durchkreuzt, verstanden.

Krankheit und Tod: Sie sind die intensivste Erfahrung der Begrenzung menschlicher Existenz, die uns bis zum letzten herausfordert.

2.2. Die Instanz der Reifung: die Personmitte oder das Selbst

Das denkende aber isolierte Ich weiß auf die Grundbedingungen des Daseins von sich aus keine Antwort, die seiner Suche genügen könnte. Der Mensch verzweifelt, wenn nicht eine höhere Instanz, eine Art größeres Ich die Antwort gibt. Es ist dies die Personenmitte, die von C.G.Jung das Selbst genannt wird. Diese Instanz stellt nach einem höchst schmerzvollen Prozess des Abschied Nehmens von bisherigen Wertvorstellungen Kräfte und Wege zur Verfügung, um den von den Grundbedingungen errichteten Widerstand zu überwinden. Der Mensch erhält dadurch nicht nur sein emotionales Gleichgewicht wieder zurück, sondern eine neue, höhere Bewusstseinsstruktur. Ein altes Wort dafür ist Reifung, ein neueres (bei C.G.Jung) Selbstwerdung und Ganzwerdung. Der Mensch gewinnt neue Kräfte, um sein Leben bestehen zu können. Diese Kräfte heißen Transzendenzkräfte der Seele, weil sie nicht unmittelbar dem Ich, mit Verstand und freiem Willen unterliegen, sondern das Ich transzendieren, d. h. überschreiten. Gemeint ist: Es gibt Dinge im Leben, die man nicht machen kann, die sich ereignen oder nicht ereignen, die vorhanden oder nicht vorhanden sind zum Beispiel Vertrauen, Mut, festliche Gestimmtheit, Einfühlungsvermögen, Bereitschaft zum Verstehen, Überzeugungskraft, Spontaneität. Ihr Kennzeichen ist, dass sie als Akt nicht vom Ich, dem Bewusstseinszentrum, sondern vom Selbst, dem Zentrum der Seele, ausgehen.

3. Begleiterscheinungen des Entwicklungsprozesses: Angst und Aggression

Brechen bisherige Wertvorstellungen - Ideale - zusammen, wird eine Orientierungslosigkeit ausgelöst. "Dann gilt ja gar nichts mehr!", “Was ist dann noch wahr?", "Ich trete aus der Kirche aus", "An diesen Gott kann ich nicht mehr glauben!" Solche und ähnliche Äußerungen von Menschen in Krisen sind oft zu hören. Dahinter steht eine tief greifende Angst und Unsicherheit. Es lässt sich sagen, dass jede Umorientierung des Bewusstseins mit Angst vor Identitätsverlust verbunden ist. Man denke an die Starrheit, mit der bestimmte Formen in der Kirche verteidigt werden. Angst wird meist nicht zugegeben, sondern verdrängt oder durch Projektionen zu bewältigen versucht. Das Böse, vor dem man selbst Angst hat, wird in anderen gesehen. Die anderen sind schuld, meint man.

Angst überwindet man am ehesten dadurch, dass man sich ihrer bewusst wird und sie durchlebt. Die so genannte paradoxe Intention, die Viktor Frankl empfiehlt, bedeutet, daß man die Angst, die latent immer vorhanden ist, zulässt und annimmt am besten allerdings in der vertrauensvollen Atmosphäre eines therapeutischen oder seelsorglichen Gesprächs. Angst ist Nichts, ist Leere. Man geht sozusagen in die Leere hinein. Wer seine Negativität aushält und zu akzeptieren lernt, erfährt die Umkehr seiner Lage. Das Nichts (Nothingness) ist nach Fritz Perls kein negativer Begriff, sondern bedeutet no thingness (nichts Greifbares). Wenn wir die Leere betreten, in sie hineingehen, dann ist da "etwas". Wenn wir sie akzeptieren und annehmen, dann beginnt die Wüste zu blühen" (2).        
Umgang mit der Angst bedeutet immer: vom bisher vertrauten Sinngrund sich loslassen und auf einen tieferen vorstoßen. Eng verbunden mit der Angst ist die Aggression, d. h. Hass und Ablehnung anderer Menschen. Aggression entsteht aus Angst, man könnte in seinen Lebensfunktionen beeinträchtigt werden, darunter häufig auch wenn erwartete Anerkennung und Bestätigung von Seiten der Autorität oder des Lebenspartners nicht erfolgen. Aggression ist mit mangelnder eigener Identität verbunden. Der wirklich freie, in sich feststehende Mensch hat die Bestätigung und Anerkennung durch andere nicht mehr in diesem Ausmaß nötig, er kann echte Beziehungen aufbauen und findet neue Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Weil Jesus den Willen des Vaters bejahen, den Tod annehmen, sich in das Unvermeidliche fügen konnte, war er im Stande, auch seinen Feinden zu verzeihen. Wer versucht, in einem langwierigen Prozess seinem Feind gerecht zu werden und sich mit ihm auszusöhnen, hat den größten Gewinn selbst: er nimmt die eigene nicht gelebte Seite seiner Identität an und wächst über sich selbst hinaus.

4. Fehlformen des Glaubens

4.1. Mögliche Grundeinstellungen

Bei genauerer Prüfung des tatsächlich gelebten Glaubens und Lebensvollzugs lassen sich bei denen, die in der Kirche stehen, wie bei denn, die draußen sind, zwei Grundeinstellungen ausmachen: Ich - Bewahrung und Ich - Entgrenzung (3).

Die eine lässt sich bei denen finden, die sich selbst grundsätzlich nie in Frage stellen lassen und die an den herkömmlichen Werten und Glaubensvorstellungen um jeden Preis auch um den der Verletzung der Nächstenliebe festhalten. In der Religion suchen sie Geborgenheit und Trost, ohne sich den Ängsten des Daseins bewusst zu stellen. Religiosität wird hier zum Verdrängungsmechanismus, der die Selbstwerdung des Menschen verhindert.
Selbst umfangreiches theologisches Wissen muss diese Art von infantiler d. h. im Kindheitsstadium gebliebener Religiosität nicht ausschließen. Oft steht beides sehr eng nebeneinander. Die weniger Religiösen weichen in andere Formen der Ich - Bewahrung aus. Dies kann sein: eine unaufhörliche, erst mit schwindender Gesundheit nachlassende Arbeitswut, ein ständiger Freizeit Aktivismus, der einen nie zur Ruhe kommen lässt oder die Gewohnheit, dass man aufkommende Fragen und die damit verbundene Unruhe mit Alkohol beiseiteschiebt. Die oberflächliche Bedürfnisbefriedigung ist die gebräuchlichste Art, den Grundbedingungen auszuweichen. Davon sind auch die nicht ausgenommen, die die Religion schon "hinter sich" gelassen haben und in einer unfruchtbaren, negativen religiösen Identität verharren. In der Ablehnung alles Religiösen und oft aller bisherigen Werte sind sie keineswegs innerlich beweglicher, sondern bleiben einer starren, engen Bewusstseinsstruktur verhaftet. Ihr wesentliches Kennzeichen ist, ganz gleich ob sie sich konservativ oder progressiv geben, dass sie ihren eigenen Schatten und damit die Angst, das Böse und auch alle ungelebten Lebensmöglichkeiten draußen sehen, meist in weltanschaulichen und politischen Gegnern oder auch in Randfiguren der Gesellschaft. Von deren Entmachtung, Ausschaltung oder sogar Vernichtung und der Erhöhung der eigenen Macht erwarten sie sich Befreiung von Angst und größere Sicherheit. Ganz allgemein gesagt: Die Lösung der Probleme liegt für sie draußen. Der andere, der Ehepartner, die Nachbarn, die Gesellschaft, die Verhältnisse müssten sich ändern, dann ginge es ihnen wesentlich besser.

Die andere Einstellung, mit Ich -  Entgrenzung bezeichnet, ist der ersten entgegengesetzt. Für solche Menschen liegt die Lösung der Probleme innen. Wenn sich in der Welt etwas ändern soll, oder wenn ich etwas in der Welt verbessern will, dann muss sich zuerst in mir etwas umkehren. Das bedeutet aber nicht, sich dauernd mit guten Vorsätzen abzumühen und doch nicht frei werden.
Es ist dies gar nicht in erster Linie eine Sache des Willens, sondern setzt ein inneres Erwachen, eine Neuheitserfahrung voraus. Es muss einem eines Tages, meist nach einem schweren Leid, aufgegangen sein, dass man sich fallen lassen darf auf einen letzten tragenden Grund hin. Dieses Sich loslassen befreit und verwandelt. Der Prozess der Verwandlung lässt die bisherige Situation nicht mehr ausweglos erscheinen, er ermöglicht eine neue Sicht der Dinge und gibt die Kraft, eine gefasste Entscheidung auch durch zutragen. Wer die Einstellung des Habens, der  Ich - Bewahrung, zugunsten des Seins, der Ich - Entgrenzung aufgibt, hat grundsätzlich d. h. vom Grunde her einen neuen Anfang gesetzt und gehört damit auch zu einer anderen Kategorie von Menschen. Es sind solche, die ihrer eigenen Angst begegnen, sie damit überwinden und ein Stück Angst in dieser Welt verringern. Sie sind bereit, ihren Schatten bei sich zu sehen. Sie werden damit nicht nur wegen der Möglichkeit des eigenen Bösen toleranter und bescheidener gegenüber Andersdenkenden, sondern nehmen auch viele eigene nicht gelebte Lebensmöglichkeiten wahr. Und die sind für einen, der aus dem Seinsgrund, aus der Transzendenzerfahrung oder anders gesagt aus Gott lebt, unerschöpflich. Es ist möglich, die Ich- Grenzen immer weiter nach außen zu verlagern oder, um im Bild vom Ich als der Insel im Ozean des Unbewussten zu bleiben, dem Meer immer mehr Land abzuringen und das Festland zu erweitern. Ich -  Entgrenzung heißt: Ich kann auch anders sein. Die alte Weisheit: "Niemand kann über seinen Schatten springen, Niemand kann aus seiner Haut heraus", wird in Frage gestellt. In einem ganz konkreten Fall kann es bedeuten: Einen Menschen, zu dem seit Jahren eine tiefe Kluft war, annehmen, mit ihm reden und ihn verstehen können.

4.2. Falsche und einseitige Glaubensformen

Die Bewusstseinsstruktur eines jeden Menschen ist durch Veranlagung und Umwelt geprägt. Dies zeigt sich darin, dass man als Erwachsener die in der Kindheit gelernten Verhaltens - und Erlebnismuster beibehält und auf die jeweilige Situation überträgt. Ob sie passen oder nicht, ist damit noch nicht entschieden. Die Bewusstseinsstruktur bestimmt auch die Glaubensform des Menschen. Dies wird dann überwunden, wenn man die Entwicklungsdynamik des integralen Glaubens entdeckt hat und es versteht, sich in den Prozess der Ich -  Entgrenzung einzulassen. Jetzt ist das Verhältnis umgekehrt: die lebendige Kraft des Glaubens sprengt die bisherige Bewussteinsstruktur und gestaltet sie neu.

Wie können nun Bewusstseinsstrukturen und damit Glaubensformen aussehen? Es gibt drei verschiedene Dimensionen, unter denen man das Bewusstsein betrachten kann. Da ist einmal das Ausmaß der Durchlässigkeit für das Unbewusste oder für den unbewussten internationalen Sinngrund. Man kann vor lauter Leistung und Orientierung nach außen den inneren Sinn verlieren oder in entgegen gesetzter Richtung von nicht einzuordnenden Teilsinnen ergriffen sein (von Sinnen sein), so dass man den Bezug zur Außenwelt verliert. Heimler bezeichnet den ersten Zustand als sinnentleerte Bewusstseinsstruktur und als sinnentleerte Glaubensform. Ihr Kennzeichen ist, dass der Sinn abhanden gekommen ist. Solche Menschen empfinden ihr Leben als freudlos, lustlos, düster, haben keine Einfälle und keine Kraft, etwas zu unternehmen und zu gestalten. Obwohl sie alle materiellen Möglichkeiten hätten, sich das Leben angenehm und schön zu machen, fehlt ihnen die Freude. Man kann hören: "Welchen Sinn soll das Ganze haben? Wenn ich nicht da wäre, wäre es genauso!" Es ist leicht einzusehen, dass man es mit einer solchen Not schwer hat, Gott als Realität anzunehmen. Gerade die früher einmal religiös Aktiven fühlen sich oft von Gott verlassen, können nicht mehr beten und sehen in religiösen Praktiken und Formeln nur leere Hülsen. Jeder von außen heran getragene Trost oder jede gut gemeinte Belehrung ist wirkungslos. Einem auf diese Weise Vereinsamten kann man nur indirekt durch Aufbau einer Vertrauensbasis helfen. Durch geduldiges Zuhören, Ernstnehmen und Verstehen seiner Not wird es ihm möglich, sich aus der verengten Bewusstseinsstruktur vertrauensvoll loszulassen. Und damit setzt eine Umkehr ein. Die Sinnentleertheit und das Nicht- glauben können ist einer der wesentlichen Punkte im Verhältnis von moderner Zeit und Kirche. Man darf der Frage nicht ausweichen: Wie viel trägt die Kirche selbst zur Sinnentleerung bei? Mit wie viel nichts sagenden theologischen Ausdrücken werden die Kirchenbesucher konfrontiert, ohne dass ihnen der "Sinn" aufginge?

Weiter wäre zu fragen, wie viel Zeit wird für das Organisieren, Bauen und Umbauen, Einrichten und Umrichten im kirchlichen Gemeindeleben aufgewendet wird und wie viel wird in Vertrauen und Sinn weckende Kommunikation investiert? Viele Seelsorger klagen, dass die theologische Ausbildung mehr kritisches Fachwissen und Anleitung zur Argumentation vermittelt als Hilfen zur Erschließung von religiöser Erfahrung.
Das andere Extrem auf der Sinn Dimension des Bewusstseins ist die so genannte inflationäre Glaubensform (lat. inflare = aufblähen). Hier ist das Bewusstsein so durchlässig für das Unbewusste, dass es von ihm mit religiösen Inhalten überschwemmt wird.

Das Ich ist aufgebläht und deshalb nicht mehr fähig, neue Inhalte aus der Umwelt aufzunehmen und die nötige Anpassungsfunktion zu leisten. Hier sind alle religiöse Schwarmgeister, Jugendsekten, religiöse und nichtreligiöse Weltverbesserer einzureihen. Nicht ohne weiteres sind charismatische Gruppen von der Gefahr abgeschirmt, in eine inflationäre Glaubensform abzugleiten.

Eine zweite Dimension des Bewusstseins liegt auf der Ebene der Beziehung. Viele Menschen haben Angst, sich jemand zu öffnen und Vertrauen aufkommen zu lassen. Sie wirken kühl und distanziert. Sie entsprechen dem schizoiden Charaktertyp. Heimler nennt diese Glaubensform "beziehungsfern" (4). Der Gegenpol ist die beziehungsverhaftete Glaubensform entsprechend der depressiven Bewusstseinsstruktur. Darunter fallen die, die nur schwer emotional auf eigenen Füßen stehen. Sie ruhen nicht, bis sie sich jemand angeschlossen haben. Sie möchten, dass alle sie mögen, dass niemand über sie schlecht denkt oder redet. Ausgeschlossen scheint es ihnen, dass man sich als Christ auch behaupten und durchsetzen darf. Sie haben Angst vor Trennung und Selbstständigkeit.

Schon seit langem wird der Vorwurf erhoben, dass im Raum der Kirche infantile Abhängigkeit eher gefördert als überwunden wird. Gewiss so wie früher trifft das nicht mehr zu. Dies bemerkt selbst der Psychoanalytiker Tilman Moser (5), der vor 40 Jahren mit seinem Buch “Gottesvergiftung” schwere Anklagen gegen eine bestimmte Art der christlichen Frömmigkeit erhoben hatte. Trotzdem kann man feststellen, dass sich unter der Leitung eines charismatischen Führers immer wieder Gruppen bilden, welche die alten Verhaltensweisen der Abhängigkeit und des Gruppendrucks neu praktizieren.

Umgekehrt kann man fragen: wie viel Beziehungslosigkeit herrscht innerhalb der Gemeinde? Wem in der Gemeinde kann man sich öffnen und anvertrauen?

Als dritte Dimension ist die Veränderungsbereitschaft zu nennen. Es gibt die Angst vor jeder Veränderung, es gibt auch die Angst, sich festlegen zu müssen. Die Charaktertypen heißen zwanghaft und hysterisch. Heimler nennt die erste Glaubensform bewahrend und die zweite demonstrativ. Die bewahrende Glaubensform möchte an alten Strukturen, Formen und Gebräuchen um jeden Preis festhalten. "Das Evangelium ist immer dasselbe" kann man hören und jede Anpassung wird als Verrat empfunden. Der eigentliche Glaube besteht nach deren Meinung im Festhalten an den von Gott geoffenbarten, ewigen und immer gültigen Wahrheiten. Darüber ist jede Diskussion überflüssig. Die abschreckende Wirkung auf den lebendigen, selbständig denkenden Menschen braucht nicht näher beschrieben zu werden.

Wenn andererseits junge Leute in konservativen Kreisen Zuflucht suchen, um sich dort als Priester ausbilden zu lassen, sollte man ihre persönliche Überzeugung achten, aber den Zulauf zu diesen Ausbildungsstätten nicht als Lösung des Problems sehen.
Die bewahrende oder zwanghafte Glaubensform war die im traditionellen Christentum am weitesten verbreitete Art zu glauben. Ängstlichkeit wurde mit Glaubenstreue gleichgesetzt. Kaum jemand sah darin einen Mangel an Vertrauen, im Grunde ein Stück Unglauben, der dem Wachsen und Reifen des einzelnen und der Leben spendenden Gnade keinen Raum ließ.

Als letzte bleibt noch die demonstrative oder hysterische Glaubensform.
Der demonstrativ Glaubende hat meist gute schauspielerische Fähigkeiten. Er stellt sich gerne in den Vordergrund, dramatisiert, möchte hinreißen und begeistern, ob der andere das will oder nicht. Es sind solche, die das Evangelium um jeden Preis aktualisieren wollen und dabei einige Kurzschlüsse nicht vermeiden. Der Inhalt dieser Art von Verkündigung besteht dann mehr aus modischen weltanschaulichen Lösungen und Appellen als aus ausgereiften Überzeugungen. Die lange, mühsame Arbeit im Kleinen, das geduldige Warten und wachsen Lassen wird gescheut. Viel lieber möchte man sofort sichtbare Erfolge haben. Ein Mensch dieses Charaktertyps hält mehr von spektakulären und ausgefallenen Aktionen, den so genannten Events, um die Fernstehenden für die Kirche zu gewinnen, als dass er das Problem in seinem ganzen Ausmaß durchdenken und durchleben würde.

Jede der Glaubensformen beinhaltet eine wesentliche Wahrheit im Vollzug des Glaubens. Den lebendigen, reifen Gläubigen erkennt man daran, dass er jeden der verschiedenen Glaubens - und Persönlichkeitsanteile in sich vereinigt und zum Ausdruck bringt. Er ist offen für die Erfahrung der Tiefe wie für die Problematik der Menschen unserer Zeit; er versteht es, Kontakte zu schließen und sich zurückzunehmen. Er weiß um die Reichtümer der Tradition wie um die Notwendigkeit und Möglichkeit, sie für unsere Zeit zu erschließen und darzustellen. Der "integral" Glaubende hat die Fähigkeit, Tradition und Fortschritt zu versöhnen. Er wirkt deshalb in allen Gruppen, besonders in der christlichen Gemeinde integrierend und inspirierend. Er ist auch im Lager der Nichtgläubigen geachtet und hat dort Freunde. Er versteht die Menschen, ohne sich den herrschenden politischen und weltanschaulichen Modeströmungen anzupassen.

Die Kluft zwischen Außenstehenden und Kirche ist zu sehen unter dem Aspekt des Verhältnisses von moderner Lebenseinstellung und den überlieferten Werten. Es sollte bewusst werden, dass sich der Mensch der Neuzeit seit dem Ende des Mittelalters in einem ständigen Aufstand gegen die Tradition befindet. Alles, was zur Förderung der Freiheit des einzelnen dient, gilt als fortschrittlich und begrüßenswert, alles, was den einzelnen einengt, als verwerflich. Es ist verständlich, dass eine Institution, die aus der Vergangenheit kommt, einen schweren Stand hat. Bei genauerem Hinschauen stellt man fest, dass die Menschen heute nicht nur Freiheit sondern auch Heimat suchen und damit Bindung und Geborgenheit. Andererseits haben wir das Evangelium nur dann richtig verstanden, wenn wir neue spirituelle und ganzheitlich existentielle Aufbrüche in uns selbst zulassen und damit auch neue Freiheitsräume öffnen. Wer es versteht, die berechtigten Anliegen der modernen Zeit mit den Werten der Tradition zu verbinden, wer dadurch zu einem “integralen” Glauben gelangt, schlägt durch die bloße Art seines Daseins eine Brücke zwischen Kirche und der modernen Welt.

Anmerkungen

1) Heimler Adolf: Selbsterfahrung und Glaube, München 1970, S. 64 f
2) Kroeger Mathias: Themenzentrierte Seelsorge, Stuttgart 1973 S.124
3) Vgl. Heimler S. 85
4) Vgl. Heimler, S. 53 f
5) Moser Tilmann: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, Stuttgart 2000

Weiterführende Literatur:

1.Jung C. G. "Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge" in:
Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. G.W. 11 Olten 1973
2. Riemann, Fritz (1990). Grundformen der Angst. München (2001)