Guido Kreppold


Ein Weg mit Herz

 

Selbsterfahrung mit einem alten Indianer

 

Nach
Carlos Castaneda

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.        Die Aktualität der Lehre des Don Juan

1.1      Einführung

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts  waren  vielen jungen  Menschen die Bücher des amerikanischen Autors Castaneda zu einer Art Bibel geworden. Mit oder ohne Drogenerfahrung finden sie darin etwas, das ihnen ein routiniertes Alltagsleben und eine verständnislose, auf Leistung orientierte Umwelt nicht bie­ten konnten. Man kann dieses Bedürfnis schlecht in Worte fassen. Der Ver­dacht, die Castaneda-Welle war nichts als ein vorübergehender Modetrend, ist nicht ganz un­berechtigt, übersieht aber den wahren Kern der Erscheinung. Nach den ergebnislosen Ver­suchen der neuen Linken Ende der sechziger Jahre, die Gesellschaft radikal umzugestalten, kam Mitte des Jahrzehnts  eine Trendwende. Die Sehnsucht der mit der technischen Zivilisation Unzufriedenen nach einer heilen Welt richtete sich nicht mehr wie bei politischen Heilsgläubigen in eine imaginäre Zukunft, sondern der Blick ging , geographisch gesehen, nach außen, psychologisch betrachtet, nach innen. Außerhalb der westlichen Industriekultur, bei alten Religionen und Kulturen wie den asiatischen und bei nicht „zivili­sierten" noch ursprünglichen Völkern entdeckte man Neues und Wertvolles. Es sind Seiten des menschlichen Lebensvollzugs, die in der technisierten Welt vernachlässigt werden. Sie lassen sich benennen als Reichtum und Ausdrucksfähigkeit der Gefühle, Spontaneität und Vitalität, ein intensives Dasein im Hier und Jetzt ohne den belastenden Druck der beruflichen Zukunft und ökonomischen Existenz; ein harmonisches und geordnetes Leben mit der Natur selbst unter Verzicht auf Bequemlichkeit und Sicherheit.

Auf den ersten Blick scheint es nur die Sehnsucht nach dem Paradies der Kindheit zu sein. Aber es lässt sich doch ein Verlan­gen nach seelischer Tiefe und tragenden Sinnstrukturen ausmachen, nachdem die bisheri­gen bürgerlichen Zielvorstellungen als hohl erfunden wurden. Offensichtlich hatte der amerika­nische Schriftsteller und Ethnologe Carlos Castaneda das rechte Bedürfnis getroffen. Er, der selbst aus dem studentischen Milieu einer amerikanischen Großstadt kam, wird durch die  Begegnung mit dem alten Indianer Juan Matus  in eine ar­chaische Welt zurückversetzt. Er darf zumindest zeitweilig das Gewand der Zivilisation ab­streifen und an den Anfängen der Kultur von neuem beginnen. Seine Lehrzeit wird zu einer Einführung in eine alternative Lebensform, die erhaben, reich und beglückend ist. Er wird für viele Leser zu einer Figur, mit der sie sich identifizieren können.

Die anziehende Kraft Don Juans erreicht aber nicht nur die Aussteiger aus der Gesellschaft. Die sich angesprochen fühlen, sind auch solche, die weiterhin in ihr leben wollen, aber sich mit all ihren Fragwürdigkeiten nicht zufrieden geben. Das Verlangen nach Sinn und nach neuen, sinnerfüllten Formen der Lebensgestaltung und Lebensdeutung, das die bestehen­den Religionen nicht wahrnehmen, macht die davon Betroffenen unruhig und lässt sie so­lange suchen, bis sich ihnen ein angemessenes Konzept anbietet. In der Lehre des alten Zauberers werden nun Lebensvollzüge aufgezeigt, die urmenschlich und kraftvoll sind. Sie könnten das liefern, was dem aufgeklärten Menschen abhanden gekommen ist. Es sind ur­religiöse, alle Kulturen, Religionen und Konfessionen überschreitende Bilder, Riten und Wahrheiten, die jeden offenen Menschen in seiner Tiefe erreichen.

Ziel der Ausführungen  ist es, in die Wirklichkeit des Don Juan so einzuführen, dass ihre immer gültigen Werte auch für einen in unserer Gesellschaft Lebenden nutzbar werden. Es geht nicht darum, Don Juan zu ver­wässern oder ihn für eine bestimmte, weltanschauliche Richtung zu vereinnahmen. Vielmehr steht die Frage im Vordergrund: Inwieweit können wir den alten Indianer verstehen und uns wenigstens annäherungsweise für seine Kraft erreichbar machen?

 

1.2      Die Geschichte von Castaneda und Don Juan

Im Juni 1960 begegnet der Ethnologe und Anthropologe Carlos Castaneda auf  einer Bus­station in Arizona dem Indianer Juan Matus. Damit beginnt die Geschichte von Carlos Cas­taneda und Don Juan. Castaneda wollte im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit an der Universität Los Angeles den Gebrauch von halluzinogenen Pflanzen bei Indianern erfor­schen. Ein Freund hatte ihn auf Juan Matus, einen indianischen Medizinmann, Heiler und Zauberer, einen brujo verwiesen.

Die erste Begegnung zwischen Castaneda und Don Juan ist äußerst aufschlussreich. In den beiden Personen stoßen zwei Welten aufeinander: die technisch-zivilisierte Welt des modernen Amerika und die archaisch-magische Welt der Ur­einwohner. Sehr bald stellt sich heraus, wer von wem zu lernen hat: nicht der sogenannte Primitive muss zivilisiert werden, sondern der zivilisierte, vom rationalen Bewusstsein einsei­tig geprägte Student der Soziologie  muss beim alten Indianer in die Schule gehen.

Don Juan, der als schrulliger alter Kauz gilt, erweist sich in der Form der Gesprächsführung und Art der Argu­mentation dem Universitätsstudenten haushoch überlegen. Der Wissenschaftler ist beeindruckt von der Folgerichtigkeit der geistigen Welt dieses Mannes; er fühlt sich in seiner Nähe einerseits verunsichert und nervös, andererseits wird er von dessen überlegenen Ruhe und Gelassenheit angezogen. Die leuchtenden Augen und die drahtige Gestalt des Indianers hatten ihn fasziniert. Auf die Frage nach Informationen über Pflanzen geht Juan auf eine Weise ein, die Carlos neugierig macht und doch nicht zufriedenstellt. Das angebotene Geld weist Juan mit den Worten zurück:„Belohne mich für meine Zeit mit deiner Zeit". [1]

Darin kommt die menschliche  Größe des Zauberers zum Ausdruck, und zugleich deutet dieser an, dass es um mehr geht als um bloße Informationen über Pflanzen. Die Absicht Juans ist es, Carlos als Lehrling anzunehmen, damit aus ihm ein „Wissender" wird. Castaneda spricht von der „Mitgliedschaft der anderen Wirklichkeit" als dem Sinn der Lehrzeit[2].

Die Unterwei­sung beginnt im Juni 1961 und findet jeweils in den Sommermonaten statt. 1965 bricht Cas­taneda die Lehrzeit ab, weil er um seine Identität fürchtet. „Ich stand im Begriff, die uns allen gemeinsame Gewissheit zu verlieren, dass wir die Realität des alltäglichen Lebens als Ge­gebenheit hinnehmen dürfen".[3] Er hatte alle Anzeichen einer ausbrechenden Schizophrenie. Don Juan nannte es „Seelenverlust", jemand hätte ihm die Seele gestohlen.

Durch die Praktiken des Meisters gelingt es Castaneda, die Seele wiederzugewinnen. Aber diese versetzen ihn in solche Angst und Panik, dass er es vorzieht, das Zusammensein mit dem Zauberer aufzugeben. Don Juan hatte jedoch die Unterbrechung der Lehrzeit miteinkal­kuliert. Im April 1968 beginnt der zweite Teil der Lehrzeit, die im Herbst 1971 endet. Im ers­ten Teil der Einführung in das Wissen und die Welt der Zauberer steht der Gebrauch von halluzinogenen Pflanzen im Vordergrund; es sind Datura inoxia, allgemein bekannt als Stechapfel, Lophophora williamsii, bekannt als Peoyte und ein halluzinogener Pilz der Gat­tung Psilocybe.

Die Einnahme dieser bewusstseinsverändernden Pflanzen ist streng ritualisiert. Sie ge­schieht erst nach langer Unterweisung über das Verhalten eines Kriegers und Jägers im Umgang mit Pflanzen, Tieren, Steinen, Wind und Wetter und Geistern in der Wildnis.

Erst als Carlos die Eigenschaften eines Jägers und genügend persönliche Kraft gesammelt hat, darf er Mescalito begegnen. Mescalito ist die Personifizierung der in der Peyote-Wurzel enthaltenen halluzinogenen Wirkung. Die andere bewusstseinsverändernde Kraft ist Humido, der kleine Rauch. Er wird durch das Rauchen des Pilzes Psilocybe mexicana hervorgerufen. In seinen ersten beiden Bänden glaubt Castaneda, dass das Wissen der Zauberer in der von bewusstseinsverändernden Pflanzen hervorgerufenen Wahrnehmung einer anderen Realität bestehe.

Im dritten Band „Reise nach Ixtlan" korrigiert er diese Auffassung dahingehend, dass es bei der Lehre der Zauberer auf die Entwicklung und Veränderung der ganzen Persönlichkeit an­kommt, wie sie im Werdegang eines Jägers und Kriegers beschrieben wird.

Im vierten Band „Der Ring der Kraft" gibt Don Juan seinem Lehrling die „Erklärung der Zau­berer". Darunter sind die überlieferten Geheimlehren der Zauberer zu verstehen. Sie ver­suchen die Erfahrungen des Schülers mit Don Juan zu deuten und in ein Gesamtsystem ein­zuordnen. Castaneda ist erst nach den verschiedensten Begegnungen mit den „Mächten" und „Kräften" und nach intensiver Persönlichkeitsschulung durch Don Juan fähig, die Erklä­rung der Zauberer zu verstehen.

Im fünften Band „Der zweite Ring der Kraft" ist Don Juan aus dem Feld des Geschehens verschwunden. Er ist in die „andere Wirklichkeit" untergetaucht, aber durch seine Aufträge und seine zurückgelassene Kraft gegenwärtig. Carlos muss in der Auseinandersetzung mit fünf Frauen, der alten Dona Soledad und den vier Schwestern, die wie er in der Schule des alten Indianers stehen, seine Meisterschaft als Zauberer erringen.

 

1.3      Urerfahrung gegen routinierte Heilswege

Das in den Büchern Castanedas ansprechende Moment lässt sich am ehesten mit „Urerfah­rung" ausmachen. Urerfahrung heißt „Ersterfahrung". Es geht darum, sich auf das Verlangen nach Sinn, Glück und Lebenserhöhung auf eine Weise einzulassen, die herkömmliche, von der Erfahrung früherer Generationen geprägte Regeln und Verhaltensmuster verlässt. Der Wunsch nach Urerfahrung entsteht aus dem Drang nach Entdecken und Erforschen und aus der Enttäuschung über die von der Tradition angebotenen Formen des Lebensvollzugs.

Der Konflikt des modernen Menschen mit der Tradition entzündet sich an den für immer festge­legten Wegen zum irdischen und ewigen Heil. Der junge Mensch bekommt zu hören: unsere Demokratie ist die bestmögliche Staatsform; es gibt kein Wirtschaftssystem, das besser und ausreichender die Menschen mit Gütern versorgen könnte als die soziale Marktwirtschaft und der dazugehörende Leistungszwang. Er findet kaum Argumente dagegen. Die Kirche sagt ihm: Es gibt keinen anderen Weg zum inneren Frieden und zum ewigen Heil als die von Gott geoffenbarten und von ihr verkündeten Wahrheiten und die dafür bereitgestellten Be­griffssysteme, Riten und Verhaltensmuster.

Die Vorgegebenheiten der Tradition und die Weisheiten der Alten, die für frühere Generationen hilfreich waren, erweisen sich für den erwachenden, selbstständig denkenden Menschen als Hindernis. Er möchte das Urteil über wahr oder falsch nicht schon mitgeliefert bekommen. Er möchte selbst entscheiden. Die von vergangenen Generationen erprobten Werte und Normen machen das Leben eher langweilig als interessant. Der moderne Mensch fühlt sich darin nicht mehr wohl; er ist darüber hinaus­gewachsen. Die Überwindung der wirtschaftlichen Not nach den Jahren des Wiederaufbaus ließ die dramatische Spannung zum Ausbruch kommen. Der junge Mensch steht heute vor der Entscheidung, eigene, aufkommende Impulse abzuwürgen und sich nahtlos In die Ge­sellschaft einzureihen oder sie zuzulassen und damit in einen Konflikt mit maßgebenden In­stanzen, mit Elternhaus, Schule und Kirche zu geraten. Die von diesen angebotenen Modelle des sittlichen und sozialen Verhaltens, des Selbstverständnisses als Mensch und Glauben­der verlangen ein bloßes Sicheinfügen und Weitergehen auf ausgetretenen Wegen. Sie las­sen das Neue, Überraschende, Interessante des Lebens vermissen; sie legen auf ein vorge­gebenes Geleise fest, führen zu eintönigem Rhythmus und nehmen die Freude am Ent­decken und Erforschen. Da ein ernsthaftes alternatives Angebot nicht besteht, tut sich ein breites weltanschauliches Vakuum auf. Der bisher gültige Wertekanon ist zum großen Teil ungültig geworden und die kollektiven Obervorstellungen von Sitte, Moral und Religion ver­mögen dem einzelnen nicht mehr jenen stützenden Halt zu geben, den er zur Bewältigung seines Lebens nötig hätte. Die alten Ideale gelten nicht mehr. Der Himmel der Werte ist ein­gestürzt.

Die Kirche muss sich der Frage stellen: Werden im Aufstand gegen die Tradition echt christliche Werte wie Freiheit vom Gesetz, bedingungslose Annahme des Andern, Ah­nung und Ehrfurcht vor dem Mysterium, unmittelbare und lebendige Transzendenzerfahrung, Spontaneität, Lebensfreude und Lebenstiefe abgelehnt oder eher die verholzten Formen, de­ren unverstandene Verwendung (trotz Liturgiereform) den ursprünglichen Sinn nur ahnen lassen.

Carl Gustav Jung sieht in den Irrwegen und Nöten des modernen Menschen die Suche nach dem tieferen Sinngehalt und nach dem ganz- und heilmachenden Erleben. Die einseitige Ausrichtung der Bildung auf Lebenstüchtigkeit und Rationalität habe den Menschen emotio­nal verarmen lassen. Weil ihm die Angebote der Autoritäten Wissenschaft und Kirche nicht hilfreich seien, versuche er nun sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. „Der Moderne will daher erkunden, was eigentlich an den Dingen ist ... Dieses Wagnis ist kein mutwilliges Abenteuer, sondern ein aus tiefster, seelischer Not geborener Versuch in einer unpräjudi­zierten Urerfahrung die Einheit von Leben und Sinn wieder zu entdecken ... Bekämpft man es, so versucht man eigentlich das Beste eines Menschen, seinen Wagemut, sein höchstes Streben zu unterdrücken und wenn es gelingen sollte, so hätte man jene unendlich kostbare Erfahrungen verhindert, welche einzig dem Leben einen Sinn verleihen können".[4]

 

Der durchschlagende Erfolg der Lehre Don Juans wird von dem Raum bestimmt, den die Urerfahrung in seinem Konzept der Unterweisung einnimmt. Dieses ist so aufgebaut, dass der Schüler in einer mühseligen, anstrengenden, sogar lebensbedrohenden Übung zur Er­kenntnis seiner eigenen Wahrheit finden muss.

Es beginnt mit der Suche des Platzes auf der Veranda vor Don Juans Haus. Castaneda soll als Zeichen, dass es ihm ernst sei mit dem Lernen, eine Stelle suchen, wo er sich glücklich und stark fühle. Nach sechs Stunden ange­strengten Bemühens gelingt es ihm schließlich, seine Empfindung so zu schärfen, dass er zwischen einer höchst gefährlichen und einer ihm wohltätigen Stelle unterscheiden kann. Er hat das Rätsel gelöst und wird als Lehrling angenommen.

Don Juan macht ihm klar, dass die Lösung des Rätsels nicht von außen kommen kann - es ihm zu sagen wäre sinnlos gewesen - sondern im eigenen Tun besteht. Die Kunst des Meisters besteht darin, seinen Schüler in einem vorgegebenen Ablauf die je eigene Wahrheit, die nur die seine sein kann, selbst ent­decken zu lassen. Er tut, was interessiert, und legt sein ganzes Wesen hinein. Alles was der alte Indianer anfasst, ist voller Überraschung und Leben und regt die Eigentätigkeit und Ver­antwortung des Lehrlings an, ob es sich darum handelt, wie man eine Pfeife behandelt, wie man mit Pflanzen umgeht oder wie man Fallen aufstellt, um Wachteln, Schlangen, Kanin­chen oder Berglöwen zu fangen. Das Streifen durch die Wildnis mit Don Juan ist ein berei­cherndes Erlebnis, weil der alte Indianer Dinge sieht, auf die der Student der Universität nie gestoßen wäre. Da gibt es seltsame Tiere, Lichterscheinungen, Steine und aufgespürte Wasserstellen, Geister, Mächte und Gewalten einer anderen Wirklichkeit. Castaneda lernt anders als durch bloßes Zuhören, Mitschreiben oder Tonbandprotokolle. Ihm wird allmählich bewusst, dass er sich selbst ganz einbringen, dass er seine ihm am wichtigsten Grundüber­zeugungen von Wirklichkeit, von Lebensstil, von dem was gut und schlecht ist, aufgeben muss. Mit aller Deutlichkeit hatte Don Juan zu Beginn der Lehrzeit auf Lücken seiner Per­sönlichkeit hingewiesen: „Du kennst dein Herz nicht". „Du hast keinen Frieden". Im Grunde sind es diese beiden Ziele, um derentwegen Castaneda die Mühen der Lehrzeit auf sich nimmt. Was er bei seinem Meister lernt, hat sehr wenig mit einer exakten, wissenschaftlichen Beschreibung von halluzinogenen Pflanzen zu tun, aber sehr viel damit, wie man die Welt um sich her und sich selbst entdeckt und neu versteht, wie man ein Mensch wird, der „sieht", der einen anderen Zugang zur Wirklichkeit und seinen Frieden gefunden hat. Jeder Schritt, den der Schüler zum Wissen hin vollzieht, ist begleitet von einer fast unüberwindlichen Angst und bedarf eines starken Willens, einer „unbeugsamen Absicht". Um den aufkommenden Verdacht abzubauen, der Meister tue etwas gegen den Willen seines Schülers, stellt Don Juan Castaneda öfters vor die Entscheidung, die Lehre abzubrechen oder zu bleiben.

Der Zauberer hält sich zwar an feste Sätze, in denen die Geheimlehre weitertradiert wird; aber sie werden erst zu einem Zeitpunkt mitgeteilt, wo der Schüler sie durch die vorausge­gangene Übung und gelöste Aufgabe verstehen und als hilfreich erleben kann. Andererseits verfügt Don Juan über ein so großes Maß an Freiheit, dass er zu gegebener Zeit die vorge­gebene Regel überschreiten und verändern kann. Die Beziehung des Lehrlings zum Meister ist davon geprägt, dass Don Juan eine durch sich überzeugende Autorität darstellt. Er hat die Erfahrung, das „Wissen" und auch die menschliche Größe. Er kann Prozesse bei seinem Schüler auslösen, er verliert nie den Überblick, er weiß um die Gefahren und kennt Mittel und Wege, um aus ihnen herauszuführen. Man kann sogar sagen, dass er nicht nur eine Lehre überliefert, sondern selbst die Lehre ist. Die Beziehung zwischen ihm und dem Schü­ler wird zum Medium der Verwandlung. Nur indem sich Castaneda vorbehaltlos dem alten Indianer anvertraut, kann er sich in die gefährlichsten Abenteuer einlassen. Zugleich wird er von dessen Lebendigkeit angesteckt. Nie will Don Juan seinen Lehrling von sich abhängig machen, sondern in allem geht es ihm darum, ihn zum Meister zu machen. Der Schüler soll nicht dem Meister ähnlich werden, sondern sich selbst. Er muss sich von ihm ablösen. Die Trennung wird dann auch so vollzogen, dass Castaneda nach der „Erklärung der Zauberer" in den Abgrund springt, freilich in einer Art der Welt, wie sie dem Zauberer eigen ist. Eine be­liebte Methode Don Juans ist es, seinem Schüler etwas durch eine Metapher aufzuzeigen. Es handelt sich um ein Bild, Symbol oder um eine Geschichte, die einen Sachverhalt leben­dig werden lässt. So steht die „Reise nach Ixtlan" für den inneren Weg, den der Zauberer gehen muss. Ixtlan, die Heimat, die er verlassen hat, ist das Ziel, das er aber nie erreichen wird, im Gegenteil, er entfernt sich immer mehr von der alten, vertrauten Umgebung. Es ist der Weg nach Hause, der von zu Hause wegführt. Die Deutung dieses Paradox ist darin zu suchen, dass hinter dem unmittelbar erlebbaren Ich, das die Beziehungen zur Umwelt ge­staltet, noch eine höhere Instanz liegt, wo der Mensch ganz er „selbst" ist. Dieses „Selbst" bietet in der höchst möglichen Übereinstimmung mit sich selbst einen Zustand der Ganzheit und des höchsten Glücks, muss aber schmerzvoll erlitten werden. Wer von ihm angespro­chen ist, wird von seiner bisherigen gewohnten Umwelt mit ihren Verhaltensmustern und Wertvorstellungen weggerissen. „Der Verbündete wirbelt dich in fremde Welten" sagt Don Genaro, der Freund Don Juans.[5] Das „Nie-dort-ankommen" heißt, dass es auf dem Weg zu die­sem innersten Punkt keine Grenzen gibt. Man wird nie den Eindruck haben, endgültig und für immer angekommen zu sein. Mit anderen Worten: Die innere Entwicklung, die über die Grenzen des vordergründigen Ich hinausführt, wird nie zum Stillstand kommen. Die Selbst­werdung eines Menschen, die Entdeckung seines Wesenskernes, ist ein Abenteuer, das das ganze Leben umfasst.

Der in Don Juans Lehre aufgezeigte Weg der Urerfahrung, der „Weg mit Herz" lässt sich in der Begrifflichkeit der analytischen Psychologie mit „Individuation" be­schreiben. Individuation heißt zum Individuum werden und meint, seine Individualität in Ein­samkeit, Schmerz, Trauer und Freude gewinnen und aushalten. Andere Begriffe dafür sind Selbsterfahrung, Selbstwerdung, Selbstverwirklichung. Es geht um einen Wandlungs- und Reifungsprozess mit dem Ziel einer größeren Intensität des Lebens und umfassenderen Er­fülltheit des Daseins. Er richtet sich gegen Langeweile, Öde, Depression und Routiniertheit. Darin ist eingeschlossen die Begegnung mit der Transzendenz, die aber nicht als etwas Fremdes empfunden wird, sondern als das, was mit  dem Wesenskern über­einstimmt. Don Juan spricht von der Kraft, die bedrohend die bisherigen Bewusstseins­strukturen erschüttert, aber unendlich bereichert und beglückt. Die Zustände von unsagbarer erfüllter, dichtester Stille, von unbeschreiblichem Glück und Frieden sind es, die Castaneda im­mer wieder veranlassen, zu Don Juan zurückzukehren.

2.Die archaisch-magische Welt des Don Juan und das moderne Bewusstsein.

2.1 Das kollektive Unbewusste als die archaisch-magische Welt in uns.

Viele Leser haben bei der Lektüre von Castanedas erstem Band mit dem Titel „Die Lehre des Don Juan, ein Yaqui-Weg des Wissens" das Buch bald wieder aus der Hand gelegt. Was da über den Umgang mit Pflanzen, Eidechsen, Koyoten und anderen Tieren steht, klingt zu abstrus. Dazu kommen die recht merkwürdigen Praktiken der indianischen Zaube­rer, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Hier wird eine magische Welt beschrieben, die uns zivilisierten, aufgeklärten Europäern unzugänglich ist. Ähnlich ist es Castaneda selbst ergangen. Auch ihm wurde es bei manchen Übungen unheimlich und er wäre am liebsten davongerannt, als er merkte, worauf er sich eingelassen hatte. Aber die faszinierende und Vertrauen erweckende Gestalt Don Juans hielt ihn zurück. „Es schien, als leuchteten seine Augen aus eigener Kraft"[6]. So beschreibt er seinen ersten Eindruck von dem Mann, der für ihn eine Wende seines Lebens bringen sollte. Damit ist ausgesagt, dass hinter dem, was wir als magisch bezeichnen und als unwirklich abtun, eine Realität steht. Diese ist keineswegs unmenschlich, sondern kann, zumindest wie sie in der Persönlichkeit Don Juans dargestellt und gelebt wird, eher als „über"menschlich bezeichnet werden.

Für das Verständnis von Castanedas Büchern ist es hilfreich, dem Zusammenhang zwischen der archaisch-magi­schen Welt und dem modernen Menschen nachzuspüren. Am Ende des ersten Teils der Lehrzeit stellt Don Juan einen wesentlichen Punkt seiner Lehre noch einmal deutlich heraus:

Jetzt bist du einfach in der Situation, dass du von etwas Gebrauch machen musst, was du früher vernachlässigt hast. Doch du musstest um dieses Wissen kämpfen; es wurde dir nicht einfach geschenkt; es ist dir nicht einfach in den Schoß gefallen. Du musstest es aus dir herausschlagen"[7]. Damit sagt der alte Indianer zwei Dinge aus: diese magische Welt mit ih­ren Spielregeln, Verhaltensmustern und ungeahnten Kräften ist im Menschen selbst. Man muss darum kämpfen und den letzten Einsatz riskieren, um sie zu erreichen. Das heißt kon­kret: Der moderne Mensch trägt die Möglichkeit in sich, die unmittelbare Beziehung zur Natur wiederzuerlangen. Andeutungsweise wird dem einen oder andern auch ohne Einführung in die Geheimlehre der innere Zusammenhang von Mensch und Kosmos durch ein beglücken­des Naturerlebnis offenbar. Das kann die unendliche Weite einer Landschaft, eine erfüllte Stille, eine Empfindung von leuchtenden Blättern und mildem Sonnenglanz oder das Tief-Dunkle des Sternenhimmels sein. Auch der moderne Mensch trägt in sich Energien, die er aufgrund seiner einseitig auf Leistung und logischem Denken ausgerichteten Bewusstseins­struktur nur ahnen kann. Freilich ist in jedem auch etwas von der unberechenbaren Wildheit und Härte dieser anderen Wirklichkeit. Deshalb ist es so gefährlich, wenn sie unkontrolliert durchbricht. Es endet mit der Psychose des einzelnen und der Massen.

Diese Wirklichkeit wird in der Tiefenpsychologie das „Unbewusste" genannt als die Gesamt­heit aller in der Ganzheit der Psyche vorhandenen aber dem denkenden und handelnden Ich nicht zugänglichen Kräfte, Antriebe und Strebungen. Es entspricht dem, was Don Juan mit „Herz" meint. Er lehnt den Wunsch Castanedas nach Unterrichtung zunächst ab, weil diesem sein eigenes Herz, das heißt der ganze Bereich tiefer, lebenstragender Einsichten und sinn­gebender Erfahrungen verschlossen ist. Der Wissenschaftler und der alte Indianer meinen etwas völlig Verschiedenes, wenn sie von „sehen" und „wissen" sprechen.

Eine ähnliche Be­gegnung mit einem Indianer beschreibt auch C. G. Jung in seiner Autobiographie „Erinne­rungen, Träume, Gedanken". Er habe in Neu-Mexiko mit dem Häuptling der Taos Pueblos, einem intelligenten Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren gesprochen. Er hieß Ochwiä Biano (Gebirgs-See). Ganz offen sagte er ihm seine Meinung über die Weißen: Sie sehen grausam aus, sie wollen immer etwas, sind unruhig und rastlos! Die Indianer verstehen nicht, was sie eigentlich wollen. Deshalb glauben sie, die Weißen seien verrückt. Der Grund liege darin, dass die Weißen mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen denken. Die Äußerun­gen des Indianers waren für Jung eine Erleuchtung. Zum ersten Mal habe ihm jemand ein Bild des wirklichen weißen Mannes gezeichnet. Das wahre Gesicht des Europäers ist ein Adlergesicht. Bei allen Errungenschaften seines hochentwickelten Bewusstseins hat er sein Herz verloren, hat er seine unbewusste, geistig-vitale Seite vernachlässigt und unkultiviert gelassen.

Als Entdecker des Unbewussten für unsere Zeit gilt Sigmund Freud (1836-1939). Er kennt nur ein persönliches Unbewusstes. Das bedeutet: Die Inhalte des Unbewussten sind in der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen erworben und durch Verdrängung unbewusst geworden. Sie bestehen im Wesentlichen aus infantilen Triebwünschen, Vorstel­lungen und Affekten sexueller und aggressiver Natur, die in der frühen Kindheit nicht ange­messen ausagiert wurden. Ebenso wie Sigmund Freud hat auch Alfred Adler (1870-1937) nur ein persönliches Unbewusstes im Auge. Er spricht vom Unbewussten als dem Bereich des seelischen Organs, wo der Lebensplan oder die „Lebensleitlinie" ausgestaltet wird. Es sind Kräfte, die nicht unmittelbar dem Willen unterliegen. Beim neurotischen Menschen ver­schafft sich das Ich über die Kräfte des Unbewussten die für das versagte Geltungsstreben notwendige Kompensation. Das Unbewusste, das Carl Gustav Jung (1875-1961) entdeckte, ist kollektiv, d. h. allen Menschen gemeinsam und geistig-religiös. Er hat in seiner therapeuti­schen Arbeit festgestellt, dass Patienten in ihren Träumen von Figuren, Ereignissen und Mo­tiven berichteten, die nicht ihrer eigenen Lebensgeschichte entstammten. Sie träumten von exotischen Tieren, Fabelwesen, Schlangen und Drachen, die sie in ihrem Leben nie gesehen haben konnten. Zugleich fiel ihm auf, dass die Mythen und Sagen der Völker ähnliche Bilder, Motive und Figuren beinhalten. Zum Beispiel ist die Schlange als listige, Erkenntnis vermit­telnde Gestalt und als heilbringendes Symbol (die eherne Schlange in der Wüste) schon in der Bibel genannt[8]. Jung hatte selbst intensivste Auseinandersetzungen mit überpersönli­chen Kräften, die in verschiedenen Figuren auftraten. Er hatte in seinen Träumen Begeg­nungen mit Gestalten aus dem Altertum, mit Elias und Salome, mit Philemon und dem ägyp­tischen Weisen Ka. Einmal sah er sich eine Allee entlang schreiten, an der Sarkophage des 13. bis 18. Jahrhunderts aufgereiht waren. Als er jeweils den Toten betrachtete, wurde dieser lebendig. Ihm wurde zur Gewissheit, dass der Mensch nicht nur das biologische, sondern auch das psychische Erbe seiner Ahnen in sich trägt, dass die Ahnen in ihm lebendig wer­den wollen.

Die archaisch-magische Welt, in der unsere Vorfahren lebten, ist in uns als das kollektive, d. h. allen Menschen gemeinsame, Unbewusste. Es ist der gemeinsame Mutterboden für die Bewusstseinsentwicklung. Die Arbeit, die Don Juan mit seinem Schüler macht, ist im Grunde eine ähnliche wie die Tätigkeit eines Analytikers mit seinem Analysanden: nämlich diese unbewusste Welt zu erschließen.

Die Kunst, ein Krieger zu werden, besteht darin, die Instinkte wieder wach werden zu lassen. Es muss bei einem vom europäischen Bewusstsein geprägten Menschen etwas reaktiviert werden, was unsere Ahnen einst beherrschten.

Zunächst geht es darum, die Wahrneh­mungsfähigkeit der Sinne so zu schärfen und verschiedene Geschicklichkeiten so zu trainie­ren, dass der Großstädter in der Wildnis überleben kann. Man kann das, was Castaneda in seinen halluzinogenen Zuständen sah oder wovon Don Juan ihm erzählte, etwa vom magi­schen Reh einfach als irreale, psychotische Erlebnisse abtun. Man kann aber auch wie bei den Träumen ihren Symbolwert ernst nehmen und sie als die abrupte Verlebendigung der magisch-archaischen Welt verstehen. In der ersten Vision begegnet Castaneda Mescalito als dem Hund, der mit ihm spielt; in einer späteren Vision sieht er eine Gestalt, zuletzt nur mehr Nebel und Licht. In der Deutungsweise der analytischen Psychologie könnte man diese Visi­onen als Traumserie interpretieren: Die Deutung würde lauten: Es handelt sich um die Dar­stellung und Entwicklung des Selbst! Der Hund stellt die instinktive Seite des Analysanden dar; bei ihr muss jede Persönlichkeitsentwicklung beginnen. Einer von Jungs Patienten be­kam im Traum den Auftrag, den Ghibbon (Ahne des Menschen) wiederherzustellen. Die weiteren Figuren in den Visionen zeigen die Vermenschlichung und Vergeistigung des Lehr­lings an.

Das Selbst gehört zu den sogenannten Archetypen, den Dominanten und Erlebnisfaktoren des kollektiven Unbewussten. Der Archetyp des Selbst ist der wichtigste und repräsentiert die Ganzheit der menschlichen Psyche. Die Lehre von den Archetypen ist eine der wesentlichs­ten Aussagen Jungs über die menschliche Psyche. Jung erkannte, dass das denkende Ich eher Objekt als Subjekt der Seele ist. Das heißt: Es gibt schon vorgeformte Verhaltens­abläufe, patterns of behaviour, instinktive Bereitschaften, die das Erleben und Verhalten des Menschen bestimmen. Statt zu sagen: Ich lebe, würde es eher zutreffen zu sagen: Ich werde gelebt. Diese selbsttätig agierenden Verhaltensmuster erscheinen in den Träumen als selb­ständige Figuren. Etwa die Aggressivität wird als eine Räuber- oder Terroristenbande darge­stellt. Sie sind deshalb gefährlich, weil sie ins Bewusstsein einbrechen und das handelnde Subjekt tatsächlich zu Gewalttätigkeiten hinreißen können. Die jüngste Geschichte liefert an­schauliche Beispiele von solchen Einbrüchen der Archetypen. Anständige Bürger waren zu den schrecklichsten Taten fähig und Kinder aus gutsituierten Familien wurden zu gefährli­chen Mördern. Wenn Don Juan von den Geistern, Mächten und Verbündeten spricht, dann sind damit jene nach außen projizierten Erlebnisfaktoren und Teilpersönlichkeiten gemeint, die eine faszinierende und erschreckende Wirkung auf seinen Schüler ausüben. Faszinie­rend heißt: sie ziehen an und haben eine suggestive Kraft, bereichern und beglücken; sie können aber auch verschlingen. Deshalb setzt der Umgang mit ihnen eine „persönliche Kraft" voraus, ein starkes Ich, das in der Begegnung mit den Mächten nicht erliegt, nicht auf­gesogen wird, sondern ihnen die Kraft entreißt. Archetypische Elemente sind in den Büchern Castanedas auf Schritt und Tritt anzutreffen.

Da ist die Zahl vier. Viermal wiederholt Don Juan eine wichtige Passage aus den Geheimlehren, wenn er sie Castaneda weitergibt. Die beiden treffen auf vier junge Indianer, die auf der Suche nach Kraftobjekten sind.

In der analytischen Psychologie ist die Vierheit oder Quaternität eine Bezeichnung für die Ganzheit. Dazu sagt C. G. Jung: „Die Quaternität ist ein Archetypus, der sozusagen univer­sell vorkommt. Sie ist die logische Voraussetzung für jedes Ganzheitsurteil. Wenn man z. B. die Ganzheit des Horizontes bezeichnen will, so nennt man die vier Himmelsrichtungen. Es sind immer vier Elemente [9]...".

Die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft haben in der Geschichte von Don Juan und Castaneda eine wirkmächtige Bedeutung. Man denke an den Geist des Wasserlochs, den Don Juan anlockt und der gefährlich wird, an das dunkle Wasser, das Castaneda in seinen Visionen überqueren muss.

Das Wasser gilt schon seit jeher als Symbol für die tragenden, nährenden, gebärenden und verschlingenden, überpersönlichen Kräfte. Es passt gut dazu, was Jung in den Träumen moderner Menschen als Lösung ihrer Lebensproblematik ange­deutet sieht: Er müsse seinen Geist im Wasser suchen.

Ebenso sind Feuer und Licht bei der Unterweisung Don Juans das Element, in denen die Kraft sich darstellt. In gleichem Ausmaß ist der Wind „kraft"geladen. Über das Wesen des Windes entwickelt sich eine lebhafte Dis­kussion zwischen Meister und Schüler. Darin wird das grundlegend verschiedene Verständ­nis von Natur zwischen dem modernen und einem in der Natur lebenden Menschen offen­bar. Genauso ist die Erde nicht etwas Totes. Sie ist fähig, einen Krieger zu verwandeln, wenn er sich in ihr begraben lässt und sich ihr anvertraut. Steine können zu Kraftobjekten, zu „Strahlen" werden. Man kann sagen, dass das Sicheinlassen auf die vier Elemente Kräfte des Unbewussten freisetzt, „Archetypen" anspricht. Don Juan selbst ist eine archetypische Figur. Er vertritt den Archetyp des alten Weisen, der in Träumen als Magier, als Guru oder als Prophet erscheint. Er stellt ein höheres und umfassenderes Wissen dar.

Die archetypi­schen Inhalte des kollektiven Unbewussten haben folgende Eigenschaften: Sie sind auto­nom, d. h., sie sind nicht unmittelbar vom Ich aus zu steuern. Sie sind universal. Sie verbin­den mit allen Völkern und Kulturen sogar rückwärts in die Vergangenheit. Sie sind undiffe­renziert und bedürfen der Kultivierung und Fortentwicklung. Sie sind kraftspendend. Sie kön­nen jenes ganzmachende und heilmachende Erlebnis vermitteln, welche das rationale Be­wusstsein nicht zu geben vermag. Mit anderen Worten: Das Glück eines Menschen hängt wesentlich davon ab, wie sein rationales Ich mit diesen Kräften umgeht. Unter diesem As­pekt ist die Rolle der Verbündeten in der Lehre des Don Juan zu verstehen. Sie sind es, mit denen man sich gutstellen muss, die überwältigende Kräfte in sich tragen und deren Nähe gefährlich ist.

 

2.2Die Entwicklung des Bewusstseins

Die Entwicklung des rationalen Bewusstseins meint ein Mehr an kritischem, objektivieren­dem Denken. Es schließt ein, dass man die Welt um sich her und die eigene Position in ihr distanzierter und mehr von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet. Es wird zugleich die unmittelbare Beziehung zur Umwelt ein Stück aufgegeben. Man kann das Erwachen des Bewusstseins in seinem eigenen Leben beobachten. Hatte man früher Vorstellungen und Normen der Tradition unbesehen hingenommen, so sieht man heute die Dinge anders. Man sagt nach neuen Erkenntnissen: „Da ist mir ein Licht aufgegangen. Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Darüber habe ich vor 10 Jahren anders gedacht. Davon habe ich mich kritisch distanziert".

Was für die Entwicklung des einzelnen gilt, hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte ereignet. Es war ein langsamer und mühevoller Weg, bis aus den primitiven, germanischen Stämmen des frühen Mittelalters die moderne Industrie­gesellschaft geworden ist mit allen Vor- und Nachteilen. In manchen Teilen der Erde gibt es heute noch Stämme, die auf dieser frühen Stufe stehen geblieben sind. Andere Kulturen, z. B. einige asiatische‚ sind mit Vorbehalt dem Bewusstseinsstand des europäischen Hoch­mittelalters vergleichbar. In keinem anderen Kulturkreis ist das kritisch-rationale Denken in einer solchen Radikalität erwacht wie in Europa. Der extrem kritisch-rational Denkende hält nur das für wahr und richtig, was in sich logisch ist und was sich objektiv, d. h. allen zugäng­lich beweisen lässt. Diesem in Europa entstandenen Bewusstsein ist einerseits ein wesent­licher Teil von moderner Humanität zu verdanken - man denke an die Erklärung der Men­schenrechte. Andererseits wird es inhuman, weil es den Boden unter den Füßen verloren hat, die Verbindung zum kollektiven Unbewussten. Kritisches Denken differenziert und dis­tanziert. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen in die Vereinzelung und damit auch in die Einsamkeit geraten. Die alten bergenden Einheiten der Familie, der Verwandtschaft, des Dorfes, der Religion werden verlassen. Das bringt zwar ein hohes Maß an Freiheit mit sich, indem die soziale Kontrolle dieser Institutionen abgeschüttelt wird. Zugleich erweist sich, dass der moderne Mensch den auf ihn zukommenden Belastungen allein nicht gewachsen ist. Er sucht die verlorengegangene Nähe, Geborgenheit und Einheit wieder.

Es bieten sich esoterische Zirkel, religiöse Sekten und verschiedene andere Formen von echter und scheinbarer Gemeinsamkeit an. Die Echtheit dieser neuen gefundenen Einheit wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie im einzelnen Menschen selbst gestiftet wurde oder ob diese unter Verdrängung wichtiger Teile seiner Persönlichkeit dem Gruppen­sog erlag. Die innere Einheit eines Menschen kann nicht von außen gemacht werden. Son­dern es gilt, die wirkmächtigen Urbilder des kollektiven Unbewussten, die Erleben und Ver­halten bestimmen, aufzuspüren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie allein können die Erfahrung von Einheit mit sich, mit den Mitmenschen und der Natur zugleich vermitteln.

 

Das ist es im Grunde, was Don Juan seinem Schüler vermitteln will. Wenn man sich die geistige Entwicklung des einzelnen und der Menschheit noch einmal vor Augen hält, so kann man den Ausgangspunkt als unbewussten Zustand erkennen. In ihm gehören die wirkmäch­tigen Faktoren des Unbewussten wie selbstverständlich zum Leben. Man denke an die reli­giöse Welt des Mittelalters oder an die eigene Kindheit. Schließlich kommt die Zeit des geis­tigen Erwachens. Die religiöse Symbolik wird zum Problem. Man sucht sie zu erklären, ver­steht sie aber nicht. Der kritisch Denkende fühlt sich durch die Dogmen eingeengt. Er kann auch gar nicht mehr das religiöse Leben unreflektiert praktizieren. Er ist aus dem Paradies der Kindheit vertrieben. Das macht ihn selbständig, selbstbewusst und frei, aber auch leer, heimat- und hoffnungslos. Er ist an einem toten Punkt angelangt. Er vergisst, dass der nächste Schritt der Entwicklung noch aussteht. Diese Stufe kommt nicht ohne sein Zutun, wie das Erwachen seines Denkens, sondern, für dieses Moment seines Werdens muss er voll und ganz die Verantwortung übernehmen.

Die neue Einheit haben bisher nur wenige erreicht. Sie sieht so aus, dass einer keineswegs sein kritisches, realitätsbezogenes Denken verleugnet - damit würde er in einen Kindheits­zustand zurückfallen - sondern es in die Erfahrung einer höheren Sinneinheit integriert. Die Ergebnisse des kritischen Denkens stehen nicht mehr als absolut da, sondern finden den ih­nen zustehenden Platz in einem größeren Ganzen. Konkret heißt das: Ich darf alle Kritik, alle negativen Wahrheiten an Kirche und Gesellschaft, an Eltern und sogar am Lebenspartner und vor allem an mir selbst zulassen und trotzdem kann ich tief-religiös sein, Kirche und Ge­sellschaft, Eltern und Lebenspartner und mich selbst bejahen. Wer die Phase seines kriti­schen Denkens in einem positiven Sinn überwunden hat, wird richtungsweisend für die an­dern. Der Erfolg Castanedas ist sicher in dem weiterführenden, die kulturelle Krise überwin­denden Gehalt seiner Bücher begründet.

 

2.3. Der Zugang zur anderen Wirklichkeit

Der moderne Mensch findet zum kollektiven Unbewussten nur mühsam einen Zugang. Das ist deshalb so, weil er aus seinem vertrauten Denk- und Wertsystem aussteigen müsste. So geht es dem Wissenschaftler Carlos Castaneda. Don Juan gebraucht bei seinem Lehrling die „Pflanzen", weil dessen enge, filternde Wahrnehmungsstrukturen durchbrochen werden müssen. Es ist der schnelle mit Erschütterung und Schrecken verbundene Weg zur „anderen Wirklichkeit". Er wird gewissermaßen in die magische Welt hinein katapultiert. Don Juan er­klärte später, der Gebrauch von Pflanzen sei nur wegen der starren Einstellung nötig gewe­sen. Sie seien in keiner Weise der eigentliche Inhalt seiner Unterweisung. Wie bei Casta­neda so ist bei den meisten Menschen der westlichen Zivilisation das Tonal zum „Wärter" ei­nes Gefängnisses geworden. Das Tonal ist der Ausdruck Don Juans für das an die äußere Welt verhaftete Bewusstsein. Eigentlich sollte es Wächter und Hüter der inneren Geheim­nisse sein, aber der Mensch gebraucht es dazu, um seine tiefsten und wertvollsten Möglich­keiten der Freiheit, der inneren Kraft und des erfüllten Daseins abzuwürgen. Indem er aus­schließlich nur das für wirklich halt, was sich „objektiv" betrachten und einordnen lässt, schließt er neue Erfahrungen und andere Formen der Lebensgestaltung aus. Er ist für die andere Wirklichkeit untauglich geworden. Denn der Zugang zur neuen Welt liegt nicht auf der Ebene des aktiven, verstandesmäßigen Durchdringens und Begreifens, sondern im Bereich des Sichdurchdringen- und Sichergreifenlassens. Es ist ein zwischen Aktiv und Passiv lie­gendes, mediales Tun. Einerseits muss das alte Ich-Gehäuse aufgebrochen werden. Dazu gehört, dass einer aus der Fassung gerät und das Erlebte zunächst nicht einordnen kann. Dieser Vorgang wird von Castaneda als gewaltige Erschütterung bei den verschiedenen Zu­ständen der nicht alltäglichen Wirklichkeit erlebt. Der Weg in die innere Welt erfordert nicht, dass man dem realitätsgerechten, kritischen Denken abschwören muss, sondern nur, dass man dessen Grenzen eingesteht. Keineswegs darf man sich blind den inneren Kräften über­lassen. Auch das gehört zu den wesentlichsten Stücken der Unterweisungen des Zauberers.

Wenn der gewohnte Bewusstseinsrahmen zusammenbricht, entsteht Orientierungslosigkeit und Angst. Es ist die Urangst vor dem Verlust des Bewusstseins. Zu Recht nennt der Schü­ler des alten Zauberers die Furcht den größten Feind, den er nach vier Jahren Lehrzeit noch nicht besiegt hat. Der Angst, die den Zugang zum Unbewussten begleitet, geht eine dramati­sche Spannung voraus.

Es bedarf eines existentiellen Stresses, damit sich ein Mensch einer neuen Erfahrung aus­setzt und den dann beschrittenen Weg weitergeht. Unter existenziellem Stress ist die span­nungsgeladene Lebenssituation eines Menschen zu verstehen. Die eigene Anstrengung, die für den Erwerb eines höheren Bewusstseins unabdingbar ist, besteht darin, dem Konflikt nicht auszuweichen. Die beliebtesten Ausweichmanöver sind oberflächliche Bedürfnisbefrie­digungen und Verlagerung alles Bedrückenden nach draußen. „Die Umstände, die Gesell­schaft, die Obrigkeit, der Lebenspartner müssten sich ändern, dann ginge es mir besser". Leicht wird vergessen, dass der Konflikt nicht bereinigt wird, wenn er nicht in einem selbst gelöst wird. Erst dann hat der Konflikt seinen vollen Sinn erfüllt, nämlich die Verwandlung des Menschen. Die Bezeichnung „Krieger" für einen, der sich auf den Weg des Wissens macht, ist deshalb nicht zufällig. Sie sagt aus, dass ein Mensch sich den Konflikten stellt, sie austrägt und daran größer und stärker wird. Don Juan spricht von der Makellosigkeit, von der ernsthaften Absicht und dem unbeugsamen Willen des Kriegers. Es geht nicht, dass einer auf diesem Weg etwas mit halbem Herzen tut. Er setzt alles auf eine Karte - selbst mit dem Risiko des eigenen Untergangs.

Die neue Bewusstseinsstruktur kann nicht Ergebnis rationalen, zweck-orientierten Denkens und Planens sein, sondern entsteht auf einer anderen Ebene menschlichen Erlebens und Verhaltens. Don Juan spricht von „Nicht-tun", „Abstellen des inneren Dialogs", „die Welt an­halten", „jemand anhalten". Nach seiner Auffassung sieht der gewöhnliche Mensch die Welt an sich nicht, sondern hat nur eine bestimmte Beschreibung von der Welt. Sie wird ihm an­erzogen und von ihm selbst durch den ständigen inneren Dialog aufrechterhalten. Es ist zweifellos wahr, dass unsere Wahrnehmung, unser Erleben und Verhalten nach festgeleg­ten, erworbenen Mustern abläuft. Wir sind innerlich durch unser Erbe und unsere Lebens­geschichte vorprogrammiert; jeder Mensch trägt ein „Skript" in sich. Das hat den Nachteil, dass ein wesentlicher Teil der Lebensmöglichkeiten versperrt ist.

Weil es unbequem und mit Angst verbunden ist, aus dem vorgegebenen, inneren Steue­rungssystem auszusteigen, baut der psychische Organismus Abwehrsysteme gegen tiefer­liegende Impulse auf. Don Juan sieht im gewöhnlichen Tun der Leute Schilde, mit denen sie sich gegen die unerklärlichen Kräfte wehren. Häufig ist es ein Intellektualisieren und Disku­tieren, ebenso kann es eine verkrampfte Arbeitswut sein.

Die bei Castaneda geläufige Form der Abwehr ist sein dauerndes Reden und Fragen. Es ist sein „Tun". Damit er davon los­kommt, ins "Nicht-tun" übersteigt, lässt ihn sein Lehrer verschiedene Übungen machen. "Nicht-tun" bedeutet nicht "Nichts-tun" im Sinne von untätig sein, sondern meint, dass der Lehrling die eingeschliffenen Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Verhaltensschemata aufgibt und sich dem Neuen und Überraschenden öffnet. In der gestellten Aufgabe kommt es auf den Ablauf an sich an. Im Tun als solchem liegt das Ergebnis. Anschauliche Beispiele dafür sind die schon erwähnte Platzsuche und der Umgang mit den Steinen.

Don Juan lässt eine Anzahl von Steinen, die er als „Strahlen" bezeichnet, einen Hügel hinab rollen. Castaneda muss sie unten auffangen. Die Arbeit erfordert höchste Konzentration, da es sehr schwer ist, den geworfenen Stein ständig im Auge zu behalten und ihn von anderen losgelösten zu unterscheiden. Aber gerade dadurch wächst die Beziehung zwischen dem Schüler und dem Stein. Er kann die wohltuende Wirkung der „Strahlen" in sich aufnehmen. Ähnliches lässt sich von der Aufgabe sagen, in der der Lehrling eine „wohltätige" Stelle su­chen muss. Dadurch, dass er sechs Stunden lang auf Bauch und Rücken liegend probiert, sich wälzt und schließlich durch die Anstrengung total erschöpft ist, wird eine neue Art der Empfindung in ihm hervorgerufen. Das leistungsorientierte Tagesbewusstsein wird gerade durch den Erschöpfungszustand unterlaufen und eine höhere Instanz übernimmt die Füh­rung. Hier zeigt sich ein Prinzip von Problemlösung, das dem westlichen Denken fremd, dem asiatischen sehr vertraut ist. Es ist das Grundprinzip des buddhistischen Koans. Ein Koan ist ein in sich widersprüchliches und unlösbares Rätsel, das Zen-Meister ihren Schülern aufer­legen. Daisetz Teitaro Suzuki beschreibt in einer Einführung zum Buddhismus ein solches Koan: „Ein alter Zen-Meister hielt seinen Stock vor einer Versammlung von Mönchen hoch und sagte: „Oh ihr Mönche, seht ihr dies hier? Wenn ihr es seht, was seht ihr dann? Würdet ihr sagen, es ist ein Stock? Tut ihr das, so seid ihr ganz gewöhnliche Menschen und habt kein Zen. Wenn ihr aber sagt, wir sehen keinen Stock, dann würde ich antworten: "Hier halte ich einen in der Hand, und wie könnt ihr diese Tatsache leugnen?"[10] Sehr häufig wird ange­führt, dass der Meister seine Schüller noch dazu mit dem Stock bedroht: "Wenn du sagst, dies ist ein Stock, werde ich dich schlagen; wenn du sagst, dies ist kein Stock, werde ich dich auch schlagen". Der Zen-Jünger gerät in eine ausweglose Sackgasse, bis er schließlich den Versuch einer logischen Lösung aufgibt, und das Tagesbewusstsein in ein übergegen­ständliches, die Gegensätze aufhebendes Bewusstsein umkippt.

Die Lösung ist nicht unlo­gisch, sondern eher überlogisch. Neurotische und existentielle Konflikte verlangen ein ähnli­ches Vorgehen. Sie sind das Koan des gewöhnlichen Menschen. Man muss sich dessen bewusst werden, dass auf der rein rationalen Ebene keine Lösungen möglich sind. Kein Be­rater kann genaue Richtlinien für gestörte Beziehungen verschreiben und mit keinem lo­gisch-stimmigen Beweis lassen sich Gefühle verändern. Kein Theologe kann in einer kon­kreten Situation eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage geben: Warum trifft mich die­ses Leid?

Lebensfragen müssen gelebt werden; indem man ihre ganze Last aushält und austrägt, die ganze Ausweglosigkeit auf sich nimmt und durchleidet, fällt einem unerwartet die Lösung wie ein Geschenk zu.

Allerdings kommt dazu eine Bedingung: „man muss überzeugt sein" schreibt Castaneda. Diese Überzeugung kann Ergebnis eines tiefen religiösen Glaubens sein oder ganz einfach aus dem Meister-Schüler-Verhältnis oder der therapeutischen Beziehung erwachsen. Alles kommt darauf an, im Nullpunkt existentieller Erfahrung sich nicht aufzugeben, dem Sog des Selbstmitleids und der Selbstauflösung standzuhalten. Dies ist eine immer wiederkehrende Grundthematik in den Büchern Castanedas; sie tritt jedes Mal deutlich hervor, wenn der Lehrling unmittelbar mit der anderen Wirklichkeit in Berührung kommt.

Eine andere wichtige Technik des Lernens im Sinne Don Juans ist das Träumen. Während im biblischen Denken und in der neuen analytischen Therapie die Trauminhalte als solche von Bedeutung sind und als königlicher Weg ins unbekannte Reich der Seele gelten, inte­ressiert sich Don Juan nur für das aktive Träumen. Das Traumgeschehen wird nicht mehr unbewussten Kräften überlassen, sondern der Träumer greift selbst ein. Er gestaltet selbst mit. Wenn als therapeutischer Grundsatz gilt, dass das Ausmaß in dem der Träumer selbst im Traum handelt, Aufschluss über die personale Integration oder Gespaltenheit gibt, dann ist leicht einzusehen, dass die von Don Juan gelehrte Art des Träumens „Kraft" verleiht, d. h. die personale Zentrierung fördert.

 

Einen weiten Raum in der Einführung Don Juans nimmt die Selbsterfahrung über den Körper ein. Es mutet zunächst recht fremdartig an, wenn es heißt: „Dein Körper weiß es!", „Dein Körper braucht die Angst". „Dein Körper will es". „Das Wissen ist in den Waden und Schul­tern gespeichert". Alles kommt darauf an, den Körper nicht zu schädigen und auf den Körper zu hören.

Dazu weiß Don Juan eine Menge Übungen, um seelisches Wohlbefinden über den Körper herzustellen. In allem, was er tut, ist der lebendige, reale Bezug von Körper und Geist zu spüren. In diesem Punkt berührt er moderne Richtungen der Psychosomatik, der Körper­dynamik und asiatischer Meditation.

Der Zugang zum kollektiven Unbewussten, zur anderen Wirklichkeit setzt eine ganzheitliche, sich hin- und aufgebende Einsatzbereitschaft voraus. Sie geht einher mit der Einsicht, dass das leistungsorientierte Tagesbewusstsein nur eine Seite der Wirklichkeit erfasst. Am Ende steht eine beglückende, überwältigende Wirkung, die alle bekannten Erfahrungen hinter sich lässt und die Mühen eines ganzen Lebens wert ist.

 

3.Der Weg des Kriegers

3.1Wer ist ein Krieger?

Das Wort „Krieger" im Sinne Don Juans hat nichts zu tun mit dem Heldentum der jüngsten deutschen Geschichte. Der Karl-May-Held Winnetou kann schon eher die Grundlage des Verstehens liefern. „Jäger" und „Krieger" zu sein entspricht dem Nomadendasein, wo der Mensch der Gunst oder Ungunst der Natur ausgeliefert war. Er trieb Jagd nicht als Freizeit­vergnügen, sondern musste von ihr leben. Die in der romantischen Indianerliteratur be­schriebenen Krieger lassen noch etwas ahnen, was Jäger und Krieger sein als Lebensweise bedeutet; es geht um die Ungesichertheit, Gefährlichkeit, andauernde Bedrohtheit einerseits und die Risikobereitschaft, unmittelbare Reaktionsfähigkeit, überlegtes und überlegenes Handeln andererseits.

Dem auf Sicherheit bedachten Bürger besagt der Begriff wenig. Vielmehr kann er nur Men­schen ansprechen, die auf der Suche nach einem tragbaren Konzept sind. Nur solche kön­nen sich auf den Weg des Kriegers begeben, denen die alte Ordnung mit ihren Sicherheiten zu eng geworden ist. Es ist sicher nicht abwegig zu sagen, dass der Mensch der industriellen Kultur wieder zu einer Art Nomadentum zurückkehrt, zumindest in vielen Aspekten seiner Lebensgestaltung. Einer davon ist die geistige und seelische Entwurzelung, das Heraus­wachsen und -fallen aus der Tradition (...) Menschen in Krisensituationen sind eher bereit, sich um eine neue Einstellung zu bemühen. Dagegen sind die, die dauernd vom Leben be­stätigt werden, für eine neue Erfahrung nicht aufnahmebereit.

Krieger sein, wie Don Juan ihn sieht, bedeutet den Lebensvollzug eines Menschen, der ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen hat. Aber dieses Ziel liegt nicht außerhalb seiner selbst, sondern in seinem eigenen Innern. Ein Jäger jagt das „Wissen" und „die Kraft". Die Kraft gibt ihm die Möglichkeit, die Grenzen seiner Reaktionsfähigkeit, seiner Wahrnehmung und seines Handelns zu überschreiten. Es handelt sich um die Erweiterung des Gesichtsfeldes im wört­lichen Sinn. Der Schüler Castaneda lernt, im Winkel von 180° den Horizont zu betrachten. Symbol für die Ausdehnung des Gesichtsfeldes und für die verbundene helle Wachheit ist die Krähe. Sie kann Hinweise geben für das Auffinden von Ruheplätzen. Sie hat die Erwäh­lung Castanedas angezeigt. Er selbst wird in einem Trancezustand in eine Krähe verwandelt, um deren Wachheit zu erlangen. Verwandlung, Entwicklung, Reifung ist das eigentliche Thema, wenn vom Weg des Kriegers die Rede ist.

 

Der Begriff der Entwicklung und Reifung ist im Sprachgebrauch der abendländischen Kultur fast ausschließlich dem Werdeprozess des Kindes und Jugendlichen vorbehalten. Wenn dieser ein bestimmtes kulturelles Niveau erreicht hat, wenn er in ein vorgegebenes Normen- und Wertesystem eingepasst ist, spricht man von „Reife". Es wird ihm ein „Reifezeugnis" ausgestellt. Für die meisten Bürger ist mit der Erreichung ihres Berufszieles auch die seeli­sche und geistige Entwicklung abgeschlossen. Sein weiteres Streben kreist nur noch um Sicherheit. Sie ist die Grundlage, auf der er seine Position ausbauen und sein Vermögen vergrößern kann. Es darf nichts dazwischenkommen. Gegen Unvorhergesehenes werden Versicherungen abgeschlossen. Wenn wirklich Krisen kommen, dann hofft man, sie zu über­stehen, und den alten Zustand wieder herzustellen. Was dabei herauskommt, ist aber eine Scheinsicherheit. Denn der so gesicherte Bürger vergisst, dass er sich gegen das Unvorher­gesehene, gegen das ‚was sich nie ereignen darf, nicht von außen abschirmen kann. Es gibt Grundbedingungen des Daseins, an denen kein Mensch vorbeikommt: das eigene Geworden sein, diese Eltern, diese Familie, dieser Mensch und diese Umgebung, die man nicht verändern kann, Krankheit, Alter, Tod. Der Tod begegnet einem, entweder dass man selbst von ihm bedroht ist oder dass geliebte Menschen bedroht sind. Eine Lebens­auffassung, die diese Dinge ausklammert, übersieht, dass sie eigentlich den Reichtum, das Wagnis und Abenteuer des Lebens ausmachen. Sie sind dem Menschen aufgegeben, damit er sich an ihnen wandelt. So ist zum Beispiel das Gelingen und Misslingen einer Beziehung wesentlich davon abhängig, inwieweit der andere jeweils als Anruf zur eigenen Reifung ver­standen wird. Wer von vorneherein ein Konzept hat, das die Wandlung mit einschließt, wird nicht von ausweglosen Situationen überrascht, sondern kann mit Sinneinbrüchen umgehen und aus ihnen Neues gestalten.

Die Thematik der Grundbedingungen taucht bei Castaneda auf, wenn von personifizierten Widerständen, als von Freunden, Verbündeten und Feinden gesprochen wird. Die Aufgabe des Kriegers ist es, den rechten Umgang mit ihnen zu lernen, um dann ein „Wissender" zu werden. Ein „Wissender" ist einer, der den Zugang zur anderen Wirklichkeit gefunden hat; er kann „sehen". „Sehen" meint in dieser Bedeutung, im Unterschied zu „Anschauen", das We­sen der Dinge, der Menschen und der Natur zu spüren. Es geschieht nicht so sehr mit den Augen als mit dem ganzen Körper. Man kann es auch als Ehrfurcht gebietendes Ergriffen­sein von den Dingen und Lebewesen rund um uns her bezeichnen. Der Lehrer Don Juans geht über das herkömmliche Ziel der Zauberer hinaus. Sein Ziel ist es, das Tonal - das ist die Vernunft, mit ihrem Zugang zur Welt - und das Naqual, - das ist jene, nicht in Worten zu fas­sende andere Wirklichkeit, das Irrationale und Transzendente - in seinem Schüler zu vereini­gen und die Ganzheit des Selbst zu erreichen. Im Mittelpunkt steht das Wachstum der Per­sönlichkeit über sich hinaus, ein dauernder Gewinn an Selbstvertrauen und innerer Stärke. Der Marsch zu diesem Ziel ist nicht eine Sache, die man nebenher als Begleiterscheinung seines sonstigen Tuns erledigen kann, etwa wie man eine Religion ausübt oder Kunstgegen­stände sammelt, sondern ist so todernst wie ein Krieg. „Ein Mann macht sich auf zum Wis­sen, wie er sich zum Krieg aufmacht, hellwach, voller Furcht und Achtung und absoluter Zu­versicht. Wer sich auf andere Weise zum Wissen oder zum Krieg aufmacht, begeht einen Fehler, und wer immer ihn macht, wird seine Schritte ewig bereuen".[11]

Die Metapher des Krieges besagt den totalen Anspruch an einen Menschen, der diesen Weg gehen will. Wenn er in den Krieg zieht, muss er damit rechnen, dass er getötet wird. Diese reale Möglichkeit baut er nüchtern in seine Überlegungen mit ein. Ein Krieger handelt strate­gisch, weil er immer in einer dramatischen Spannung seinen Feinden ausgesetzt ist. Mit an­deren Worten: Wer als Krieger lebt, der durchschaut das alltägliche Leben auf einen tieferen Sinngehalt. Er weiß um die Bedeutung, die Ereignisse, Begegnungen, tägliche Mühen für seine Entwicklung haben, und zieht daraus die Konsequenzen. Er lebt bewusst, er weiß, was er tut, und warum er es tut, während der gewöhnliche Mensch nichts ahnt von dem, was er ist, warum er so ist und wozu und weshalb er etwas tut. Ein Krieger muss hellwach sein! Dieses Gebot hebt ihn über das Niveau des unbewusst lebenden, mittelmäßigen Menschen hinaus.

Auf der Grundlage dieser Einstellung ist es folgerichtig, dass ein Krieger die Welt als Her­ausforderung ansieht. Das Gesetz des Handelns liegt nicht mehr draußen, sondern wird vom Krieger bestimmt. Das Leben als Herausforderung anzunehmen setzt außergewöhnliche Überlegenheit und festen Rückhalt voraus. Man muss um größere Zusammenhänge wissen und die Kraft haben, die eigene Lösung durchzusetzen. In der Sprache Don Juans heißt es: Ein Krieger hat einen Verbündeten. Ohne dessen Hilfe, ist es nicht möglich, die erstaunli­chen Taten eines Kriegers zu vollbringen. Ein Verbündeter ist eine „Macht, die einen Mann über eigene Grenzen hinaustragen konnte"[12]. Deshalb umfasst die Begegnung mit dem Ver­bündeten einen wesentlichen Teil der Lehrzeit Castanedas. Es gilt diesem Wesen, das ei­nem Unvorbereiteten gefährlich wird, die Kraft zu entreißen.

Im Grunde ist es eine symboli­sche Bezeichnung für die Auseinandersetzung mit der eigenen unbekannten Persönlichkeit. Dieser Teil von einem selbst wird in den entscheidendsten Situationen entweder gefährlich oder hilfreich sein, je nachdem ob wir seine Begegnung gesucht haben oder nicht. Nur das Wissen um die andere Seite von uns selbst und deren ungeahnte Möglichkeiten erlaubt es, sich auf das Abenteuer Mensch einzulassen. Castaneda bezeichnet den „Verbündeten" als gestaltlose Erlebnisqualität. Er kann aber in verschiedenen Gestalten repräsentiert sein, z. B. in vier Indianern, in einem Kojoten, einem Bauern. Wie der Verbündete, so sind auch die „vier Feinde" innen: die Furcht, die Klarheit, die Macht und das Alter. Die Aufgabe des Krie­gers besteht darin, fortwährend seine Grenzen zu überschreiten. Am meisten hindert ihn da­ran die Furcht. Wer mit neuen, ungewohnten Situationen konfrontiert ist, erlebt sich als orientierungslos; er kann nicht auf alte, bewährte Verhaltensweisen zurückgreifen. Das löst Angst aus. Angst provoziert zugleich neue Kräfte; so ist sie einerseits Feind, andererseits auch Helfer. Die Überwindung der Angst kann deshalb nur bedeuten, ihren lähmenden Charakter zu durchbrechen. Die ständige Berührung mit der Angst wirkt stimulierend für den weiteren Fortschritt. Don Juan sagt: „Dein Körper braucht die Angst". „Angst schadet nie­mand". Wer meint, er hätte die Angst endgültig überwunden und brauche sich nicht mehr mit ihr auseinanderzusetzen, macht sie zum immerwährenden verborgenen Feind. Ein Mensch, der es gelernt hat, mit der Angst umzugehen, gewinnt Klarheit der Gedanken. Er versteht es, sicher und kühl seine Entscheidungen zu treffen. Doch die Klarheit kann wieder zum Feind werden, wenn er aufhört, sich selbst anzuzweifeln. Ebenso verhält es sich mit der Macht. Es ist jene Qualität des Handelns und Erlebens, die sich als innere Stärke und Überlegenheit zeigt. Einer, der Macht hat, kann die Kraft des Verbündeten einsetzen, wann und wo er will. Konkret heißt das: einer, der über Macht verfügt, wird sich nie in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren lassen und wenn sie tatsächlich so erscheint, kann er immer noch auf ei­nen Schatz von irrationalen Kräften zurückgreifen, die ihm sein Überleben sichern. Don Juan selbst liefert Beispiele, wie Macht ausgeübt werden kann. Ihm gelingt es, seinen Schüler bei der ersten Begegnung auf nichterklärbare Weise zu faszinieren; er wird nie verlegen, wenn er mit seinem kritischen Lehrling in ein Streitgespräch verwickelt ist, er kann sogar eine Berglöwin mit seinem „Willen" abwehren. Mit „Wille" ist eine autonome, im Bauch-Becken­raum sitzende Kraft gemeint, die ein Zauberer nach längerem Training auf ein bestimmtes Ziel, auf einen Menschen oder Tier lenken kann. Die Wirkung besteht in einer Art Betäubung des anderen für einige Augenblicke. Castaneda beschreibt mehrere solcher Erlebnisse. Man kann vermuten, dass hier eine Art Kriegslist der Indianer angesprochen ist. Im Grunde han­delt es sich um die Beeinflussung eines anderen auf irrationalem Weg. Don Juan gebraucht die Macht nur, um einen Schüler zu gewinnen und ihm weiterzuhelfen. Andererseits versagt sie, als er seinen Enkel Lucia zum Einnehmen von Peyote überreden will.

Es ist leicht einzusehen, dass einer mit solchen geheimen Kräften anderen schaden kann. Damit ist aber die Macht für ihn selbst zum Feind geworden. Dass Macht verführt, dass Macht ein furchtloser, klar berechnender, mit irrationalen Kräften ausgestatteter Mann ihr er­liegen kann, dafür liefert die Geschichte genügend Beispiele.

Was der Lehrer Castanedas richtig sieht, ist dies: jede erreichte Reifungsstufe kann dem Menschen zum Feind werden, wenn er sich mit ihr zufrieden gibt und sich neuen Erfahrun­gen verschließt. Dias trifft immer dann ein, wenn ein Mensch meint, er hätte eine letzte, end­gültige Erklärung der Welt und ihrer Abläufe gefunden.

Eine alte Mahnung buddhistischer Meister lautet:

„Triffst du Buddha unterwegs, dann töte ihn!" Zum anderen mahnt die Parabel von den vier Feinden: die psychische und geistige Entwicklung kann, ohne dass es einer wahrnimmt, in einen maßlosen Egoismus führen.

Der vierte Feind ist das Alter. Er ist der grausamste von allen. Ihn wird ein Lernender nie besiegen, er wird ihn nur bekämpfen können. Er darf sich nicht dem Verlangen nach Müdigkeit und Ruhe überlassen. Die Unfähigkeit wird ihn sehr bald gebrechlich und hilflos machen. Die Kräfte der Transzendenz können den Abbau und Verfall des Körpers und Geistes wesentlich aufhalten. Ein Wissender spürt auch den Sieg über diesen Feind, wenn auch nur für Augenblicke. Es ist tatsächlich möglich, dass das Durchströmen der Energie ein Gefühl der Stärke verleiht und auch den gesamten Körper re­aktiviert. Don Juan zeigt es an sich selbst, wie das Alter sinnvoll und lebendig gestaltet wer­den kann. Nicht nur seine geistige Beweglichkeit, Treffsicherheit und Überlegenheit beein­drucken Castaneda, sondern auch dessen außergewöhnliche körperliche Leistungsfähigkeit. Er kann beim Wandern und Laufen in der Wildnis mit dem vierzig Jahre älteren Mann nicht einmal Schritt halten.

Die Bewältigung des Alters ist in der Lebensauffassung des Kriegers eigentlich als selbst­verständlich mit eingeschlossen. Denn diese besagt ja eine ununterbrochene Höherentwick­lung der Persönlichkeit über die von außen auferlegten Bedingungen hinaus. Der gewöhnli­che Mensch, der seinen Sinn nur darin sieht, „zu säen" und „zu ernten", wird dem Alter, wo er das nicht mehr kann, schwerlich Erfüllung abringen können. Das Gefühl, nutzlos zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden, ist ein Faktor, der das Leben verdüstert und auch verkürzt. Dagegen lassen ein Leben lang trainierte geistige Wachheit, Lernbereitschaft, Offenheit für die transzendenten Kräfte diese Stimmung gar nicht erst aufkommen.

Wenn man die Metapher des Kriegers in unsere Sprache überträgt, lässt sich dieser folgen­dermaßen bestimmen: Ein Krieger ist ein Mensch mit einem dynamischen Lebenskonzept. Er stellt sich bewusst den Widerständen des Daseins und antwortet ihnen mit seiner ganzen Existenz. Er weiß um ein klares und festes Ziel, das jenseits der Bedingungen der alltägli­chen Wirklichkeit liegt. Es besteht in einer ständigen Erneuerung und Entwicklung der Per­sönlichkeit und in einer Lebenserhöhung, die ihm aus der Erfahrung von Transzendenz zu­kommt.

 

3.2Die Eigenschaften des Kriegers

3.2.1Die Makellosigkeit des Kriegers:

„Makellos handeln heißt, sein Bestes tun, ganz egal, was du tust"[13]. Ein Krieger ist dann ma­kellos, wenn er alle seine Kräfte, seinen Verstand und seinen Willen und seine Gefühle auf das Ziel hin ordnet. Er vermeidet es, unüberlegt und unstrategisch vorzugehen, sich der ei­genen Schwäche zu überlassen oder unnötig sich eine Blöße zu geben. Ein Krieger ist für die Umwelt wohldosiert erreichbar oder unerreichbar. Er weiß, wann er sich den Erwartun­gen anderer stellen darf und wann nicht. Er versteht es, sich rechtzeitig zurückzuziehen, um selbst nicht ausgepresst zu werden und auch um andere nicht auszupressen. Don Juan sagt Castaneda auf den Kopf zu, dass seine Beziehung mit einem Mädchen darum misslang, weil sie beide füreinander immer erreichbar waren, das heißt, dass jeder immerwährend unter dem Anspruch des andern stand und jeder einen ununterbrochenen Anspruch an den an­dern richtete.

Zur makellosen Tat gehört es, die volle Verantwortung dafür zu übernehmen, auch wenn eine Entscheidung sich zunächst als nicht günstig erweist. Don Juan erzählt die Geschichte von einem jungen Mann, der die Wahl hatte zwischen einem magischen Reh und den Kale­bassen. Er hatte sich für diese entschieden, in der Meinung, darin sei ein Schatz verborgen. Als er feststellte, dass darin nur Essen war, zerschmetterte er sie aus Wut. Sich dem Ärger und der Reue über sich selbst hinzugeben, ist das Gegenteil von Verantwortung. Don Juan meint, er hätte die Kalebassen genommen, weil auch das Essen Kraft enthalte. Darauf komme es schließlich an. Ebenso weist der Lehrer Castaneda darauf hin, dass es keinen Sinn habe, sich über seinen Vater zu beklagen. Er sei schließlich alt genug, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Don Juan spricht eine enorm wichtige Wahrheit an: es ist im­mer die eigene Verbitterung, Verstimmung und Angst, wenn wir uns über andere beklagen. Die Überlegungen, die im Zustand einer depressiven Verfassung und üblen Laune angestellt werden, enden fast in jedem Fall damit, dass man irgend einen Schuldigen sucht: das kann sein der Vater, die Mutter, Ehefrau, Kirche, Schule, Vorgesetzte, Gesellschaft.

Im Grunde wird Verantwortung delegiert. Es sind sehr wenige, die auf die Idee kommen: wenn ich schon an den Verhältnissen nichts ändern kann, so doch wenigstens an meiner Stimmung. Ich kann sehr viel tun, damit ich meine Verdrossenheit und meinen Ärger ab­bauen kann. Dazu kommt noch, dass einer, der frei ist von Aggressivität, durch kleine Schritte bei seinen Mitmenschen und bei der Obrigkeit mehr erreicht, als einer, der verbittert alles und jedes anklagt.

Der makellose Krieger sieht im Hinnehmen einer momentanen Situation zugleich eine Waffe. Im Nicht-tun sammelt er die Kraft, mit der er neue Taten vollbringen kann. Es geht um die Kunst, die Sache von der anderen Seite her zu sehen. Watzlawick hat dafür den Ausdruck geprägt: Umdeutung einer Situation. Als Beispiel dieser Kunst führt er in seinem Buch „Lö­sungen" den Film „Karneval in Flandern" an. Einer vom spanischen Heer bedrohten Stadt gelingt es, die Lage durch eine List so zu verändern, dass die möglichen Plünderer und Ge­walttäter die Beschützer der Stadt werden.

Das Motiv für die Makellosigkeit findet Don Juan in der Vergänglichkeit des Menschen. Ge­rade weil die Zeit des Menschen begrenzt ist, darf er sich nicht einem Tun hingeben, das ihn nicht weiterbringt auf seinem Weg. Ein Krieger darf seine Zeit nicht vergeuden, sondern seine Handlungen müssen so präzise sein, als ob sie die letzte Schlacht auf Erden wären.

Deshalb muss ein Krieger hellwach sein, um seine Stimmung zu kontrollieren und sofort ver­suchen, sie zu verändern. Don Juan reißt seinen Schüler von einem Ruheplatz weg, als er merkt, wie in ihm Zorn und Ärger die Oberhand gewinnen. Für Don Juan liegt der Ansatz­punkt der Veränderung im Menschen selbst. Dieser muss lernen, sein Tonal zu ordnen und die Übereinstimmung mit sich selbst und dem Kosmos zu finden.

 

3.2.2Die Demut des Kriegers:

Don Juan unterscheidet zwischen der Demut eines Bettlers und der eines Kriegers. Ein Bettler beugt sein Haupt vor jedem, um etwas zu erhalten, möchte aber, dass andere vor ihm sich beugen. Ein Krieger dagegen beugt sein Haupt vor niemand und will aber nicht, dass jemand sein Haupt vor ihm beugt. Darin ist zugleich echter Stolz, Ehrfurcht und Selbstver­trauen mit eingeschlossen. Don Juan erklärt ausdrücklich, er möchte kein Guru sein, dem man Verehrung darbringt.

Die Ehrfurcht vor den wunderbaren und geheimnisvollen Dingen, mit denen er umgeht, mit den Pflanzen, den Nächten und den Menschen gebietet es, selbst klein zu bleiben. Der Zau­berer weiß darum, dass er das Entscheidendste in seinem Schüler nicht selbst bewirkt, son­dern er kann nur auf die Begegnung mit den Kräften vorbereiten und hinführen. Er ist sich der Abhängigkeit von den transzendenten Mächten immer bewusst. Zur Kunst des Kriegers gehört deshalb von vorneherein die Achtung vor dieser Welt. Die Harmonie mit ihr macht ihn sicher, gibt ihm Halt und Orientierung und verleiht ihm einen berechtigten Stolz.

 

3.3Wie wird man ein Krieger?

3.3.1Keine willkürliche Entscheidung

Die Entscheidung, ein Krieger zu werden, ist nicht der freien Verfügung des einzelnen über­lassen. Vielmehr hängt sie von den „Kräften, die uns leiten" ab. Es bedarf eines Aufgerufen-, Betroffen- und Hingezogenseins. Man könnte von einer notwendigen Initialzündung spre­chen. Eine solche ereignete sich bei Castaneda, als er zum ersten Mal Don Juan begegnete. Dessen Bick hatte ihn fasziniert. Er empfand eine eigenartige Leere oder Betäubung. Damit hatte sein Meister ihn eingefangen; aber dies geschah nur auf ein Omen hin, ein Hinweis, den Don Juan für seinen Schüler wahrnahm.

Der Zauberer schreibt die Erwählung des Schülers nicht seinem eigenen Einfühlungsvermö­gen zu, sondern der Kraft. Es bleibt offen, warum es Don Juan, einem „Wissenden", nicht gelang, seinen Enkel Lucio zu überzeugen, in die Geheimlehre eingewiesen zu werden und warum er überhaupt einen Versuch machte.

 

Bei der „Erwählung" Castanedas lässt sich auch ein Prozess beobachten. Das erste Zusammentreffen mit dem Meister hat in ihm eine innere Bewegung ausgelöst. Sie ist so neu, unerwartet und tiefgehend, dass er sie nicht mehr ver­gessen kann. Er wird von „diesem Blick regelrecht angezogen und beschließt, ihn zu su­chen". Das weitere Zusammensein mit dem alten Indianer verstrickt ihn immer mehr in die Beziehung; bald steigt in ihm mächtige Angst auf, als ihm aufgeht, wohin er geraten war und dass er nicht mehr zurück kann. Das einschneidendste Erlebnis ist das Einnehmen der Peyote-Wurzeln, die „Begegnung mit Mescalito". Dieser fällt die Entscheidung. Mit den Wor­ten „Mescalito hat dich angenommen. Mescalito mag dich", deutet ihm sein Meister die Zu­stände der nicht alltäglichen Wirklichkeit. Wie lässt sich dieser Vorgang verstehen? Das un­vermittelte Aufdecken des Unbewussten ist zunächst mit einem großen Schrecken verbun­den. Castaneda wird in seinem „innersten Sein" erschüttert. Zugleich erlebt er eine Erhaben­heit und Seligkeit, für die es kaum Parallelen gibt. Er habe, so schreibt er, die ganze Welt in ihrer Schönheit gesehen. Von diesem Einbruch der anderen Wirklichkeit kann sich der Schüler nicht mehr lösen. Die Faszination ist so stark, dass seine Vernunft nicht mehr dage­gen ankann. Der Körper sei es, der das fade und öde Leben bei den Freunden in Los Angeles ablehne und zu Don Juan zurück wolle. Die Entscheidung sei nur das Wahrnehmen und Zulassen dessen, was in einem schon da ist. So lautet die Erklärung Don Juans. Man könnte dagegen einwenden: Wird nicht hier der Lehrling manipuliert und seiner Identität be­raubt? Kann man noch von einer freien Entscheidung sprechen, wenn die irrationalen Kräfte so bestimmend werden? Ist hier Castaneda dem Sog des Unbewussten erlegen oder hat er erst zu seiner eigenen Freiheit, zu einem erfüllten Leben, zu seiner eigensten Identität ge­funden?

 

Will man den Weg des Kriegers als den der inneren Wandlung verstehen, kann einmal eines festgehalten werden: Der Aufbruch dazu ist nicht unmittelbar vom freien Willen des einzelnen abhängig.

Er kann weder von einer Autorität befohlen, noch wie eine politische oder weltanschauliche Doktrin übernommen werden. Der einzelne wird gesehen und vor Manipulation bewahrt wer­den. Gefährlich sind auch Massenbegeisterungen, weil sie eine differenzierte Betrachtung der je eigenen Lebenssituation vermissen lassen und nur eine modische Kollektivlösung an­bieten.

Der Anstoß für eine ganzheitliche Neugestaltung des eigenen Lebenskonzepts setzt eine sensible Phase voraus, das heißt einen Abschnitt in der Lebensgeschichte, wo Altes und Gewohntes nicht mehr trägt und eine Neuorientierung erforderlich ist. Der damit einher­gehende Leidensdruck liefert die notwendige Motivation; denn die innere Umstellung ist so total, dass alle verfügbaren Kräfte erforderlich sind. Die Lösung einer Lebenskrise liegt in ei­ner Art Bewusstseinssprung. Sie kann nur durch angestrengtes eigenes Bemühen, hohe Sensibilität für die eigenen Motivationen und Bedürfnisse und die der andern erreicht wer­den. Dazu kommt die Bereitschaft für die individuelle Erfahrung, die absondert und zum Ge­heimnis wird. Adolf Heimler schreibt über den Umkehrprozess: „Die wesentlichste Bedingung für einen qualitativen Bewusstseinssprung ist demnach, dass man als Betroffener die exis­tentiellen Konfliktspannungen identifiziert, (sich fragt: Was ist es eigentlich, was mich dau­ernd so quält? Der versagte Wunsch nach Anerkennung, Nähe und Geborgenheit oder was sonst?), sie möglichst aushält und durchhält und nicht vorzeitig auf eine vordergründige Bedürfnisbefriedigung ausweicht". [14]

 

3.3.2Die persönliche Geschichte löschen

Was der Psychotherapeut Adolf Heimler als „qualitativen Bewusstseinssprung" bezeichnet, kommt annäherungsweise dem nahe, was Don Juan mit „den inneren Dialog abstellen", „die Welt oder einen Menschen anhalten" bezeichnet. Gemeint ist eine neue Art zu erleben, zu denken, zu handeln und zu sein. Im Einzelnen kann sich das so äußern: die drückende Lustlosigkeit am Dasein ist einem inneren Elan gewichen. Die früheren unbegründeten Ängste existieren nicht mehr, ebenso sind Unsicherheiten in den Beziehungen geschwun­den. Man fühlt sich von neuen Lebenskräften durchströmt und wie neugeboren. Castaneda beschreibt mehrfach solche Wende- und Höhepunkte seiner Lehrzeit: Immer dann, wenn es ihm gelingt, den inneren Dialog abzustellen, wird er von tiefem Frieden, unsagbarer Freude und beglückender Stille erfüllt. Es sind Erfahrungen, die er alleine macht und die nur ihm ge­hören.

 

Es taucht deshalb die Frage auf: Führt der „Weg mit Herz" in eine ausschließende Einsam­keit, die zwar erfüllt und zufriedenstellt, aber keine Beziehungen zulässt? Können wir den Weg mit Herz auf unsere Verhältnisse so modifizieren, dass das Grundanliegen gewahrt bleibt, aber es doch für uns lebbar wird?

Der Auftrag des Don Juan an Castaneda lautet: Du musst deine persönliche Geschichte löschen! „Nach und nach musst du einen Nebel um dich her schaffen, du musst alles um dich her auslöschen, bis nichts mehr als erwiesen, als sicher oder wirklich gelten kann".[15] Das heißt aber doch persönliche Beziehungen, sogar die ganze bisherige Umwelt aufgeben. Der Meister begründet diese Forderung damit, dass sein Schüler mit dem, was er tut, immerfort die Vorstellungen anderer über ihn nährt und aufrechterhält. ‚Er sei deshalb ein Zuhälter, weil er nicht seine eigenen Kämpfe, sondern die anderer ausfechte.

„Du musst deine persönliche Geschichte bestätigen, indem du deinen Eltern, deinen Ver­wandten und deinen Freunden alles, was du tust, erzählst. Wenn du dagegen keine persön­liche Geschichte hast, sind keine Erklärungen notwendig; niemand ist über deine Handlun­gen böse oder enttäuscht. Und vor allem kann dich niemand mit seinen Gedanken fest­legen". [16]

Don Juan spricht hier eine wichtige soziologische Wahrheit aus: das konkrete Verhalten des Menschen wird wesentlich von der Erwartung seiner Umwelt bestimmt. Jeder Mensch hat eine Position in der Gesellschaft und füllt eine bestimmte Rolle aus. Position und Rolle er­leichtern einerseits das Zusammenleben, weil sie das Verhalten vorstrukturieren, aber sie pressen den Träger auch in ein bestimmtes Schema. Er darf nicht „aus der Rolle fallen". Wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch einen inneren Kern hat, der zur Entfaltung kommen will und je einmalig ist, so ist leicht zu verstehen, dass ein festgefügtes System von Beziehungen und Erwartungen den Menschen sich selbst entfremdet. Darin ist sicher eine der Ursachen für das Unbehagen so vieler Menschen in der Gesellschaft zu suchen.

Immer wieder wird die Frage akut: Bin ich wirklich ich selbst oder habe ich seit meiner Kind­heit nur die Vorstellungen des Vaters oder der Mutter, des Ehepartners oder einfach der Leute, d. h. eines gerade in Mode seienden Ideals, erfüllt?

Was heißt nun: seine persönliche Geschichte löschen? Wenn ich wirklich bis zu dem Punkt vorstoßen will, wo ich mir ganz selbst gehöre, bleibt es mir nicht erspart, ein Stück des Weges ganz allein zu gehen oder zumindest in der Zweierbeziehung einer psychotherapeu­tischen Behandlung.

Die radikale Einsamkeit des Don Juan darf auch nicht zu wörtlich genommen werden, so als ob er keine Beziehung mehr zu seinen Bekannten oder Freunden gehabt hätte. Man muss sie eher als inneres Entferntsein sehen.

Aber ist es damit getan, dass ich Beziehungen abbreche, aus der Gesellschaft aussteige oder deren Herausforderung gar nicht annehmen will?

Niemand wird nur deshalb neu, weil er seine alten Freunde aufgibt oder in eine andere Stadt zieht und eine alternative Lebensweise annimmt. Er kann seine persönliche Geschichte nicht so leicht vergessen. Das augenblickliche Handeln ist ja zum großen Teil eine Wiederholung der in der frühen Kindheit erworbenen Verhaltens- und Erlebnismuster. Man kann den Prä­gungen der frühen Kindheit nicht dadurch entkommen, indem man seine Umgebung wech­selt. Die alten Beziehungsmuster werden immer wieder einrasten. Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein.

In der Psychoanalyse spricht man von Übertragung. „Sie ist dann gegeben, wenn unverar­beitete affektive Einstellungen zu Schlüsselfiguren der autogenetischen Frühzeit nach dem Prinzip der Ähnlichkeit auf Personen der gegenwärtigen Situation übertragen werden".[17]

Don Juan spricht von der Routine des Lebens. Dahinter steht nicht nur der durch die Uhr ge­ordnete Ablauf des Tages, sondern eine Einstellung, welche die Routinierung von bestimm­ten Gedanken- und Gefühlsprozessen nicht mehr sieht, nicht mehr hinterfragt, sondern sie als letzte unumstößliche Weisheit ausgibt.

„Die persönliche Geschichte löschen" kann so verstanden werden, dass im Prozess der Verwandlung ihr einengender, zwanghafter Charakter abgebaut wird, dass die Beziehungs­muster der ersten Lebensjahre eingeschmolzen werden zugunsten einer kreativen Lebens­echtheit. Dies ermöglicht erst echte und intensive Beziehungen. Innere Entwicklung verlangt, ein Stück des Weges allein zu gehen, muss aber nicht in der Isolierung enden, sie schafft im Gegenteil die volle Zuwendung zu den Menschen. Dies ist eine für uns praktizierbare Mög­lichkeit der Selbstwerdung.

Was ist nun mit der radikalen Loslösung, der sich Don Juan und Genaro unterwerfen? Castaneda beschreibt in „Reise nach Ixtlan" die Tragik dieser Männer. Der Abschied von den Freunden und Verwandten fällt auch ihnen nicht leicht, aber sie müssen den Weg auf Grund einer inneren Notwendigkeit weitergehen.

Die Erfahrung von Transzendenz ist so einmalig und intensiv, dass ein davon Ergriffener in eine andere Welt hineingerissen wird. Niemand kann ihm folgen. Das je Einmalige, Individu­elle trennt. Es geht um die Spitze menschlicher Größe, die in sich selbst ihren Wert hat. Kei­neswegs heißt diese Form menschlicher Existenz, dass einer außerhalb der Menschheit und der Welt steht. Berechtigte Gründe sprechen für eine tiefere, nicht alltägliche Verbundenheit. Nicht zuletzt die beiden Gestalten aus dem magischen Reich beweisen immer wieder ihre Nähe zu neuen Freunden. Das totale Loslösen setzt aber voraus, dass man vorher etwas hatte, was man aufgibt. „Ein Mensch muss Leidenschaft haben, um ein Zauberer zu sein. Ein leidenschaftlicher Mensch hat irdische Habe und Dinge, die ihm lieb sind - und sei es nichts als der Weg".[18]

Es gibt verschiedene Grade und Aspekte, wenn man vom Löschen der persönlichen Ge­schichte spricht. Es gibt ein äußeres Sich-lossagen von bestimmten Rollen und es gibt ein inneres Verarbeiten von eingeprägten Verhaltens- und Erlebnismustern. Weiter ist zu be­achten, dass das Sich-lossagen eine Verbundenheit und Verwurzelung voraussetzt. Erst der leidvolle Abschied ist fruchtbar. Wann und in welchem Ausmaß dieser notwendig ist, hängt von der Lebensgeschichte des einzelnen und dessen Sensibilität ab.

 

3.4Der Kampf mit dem würdigen Gegner.

Eine der wichtigsten Aufgaben, die Castaneda zu lösen hat, ist der Kampf mit dem würdigen Gegner. Durch einen Trick, der offensichtlich zu den Einführungsriten gehört, gelingt es Don Juan, seinen Lehrling mit Catalina, einer Zauberin, zu konfrontieren und deren Gegnerschaft herauszufordern. Der Meister hatte seinem Schüller beteuert, dass er von einer bestimmten Person bedroht werde und er erwarte seine Hilfe. Der alte Indianer hatte seine Rolle so echt gespielt, dass Castaneda auf seine List hereinfiel. Er habe es deshalb getan, einmal weil es zur Regel der Zauberer gehöre und weil sein Schüler einen würdigen Gegner brauche. Erst dadurch sei er gezwungen, all die Dinge anzuwenden, die er ihn gelehrt habe. Im fünften Buch „Der zweite Ring der Kraft" sind es vier Frauen, mit denen der Zauberlehrling einen tödlichen Kampf auszufechten hat. Da ist einmal die eigenartige Geschichte von Dona Sole­dad. Diese Frau hatte Castaneda von früher her als alte Indianerin und Mutter von Pablito und Nestor und ihrer vier Schwestern gekannt und wollte ihrem Haus einen kurzen Besuch abstatten. Zu seiner Überraschung hatte sie sich in eine junge Frau verwandelt, die recht eindeutige Absichten mit ihm hat. Fast zu spät hatte er bemerkt, dass sie ihm eine Falle ge­stellt hat. Nur das Hervortreten seiner zweiten Persönlichkeit, seines „Doppelgängers" rettet ihn vor dem sicheren Tod. Das merkwürdige Abenteuer endet mit der Niederlage der Zaube­rin und mit der Befähigung des Lehrlings zu neuen Taten. Als nächstes folgt der Kampf mit den drei Schwestern, den er ebenso siegreich besteht. Nach einer letzten, furchterregenden Begegnung mit den vier Verbündeten, - es sind die von Don Juan und Don Genaro - wird er als Meister anerkannt. Der Kampf mit dem würdigen Gegner wird in den Erzählungen über Catalina nur angedeutet, dagegen erst in den Abenteuern mit Dona Soledad und den drei Schwestern ausführlich beschrieben.

Wenn man die Geschichten in ihrem symbolischen Gehalt betrachtet, so lässt sich darin unschwer die Auseinandersetzung mit der lebens­bedrohenden, negativen Seite der Animafigur erkennen. Nach Marie-Luise von Franzen „verkörpert die Anima alle weiblichen Seeleneigenschaften im Manne, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, persönliche Liebesfähigkeit, Natursinn und als wichtigstes die Beziehung zum Unbewussten".[19] In der Anima-Figur des Mannes, ebenso in der Animus-Figur der Frau, tritt das Unbewusste personifiziert auf. Inhaltlich wird dieser Er­lebnisfaktor von den Erfahrungen des Mannes mit seiner Mutter, von der Erbmasse und von den kulturellen Kollektivvorstellungen über die Rolle und das Wesen der Frau bestimmt. Da die Anima-Figur die Führerin zur Tiefe der Seele ist und das Unbewusste repräsentiert, ist die Konfrontation mit ihr und ihre Annahme unerlässliche Bedingung für die seelische Ganz­heit. Das Problem der Anima bzw. des Animus gilt dann als gelöst, wenn sie nicht mehr in eine gegengeschlechtliche Person hineinprojiziert wird. Solang der Partner der Projektions­träger ist, bleibt er in seiner Eigentlichkeit unbekannt, wird er in einen bestimmten Rahmen gestellt, darf nicht so sein, wie er in Wirklichkeit ist. Die Beziehung ist unecht, weil die ge­liebte Person bloßer Repräsentant des eigenen Unbewussten ist, genauer eines Archetypen.

Die Faszination des anderen Geschlechts ist zunächst Ergriffensein von den Dominanten des Unbewussten. Die Anima- bzw. Animusfigur übt einerseits eine beglückende, beseli­gende Einheit-stiftende, andererseits eine fesselnde, bedrohende, verschlingende Macht aus, sie erhöht und macht zugleich unfrei. Richtig verstanden ist sie nur die Verheißung der noch nicht gelungenen Einheit der Psyche. Der Doppelaspekt der noch nicht angenomme­nen Anima-Figur macht es aus, dass der Partner nicht nur Geborgenhei und Wunsch nach Mühe auslöst, sondern auch Angst, Unsicherheit und Ablehnung. Der unbewusst lebende Mensch merkt nicht, dass er in den Beziehungen mit dem anderen Geschlecht ein Stück der Geschichte mit der eigenen Mutter beziehungsweise dem eigenen Vater wiederholt. Der Mangel an Geborgenheit, Mühe und Liebe, die der Knabe bei der Mutter nicht gefunden hat, wird den Mann immer wieder dazu treiben, sie in infantiler Abhängigkeit bei Frauen zu su­chen. Die Angst vor dem Beherrschtwerden lässt dann meistens eine Beziehung scheitern.

 

Der Charakter Castanedas enthält alle Merkmale einer negativen Animafigur. Er hat depres­sive Launen, ist reizbar, unzufrieden und empfindlich. Eine seiner Visionen enthüllt sein un­gelöstes Verhältnis zu seiner Mutter. Sie hatte ihn, als er sechs Jahre alt war, verlassen. Er musste unter Verwandten aufwachsen und allein sehen, wie er zurechtkam. Die Tat als sol­che lässt ahnen, wie das Verhältnis von Mutter und Kind in den ersten sechs Lebensjahren war. In dem beschriebenen Trancezustand hört er die Stimme seiner Mutter und sieht sie sogar. Die Vision seiner Mutter rührt ihn im Innersten auf, er zittert und bebt. Er erlebt sie wie eine Zwangsvorstellung. „Ein sehr eigenartiges Gefühl überkam mich, das mehr einer von außen kommenden Kraft zu gleichen schien, plötzlich fühlte ich die schreckliche Last der Liebe meiner Mutter. Als ich meinen Namen hörte, wurde ich fast in Stücke gerissen. Die Erinnerung an meine Mutter erfüllte mich mit Trauer und Angst, aber als ich sie betrachtete, erkannte ich, dass ich sie nie geliebt hatte. Das war eine erschütternde Erkenntnis".[20]

Wie in einem Traum wird ihm seine innere Problematik enthüllt: die Liebe seiner Mutter ist für ihn heute noch eine Last, unter der er leidet. Das kann bedeuten, dass er sie in seiner Kind­heit als sehr beengend und verschlingend, im Grunde aber als unecht und ungenügend er­lebt hat. Hier ist ein seelisches Trauma, ein Komplex, der Energien auf sich zieht und ihn immer wieder zu unglücklichen Handlungen antreibt. Es handelt sich offensichtlich um einen negativen Mutterkomplex. Er entsteht durch Versagung von emotionaler Wärme und Zu­wendung. Genauso schädlich ist die Verwöhnung. Die Mutter glaubt ihrem Kind alles Schwere abnehmen zu müssen, so dass es nie die Herausforderung der Umwelt zu spüren bekommt. Das Ergebnis ist ein positiver Mutterkomplex.

Wenn in Träumen eines erwachsenen Mannes immer noch die schon längst tote Mutter er­scheint und er sie immer noch um Rat fragt, kann das zweifellos auf einen Mutterkomplex hinweisen. Der Loslösung des Kindes von der Mutter als Aufgabe der Selbstwerdung ent­spricht auf der anderen Seite das Loslassen des Kindes durch die Mutter. Das bedeutet, dem heranwachsenden Kind nach und nach die Freiheit geben, es als eigenständiges We­sen anerkennen. Die Zauberin La Corda erklärt Castaneda, dass Männer und Frauen, die Kinder haben, ein Loch im Bauch hätten. Dies sei nur für den sichtbar, der sehen kann, aber es würde einem die Kraft gestohlen. Um wieder vollständig zu werden, sei es notwendig, das Loch wieder zu flicken. Das würde dadurch geschehen, dass man seine Kinder vergisst. Man müsse den Schneid, d. h. die Energie, die einem die Kinder gestohlen haben, wieder zu­rückholen. Auf den ersten Blick scheint die Vorstellung absurd. Aber wenn man bedenkt, wie viel eigene Lebenserwartung die Eltern an die Kinder delegieren und damit Verantwortung für sich selbst abschieben, kommt eine wichtige Wahrheit zu Tage. Anstatt an die eigenen Möglichkeiten der Selbstwerdung zu denken, sollen die Kinder das schaffen, was die Eltern nicht bewältigt haben.

 

Es heißt, dass Frauen Castanedas Schwäche sind. Diese Schwäche möchte Dona Soledad dazu benützen, ihn zu überrumpeln und ihm die Kraft zu nehmen. Das getrübte Verhältnis zur Frau ist der Schilderung zu entnehmen, in der er Catalinas Anwesenheit in ihrem Haus beschreibt. Es heißt: Es erschien „der dunkle, unheilverkündende Umriss einer Frau". Dass der Umriss einer Frau allein schon Unheil ahnen lässt, kann nur einer schreiben, der auf die­sem Gebiet vorzüglich schlechte Erfahrungen gesammelt hat. In seiner Kindheit war er ge­zwungen, sich in einem Übermaß zu behaupten und durchzusetzen; das führte dazu, dass er nur seine männliche Seite entwickeln konnte. Der Umgang mit Gefühlen war ihm fremd. Erst bei verschiedenen Übungen mit Don Juan lernte er es, Gefühle der Trauer und des Schmer­zes zuzulassen.

Das Misslingen seiner Ehe passt ganz in dieses Bild. Man kann sagen, dass die Frauen, die Castaneda zu Gegnern hat, seine eigene unbewusste und bedrohende Seite darstellen. Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, von dem sich das erwachte Ich mühsam lösen muss, ist das Motiv der Heldensagen aller Völker. Der Held, sei es Herakles, Theseus oder Siegfried, muss schwere Prüfungen bestehen, muss mit Ungeheuern kämpfen, mit dem Dra­chen oder dem Minotaurus. Diese Taten geben ihm unvorstellbare Kraft. Erst dann kann er König werden oder durch frühen tragischen Tod in die Vollendung eingehen. Es fällt leicht, im Werdeprozess Castanedas als Zauberlehrling in den griechischen und germanischen Mythen Parallelen zu sehen. Das weist wieder auf den allgemein menschlichen, archaisch-magischen Urgrund der Welt Don Juans hin.

Unter  dem Aspekt der Auseinandersetzung mit dem gegengeschlecht - lichen Seelenanteil ist der Begriff des „würdigen Gegners" noch nicht erschöpft. Kurz gesagt: zur seelischen Reifung gehört auch die Konfliktfähigkeit. Emotionale Wärme, Geschütztheit und Geborgenheit allein genügen nicht für die Selbstwerdung. Es bedarf auch der Konfrontation mit ebenbürtigen, gleichstarken oder sogar etwas überlegenen Gegnern. Man spricht von der Peergruppe, wo es keine Über- und Unterordnung, sondern nur Gleichrangigkeit, wenn auch Rivalitäten gibt. Unter diesen Bedingungen ist ein Konflikt nützlich, weil er eigene Energien befreit, die Be­ziehungen ordnet und Klarheit schafft. Ein Konflikt ist schädlich, wenn der Gegner zu stark oder zu schwach ist. Offener Widerstand gegen Institutionen wie Kirche oder Staat enden in den meisten Fällen mit der Niederlage des einzelnen. Fast genauso schwierig ist es, einen Schwächeren zum Gegner zu haben. Wenn der andere immer nur nachgibt, Argumenten keinen Widerstand entgegensetzt, dafür aber mit einem sauren Dulderblick doch seinen Partner zwingt, seine Wünsche zu erfüllen, wird eine Beziehung unerhört schwierig. Meist kommt die Vorstellung hinzu, dass ja ein Konflikt gar nicht sein darf, besonders nicht unter Menschen, die sich lieben, anständig oder fromm sind. Es darf nie etwas gesagt werden, was den anderen verletzen könnte, immer muss der Schein gewahrt bleiben. Wo das offene Austragen von Konflikten aus Angst und Verletzlichkeit nicht möglich ist, entsteht ein Klima der Unfreiheit, Unwahrhaftigkeit, tödlichen Stille und Langeweile. Der Kampf des Zauberlehr­lings mit seinen würdigen Gegnern mag manchmal recht eigenartig aussehen, deckt aber doch eine wesentliche Seite zwischenmenschlicher Erfahrung und personaler Selbstwerdung auf.

 

4.Die Begegnung mit dem Naqual

4.1Tonal und Naqual

Don Juan gibt seinem Schüler am Ende seiner Lehrzeit die Erklärung der Zauberer. Es ist die Theorie zu den abverlangten Prüfungen, angewandten Techniken und gemachten Erfah­rungen.

Von der Form her ist sie eine ausgezeichnete, wortgewandte Einführung Don Juans in die Geheimlehre der indianischen Zauberer. Inhaltlich ist sie eine ganzheitliche Schau des Men­schen, „die Ganzheit des Selbst" mit den Regeln und Methoden, wie es zu dieser Ganzheit kommt. Die wesentliche Aussage heißt: Jeder Mensch hat zwei Seiten, zwei getrennte We­senheiten, zwei Gegenstücke, die im Augenblick der Geburt ihr Dasein aufnehmen. Die eine Seite ist das „Tonal", die andere das „Naqual". Erst das Zusammenkommen, Zusammen­spielen und das rechte Verhältnis dieser beiden Komponenten macht die Ganzheit des Men­schen aus. Beim mühevollen Werdegang des Lehrlings zum Krieger und Zauberer geht es darum, diese Ganzheit und Vollständigkeit zu erreichen. Die genauere Beschreibung des Tonal besagt, dass es jener Teil des Menschen ist, der die äußere, beschreibbare Wirklich­keit ausmacht, „alles wofür wir Wörter haben, alles, was wir kennen". „Seine Funktion ist es, zu urteilen, zu bewerten und zu bezeugen. Tonal ist all das, was wir über uns und unsere Welt wissen".[21]

„Tonal ist" sein eigenes Tun. Deshalb fällt alles in seine Sphäre. Es ist sogar so, dass es die Welt erschafft, das heißt, es liefert die Regeln, nach denen es die Welt begreift, etwa die Kategorien von Raum und Zeit. Mehrfach musste Castaneda begreifen, dass die Kategorien von Raum und Zeit nicht absolut, nicht unaufhebbar sind.

Das, was wir als objektive Wirk­lichkeit erkennen, ist nur eine Beschreibung der Welt; Vernunft und Sprechen oder der in­nere Dialog erhalten diese Beschreibung aufrecht. Diese Seite des Wirklichkeitsbezugs wird auch der „erste Ring der Kraft" genannt oder der Ring des Tuns. Das so definierte Tonal be­ginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.

Es gibt ein Tonal eines jeden einzelnen Menschen, das persönliche Tonal, und ein kollekti­ves, das Tonal der Zeit.

Don Juan demonstriert an sich selbst, dass er ein korrektes persönliches Tonal hat. Er tritt in der Stadt in einem tadellosen Anzug auf und verblüfft den Universitätsstudenten Castaneda durch Sprachbeherrschung, dramatische Pointierung und Wortwahl. An den verschiedenen vorbeigehenden Personen zeigt er, was ein korrektes und was ein falsches Tonal ist. Die vier Indianer, die er begrüßt, haben ein korrektes persönliches Tonal, aber ein falsches Tonal der Zeit.

Aufgabe des Zauberers ist es, ein starkes, freies und bewegliches Tonal zu haben.

In welche herkömmliche psychologische oder soziologische Begriffe lässt sich das Tonal fassen? Es gibt sicher keinen genau treffenden Ausdruck dafür, aber doch annähernde Um­schreibungen. Don Juan sagt: Es ist die soziale Person, der Mensch in seiner Beziehung zur Außenwelt. Das Wort Identität, verstanden als psychosoziales Gleichgewicht, würde dem entsprechen. Identität besagt, dass die Vorstellung von mir selbst in seinem Wesenskern eine Kontinuität trotz aller Veränderungen aufweist und dass diese mit der Einschätzung meiner Umwelt identisch ist. Auch der Begriff des Bewusstseins im Sinne C. G. Jungs gibt einen wesentlichen Aspekt wieder. Auffallend ist, dass Don Juan vom Tonal als einer Insel spricht, ebenso wie C. G. Jung vom Bewusstsein als der Insel im Ozean des Unbewussten.

 

Der andere Teil der Ganzheit ist das Naqual, es ist jene Seite, für die es keine Beschreibung gibt; denn alle Wörter, Namen und Begriffe, die man dem Naqual zuordnen wollte, sind be­reits wieder Tonal. Selbst das Wort „Nichts" kann nicht dafür verwendet werden. Naqual ist die total andere Wirklichkeit, die nur durch ihre Wirkung in die Welt des Tonal hineinreicht; was aber an Wirkung wahrgenommen wird, gehört bereits nicht mehr zum Naqual. Man könnte es als das totale Anderssein, die bloße Energie, die ergreift und verändert, bezeich­nen. Wobei man bemerken muss, dass das Wort Energie zu den Ausdrücken gehört, die von Don Juan als bereits zum Tonal gehörend abgelehnt werden. Parallelen zum Unbewussten im Verständnis  C. G. Jungs ergeben sich, als Inhalte des Unbewussten dem Bewusstsein an sich nicht zu­gänglich sind; denn sobald sie ins Bewusstsein gedrungen sind, gehören sie nicht mehr zum unbewussten Bereich. Ebenso ist das Unbewusste nur durch seine Wirkung bemerkbar. Allerdings gibt es eine Brücke zum Unbewussten; es sind die Symbole, konkreter die Träume.

Tonal und Naqual sind die beiden Pole der Ganzheit des Selbst. Es kommt darauf an, dass sie in Harmonie miteinander leben. Wenn das Naqual handelt, dann ist keine Zeit für ratio­nalen Quatsch. Immer dann, wenn Castaneda versucht, in den Zuständen der nichtalltägli­chen Wirklichkeit die Vorgänge einzuordnen oder zu erklären, geht etwas schief. Die Dinge des Naqual können nur mit dem Körper, nicht mit der Vernunft erfahren werden, sagt Don Juan.[22] Er wisse nur, dass das Naqual unvorstellbare Dinge tun könne.

Sicher lässt sich fest­stellen, dass das Naqual als autonome Instanz handelt; es liegt auf der Ebene des Erlebens, Betroffenseins, Angerührtseins. Castaneda hat immer den Eindruck, dass etwas mit ihm ge­schieht. Deshalb ist es notwendig, dass die Vernunft ihre Tätigkeit für einen Moment aufgibt; sie muss aufhören, sie zu objektivieren und einzuordnen.

Die Insel des Tonal muss schrumpfen, aber der Krieger darf die Insel nicht verlassen. Je stärker das Tonal ist, desto leichter fällt es ihm, zu schrumpfen. Auf der anderen Seite bläst der Sturm, der Krieger muss sich nur bis zum Tor heranarbeiten, es öffnen, aber dann das „Gatter sofort wieder schließen". Dies erfordert ein starkes, freies und bewegliches Tonal. Es umfasst charakterliche Festigkeit und körperliche Stärke. In unsere Situation übersetzt heißt das: Bewusstsein und Unbewusstes müssen sich die Waage halten. Wer sich auf die Kräfte des Irrationalen einlassen will, braucht ein starkes Ich; sonst ist er dem Ansturm des Unbe­wussten nicht gewachsen. „Der unbeugsame Vorsatz" ist deshalb einer der grundlegenden Eigenschaften des Wissenden.

 

4.2Was ist das Naqual?

4.2.1Reden über das Naqual

Das bei der Erklärung der Zauberer gebrauchte Wort Naqual meint die Wirklichkeit, die an anderen Stellen mit „Mescalito" und „die Kraft" angedeutet ist. In unserer Sprache wird es am besten als „Transzendenz" wiedergegeben. Aber was ist nun Transzendenz? Unter welchen psychologischen Kategorien kann sie eingeordnet oder kann sie überhaupt erklärt werden? Es gehört zu den Wesenseigenschaften des Naqual, dass es nicht in Begriffen des Tonal zu fassen ist, dass es nicht begriffen werden, dass es nicht in den Bewusstseinsrahmen der bloßen Vernunft gestellt werden kann. Don Juan ist sich der Schwierigkeit, über die letzten Geheimnisse der Zauberer zu sprechen durchaus bewusst. Sein Schüler kann die Erklärung der Zauberer nur verstehen, wenn sein bisheriger Bewusstseinsrahmen gesprengt ist. Da­rauf zielt die mühevolle Arbeit der mehr als zehnjährigen Lehrzeit ab. Ihm allein diente die Einführung in den Gebrauch von halluzinogenen Pflanzen, die Anweisungen und praktischen Übungen für das Leben eines Jägers und Kriegers und die unerbittliche Forderung nach ei­ner völligen Veränderung seiner bisherigen Persönlichkeitsstruktur mit allen Wertmaßstäben, Gewohnheiten und Zielvorstellungen. Das Lösen einer der gestellten Aufgaben war Mittel und Zeichen für den Fortschritt des Schülers, für das höhere Wissen, das zur Kraft wurde. Bevor er die Erklärung der Zauberer erhält, muss er noch eine letzte Probe bestehen: Die Aufgabe besteht in einer Art „Gedanken"übertragung.

Don Genaro, der Freund Don Juans, muss als „Wohltäter" den Lehrling zum Naqual führen. Castaneda erhalt den Auftrag, seinem „Wohltäter" in den Busch zu folgen zu einem Zeitpunkt, den dieser aus der Ferne festlegt. Zudem muss er den Weg zu ihm finden. Castaneda gelingt es, die Einwirkung des „Willens" des Wohltäters zu vernehmen und Zeit und Weg zu spüren. Damit ist er fähig, die Erklärung der Zauberer in sich „einwirken" zu lassen.

Das Sprechen über Transzendenz setzt eine eigene Erfahrung der Zuhörer voraus, we­nigstens eine ansatz- und ahnungsweise. Dies ergibt sich aus der Definition von Transzen­denz, als dem totalen Anderssein, als dem was außerhalb der greifbaren und objektivier­baren Welt liegt. Mit Recht sagt Don Juan, dass wir das Naqual an sich nicht kennen, es ist all das, was die Insel des Tonal umgibt. Wir kennen nur seine Wirkung im  Erleben.

Wann kann man von einer Transzendenzerfahrung sprechen? Ihr eigentümliches Kennzeichen ist ihre Numinosität. Das bedeutet einen seelischen Zustand, der vom bewussten Ich nicht ge­macht werden kann, sondern diesem zustößt, es betroffen macht und das ganze bisherige Bewusstsein erschüttert. Don Juan und Don Genaro können ihren Lehrling nur bis zu einer Grenze heranführen. Das Eigentliche liegt außerhalb ihres Einflussbereiches und des Wil­lens ihres Schülers. Das Handelnde ist in diesem Augenblick ein Nicht-Ich. Die Erlebnis­qualität ist angstvoll und beseeligend zugleich. Es vollzieht sich ein religiöses Urerlebnis. In dar Religionspsychologie spricht man von einem beglückenden und erschütternden Geheim­nis (Mysterium fascinosum et tremendum). Die Doppelnatur der Wirkung weist zugleich da­rauf hin, wie über Transzendenz sinnvoll gesprochen werden kann: in Paradoxien. C. C. Jung meint dazu, dass nur die paradoxe Ausdrucksweise der unbeschreibbaren und unsag­baren Wirklichkeit angemessen ist. Das transzendente Mysterium offenbart sich in Gegen­sätzlichkeit, weil es die Gegensätze in sich umschließt. Die paradoxe Logik entspricht einem höheren Bewusstsein, jenem nämlich, das von der Instanz einer überpersönlichen Ganzheit, dem Selbst ausgeht und das bloße subjektive Ich- Bewusstsein überschreitet. Dazu äußert sich C. G. Jung in einer Interpretation gnostischer Schriften, die das Paradox besonders lie­ben. „Das Paradox ist ein Charakteristikum der gnostischen Schriften. Es wird dem Un­erkennbaren mehr gerecht als die Eindeutigkeit, welche letzterem das Geheimnis seiner Dunkelheit entreißt und es damit als ein Erkanntes hinstellt. Das ist eine Usurpation, welche den menschlichen Intellekt zur Hybris verleitet, indem sie ihm vorspiegelt, er sei nunmehr durch einen Erkenntnisakt in den Besitz des transzendenten Mysteriums gelangt und habe es 'begriffen'. Das Paradox entspricht daher einer höheren Stufe des Intellekts und gibt, in­dem es das Unerkennbare nicht gewaltsam als erkennbar hinstellt, den wirklichen Sach­verhalt getreuer wieder".[23] Jung spricht hier die Schwierigkeit des aufgeklärten, rationalen Den­kens in der Auseinandersetzung mit transzendenten Gegebenheiten an. Das moderne Bewusstsein will Eindeutigkeit, was sich in Sätzen ausdrückt wie: „Religion ist nichts als ... Ohnmachtsgefühl gegenüber einem omnipotenten Vater, ... verdrängte Sexualität usw. Sexualität ist nichts als ... Regulierung des Hormonhaushaltes". Es wäre noch darauf hinzu­weisen, dass die Dogmen, welche dem modernen Verständnis so unzugänglich sind, auch zu dieser Form der paradoxen Aussage gehören. Das Missverständnis, Unsinniges und Un­verständliches glauben zu müssen, ist durch den Mangel an Transzendenzerfahrung be­dingt.

Das Thema der Gegensätzlichkeit greift Don Juan auf, wenn er das Tonal und das Naqual als die zwei Pole der Ganzheit des Menschen darstellt. Wenn einer davon verdunkelt ist, ha­ben wir ein Gefühl der Unvollkommenheit. Bei der Geburt herrscht das Naqual vor. Es fehlt das Tonal. Später, wenn wir ganz Tonal geworden sind, rührt unsere Unvollkommenheit da­von her, dass uns die Beziehung zum Naqual abhanden gekommen ist. Die Doppelnatur des Menschen drückt sich im reinen Tonal so aus, dass wir Paare bilden. „Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir, dass unsere zwei Teile, Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut und Böse. Gott und Satan. Aber wieder erkennen wir, dass wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paaren zusammenfassen. ... Wir sind komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunkel und in unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen".[24] Damit ist eingeschlos­sen, dass die Begegnung mit dem Naqual die so schmerzlich erlebte Gegen­sätzlichkeit, innere Zerrissenheit und Trennung aufhebt.

 

Man gewinnt den Eindruck, dass C. G. Jung und Don Juan eine ähnliche Sprache sprechen. Der Satz: „Der Mensch bewegt sich nicht zwischen Gut und Böse ... In Wirklichkeit bewegt er sich zwischen Negativität und Positivität" könnte ebenso in den gesammelten Werken des Begründers der analytischen Psychologie stehen. Beider Anliegen wird nur verstehen, wer die Zwiespältigkeit seines eigenen Menschseins erkennt, die Gegensätze in der Welt als Folge dieses Zwiespaltes sieht und sich auf den Weg macht zur Überwindung dieses Zu­standes in einem höheren Bewusstsein. Das Reden über Transzendenz kann vom Tun nicht getrennt werden. „Ein Krieger redet nicht, er handelt".

 

4.2.2Bestimmung der Transzendenz als das Selbst im Sinne der analytischen Psychologie

Da es nicht darum geht, Transzendenz an sich als metaphysische Wahrheit, sondern ihre Wirkung auf das Erleben des Menschen zu bestimmen, ist es berechtigt, die psychologische Ausdrucksweise zu verwenden. In der Sprache C. G. Jungs ist der Begriff des „Selbst" das zentrale Thema, wenn es darum geht, Wirkungsweisen der Transzendenz zu beschreiben. „Das Selbst ist eine dem bewussten Ich übergeordnete Größe. Es umfasst nicht nur die be­wusste, sondern auch die unbewusste Psyche und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die wir auch sind".[25] Wenn man Bewusstes und Unbewusstes als die zwei Seiten der Psyche sieht, dann ist das Selbst eine über beiden stehende Größe; „eine den gewöhnlichen Men­schen überragende und umfassende Ganzheit, eine bewusstseinstranszendente totale Per­sönlichkeit". In dieser Sicht würde das Unbewusste dem Naqual, das Selbst der von Don Juan erwähnten Ganzheit des Selbst entsprechen.

„Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch jener Umfang, der Bewusstsein und Unbewusstes einschließt; es ist das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Bewusstseins­zentrum ist. [26]

Wenn man sich die Ganzheit der Psyche als Kugel vorstellt, dann wäre das Bewusstsein mit dem Ich ein kleiner heller Fleck an der Oberfläche, während das Selbst den Mittelpunkt als auch die ganze Oberfläche, die erleuchtete und dunkle, darstellt. Das Selbst äußert sich in Symbolen, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, es gibt menschliche, tierische, materielle Formen. Das bekannteste ist das Mandala, dessen Grundform ein von einem Quadrat umschlossener Kreis ist. Es erscheint bei akuten seelischen Konfliktsituationen, wo es buchstäblich um die „Quadratur des Kreises" geht. Ein solcher Fall kann sein: einen Men­schen lieben und sich ihm doch nicht voll und ganz hingeben können. Die Unfähigkeit, eine Bindung zu lösen, auch wenn sie mehr Leid als Freude bringt.

Das Unbewusste macht in solchen bedrückenden und dramatischen Spannungszuständen paradoxe Aussagen über den zu lösenden Konflikt. Es will sagen: Es gibt eine Vereinigung der Gegensätze auf höhe­rer Ebene, welche aber der jetzige Bewusstseinszustand noch nicht fassen kann. Jung sagt, dass das Unbewusste einen Tatbestand auszudrücken versucht, für den im Bewusstsein keine Begriffskategorie besteht.

C. G. Jung hat in den Johannesakten, einer gnostischen Schrift aus dem 2. Jhd. eine tref­fende Symbolik für das Selbst gefunden. Dort wird geschildert, wie  Jesus am Abend vor seinem Leiden mit seinen Aposteln einen Reigen tanzt; er steht in der Mitte und die Jünger bewegen sich im Kreis. Dabei singt er das Preislied:

 

„Gerettet werden will ich und retten will ich. Amen

Gelöst will ich werden und lösen will ich. Amen

Gedacht werden will ich‚ der ich ganz Gedanke bin. Amen

Wer nicht tanzt, erkennt nicht, was geschieht. Amen

Geeint werden will ich und einen will ich. Amen

Eine Leuchte bin ich dir, der mich sieht. Amen

Ein Spiegel bin ich dir, der mich erkennt. Amen

Eine Tür bin ich dir, der an mich klopft. Amen

Ein Weg bin ich dir, dem Wanderer.

Wenn du aber meinem Reigen Folge leistet, sieh dich in mir, dem Redenden".[27]

 

Im Reigen der Jünger als dem Kreis mit Christus in der Mitte kommt die Bezogenheit des einzelnen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt aller Gleichgesinnten und Schicksalsver­bundenen zum Ausdruck. Dieser Mittelpunkt liegt außerhalb, genauer über unserem Be­wusstsein. Es ist der archimedische Punkt, so genannt nach dem griechischen Philosophen und Mathematiker Archimedes, der, um das Hebelgesetz zu erklären, sagte: Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln! Das bedeutet: Über diesen Punkt können wir unsere innere Welt verändern und auch ein Stück der äußeren. Wenn wir die Ganzheit der Psyche, Bewusstes und Unbewusstes zusam­mennehmen, dann liegt er genau in der Mitte. Wenn wir nur unser Bewusstsein sehen, findet er sich draußen.

Der Mittelpunkt ist Subjekt und Objekt des Handelns zugleich. Das bedeutet, das Selbst ist einerseits eine zur Ganzheit strebende, ordnende Instanz, welche sich die Zuwendung durch Leiden erzwingen kann, andererseits kann sie in vollem Umfang und zu unserem Besten erst dann aktiv werden, wenn wir uns um sie bemühen. Die weiteren Symbole sind aufschluss­reich: eine Leuchte, ein Spiegel, eine Tür, ein Weg aber immer nur für den, der dem Selbst begegnet.

Es ist überraschend, wie dieselben Aussagen, die Jung bei den Gnostikern über das Selbst findet, auch die Eigenschaften von Mescalito, der Kraft und dem Naqual sind. Da ist davon die Rede, dass Mescalito draußen ist, während der Verbündete, ein Aspekt des Naqual, drinnen ist. Mescalito erscheint als mannähnliche Gestalt oder als Licht. Das Licht, das nur dem leuchtet, der es sieht, nimmt in den Schilderungen des Zustandes nicht alltägli­cher Wirklichkeit einen breiten Raum ein. Weiterhin fällt auf, dass Mescalito, die Kraft und das Naqual Subjekt und Objekt des Handelns zugleich sind. Don Juan und sein Schüler ma­chen sich auf, um Mescalito-Kraftpflanzen zu suchen, zugleich ist Don Juan überzeugt, dass Mescalito sie finden wird. Ein Jäger jagt die Kraft und das Wissen und zugleich muss er sich für die Kraft erreichbar machen, weil sie ihm nachspürt.

Auch die anderen archetypischen Bilder lassen sich bei Castanedas Erlebnissen einordnen. Mescalito hält einen Spiegel in der Hand, indem er sich selbst sieht. Dieses Symbol besagt: die Begegnung mit der innersten Instanz ist immer vom momentanen Bewusstseinszustand geprägt. Seiner Entwicklung und Ordnung gemäß erscheinen auch die Bilder des Unbe­wussten.

Ein anderes Symbol ist die Tür. Bei den nächtlichen Abenteuern in der Wildnis erwähnt Castaneda des Öfteren eine rechteckige, dunkle Masse, die wie eine Tür aussieht und auf ihn zuschreitet. Es ist einer der Verbündeten und damit ein Aspekt des Selbst. Ebenso ge­hört der Weg als Symbol zu den zentralen Aussagen Don Juans.

Was bezeichnen nun Tür und Weg? Jung schreibt dazu: „Wie eine 'Tür' sich öffnet, an die angeklopft wird oder wie dem Suchenden sich ein Weg offenbart, so hebt für denjenigen, der sich auf seine (trans­zendentale) Mitte bezieht, ein Bewusstwerdungsprozess an und eine Entwicklung zur Einheit und Ganzheit".[28] Castaneda erzählt, als er seine Erfahrungen mit den Träumen schildert, dass bei ihm etwas nachgegeben hätte. Als weiteres wirksames symbolisches Geschehen ist die Berührung mit den vier Elementen als Einweihungsriten zu betrachten. Es gilt für den Lehrling, den Sonnenstand auszumachen, der für ihn der günstigste ist. Es ist der sinkende Feuerball. In der Erde wird er begraben, nach jeder Vision ins Wasser eingetaucht oder überschüttet. Die Kraft des Windes hüllt ihn ein. Die vier Elemente gelten in ihrer gegensätz­lichen Anordnung Feuer - Wasser - Erde - Luft als Mandalafiguren und damit als Symbole des Selbst. Sie drücken damit dessen kosmischen Charakter aus.

Das heißt: Der Kern der Psyche ist zugleich der Mittelpunkt des Universums. In den Mythen der Völker wird er der „große Mensch" genannt, es ist der kosmische Mensch, der Pan-Ku der Chine­sen, der Purusha der Inder. Es ist das Zentrum des Kosmos, in dem die Trennung von Mate­rie und Geist, psychologisch gesprochen: von Bewusstem und Unbewusstem aufgehoben ist. Don Juan sagt: Es geht um den Schlüsselpunkt. Der Zauberer kann diesen Schlüssel­punkt beeinflussen. Er demonstriert es, indem er die Zündkerzen von Castanedas Auto blockiert. Das Anhalten des Autos ist nur die eine Seite der Wirkkraft des Zauberers. Weitaus wichtiger ist es ihm, seinen Lehrling selbst anzuhalten, um seine Aufmerksamkeit und sein Interesse zu gewinnen.

Diese Handlungsweise ist gar nicht so fremd, wenn man die Kunst eines Referenten, seine Zuhörer für ein Thema zu interessieren, betrachtet. Es ist weniger die Schlagkraft seiner Ar­gumente, sondern die Tiefe und das ganzheitliche eigene Betroffensein vom Thema, womit er auf den Schlüsselpunkt der Zuhörer wirkt.

Wenn das kollektive Unbewusste bis in die Materie hinab reicht, dann erscheint es durchaus möglich, dass es so etwas wie eine vergeistigte Materie oder materialisierten Geist gibt.

Die bei Castaneda geschilderten Ereignisse über die Aufhebung der Schwerkraft erscheinen beim ersten Lesen als erfundene Sensation: Don Genaro springt auf einen 20 km entfernten Berggipfel oder steht plötzlich auf einem 50 m hohen Baum und vollführt da allerhand Kunst­stücke. Im ganzen Zusammenhang der Lehre und des Werdeprozesses erscheinen sie nicht mehr unwahrscheinlich, zumindest nicht in dem Sinn, dass sie Castaneda nicht wahrge­nommen hätte. Don Juan erklärt ihm, er dürfe nicht mehr von der Festigkeit der Körper aus­gehen. Vorstellung, Wahrnehmung und Ausdehnung fallen zusammen. Am ehesten kann solche Vorgänge jemand begreifen, der mit eutonischen Übungen Erfahrungen hat. Die bloße Vorstellung, dass ein Bein sich bis zur Wand verlängert, kann das Gefühl geben, tat­sächlich die Wand zu berühren. Es lässt sich sogar objektiv nachweisen, dass das Bein sich gedehnt hat. Ebenso lassen sich Beispiele aufführen, die das Raumerleben zum Inhalt ha­ben. Man kann besonders in einer Kirche die Ausdehnung der eigenen Gestalt nach allen vier Richtungen bewusst wahrnehmen.

 

Die wichtigsten Punkte zum Thema: „Begegnung mit dem Naqual" sind: Dem Naqual begeg­nen heißt, dem Mittelpunkt der eigenen Psyche, der Menschen und des Kosmos gegenüber­treten. Dies ist ein bewusstseinserschütternder Akt, der nur durch ein korrektes Tonal, d. h. durch Ich-Festigkeit bestanden werden kann. Die Begegnung verleiht Kraft und höheres Wissen, Klarheit und Sicherheit der Gedanken. Jede Begegnung ist ein Schritt weiter auf dem Weg des Kriegers.

Mit den Begriffen der analytischen Psychologie ausgedrückt heißt das: Es geht um die Erfahrung des Selbst. Dies ist eine transpersonale, treibende Kraft für das Fortschreiten zum höheren Bewusstsein. Damit ist immer eine Versöhnung von sonst unvereinbaren Gegensätzen mit eingeschlossen. Der Weg der Selbsterfahrung geht in die existentielle Tiefe, zu einer immer ausgeprägteren Individualität, Zentrierung aller Schichten der Psyche und zu einer immer tieferen Verbundenheit mit den Menschen und dem Kosmos.

             Nimm den Tod zum Ratgeber! (Der Indianer Don Juan)

 

 Mögliche Einstellungen zum Tod

Das Thema Tod löst bei den meisten Menschen Betroffenheit und .Erschrecken aus, macht ratlos, lässt Ohnmacht spüren, regt aber auch zur Neugierde an. Umso mehr überrascht es, mit welcher Freiheit und Sicherheit der alte Indianer  Don Juan mit dem Tod umgeht, ihn sogar zum zentralen Thema seiner Unterweisungen macht. „Der Tod als Ratgeber,"  „der Tod als Geschenk" sind für Menschen der Industriekultur Formulierungen,  die befremden. Nicht einmal Prediger wagen dieses Thema in solcher Deutlichkeit und Offenheit anzusprechen.   Das Thema soll der Tod sein  genauer:  Wie betroffen macht mich der Tod?

Don Juan sagt: ich kann nur über meinen oder über deinen eigenen Tod reden, nicht über den Tod als allgemeine Sache.

Es fällt schwer, die Abwehrhaltung gegenüber diesem Thema aufzugeben. Leichter ist es, darüber zu diskutieren, wie andere die Tatsache dos Todes beiseiteschieben. Hilfreicher aber ist es, die Fragen zum Tod zu zulassen:                                                            Was wird auf mich zukommen? Wie wird es sein? Kann man etwas darüber sagen ? Inwieweit kann die Betroffenheit vom Tod mein Le­ben verändern?  Wird es düsterer, oder werde ich sogar sicherer, gelassener und überlegener den Problemen gegen­über treten?

Die Psychiaterin Kübler -Ross wandte sich gegen die Art, wie ein Mensch in unserer Industriekultur um die Schönheit und Erhabenheit des Sterbens gebracht wird. Der Gedanke, dass Sterben nicht nur mit Angst, Schrecken und Tränen verbunden ist, ist dem modernen Bewusstsein abhanden gekommen. Man meint, Sterben sei ein bloßes Erleiden  seines Endes, es sei eine Katastrophe und man dürfe möglichst wenig daran denken.  Vielen fällt es schwer, anzunehmen, dass der Tod. etwas ist, das der Mensch aktiv und bewusst vollziehen, dass er sogar zu etwas Schönem und Erhabenen gestalten kann.                                                                                                                                  

„Sterben ist mehr als nur die Beine strecken und

steif werden.  Sterben ist eine erhabene Sache" (Don Juan). [29]

Das Sterben eines Kriegers findet am Platz seiner Liebe statt, wo er seine persönliche Kraft gespeichert hat, wo er Wunder er­lebte, wo ihm Geheimnisse offenbart wurden. Bevor der Tod ihn anrührt, wird er noch einen letzten Tanz vollführen. Da der Tanz eines Kriegers die eigene Lebensgeschichte darstellt, bedeutet das, dass sie noch einmal lebendig wird und an ihm vorbeizieht. Etwas von der Erhabenheit klingt in den Worten mit,  mit denen Don Juan das Sterben dos Kriegers beschreibt:  „Und so wirst du hier auf diesem Gipfel am Ende des Tages in den Tod tanzen, Und in diesem deinem letzten Tanz wirst du von deinem Kampf berich­ten, von den Schlachten, die du gewonnen hast, und von denen, die du verloren hast; du wirst von deinen Freuden und Verwirrungen bei deinen Begegnungen mit der persönlichen Kraft erzählen. Dein Tanz wird von den Geheimnissen und Wundern erzählen, die du ge­speichert hast. Und dein Tod wird hier sitzen und dich beobach­ten.

Die sterbende Sonne wird auf dir glühen, ohne dich zu verbrennen, wie sie es heute tat. Der Wind wird sanft und mild sein, und dein Berggipfel wird erbeben. Wenn dein Tanz zu Endo ist, wirst du in die Sonne blicken, dann wirst du sie nie wieder, weder im Wachen noch im Träumen sehen. Und dann wird dein Tod nach Süden weisen, in die Weite".[30]

 

 

 

 

Der Tod in der Lehre Don Juans

Die Einstellung zum Tod zu verändern, was normalerweise nur dem

Todkranken aufgegeben ist, gehört zum Kern der Unterweisung Don Juans. Der Schüler  soll seine eigene Wichtigkeit verlieren, den Tod zum Ratgeber nehmen  und jede seiner Taten so ausführen, als ob sie die letzte Schlacht auf Erden wäre. Wie bewirkt nun der Lehrer in seinem Schüler jene bewusste Einstellung zum  Tod?                                                                                                                                     Als erste einer Reihe von Praktiken, die den Lehrling in Todes- ähnliche Situationen führt, ist die Aufforderung Don Juans, sich bei den Pflanzen mit lauter Stimme dafür zu ent­schuldigen, dass er sie pflückt. Die Begründung lautet: Wir sind alle gleich. So wie sie uns zur Nahrung dienen, werden auch wir ihnen zur Nahrung sein. Castaneda kommt sich lächerlich vor, als er zu den Pflanzen reden soll und sieht darin keinen Nutzwert. Ebenso empfindet er es als unnötig angsterregend und unsinnig, mit dem Gedanken an den Tod zu leben. Als Don Juan merkt, dass seine Worte nicht ankommen, zwingt er seinen Lehrling durch ein meisterhaft inszeniertes Psychodrama, sich mit dem Tod zu kon­frontieren. Durch den bloßen Blickkontakt nagelt er ihn auf die Situation fest, Castaneda empfindet seinen Blick als wild und lodernd, als geheimnisvolles, aber unangenehmes Anstarren, dem er sich nicht mehr entziehen kann.  Der Indianer lässt von diesem Spiel nicht mehr ab, bis er im Lehrling intensive Jugenderlebnisse wachgerufen hat. Es war die Jagd auf einen Albino-Falken,

Sie hatte in einer Begegnung mit dem Tod geendet. So deutet es Don Juan. Castaneda erinnert sich, dass er auf einen günstigen Moment zu schießen gewartet habe; da lief ihm ein Frösteln über  den Rücken und er gab die Jagd auf.  „Der Tod gab dir eine kleine Warnung. Er kündigt sich immer mit einem Frösteln an", [31] erklärte ihm Don Juan; er lobte ihn, dass er die Warnung beachtet, dass er den Rat des Todes befolgt habe. Castaneda hat selbst den Tod gespielt. Er hat geduldig gewartet und ist zur Linken des Falken gesessen. Die Erinnerung an die Falkenjagd benützt der Indianer, um die seelische Stimmung seines Schülers bis zur vollen Todesbegegnung voranzutreiben.  Auf Anweisung Don Juans schaut Castaneda auf eine Stelle links auf einem Felsen. Dort könne er seinen Tod sehen, der als ewiger Begleiter zur Linken stehe, ihn beobachte und ihm von Zeit zu Zeit etwas ins Ohr flüstere.  Castaneda erkennt eine flimmernde Bewegung, ihn überfallt ein schockartiger Krampf, er muss sich übergeben.

Als ihn Don Juan zum zweiten Mal den Tod sehen lassen will, wagt er aus Angst nicht, hinzuschauen. Don Juan klärt ihn darüber auf, dass der Tod der einzige sei, der sagen könne, was wichtig ist  und was nicht.  „Nichts ist wichtig außer seiner Berührung,[32] In Momenten, der Ausweglosigkeit werde die Botschaft des Todes zum hilfreichen Trost, wenn er sagt: „Ich habe dich noch nicht angerührt." Castaneda empfindet die Worte seines Lehrers als Ausdruck seiner augenblicklichen Lage. Seine Stimmung schlägt um, er erkennt, dass es sinnlos war, sich über Don Juan zu ärgern.

In ihm steigt eine tiefe Freude am Leben auf. Gemeinsam durchstrei­fen sie den Wüstenchaparal und ihm wird bewusst, dass es dem alten Indianer  gelungen war,   ein altes Gefühl wieder zu beleben, etwas, das er völlig vergessen hatte, „die reine Freude, sich einfach umher zubewegen, ohne damit einen intellektuellen Zweck zu verfolgen.[33]" .

In der weiteren Lehrzeit spielt der Tod immer wieder eine wichtige Rolle.  Da ist einmal die Erschütterung der gesamten psychisch geistigen Existenz durch das Kauen der Peyote-Wurzeln.  Mehrfach durchlebt Castaneda in den Zuständen nicht alltäglicher Wirklichkeit echte Todesängste. Bei einer nächtlichen Fahrt im Auto tauchen plötzlich geheimnisvolle Lichter im Rückspiegel auf, die Don Juan als Lichter des Todes bezeichnet. Um Leben und Tod geht es, wenn er in der nächtlichen Wildnis den Mächten und Geistern ausgesetzt ist. Don Juan erzählt, wie er als Sehender den Tod seines Sohnes miterlebt hat, und beide sind Zeugen, wie ein Mann in einem Park in Mexiko-City stirbt.

Was soll die Konfrontation mit dem Tod bewirken? Don Juan sagt, ohne die Bewusstheit des Todes sei das Leben banal. Wie ist das zu verstehen? Das bewusste Erleben dieser schicksalsschweren Momente reißt die Tiefe der menschlichen Seele auf und setzt ungeahnte Energien frei. Die Berührung mit dem Nichts schafft so etwas wie eine tragische Existenz, deren Kennzeichen innere Größe und Gelassenheit ist. Das Handeln gewinnt an Sicherheit und Kraft. Das Berührt-sein von der unausweichlichsten Grund­bedingung des Daseins lähmt nicht, sondern befreit. Sie löst von nutzlosen Gewohnheiten und oberflächlichen Bedürfnissen. Sie ermöglicht eine Konzentration im Augenblick, eine geballte Wucht dos Erlebens.  „In diesem Moment war es mir egal, ob ich lebte oder starb".[34]                             „Handlungen der Wissenden haben Kraft", [35] sagt Don Juan. Es sei erinnert an die griechischen Tragödien; deren Sinn war es, den Zuschauer betroffen zu machen und damit eine kathartische, d.h. reinigende Wirkung auszulösen. Der Tod im griechischen Theater war keineswegs Lebensverneinung, sondern Lebensvertiefung.

Don Juan sagt  nichts über ein Weiterleben nach dem Tode im Sinne einer Ich-Kontinuität.  Ihm genügt es, den Weg bis zum Ende zu gehen, weil das bloße Gehen unendlich schön ist.   „Dort reise ich, und die einzig lohnende Herausforderung ist seine ganze Länge zu gehen und dort reise ich und sehe und sehe atemlos".[36] Was hier Don Juan anspricht, kann man mit dem Prinzip des Hier und Jetzt bezeichnen. Wichtig ist, was ich hier und jetzt spüre. Ob ich hohl und langweilig bin, oder ob ich die Ewigkeit

berühre. Diese Dimension ist es, die nach der Auffassung Don Juans Sinn verleiht. Der Gedanke an ein beseligendes Jenseits                                                                                                                                                                                                  hat zwar die Menschen schon immer getröstet, aber auch in eine falsche Sicherheit gewiegt. Man muss sich fragen, ob nicht ein falsch verstandener Jenseitsglaube den Tod in seiner ganzen Tragik und in seinem Ernst entschärft hat, so dass dieser Grundbedingung nicht mit der ganzen Tiefe der Existenz geantwortet wurde.  Der Mensch der westlichen Zivilisation hat den Tod ohnehin aus dem Blickfeld ver­loren. Verdrängung des Todes und nichtssagendes Dasein gehen Hand in Hand. Ein Krieger kennt diese Tabuisierung nicht.  Für ihn ist die Spannung zwischen Leben und Tod, Sein und Nichtsein, ein Schlüs­sel für ein erfülltes Dasein. Castaneda beschreibt nach, der Unter­weisung über den Tod    seine Stimmung: Zuerst hatte ihn Don Juan in einen maßlosen Schrecken versetzt, dann aber waren an­gesichts seines drohenden Todes seine Ängste und seine Wut sinnlos geworden. Don Juan meint, man brauche nicht den Tod sehen, sondern, es genüge, seine Anwesenheit zu spüren. Für den Indianer ist es  selbstverständlich, dass Kräfte Mensch und Tier leiten und sie es sind, die Ihn eines Tages auch zu seinem Tod führen werden.  Weil er sie in seinem Leben vorbehaltlos anerkennen kann, ihre :Begegnung immer sucht, fühlt er sich auch von ihnen getragen, und bei ihnen geborgen. Wenn der Tod von diesen Kräften kommt, kann er ihn an- nehmen. Für einen Jäger ist sogar das Zusammentreffen mit dem Tod etwas, was Aufmerksamkeit und überlegenes Tun, sein ganzes Können herausfordert. Es wird die letzte Schlacht auf Erden.                                                                                                           

In unserer Gesellschaft wird vergessen, dass ein Mensch Sterben aktiv gestalten und sich darin  verwirklichen,  Wirklichkeit erfahren kann.                                                              Eine weitere Deutung des Todes veranlasst zum Nachdenken: Tod als Geschenk.                    Den Tod des Kaninchens, das der Lehrling hätte töten sollen, sieht Don Juan als Geschenk für ihn. Die Zeit des Kaninchens sei abgelaufen gewesen. Genauso sei Castanedas Tod einmal ein Geschenk für etwas oder für jemand anderen.  Der Indianer sieht Zusammenhänge; die beim Tod eines Menschen gewöhnlich nicht zur Sprache kommen: dass der Tod Bindungen löst und damit auch Menschen befreit. In vielen Fällen geschieht es erst nach dem Tod des Vaters oder der Mutter, dass ein erwachsener Mensch zu seinem eigenen Leben erwacht.

 

 Das Abtreten der einen Generation ermöglicht erst das Aufleben der nachfolgenden. Es ist schwer für die erste, sich zurückzunehmen und dem neuen Leben mit allen Konsequenzen Raum zu geben. Darin liegt der Zündstoff für den Konflikt der Generationen zu allen Zeiten.

 

1.        Todeserfahrungen in kirchlichen Riten

Die altchristlichen, seit fast zwei tausend Jahre  gebräuchlichen Gebete, Gebräuche und Riten werden heute zum  größten Teil nicht mehr verstanden. Viele stoßen sich an „heidnischem" Erbgut und erklären manches als Vorstellung eines überholten „Weltbildes, das man nun endgültig beiseitelegen müsse. Sie vergessen aber, dass man statt „heidnisch" auch „menschlich" sagen kann und dass die menschliche Natur unserer Vorfahren auch schon vor der Annahme des christlichen Glaubens vorhanden war und noch weiterlebt.

Gerade, was gern als „heidnisch" oder als Reste eines vergangenen Weltbildes abgetan wird, müsste zuvor nach dem Gehalt menschlicher Erfahrung geprüft werden. Im Vergleich mit Riten nichtchristlicher Religionen lässt sich doch eine allgemeine menschliche Wurzel fin­den. Dies gilt insbesondere für religiöse Praktiken, insofern sie die Vorstellung vom Tod und vom Umgang mit Sterbenden betreffen.

Die altkirchliche Pastoral hat auf die Vorbereitung auf das Ster­ben besonderen Wert gelegt, weil ja das Leben nach dem Tod als das letzte und eigentliche Ziel des Menschen betrachtet wurde.

Von einem guten Tod (versehen mit den hl.  Sterbesakramenten) hängt  eine ganze Ewigkeit ab, so war die allgemeine Meinung.  Der Priester in der katholischen Kirche verwendete bei der Spendung der Sakramente und bei der Ausführung anderer wichtiger Funktionen das „Collectio rituum,.[37]

eine Sammlung der alten, gebräuchlichen Riten. • Einen bedeutenden  Abschnitt nimmt die Begleitung Sterbender ein. Er ist überschrieben mit  „Commendatio animae",  die vertrauensvolle Übergabe der Seele. [38]

Auszüge davon sind:    " Zieh nun hin christliche Seele!.                                                                      Dass der  Mensch  sich im Sterben auf den Weg macht, ist ein altbekanntes Bild.    Weiter heißt es:  "Das 'Antlitz Christi möge dir mild und      festlich erscheinen! Die Begegnung mit Christus als dem  Licht  wird hier im Gebet vorausgenommen. Die Milde des Lichtes, das strahlt aber nicht blendet, war bereits Thema in den Berichten von klinisch Toten. Der Schüler Don Juans soll das Sterben auch als Fest erleben. Im weiteren Verlauf des Gebetes  wird von der Gefährlichkeit des Weges gesprochen, den der Sterbende zurückzulegen hat. Es wird nach verlässlichen und guten Begleitern Ausschau gehalten. Die Engel und die Schar der Apostel, das Heer der Märtyrer und der Bekenner soll die Seele hinüberführen  vorbei an finsteren Abgründen, an zischenden .Flammen, an peini­genden Qualen. Der böse Feind mit seinen Genossen soll weichen und fliehen in ein Chaos ewiger Nacht. In der Totenmesse wird das Thema vom Abgrund, Abstürzen, Verschlungen werden  weitergeführt.                                                                        Jesus Christus möge die Seelen der Gläubigen aus dem Rachen des Löwen befreien, sie vom Abgrund retten, damit sie nicht die Unterwelt verschlinge, noch dass sie in die Finsternis stürzen. Vielmehr möge sie der Bannerträger, der hl. Michael in das heilige Licht geleiten, das Gott einst dem Abraham verheißen hat. Das Licht und die Stille der Ewigkeit sollen  den Toten umgeben. Das bekannteste  Totengebet in der römischen Liturgie lautet:  "Der Herr gib ihm/ihr  die ewige Ruhe und das ewige Licht       

leuchte ihm/ihr".

Neben dem Sterberitus gibt es noch andere heilige Handlungen, welche mit dem Tod zu tun haben. Es sind die  christlichen Sakramente Taufe und Eucharistie, die unmittelbar  mit Tod und Aufer­stehung verbunden sind. Sie wollen ihrem ursprünglichen Sinn  ein Modell des Sterbevorgangs vermitteln.

 

Richtig: und bewusst vollzogen waren  sie einst  Erfahrung von Tod und Auferstehung. Leider haben die einst so mächtigen Durchgangsriten  Taufe und Firmung da Allermeiste  ihrer Wirksamkeit verloren, sodass es in unserem Kulturkreis kaum eine sinnvolle Handlung dieser Art gibt. Die in den traditionellen, christli­chen Ländern übliche Kindertaufe hat zumindest im Erleben der Christen eine andere Funktion als die von Paulus beschriebene.

Als Durchgangsritus des Mittelalters können die Wallfahrten nach Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem bezeichnet werden. Eine Pilgerreise im Mittelalter war mit Lebensgefahr verbunden. Die Wege waren unsicher, von Räubern bedroht. Gegen ansteckende Krankheiten war man machtlos. Man denke an verschiedene Gestalten des Mittelalters, die auf Kreuzzügen  auf diese Weise ums Leben kamen. Es war  der Gemahl Elisabeths von Thüringen, der französische König Ludwig, der Heilige.

Ein Pilger machte vor Antritt seiner Reise das Testament und bereitete sich innerlich auf den Tod vor. Dem Ernst der Gesin­nung und den Mühen des Unternehmens entsprach auch die spiri­tuelle Wirkung der Wallfahrt. Gewandelt, als neue Menschen kehrten sie heim. Sehr viele traten hernach in ein Kloster  ein. Dazu  kommt, dass in dieser Zeit der Umgang mit dem Tod zum nor­malen Alltag gehörte. Die seelsorgliche  Betreuung erforderte es, die Menschen in die Kunst des Sterbens einzuüben.

Als wirksamer Durchgangsritus des kirchlichen Lebens der Neu­zeit sind die dreißigtägigen Exerzitien des hl. Ignatius zu nennen. Durch das Betrachten der Grundwahrheiten des menschlichen  und christlichen Daseins und der Geheimnisse aus dem Leben Christi, wird ein intensiver psychodynamischer Prozess der Begegnung mit dem Tod und der Verwandlung ausgelöst. G .C. Jung hat sich sehr stark mit den Exerzitien beschäftigt und hat darin eine Vorausnahme seiner von ihm entwickelten Methode dos Zugangs zum Unbewussten, der aktiven Imagination entdeckt. Zweifellos haben die ignatianischen Exerzitien in den Gründerjahren des Ordens eine gewaltige Dynamik entfacht. Ob die heute geübte Praxis der Exerzitien der ursprünglichen Intention des Stifters entsprechen, muss bezweifelt werden.  Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass so­wohl im kirchlichen Raum, als auch in der säkularisierten Ge­sellschaft das Wissen um die Notwendigkeit und. den Wert der Durchgangsriten verlorengegangen ist.  Die Anthropologen  Arnold van Gennep, Medard Mead und Miriam  Eliade  meinen, dass der Mangel Durchgangsriten  zur allgemeinen sozialen Psychopathologie beitrage. Der Zusammenhang von Psycho­pathologie, Banalität  und Verflachung dos modernen Lebens­stils und Verdrängung des Todes ist einer aufmerksamen Be­trachtung wert, Es kann nicht oft genug betont. werden, dass rechtes Einüben dos Sterbens keineswegs depressiv macht, sondern gewaltige, sonst  zerstörerische und antisoziale  Energien freisetzt. Darin gipfelt die Lehre des Weisen Alten  Don Juan, der empfiehlt, den Tod zum Ratgeber zu nehmen.


 

 

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                                                                 Literatur:

           Castaneda Carlos,

           1.Die Lehren des Don Juan.,Ein   Yaqui-Wog des Wissens Frankfurt 1979   FTß 1457                                                           

            2.Eine andere Wirklichkeit    Frankfurt 1978                                                 

3.Reise nach Ixtlan Frankfurt 1977                                                                             

4. Der Ring der Kraft Frankfurt 1978                                                              

            5.Der zweite Ring der Kraft  Frankfurt 1978

            Collectio Rituum, Regensburg 1960

            Grof Stanislav , Halifax Joan,  Die Begegnung mit dem Tod  Stuttgart 1980,                                                                                             

             Moody Raymond: Leben nach dem Tod     Hamburg 1980

               Kübler-Ross Elisabeth, Interview mit Sterbenden Stuttgart 1972

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

21

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

 

Castaneda Carlos

Die Lehren des Don Juan, Ein Yaqui-Weg des Wissens

Frankfurt, 1979, FTB 1457

 

Eine andere Wirklichkeit, Neue Gespräche mit Don Juan

Frankfurt, 1978, FTB 1616

 

Reise nach Ixtlan, Die Lehre des Don Juan

Frankfurt, 1977, FTB 1809

 

Der Ring der Kraft, Don Juan in den Städten

Frankfurt, 1978, FTB 3370

Heimler Adolf

Selbsterfahrung und Glaube

München, 1976

Herzog-Dürck Johanna

Menschsein als Wagnis

Stuttgart, 1960

Jaffé Aniela

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung

Olten, 1971

 

Geistererscheinungen und Vorzeichen

Olten, 1978

Jung C. G.

Der Mensch und seine Symbole

Olten, 1977

 

Symbole der Wandlung GW. Bd. V

Olten, 1973

 

Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion GW. Bd. XI

Olten, 1973

 

Zwei Schriften über Analytische Psychologie GW. Bd. VII

Olten, 1974

 

Psychologie und Alchemie GW. Bd. XII

Olten, 1976

Kübler-Ross Elisabeth

Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1972

Über den Tod und das Leben danach, Melsbach 1986

 

Lenenberger Hans

Im Rausch der Drogen

München, 1970

Mildenberger M.

Die religiöse Revolte, Jugend zwischen Flucht und Aufbruch

Frankfurt, 1979, FTB 4208

Moody Raymond A.

 

Leben nach dem Tod, Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung, Hamburg 1980

Naranjo Claudia

Die Reise zum Ich, Psychotherapie mit heilenden Drogen

Frankfurt, 1979, FTB 3381

Neumann Erich

Ursprungsgeschichte des Bewußtseins

München, 1974

 

 

 

Pongratz Ludwig J.

Lehrbuch der klinischen Psychologie

Göttingen, 1973

Suzuki D. T.

Die große Befreiung, Einführung in den Zen-Buddhismus

Frankfurt, 1975, FTB 1666

Tedlock Dennis

u. Barbara

Über den Rand des tiefen Canyons

Düsseldorf, 1980

Watzlawick Paul

u.a.

Lösungen

Bern, 1974

 

 


[1] (Reise, 21)

[2] (Reise, 13)

[3] (Andere Wirklichkeit, 12)

[4] (C.G.Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Olten 1978, 371)

[5] (Reise nach Ixtlan, 250)

[6] (Carlos Castaneda, Eine andere Wirklichkeit, 8)

[7] (Eine andere Wirklichkeit, 224)

[8] (vgl. Gen., 3,1-4,15, Numeri 21,4-9)

[9] (C. G. Jung in: Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas, 1948 in Ges. Werke XI, 2. Aufl. 1973, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, S. 182)

[10] (Suzuki, 62)

[11] (Die Lehren, 44)

[12] (Die Lehren, 172)

[13] (Ring, 216)

[14] (Heimler, 35)

[15] (Reise, 32)

[16] (Reise nach Ixtlan, 27)

[17] (Pongratz 284)

[18] (Reise, 251)

[19] (Jung, der Mensch und seine Symbole, 177)

[20] (Eine andere Wirklichkeit, 51)

[21] (Dgl. Ring der Kraft, 132 ff.)

[22] (Ring der Kraft, 175)

[23] (C. G. Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, S. 301)

[24] (Der Ring der Kraft, S. 143)

[25] (Die Beziehungen des Ich zu Unbewussten in Zwei Schriften über Analytische Psychologie G W Bd. VII, 195)

[26] (Jung, Psychologie und Alchemie, S. 59)

[27] (Zit. nach Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, 299)

[28] (Jung, Zur Psychologie westlicher Religion, S. 307)

[29]  Carlos Castaneda, Reise nach Ixtlan, Frankfurt 1977, 152

[30] ebenda

[31] Reise  nach Ixtlan 45

[32] Reise nach Ixtlan 45

[33] Reise nach Ixtlan 47

[34] Die Lehren des Don Juan,142

[35] Reise,89

[36] Die Lehren, 131

 

1.         [37] Collectio Rituum, Regensburg 1960

 

 

[38] Collectio Rituum, Regensburg 1960, 42-79

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