Erleuchtung - ein Schlüssel zum  Christentum 


Taufe als  Erleuchtung  

»Denn der Gott, der befahl, dass aus der Finsternis Licht aufstrahle, ließ auch in unseren Herzen ein Licht erstrahlen, dass es leuchte zur Erkennt-nis der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Christi« (2 Kor 4,6).
Es wird von den Getauften gesagt, sie seien von ihrem Wesen her anders, von der Erleuchtungsgnade umfasst. Nichts macht aber die Ohnmacht einer solchen Aussage deutlicher, als wenn wir selbst in schlimmster Finsternis versunken sind oder dabeistehen, wenn andere ihr ausgeliefert sind. In den vielen Fällen, wo es buchstäblich um Leben und Tod geht, hängt alles davon ab, ob das Wort vom Licht Kraft gewinnt und zur Gestalt wird. Um dieses Zieles willen müssen wir alte Denkstrukturen, die nicht weiterhelfen, verlassen und uns auf neue, ungewohnte Wege begeben.
Die Botschaft vom Licht kann nur dann wirken, wenn sie ins Erleben kommt Dies zeigt sich immer wieder in Lebenskrisen. Die Prozesse, die in Gruppen oder im Einzelgespräch bearbeitet werden, bringen uns dem Erfahrungshorizont der ersten Christen näher und können uns sogar ahnen lassen, was einmal die Erfahrung von Tod und Auferstehung bedeutet hat. Ebenso ist es ist es hilfreich, die Gipfelerfahrungen christlicher Mystiker, solche der heute aufblühenden Kontemplation sowie Berichte außerchristlicher Mystik, insbesondere des Zen mit heranzuziehen; denn was für die Blütezeit christlicher und außerchristlicher Mystik gilt, muss in erhöhtem Maß auch für die Ursprünge des Christentums zutreffen. Über vergleichbare Erfahrungen können wir einen Verstehensrahmen finden und damit auch Art und Um¬fang der Persönlichkeitsveränderung von Menschen ermessen, von denen es heißt: »Wenn also jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöp¬fung; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden« (2 Kor 5, 17).
1. Was ist dieses Neue, das einst Menschen verändert hat und auch heute noch prägt?
Werfen wir einen Blick auf die in unserem Land aufstrebende Praxis der Zen-Meditation. Ziel und Mittelpunkt im Zen ist die Erleuchtung, satori genannt. Hugo Enomiya-Lasalle, der als katholischer Priester selbst Zen-Meister war, weist auffallende Ähnlichkeiten von Erleuchtungserlebnissen im Zen mit den Aufstiegs- und Gipfelerfahrungen des heiligen Benedikt, des hl. Ignatius, des Johannes vom Kreuz und Teresas von Avila sowie mit den Aussagen und Anleitungen von Meister Eckhart, Johannes Taulers, Hugos und Richards von St. Viktor nach. Es mag manche befremden, wenn auf eine außerchristliche Religion und auf Randphänomene des Christentums, die für die geschichtliche Entwicklung der Theologie unbedeutend waren, zurückgegriffen wird. Aber echte Mystik ist alles andere als nebulöse Schwärmerei. Nach Carl Albrecht, der ernsthaft Umfang des Versenkungsweges erforscht hat, ist das mystische Denken die Grundlage für das Erkennen der Wahrheit und für ein neues Denken. Es ist existentiell bedeutsam, weil es die Erkenntnis des Erkennenden und seines Verstehenshorizontes mit einschließt. In diesem Sinn ist es kritischer als das objektive, analysierende Denken. Das alte Wort dafür ist Selbsterkenntnis, das neue Selbsterfahrung. Es ist, Voraussetzung dafür, dass wir von Gott und seiner Offenbarung etwas verstehen; nur von außen herangetragene, theologische Lehrinhalte können uns den Zugang zur Welt Gottes nicht öffnen. Es bedarf der existentiellen Konfrontation mit den Lebensfragen: Wer bin Ich? Was ist mit der Rückseite des Lebens? Mit dem Schatten, mit Krankheit, Alter, Tod? Mit Angst, Einsamkeit und Sinnleere? Die Konfrontation mit den Grundbedingungen unseres Daseins erweitert den Rahmen der Wahrnehmung über das bloß Rationale hinaus. Dazu sei der mittelalterliche Theologe Richard von St. Viktor angeführt: »Der Geist, der nicht in der Erkenntnis seiner selbst lange geübt und ganz erzogen ist, wird zur Erkenntnis Gottes nicht emporgehoben. (1).
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Diese Form des Erkennens erfolgt unter Einsatz und Hingabe des ganzen Menschen, mit Verstand und Gefühl sie ist nicht Ergebnis Schluss folgernden Denkens, eher der Einfall des Augenblicks, das Licht, das einem aufgeht,
eine Gewissheit, die plötzlich unerwartet auftaucht. In der Psy¬chologie spricht man von Intuition. Insofern dieser Vorgang seelische Tiefe erreicht und für das Heil maßgebend ist, wurde er in der Theologie schon immer Erleuchtung genannt.
Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn wir berücksichtigen, dass die Taufe in den ersten Jahrhunderten - manche sagen, sogar bis ins 12. Jahrhundert- Erleuchtung geheißen hat. So schreibt Justin in der Mitte des zweiten Jahrhunderts in seiner ersten Verteidigungsschrift an den Kaiser Antoninus Pius: »Das Bad aber heißt Erleuchtung, weil jene, die das erfahren, im Geist erleuchtet werden."(2). Die Taufbewerber nannte man photizomenoi, die zu Erleuchtenden. Im Neuen Testament ist ein altchristliches Tauflied überliefert, das heißt: »Steh auf, der du schläfst, und Christus wird dich erleuchten« (Eph 5, 14). Die Judenchristen, an die der Hebräerbrief gerichtet ist, hatten nach ihrer »Erleuchtung«, womit ihre Bekehrung gemeint ist, einen schweren Kampf zu bestehen (Hebr 10,32).
Hinter allen Bekehrungserlebnissen steht das »Licht, das jeden Men¬schen erleuchtet« (Joh 1,9), »das heller ist als die Sonne« (Apg 26, 13), Christus selbst, dessen Gesicht auf dem Berg wie die Sonne leuchtete (vgl. Mt 17,10).

Erleuchtung im Zen

Nach Lasalle gibt es im Japanischen zwei Wörter für Erleuchtung. Das eine heißt Satori, was soviel bedeutet wie Verstehen. Das andere, kensho.ist weniger geläufig und hat den Sinn von Wesensschau. Das Satori ist eine Erkenntnis der je eigenen Erfahrung und deshalb nur dem voll und ganz verstehbar, dem eine solche Erfahrung zuteil geworden ist. Es ist ein Ereignis, das sich nach Jahren mühevollen Übens - das heißt des Sitzens im Schweigen - einstellt. Es ist mit dem Willen nicht unmittelbar machbar und lenkbar, vielmehr ein Geschehen, das einem plötzlich widerfährt. Der Schüler übt sich nur in der Entleerung des Bewusstseins, indem er sein Ich an einem unlösbaren Rätsel, dem Koan fest macht. Wenn er zum Beispiel den Meister fragt: „Wie komme ich zur Erleuchtung‘?" sagt dieser: „Höre das Murmeln des Baches!" Das den¬kende, von Inhalt zu Inhalt springende Ich wird angehalten und vom unruhigen, auf Gegenstände fixierten Tun auf das Empfangen, auf aufmerksame, hellwache Passivität umgestellt. Das kleine Ich-Gehäuse wird aufgebrochen, der Schwerpunkt des Denkens, Fühlens und Wollens verlagert sich aus ihm heraus in den Seelengrund, der vom absoluten Sein berührt und gehalten wird. Dieser Vorgang wird als umfassende Einheit erlebt. Menschen, die in der östlichen Tradition stehen, wissen sich in die kosmische, die Große Ordnung eingefügt. Christliche Mystiker sagen, sie seien mit Gott eins geworden. Sie spüren das Sein in unbegrenzter Fülle.
Man kann nur ahnen, was es heißt, in den absoluten Grund eingetaucht zu sein. Es ist das Ende aller Entfremdung und damit aller Angst, Not und Zerrissenheit. Alle Zweifel und alle Unsicherheiten sind einer beglückenden Gewissheit gewichen. Der Durchbruch zum Wesen«, wie Dürckheim den Vorgang nennt, ist die Erfahrung eines Nicht-Ich. Diese seelische Instanz, das Selbst, ist vom Ich »grund« - sätzlich verschieden. Während unser empirisches Ich durch Vererbung und Umwelt geprägt ist, gehört das Selbst dem Bereich des vom Äußeren unabhängigen Geistigen und Ewigen an. Hier auf dem Seelengrund ist der letzte Sinn, die Bezogenheit zum umfassenden Ganzen. Wer davon ergriffen ist, hat die Erfahrung eines Nicht-Ich, welches das Ich durchdringt und es in seiner bisherigen Form sprengt und doch das Gefühl verleiht, ganz selbst zu sein. Die Umbrüche in den tiefsten Schichten der Seele bewirken, dass die Antriebe von ihren alten Zielen lassen und dass ihre Ausrichtung umgepolt -wird. Nach Johannes vom Kreuz sind dann die spontanen Regungen der Kräfte solcher Seelen (die den Aufstieg auf den Berg geschafft haben) göttlicher Natur, da ja die Seelenkräfte in Gott umgewandelt sind. Das bedeutet, dass die spontanen Einfälle und Impulse, die von innen heraus wollen, von selbst, ohne große Überlegungen auf das Gute bezogen sind und die Situation des Augenblicks treffen. Lasalle beschreibt Erleuchtete, die er selbst kennen gelernt hat, als Menschen, in denen sich unerschütterliche Ruhe mit sprühender Vitalität verbindet. Ihre Grundstimmung ist innere Sicherheit, Furchtlosigkeit und Dankbarkeit. Jung schreibt, die Erleuchtung befreie aus den emotionalen Verwicklungen. Und Lasalle stellt gleichermaßen bei außerchristlichen und christlichen Mystikern fest, dass menschliche Leidenschaften - dazu gehören Begierden, Zorn, Neid, Eifersucht, Stolz - sich auflösen, dass falsche Hemmungen abfallen.

Reinigung des Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnisrahmens

Die Wandlung umfasst den gesamten Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnisrahmen und damit auch die Motivation.
Ein Erleuchteter sieht die Dinge, wie sie sind, ohne Vorurteile, d.h. ohne die Affekte, mit denen Personen, Weltanschauungen, Religionen, Institutionen, politische Gruppierungen und Völker behaftet sind und die deren Wahrgenommenwerden verzerren. Das Eigentliche des neuen Zustandes liegt nicht in außerordentlichen Erscheinungen, sondern darin, dass das Organ des geistigen Aufnehmens und Verarbeitens sich verändert. Es sei noch einmal Jung zitiert: »Es handelt sich eben nicht darum, dass etwas anderes gesehen wird, sondern, dass man anders sieht. Es ist, wie wenn der räumliche Sehakt durch eine neue Dimension geändert worden wäre. Wenn der Meister fragt: >Hörst du das Murmeln des Baches? so meint er damit offenbar ein ganz anderes >Hören< als das gewöhnliche«(3).
In der großen Befreiung, wie der japanische Meister Suzuki die Erleuchtung nennt, werden die Hindernisse, die uns den Blick für die Wahrheit verstellen, ausgeräumt; oder, wie Lasalle sagt, die gefärbte Brille fällt ab. Der Sinn für Echtheit und Wahrhaftigkeit erwacht und bestimmt von nun an die ganze Lebensweise.
Erleuchtung ist Erkenntnis in der ersten Person, d.h. die Inhalte sind nicht wie naturwissenschaftliche Ergebnisse objektivierbar, nicht objektiv nachprüfbar. Aber sie ist die Antwort auf die quälenden Lebensfragen, nämlich Angst vor Vernichtung, vor Sinnlosigkeit, vor Isolierung und Einsamkeit. Sie ist Wandlung des Erkennenden.
Dementsprechend sieht Dürckheim die drei Kennzeichen eines Men¬schen, der »durch« ist, der die Große Erfahrung hat: keine Angst mehr vor dem Tod, Sinn im Unsinn und universale Liebe.
Dieses Gipfelerlebnis, verleiht die Gewissheit, dass Leben und Tod gleichwertig und nur zwei Seiten der einen Sache sind; es führt in einen Zustand, wo man sich trotz des Zusammenbruchs seiner bisherigen Überzeugungen in einem unbedingten Ordnungs- und Sinngefüge gehalten weiß; wo man auch in der schlimmsten Einsamkeit von Liebe geradezu überflutet wird.
Die Art dieser Liebe ist aber nicht die im herkömmlichen Sinn, die wieder neue Abhängigkeit schafft; sie ist jenseits von Sympathie und Antipathie. Sie übersteigt die Grenzen der Familie, der politischen und sozialen Zu¬gehörigkeit, des Volkes und der Rasse, hebt das Gefühl der Verlassenheit auf und verleiht das Empfinden, jedem Wesen nahe zu sein. Als Dürckheim einmal einen Japaner bat, ihm etwas von der Großen Erfahrung zu erzählen, sagte dieser nur: »Ich habe gekostet, dass das Wesen des Seins die Liebe ist"(4).

Erleuchtung im christlichen Bereich
Das Wort von der Liebe dürfte uns Christen nicht ganz unbekannt sein. Im 1.Joannesbrief steht es wörtlich: "Gott ist Liebe"(1Joh 4,16). Gewiss müssen wir auf die Unterschiede zum christlichen Verständnis hinweisen: Ein gläubiger Christ kennt den personalen Gott, ein lebendi¬ges Gegenüber. Paulus glaubt an den Sohn Gottes, der ihn geliebt hat (Gal 2,20). Die Erleuchtung im Zen ist die Antwort der Natur, sagt Jung. Sie tritt dann ein, wenn Menschen sich lange Zeit darum bemühen, zumin¬dest sich bereithalten. Bei Paulus war das anders. Es war die Wirkung des Geistes Jesu, der damals sozusagen in der Luft lag und mit dem sich der Pharisäerschüler bei der Verfolgung buchstäblich »infizierte«. Der Name Jesu war mit solcher Kraft aufgeladen, dass er jeden, der ihn gläubig an¬rief, in die Mitte der eigenen Existenz, in die Mitte der Welt und in die Nähe Gottes zugleich rückte, ein Zustand, der in dem Bekenntnis aus¬gedrückt wurde: »Herr ist Jesus Christus« (Phil 2, II).

Wenn wir daran festhalten, dass im Namen Jesu das Heil gekommen ist dann dürfen wir die Wirkungen, die in der Erleuchtung des Zen und in den Gipfel- Erfahrungen anderer Religionen vorkommen, als darin enthalten annehmen. Das »Sein in Christus« muss das menschliche und spirituelle Niveau eines erleuchteten Buddhisten nicht aus-, sondern einschließen. Das heißt, wir dürfen nach Stellen in der HI. Schrift suchen, wo die beschriebenen Aspekte der Erleuchtung wiedergegeben werden.
Solche Zeugnisse, die das Eintauchen in den absoluten Grund und das Einswerden mit ihm beschreiben, finden wir in den Apostelbriefen; als wichtigste seien der Epheser- und Kolosserbrief genannt (vgl. Eph 1,3- 13; Kol 1, 11 -23), wo Worte wie »aller Segen des Geistes«, »Herrlichkeit seiner Gnade«, »Reichtum seiner Gnade, «, »die überragende Größe seiner Macht«, vorkommen. Sie können nur von einem Menschen stammen, der von einer absoluten Fülle überwältigt ist. Wer spontan so reden kann wie an den ange¬gebenen Stellen und damit seinen neuen Zustand ausdrückt, der ist »durch«, wie Dürckheim sagt.
Das Eintauchen in die Atmosphäre Jesu in der Taufe entspricht einem real erlebten Überflutetwerden von Kraft, Lebensdichte, Freude, Liebe, Geborgenheit, Sinn, Ein¬sicht und Wissen. Die Grundstimmung der neutestamentlichen Schriften ist deshalb Dankbarkeit. Erinnert sei an den Lobgesang Marias (Lk 1,46-56), des Zacharias (Lk 1,68-78) sowie an den Johannesprolog (Joh 1, 1-18). Nicht zu vergessen ist, dass sich das Wort eucharistia, Danksagung für die Gottesdienste der Christen durchsetzte. »Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade Gottes« (1 Kor 1,4). Das ist mehr als eine Einleitungsformel; es ist Ausdruck dafür, dass Konflikte oder besser besagt grundsätzliche Lebensfragen beim Verfasser wie bei den Lesern »durch«gestanden sind. Die Neubekehrten sind in einen Be¬reich eingetreten, wo die Belastungen und Zwänge der persönlichen Lebensgeschichte aufgehoben sind. Paulus nennt dieses Ereignis im Rö¬merbrief »Rechtfertigung«. Sie ist mehr als der gerichtliche Freispruch vor einem höchsten Wesen, es handelt sich die Be¬freiung aus den emotionalen Verwicklungen, aus den eingeschliffenen Denk- und Verhaltensweisen und aus den tief eingegrabenen Kanälen der Gefühle und Leidenschaften. Die »Herrschaft der Sünde« (vgl. Röm 6, 1 f) ist gebrochen. Das bedeutet, dass einen Bekehrten die eigene Vergangenheit nicht immer wieder einholt, sei es durch Hass- und Ra-cheimpulse für ein erlittenes Unrecht, durch niederdrückende Gefühle der Schuld und Minderwertigkeit oder durch eine unglückliche Bindung. In den Berichten Neugetaufter klingt durch, dass sie frei wurden von Fremdbestimmung, dass sie alles abwerfen konnten, was nicht zu ihrem Wesen gehörte. Das neue Leben unterscheidet sich so sehr vom alten, dass letzteres gar nicht mehr den Namen »Leben« verdient.
„Gott aber machte in seiner großen Liebe, mit der er uns liebte, auch uns, die wir tot waren in Sünden, zusammen mit Christus le¬bendig....und hat uns mit ihm auferweckt" (Eph 2,4). Wer »erweckt« wurde, ist nicht mehr dem Spiel seiner Emotionen, dem Sog und der Faszination von Macht, Besitz und Sexuali¬tät ausgeliefert, vielmehr vor der Überschwemmung durch die Triebe ge¬schützt. Das aber ist nicht Ergebnis eiserner Willenszucht, sondern einer eigentätig wirkenden inneren Instanz, die jenseits der vitalen Dynamik im geistigen Grund der Seele ihren Sitz hat. C.G.Jung spricht vom Selbst als dem Archetyp der Ganzheit, welches über dem empirischen Ich steht und vom Bild Gottes im Menschen nicht zu unterscheiden sei. Er nennt es auch Gefäß für die göttliche Gnade. Archetyp der Ganzheit meint»Durch Gnade seid ihr zum Heil gekommen« (Eph 2,5). Damit ist auch das Gesetz als Inbegriff aller von außen dem Willen auferlegten Normen überflüssig ge¬worden; anders gesagt, das Gesetz ist zur Erfüllung gekommen, wenn ein Mensch den Anschluss an die »Große Ordnung«, an das »Wirken des Geistes« gefunden hat. Dies ist bei den Erleuchteten so, und davon spricht Paulus: »Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13, 10; vgl. Gal 5, 14).
Die universale Liebe, von der Dürckheim spricht, und die Liebe, die Pau¬lus im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes darstellt, dürften sich vielleicht nach Eigenart der Menschen und der Kulturen unterschei¬den. Aber die sie haben, finden bald zueinander. Dies bestätigt sich immer dann, wenn sich spirituell Hochstehende aus verschiedenen Religionen begegnen. Die gegenseitige Annahme kommt aus einer inneren Erfülltheit, Gelöstheit und Freude. Wer jedoch nur mit dem Wil¬len diesem hohen Ideal nachjagt oder einen Idealzustand anstrebt, steht ständig unter Druck und übersieht nur zu oft den konkreten Menschen. Die Liebe, auf die die Christen der ersten Jahrhunderte ihre Gemeinschaft (koinonia) bauten, war nicht zuerst in der Idee, sondern im Erleben. Nur so vermochte sie zum entscheidenden Impuls des Handelns zu werden. »Die Liebe Christi drängt uns« (2 Kor 5, 14), konnte Paulus den Korinthern schreiben, während wir Christen heute eher sagen müssten: Überlegun¬gen, Schlussfolgerungen, Gedanken um die Liebe bewegen uns (wenn sie es tun!). Bei den Getauften des christlichen Ursprungs war hingegen die Kraft des Herzens vorhanden, den Menschen, der einem begegnet und herausfordert, um seiner selbst willen zu bejahen, und in Kontakt zu seinem Wesen zu treten.

Eine solche Haltung meinen altbekannte Tugenden, die im Kolosserbrief aufgeführt werden wie »herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld« (Kol 3,12). Es sind andere Namen für das bedingungslose Ja zum Sein, für die universale Liebe. Wo sie blüht, leuchtet das Bild Gottes als der neue Mensch auf. Es tritt in immer schärferen Umrissen hervor als dasselbe in allen, so dass Unterschiede nach Herkunft und Stand unbe¬deutend werden. »Da gilt nicht mehr Hellene und Jude, nicht Beschnei¬dung und Unbeschnittensein, nicht Barbar, Skythe, Knecht, Freier, sondern alles in allem Christus« (Kol 3, 11). Die Liebe »ist das zusammenschließende Band der Vollendung« (Kol 3, 14), ist »universal«.

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Nicht der Wille, das stärkere Erleben und die tiefere Einsicht verändern die Gefühle und damit den Menschen.

Als wesentliche Wirkung der Erleuchtung beziehungsweise der Tauferfahrung dürfen wir deshalb die Erlösung der Gefühle bezeichnen: dass wir von ihnen nicht mehr irritiert, in die Irre geführt und gequält, sondern von ihnen getragen und geführt werden, dass wir ihnen trauen dürfen. Dies macht zum großen Teil die innere Gewissheit der Erleuchteten aus. Das neutestamentliche Wort dafür ist Friede. Paulus weist in jedem sei¬ner Schreiben auf ihn hin; er zählt ihn zu den Früchten des Geistes (Gal 5,22). Der Friede Gottes übersteigt menschliches Fassungsvermögen, den Horizont des Denkens; er kann die aufgewühlten Emotionen und Ängste beruhigen (vgl. Phil 4,7). Friede als Geschenk kommt von ei¬ner Instanz außerhalb unseres Bewusstseinsrahmens. Es klingt die unsag¬bare Stille jenseits menschlicher Erfahrungen und Worte an, welche in Zeugnissen Erleuchteter angedeutet wird. Auf diesem Hintergrund sieht, hört und denkt ein Mensch anders. Er sieht mit den Augen des Herzens. Deshalb die Bitte im Epheserbrief,¶Gott möge die Herzen erleuchten, um die Größe, den Reichtum und Schönheit des neuen Zustandes zu erkennen (vgl. Eph 1, 18). Die Wandlung des Wahrnehmungsrahmens findet sich in den Schriften der Mystiker wie des Neuen Testamentes gleichermaßen wieder. »Da fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und er konnte sehen« (Apg 9,18) - das ist sicher mehr als die Heilung eines körperlichen Organs. Dürckheim sagt von der Großen Erfahrung, dass man in diesem Augenblick mit dem inneren Auge, auf dem man bis dahin blind war, zu sehen beginnt. Dieses Wahrnehmen bedeutet Bewusstwerdung; man weiß, wer man ist und was man tut. Es ist die »Erkennt¬nis« (gnosis, epignosis), welche in den Schriften des Johannes und bei Paulus eine zentrale Rolle spielt. Blinder Eifer ist Unbewusstheit. Er ist es, welcher in und außerhalb der Kirche so viel Schaden anrichtet. So bestätigt Paulus seinen Brüdern aus dem jüdischen Volk »Eifer für Gott, doch nicht in rechter Erkennt¬nis" (Röm 10,2). Bei Justin hat die Anrufung Gottes des Allvaters wäh¬rend der Taufe den Sinn, Täuflinge aus Zwang und Unbewusstheit zu befreien. Die beiden anderen Kennzeichen, die Dürckheim für die »Große Erfahrung« anführt, Furchtlosigkeit vor dem Tod und Sinn im Unsinn, sind bei den frühen Christen sogar am auffallendsten.
Mittelpunkt und Grund des Glaubens ist die Auferstehung Christi, aber nicht als bloßer Glaubensinhalt, sondern als ein Teil der schon durchleb¬ten wie der noch zu erwartenden Lebensgeschichte. Das »Sein in Chri¬stus« (einai en Christo) hatte in den Anfängen mehr als eine dogmatische Bedeutung. »Ich bin in Christus« konnte damals nur einer sagen, der den Schmerz und die Trauer des Abschieds von seiner bisherigen Welt durch gelitten hatte und in die Freiheit und Freude des Kraftfeldes Christi getre¬ten war. Das, was den Tod so schwer und unerträglich macht, nämlich Angst und Verlassenheit, lag in einem gewissen Maß hinter ihm. Die Kluft von Diesseits und Jenseits ist im Bewusstsein der frühen Christen überbrückt; für sie hat die Welt jenseits des Todes, dargestellt im aufer¬standenen Christus, denselben Wirklichkeitsgehalt wie das, was vor dem Tod geschieht. Paulus hat es so ausgesprochen: »Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, ob wir nun le¬ben oder sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14,8). Mit Christus ist er an einem Punkt, wo die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig wird.
Die Verfolgungen der ersten Jahrhunderte haben diese Haltung immer wieder neu gefordert und bekräftigt. Als erster Zeuge christlichen Ster¬bens ohne Furcht vor dem Tod gilt Stephanus (Apg 7,1-60). Die Vision von Christus, »der zur Rechten Gottes steht« (Apg 7,55), kann ihm die Angst und auch Gefühle der Erbitterung nehmen. Sein Sterben ist ein Hinübergehen zu Christus, den er schon sieht. Eine solche Einstellung kann erklären, dass Unzählige sich durch die ausgesuchtesten Grausam¬keiten nicht von ihrem Glauben abbringen lassen und dafür Hab und Gut, Gesundheit und Leben geben.

Verständlich ist, dass die Verbindung zu den Toten in besonderer Weise aufrechterhalten wird; sie weilen auch als Verstorbene unter den Lebenden. Der Todestag wird als Tag einer neuen Geburt (dies natalis) begangen, als endgültige Vollendung der im Mysterium der Taufe voll¬zogenen Wiedergeburt. Die Gräber werden besonders hochgehalten als Stätten in der Erde, wo das Geheimnis der Wandlung am Werke ist, wo »das Weizenkorn in die Erde kommt und reiche Frucht bringt« (vgl. Joh 12,24). Sie sind Orte der Kraft; über ihnen versammelt sich die christ¬liche Gemeinde zur Feier des Herrenmahles. Lebende und schon Verstor-bene sind eine Gemeinde.
Das junge Christentum war in der Zeit des römischen Reiches eine über¬zeugende Antwort auf die Nöte des Menschen. Es vermochte den Ent¬rechteten ihre Würde und den Suchenden in der Unsicherheit des Da¬seins einen festen Grund zu geben; der Glaube bot Schutz gegen die Äng¬ste, die immer dann frei werden, wenn Traditionen zerbrechen und die Einbindung in ein festes soziales Gefüge schwindet. Die Gemeinschaft der Christen gewährte emotionale Nähe und Geborgenheit gegen die Vereinsamung. Die Kraft der Überzeugung lag weniger in der Logik der Argumente als in der Dichte des Erlebens. Das Wort von der Erlösung kam deshalb an, weil sie als emotionale Entlastung und existentielle Er¬höhung spürbar war. Taufe als Erleuchtung war das weithin sichtbare Licht in der Finsternis der Zeit.

Die Erleuchtung des heiligen Franziskus

Es lohnt sich, das Gesagte auf das Leben des heiligen Franziskus anzuwenden.
Das Thema Erleuchtung lenkt die Aufmerksamkeit sofort auf alle Erscheinungen und Äußerungen des Heiligen, die mit Licht zu tun haben. Man denkt an das Gebet um Erleuchtung in der Zeit seines Suchens, an das wundersame Licht verbunden mit der unsagbaren Freude vor dem Kreuz in S. Damiano und in der Höhle, daran, dass er die Sonne als das Bild Gottes erkannte, sie und das Feuer Geschwister des Lichtes nannte, und aus dieser Erfahrung sein bekanntes Lied schuf, schließlich daran dass Thomas von Celano von seinem Sterben sagt: „Er wurde in dem grundlosen Meer des Lichts verschlungen"(5).
Wichtiger noch ist aber die Frage, inwieweit die beschriebenen Wirkungen der Erleuchtung im Leben des Heiligen zu finden sind. Hier ist als erstes ein Zitat aus seinem Testament von Bedeutung." So hat der Herr mir dem Bruder Franziskus verliehen, das Leben in Busse zu beginnen: denn da ich in Sünden war, erschien es mir unerträglich bitter, Aussätzige anzublicken. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und während ich fortging von ihnen, wurde mir gerade das, was mir bitter schien, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach verweilte ich nur kurze Zeit und verließ die Welt"(6).
Das Entscheidende ist, dass bei Franziskus eine völlige Wandlung seiner Motivation, seines Erlebens und Empfindens, die er unmöglich von sich aus schaffen konnte, vor sich ging. Er kam nicht durch einen moralischen Kraftakt zu einer neuen Lebenseinstellung, sondern durch eine tiefere Erfahrung, die er als Führung Gottes bezeichnet.
Er hatte zu Beginn seiner Wandlung Impulse erfahren, die ihn anregten, sogar zwangen, sich nach innen zu kehren und sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Es waren Träume mit eindrucksvollen Bildern und starkem emotionalem Charakter. Der Traum vom Schloss bestärkte ihn zunächst in seinem Vorhaben, in den Krieg zu ziehen. Durch einen erneuten Traum verlor jedoch das, was ihn vorher begeistert hatte, plötzlich seine Anziehung. Ihm war die Lust vergangen und er kehrte wieder heim. Im Anschluss daran erfuhr er etwas so Gewaltiges und Schönes, dass er davon nicht mehr loskam. In der Dreigefährtenlegende steht:
„Denn plötzlich hatte ihn der Herr berührt. Und eine solche Süße erfüllte sein Herz, dass er weder reden noch sich bewegen konnte. Nur jene Süße fühlte er und konnte nichts anderes wahrnehmen. Als seine Freunde ihn fragten, woran er denn gedacht habe - an eine Frau, die er heimführen werde. „Ja wirklich", sagte er, „und die Braut, an die ich dachte und die ich heimführen möchte, ist edler, reicher und schöner, als ihr jemals eine gesehen". Sie lachten über ihn"(7).

Franziskus war in einen Erlebnis- und Denkrahmen eingetaucht worden, den seine Gefährten nicht mehr verstanden.
Dieses und ähnliche Erlebnisse bestimmten nun sein weiteres Leben. Sie hatten seine Grundmotivationen verändert.
Er hatte die tragende Richtung seines Strebens gefunden. Es sind weniger die außergewöhnlichen Lichterscheinungen, die den Charakter seiner Erleuchtung ausmachen sondern die Öffnung eines neuen Erlebnisgrundes, in dem die bisher geltenden Gesetzmäßigkeiten der Bindungen zu seiner Familie, seiner Triebimpulse und Affekte aufgehoben waren.

Der Sonnengesang - das authentische Dokument eines Erleuchteten.
Das Sonnenlied des Heiligen ist das authentischste Dokument seiner Erlebniswelt, seiner Wertestruktur, und seines Wahrnehmungs- und Denkrahmens. Die Berichte anderer über ihn sind Spiegelungen seines Wesens in deren Art, die Dinge wahrzunehmen auf dem Hintergrund der damaligen Zeit. In einer eigenen Schöpfung jedoch spricht der Verfasser unmittelbar zu uns. Hier gilt es nun zu schauen, inwieweit dieses Dokument seiner Innenwelt der Erscheinung, die im Zen Satori - Erleuchtung genannt wird, nahe kommt.
Es fällt auf, dass bei großen japanischen Zen-Meistern der hl. Franziskus sehr bekannt ist und als einer gilt, dem das große „Satori", die Erleuchtung zuteil wurde. Parallelen zwischen dem Geist des Sonnengesangs" und östlicher Weiserlassen sich finden. Suzuki zitiert Bankai, einen großen, modernen japanischen Zen -Meister mit seiner Sicht vom" Ungeborenen",der lehrt, dass die Erfahrung, einen Vogel singen zu hören, eine Blume blühen zu sehen, auf das Vorhandensein des „Ungeborenen" in uns zurückzuführen sei. Es ist aufs engste mit der Erfahrung des Satori, der Erleuchtung" verbunden. Die Nähe zum „Ungeborenen" würde jenem inneren Erleben entsprechen, das Franziskus mit den Worten ausdrückt: ,,Höchster, erhabenster, gütiger Herr!" Wir dürfen vermuten, dass der buddhistische Weise mit dem Hören eines Vogels und dem Sehen einer Blume ein ähnliches Empfinden meint, wie es der Heilige von Assisi bei der Abfassung des Sonnenliedes hatte. Erleuchtete sagen, dass sie in einem Vogelruf die schönste Symphonie hörten und in einer einzigen Mauerblume alle Schönheit dieser Welt sähen.
Es ist die Berührung mit der Wurzel aller Dinge, die bei allen Sinnerfahrungen Erleuchteter durchgängig ist. Deshalb kann Franziskus zu den Elementen, die der Mensch sonst nur zu beherrschen versucht, Bruder und Schwester sagen. Ein Hinweis dafür ist jener Satz bei Thomas von Celano, wo es heißt:"er pflegte alle geschaffenen Wesen sine Geschwister zu nennen, und auf wundersame, andern verschlossenen Weise fand er Zugang in das Geheimnis der Dinge, ein Mensch, dem „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes" (Röm 8,21) gegeben war"(8).
Mit dem Sonnengesang des hl. Franziskus dürfte auch ein kurzes Gedicht des japanischen Dichters Basho(1644-1694) zu ver¬gleichen sein, das Suzuki ebenfalls anführt und seine Interpretation anfügt:

 


,Wenn ich aufmerksam schaue,
Sehe ich die Nazuna
An der Hecke blühen!"

Das Gedicht drückt Bewunderung und Freude über eine ganz unscheinbare Blume aus. Der Dichter kann aus jedem Blütenblatt das Geheimnis des Seins und des Lebens lesen. Für Daisetz Suzuki ist sicher, dass sich damals im Herzen des Dichters ein Gefühl regte, in etwa mit dem verwandt, das Christen göttliche Liebe nennen und das bis in die Tiefe des kosmischen Lebens reicht. Sehr nahe liegt es, hier an die Lilien des Feldes zu denken und ihre Schönheit und Pracht, wie sie nicht einmal Salomo besaß ( Mt 6,28-30).
Die Nähe zur Schöpfung geht einher mit Wertschätzung aller Menschen. Deshalb lobt er Gott für die, die von der Liebe Gottes ergriffen vergeben können. Die mutigste Aussage ist die über den Tod. Wer ihn wie Franziskus seinen Bruder nennen kann, für den hat er seinen Schrecken verloren.
Der Schöpfer dieser Verse ist an dem Punkt, wo er Gott, sich selbst, der Schöpfung und allen lebenden Wesen nahe ist, und die Angst vor dem Tod, vor Einsamkeit und vor Sinnlosigkeit überwunden ist.

Erleuchtung- ein unerreichbares Ziel?


Die Frage lautet konkret: Wie kommen wir in den Erlebnisraum des heiligen Franziskus, so dass wir mit der derselben Freude das Sonnenlied singen können? Offensichtlich befinden sich die franziskanischen Orden wie die meisten anderen in einer spirituellen Sackgasse. Der Heilige aus Assisi genießt höchste Achtung und Anerkennung in allen weltanschaulichen Lagern selbst bei nichtchristlichen Religionen. Seine Jünger jedoch müssen ein Kloster nach dem andern schließen. Diese Tatsache nur dem bösen Zeitgeist zuzuschreiben wäre der falsche Schluss bzw. der Trick, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Jesus hat für die Kraft des Evangeliums das Bild des Sauerteigs gebraucht, der die ihn umgebende Masse verwandelt und nicht umgekehrt von ihr aufgesogen wird. Deshalb gilt es, genau hinzuschauen, warum die Nachfolge des Heiligen so wenig gelingt. Als wichtigste Erkenntnis dürfen wir die Einsicht betrachten, dass Erleuchtung, bzw. das spirituelle Niveau und die Ideale des Heiligen nur erreicht werden können, wenn wir von Fremdbestimmung frei werden. Der Anruf Gottes, welcher die neuen umwerfenden Impulse bei Franziskus und vielen anderen aus löste, fällt mit dem Ureigensten in einem selbst zusammen. Nur was als das ganz Eigene empfunden wird, hat die Kraft der Ausstrahlung und kann überzeugen.
Franziskus hat sich nicht an fremden Autoritäten orientiert, sondern vertraute sich der Urerfahrung des Geistes an.
Nachfolge kann deshalb nicht heißen, den Heiligen nachahmen, selbst wenn der Wille noch so bereit und die Anstrengungen noch so mühevoll sind. Nachfolge wird erst dann gelingen, wenn wir wie Franziskus uns auf die je eigene Urerfahrung des Geistes, auf die je eigene existentielle Selbsterfahrung einlassen. Deshalb gilt:
Nicht Imitation sondern Inspiration!
Man darf sich nicht durch fremde Autoritäten, und seien es die eines Heiligen, von den eigensten Impulsen, von dem je eigenen Anruf Gottes wegziehen lassen. Hier könnte die Aussage des Duns Skotus über die unvertretbare Einmaligkeit der Person, die Haecceitas ihre tragende Bedeutung zurückgewinnen. Dazu passt der Satz eines italienischen Schriftstellers, der auf einem Faltblatt in einer Kirche in Assisi zu lesen war:
Nessuno ando´ieri, nessuno va oggi, nessuno andrá domani per la stessa strataa Dio che percorro io. „Niemand ging gestern, niemand geht heute, niemand wird morgen denselben Weg zu Gott gehen, den ich gehe".
Die Nachfolge wird dann ihre überzeugende Kraft zurückgewinnen, wenn jeder, der es versucht, so aufmerksam und konsequent auf seine inneren Impulse achtet und sein ganz eigenes Leben riskiert, wie Franziskus es getan hat. Die Echtheit und Treue zum je Eigenen bewirken von sich aus die Ähnlichkeit mit dem großen Vorbild.

 

Anmerkungen


1)Ben.Min.71.Kap.S.174-175

2)Justin, Apol. I 61 f in: Bibliothek der Kirchenväter, Frühchristliche Apologeten, Kempten 1913,76

3)C.G.Jung, GW11 Olten 1973 S.590

4)Karlfried Karl Dürckheim, L' experience religieuse au-dela´ des re´ligions, in Syntheses18(1963),210-211

5)Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus Werl 1988 I 110, S185

6)Esser Kajetan, Die Schriften des hl. Franziskus, Werl 1951, 70

7) Die drei Gefährtenlegende des heiligen Franziskus, Kap.III, 25 ,Werl 1972

8)Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi, I,81

 

 


Weiterführende Literatur

Dürckheim Karlfried Graf, Überweltliches Leben in der Welt, Der Sinn der Mündigkeit, Weilheim 1968
Enomiya-LasalleHugo M, Zen-Buddhismus, Köln 1966
ders., Zen-Meditation für Christen, Weilheim 1968
Fortman Han, Der Weg zum Selbst, Christliche Existenz zwischen Yoga und Revolution , Düsseldorf 1971
Heinrichs Maurus, Der große Durchbruch, Franziskus im Spiegel japanischer Literatur, Werl, 1969
Jung C.G., Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GWBd11 Olten 1973
Karrer Otto(Hrg); Franz von Assisi, Legenden und Laude Zürich 1986
Kreppold Guido, Sakramente-leere Tradition oder Lebenshilfe, Würzburg 1990
Laotse, TAO TE KING, Das Buch vom Weltgesetz und seinem Wirken, München 1976

Suzuki D.T., Die große Befreiung, Einführung in den Zen-Buddhismus, Ffm 1975
Wilber Ken, Wege zum Selbst, Östliche und westliche Ansätze zu persönlichem Wachstum, München 1988

 

 

Vorschläge zur Tagung der Johannes Duns Skotus- Akademie

1. Man bekommt, wenn im Gespräch das Wort Mittelalter auftaucht, sofort die Inquisition aufgetischt. Es wäre ein sehr aufschlussreiches Thema, dieser dunklen Erscheinung nachzugehen und zu fragen:
Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen im Namen Jesu gefoltert und verbrannt wurden? Worin lag der entscheidende Denkfehler der damaligen Zeit? Inwieweit hat ihn Duns Skotus bereits durch brochen , aber sich nicht durchsetzen können?
2. Eine weitere Frage: Lassen sich Verbindungen aufzeigen vom Denken des Duns Skotus zur Gleichheit aller Menschen, zu den gleichen Rechten bzw. zu den Menschenrechten der neuesten Zeit? Es wäre ein interessantes Kapitel der Philosophiegeschichte.
3. Das Thema Liebe ist nach wie vor das aktuellste. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang: Welche konkreten Schritte braucht es, damit Liebe möglich wird? Wie ist es mit den Gefühlen?
Dürfen wir sie zulassen oder müssen wir sie unterdrücken? Was ist mit dem Vorwurf, dass gerade in kirchlichen Kreisen, vor allem in den Orden so wenig von Liebe zu spüren ist?
Ist Liebe Sache des Willens oder der Gefühle? Wie können Gefühle geordnet werden oder müssen sie nur beherrscht werden?

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