Die Chance der Zukunft: Eins zu Tausend oder Tausend zu eins?

Die Aussichten der Jünger Jesu heute, auf die Entwicklung unserer Gesellschaft einzuwirken, sind nicht ermutigend. Dem äußeren Anschein nach geht der Trend nach wie vor in die Richtung: Weg von Tradition, weg von Religion, weg von Gemeinschaft, weg von Solidarität und Verantwortung, weg vom andern,  hin zu mehr Freiheit, Eigenständigkeit, Ungebundenheit. Betrachten wir die Bemühungen der kirchlichen Stellen in den letzten 50 Jahren um geordnete Sexualität, um Ehe und Familie, um Anhebung der Geburten, um christliche Erziehung, um Weitergabe des Glaubens, um Einfluss in der Öffentlichkeit, so sieht es nach einer totalen Niederlage aus. Wer kümmert sich schon um eine Verlautbarung des Papstes, um ein Hirtenwort des Bischofs, um eine Predigt, wenn es um eine ganz persönliche Entscheidung geht? Erinnern wir uns  an das Brotwunder: Die Chance, dass alle satt werden ist eins zu Tausend, und doch bleiben noch zwölf Körbe übrig (Vgl. Mt 14,13-21; Mk 6, 32-44; Lk 9,10b-17; Joh 6,1-15). Das Gesetz, dass die Masse die Qualität, die Mehrheit die Minderheit bestimmt, der Mächtige den Schwachen, ist nicht unumstößlich. In der Kraft des Sauerteigs und des Feuers wird es aufgehoben. Wenn diese in den eigenen Reihen nicht mehr zu spüren ist, sollten wir sie dort suchen, wo wir sie am allerwenigsten vermuten: im Drang des modernen Menschen nach Freiheit, nach Erfüllung des Lebens im Hier und Jetzt, nach Authentizität, nach seinem individuellen Lebenstypus. Man kann Suchbewegungen wahrnehmen, die urchristliche Anliegen vertreten, tiefer und radikaler, als im ganz normalen kirchlichen Alltag üblich ist.
Erinnern wir uns an die jüdische Frau aus Holland Etty Hillesum und deren therapeutischen Begleiter Julius Spier.: Sie sind diesen Weg bis zur letzten Konsequenz gegangen. Die Aussage des Johannesevangeliums lautet: Alles ist  auf das Wort, auf Christus, auf den Logos hin geschaffen, gerade die Suche nach Sinn.
Diese vollzieht sich heute weniger im akademischen Disput der Weltanschauungen, sondern eher in der existentiellen Erfahrung: Wo ist das dichtere Erleben, das mich der Einsamkeit, der Leere, der Verunsicherung und Verzweiflung entreißt?
 Die Nachfolge Jesu  wird dann überzeugend, wenn in der unmittelbaren Begegnung die Vorstellung ausgeräumt wird, man werde entmündigt, man müsse sein Denken und seine Gefühle aufgeben, man müsse sich zusätzliche Lasten aufladen und seine Lebensfreude opfern, man dürfe kein voller und ganzer Mensch sein.
Die Geschichte ist voll von Männern und Frauen, die nicht diesem Bild entsprechen, sondern einem ganz anderen. Es sind Menschen, die von Überzeugungskraft und wohltuender Ausstrahlung erfüllt und über den Rahmen einer gewöhnlichen, christlich genannten Umgebung hinausgewachsen sind.
Dafür steht der heilige Franziskus, dem  echte Lebensfreude zum Inhalt seines Lebensentwurfs wurde und die selbst in seiner Krankheit und Todesstunde nicht fehlte. Auch in der jüngsten Zeit gibt es Jünger Jesu, deren Weitsicht und Klugheit ebenso groß waren wie ihr Mut, der Unmenschlichkeit zu widerstehen. Dafür stehen Namen wie Edith Stein, Alfred Delp, Dietrich Bonhoeffer und Bernhard Lichtenberg, Ruth Pfau, Papst Johannes XXIII. und viele andere.
Noch ist der Glanz des Heiligen aus Assisi nicht verblasst, die Sehnsucht nach ihm eher neu aufgebrochen. Der Ruf nach Bewahrung der Schöpfung, nach Frieden und Verständigung zwischen Völkern, Rassen, Kulturen und Religionen, nach einer gerechten Verteilung der Güter der Erde, nach einem menschenwürdigen Leben aller verbindet sich mit seinem Namen. Immerhin kommen jedes Jahr vier Millionen in seine Heimatstadt, um etwas von seiner Gesinnung und seiner Kraft zu erspüren.
Jedoch sein Orden in den westlichen Ländern scheint von dem Glanz weniger mitzubekommen. Die Statistik spricht eine traurige Sprache: überalterte Konvente, aufgehobene Klöster, kaum Nachwuchs. Für den Niedergang wird gewöhnlich eine degenerierte Gesellschaft verantwortlich gemacht. Es seien die Lust am Konsum und die Vorliebe für oberflächliche Bedürfnisse, welche eine ernsthafte Lebensführung von vorneherein ausschließen. Die Aufgabe besteht in Wirklichkeit gerade darin, die ungünstigen Gegebenheiten als Herausforderung anzunehmen und die beklagten Einstellungen zu durchbrechen.
Noch einmal: die Nachfolge Jesu kann nicht eine zusätzliche Last sein für ein Leben, das ohnehin schwer genug ist. Sie beginnt eher bei der rechten Sorge um sich selbst als im angestrengten Bemühen, es den bewunderten Gestalten gleich zu tun.
Wir brauchen nicht nur eine Antwort auf die Frage: Was mache ich in meinem Beruf und in meiner Freizeit, was im Hinblick auf die großen Probleme der Welt? Noch bedrängender ist die Frage, die wir zulassen sollten: Was macht die Arbeit, die Familie, das Leben mit mir? Wie bin ich dabei geworden?                                                                                                                                                             Zufriedener, froher, verständnisvoller, erfüllter? Oder immer mehr unzufrieden, enttäuscht, hart, vereinsamt?
Wir werden dann eine Lösung finden, wenn wir uns den Ansprüchen des Lebens auf allen Ebenen aussetzten und jene innere Autorität zu ertasten versuchen, die Christen als den Geist Jesus bezeichnen. Wenn es gelänge, die Suche nach dem ganz Eigenen, welche in vielen Strömungen der Gegenwart anzutreffen ist, aufzugreifen, angemessen zu vertiefen und sie als die Suche nach dem Willen Gottes wahrzunehmen, wären die Jünger Christi eher die Spitze der geistigen Entwicklung als das Schlusslicht.
Eine Hinführung zu einem Lebensentwurf im Sinne der Nachfolge Jesu, der  nicht überfordert und nicht in moralischen Appellen stecken bleibt, sondern neue, tragende Kräfte, Impulse und Einsichten freisetzt, greift auch bei kirchenfernen, kritisch Denkenden. Jede/r, ob offizieller oder inoffizieller Verkünder/in , der/Die vorhandene Not nachempfindet und die existentiellen Fragen selbst durchgelebt und durch gelitten hat, schafft eine Atmosphäre des Verstehens und des Vertrauens. Es ergeben sich andere Akzente in Predigt und Vorträgen. Sie sind nachhaltig und wirksam, weil der/die  Vortragende auf moralische Entrüstung und Ermahnungen verzichtet, stattdessen neue, begreifbare Zusammenhänge aufzeigt, zum Nachdenken und Gespräch anregt und ein erfülltes Schweigen hinterlässt. Seine Ergriffenheit überträgt sich von selbst. Dies könnte der erste Schritt zu jenem Punkt sein, von dem eine Wandlung ausgeht. Er kann ein Bild von Jesus vermitteln, das ansteckend wirkt. Er hat sogar auf dem freien Markt der Heilsangebote eine echte Chance.

 

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