Beim Traum, nicht beim Wort ist zu beginnen"
Mythos statt Geschichte?
Die tiefenpsychologische Schriftauslegung
Den Grund, warum die Reden der Verkündiger so wenig zünden, sieht D. in einer Schriftauslegung, die alle Kraft auf die Erforschung historischer Einzelheiten verwendet, statt auf den religiösen Gehalt der Texte. Die Begegnung mit der Hl. Schrift jedoch sollte die Überzeugungsraft, Lebendigkeit und Aus - strahlung der Urerfahrung beim Leser bzw. Hörer wecken.
Dies vermag die an den theologischen Fakultäten übliche Exegese nicht, wohl aber kann eine tiefenpsychologisch fundierte Schriftauslegung einen entscheidenden Schritt dazu tun.
Zunächst gilt es, der Frage nachzugehen, was die historisch-kritische Methode leistet.
Nach Heinrich Zimmermann ist die historisch-kritische Exegese
die "wissenschaftliche Erforschung der Bibel unter Anwendung
der Grundsätze der historischen Kritik, wie sie von der moder-
nen Geschichtswissenschaft ausgebildet wurde". '7
Die historische Forschung unterliegt dem modernen Wissenschaftsbegriff, nach dem nur das als wahr zu gelten hat, was objektiv bewiesen, d.h. mit rationalen Argumenten einem neutralen, objektiven Beobachter einsichtig gemacht werden kann. Subjektive Stellungnahmen, Empfindungen, eine Leidenschaft dafür oder dagegen sind auszuschließen, weil sie die objektive Wahrheit verdunkeln.
Die historisch-kritische Exegese hat die Unterscheidung der verschiedenen Erzählformen gebracht. Seitdem weiß man, dass der Schöpfungsbericht nicht historisch, sondern mythologisch zu verstehen ist. Wir müssen nicht mehr an das Sechstagewerk glauben. Nun hat aber diese Methode auch vor dem Neuen Testament nicht haltgemacht und Abschnitte, die wir gewöhnlich für historisch gehalten haben, als Mythen und Legenden bezeichnet. Darunter fallen die Kindheitsgeschichten Jesu, die Wundererzählungen, die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen sowie die Himmelfahrt Christi. Rudolf Bultmann sah in der Entmythologisierung des Christentums eine ganz wesentliche Aufgabe, um es für den Menschen der Neuzeit akzeptabel zu machen.
Ihm ging es darum, die Heilsbotschaft aus dem mythischen Weltbild der Bibel herauszulösen, das der moderne Mensch der Naturwissenschaft nicht übernehmen könne.
Der unbestreitbare Wert der historisch-kritischen Methode liegt - so gesteht D. zu - in der Entdeckung, dass die mündlichen und schriftlichen Traditionen der Bibel sich aus sehr unterschiedlichen Formen zusammensetzen, die ihre Herkunft bestimmten Erzähl - Anlässen und somit bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten verdanken.
Sie kann aufweisen, dass man die historisch bedingten Denk- und Anschauungsweisen der Bibel nicht unkritisch in die Gegenwart übernehmen kann und dass ihre Ausdrucksweisen in falschem Sinn "wörtlich" aufgefasst werden können. Sie hat die Eigenart religiöser Überlieferungen in der Form von Mythen, Sagen und Legenden wiederentdeckt.
Sie kann den Graben aufzeigen, der zwischen dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis und der Welt der Bibel liegt, sie kann ihn jedoch nicht überwinden.
Die Kritik an der historisch-kritischen Methode
D. nimmt einerseits die historisch-kritische Methode radikal ernst, aber er sieht ihre Einseitigkeit und ihre Grenzen.
Hier setzt seine Kritik an dieser Art von Exegese ein. Sie ist ganz und gar der rationalistischen Grundeinstellung des 19. Jhd. verhaftet, die nur das kritische, analytische Denken als Quelle der Erkenntnis gelten lässt. Dabei wird übersehen, dass es Er- kenntnisformen gibt, die außerhalb des kritischen, distanzierenden, sezierenden Verstandes liegen, wo aber das Ich äußerst engagiert und verwickelt ist, wo der Einsatz der eigenen Person gefordert wird, z,B, wenn zwei Menschen erkennen, dass sie sich mögen und dass sie miteinander leben wollen. Auf ähnliche Weise erkennen wir auch die Schönheit und Aussagekraft eines Gemäldes, eines Bauwerkes und der Musik. Alles, was existentiell bedeutsam ist, unsere Beziehungen zu den geliebten Menschen, alles was unser Leben reich und sinnvoll macht, können wir nur auf dieser Ebene wahrnehmen; der niederländische Religionsphilosoph Han Fortman nennt es Erkenntnis in der ersten Person. Sie hat die Eigenart, dass sie sich einer symbolischen Ausdrucksweise bedient; sie spricht in Bildern und in symbolhaften Handlungen. Man denke nur, wie reich und erfinderisch die Sprache der Liebe sein kann. Genau um diese Sprechweise geht es, wenn von Mythen, Sagen und Legenden die Rede ist.
In ihnen äußert sich der seelische Lebensraum, in dem die existentiell wichtigen Entscheidungen fallen. Ein Beispiel für eine mythologische Ausdrucksweise, die für manche Eltern sehr aktuell werden kann, ist der bei einer Familientherapie übliche Test, in dem Kinder ihre Familie in Tieren darstellen. Wenn da der Vater als Hund, der ständig bellt, aber nie beißt, die Mutter als Tragesel, die Großmutter als Spinne, die überall ihre Fäden zieht, gemalt werden, kann man wohl nicht behaupten, dass dieser Mythos der Familie keine Aussage enthält; vielmehr drückt ein solches Bild die Situation, in der sich das ganze zukünftige Leben des Kindes entwickelt, am genauesten und wirkungsvollsten aus.
Weil nun das, was wir Gott nennen, nach Paul Tillich „das Symbol dafür ist, was mich unbedingt angeht" und damit zuinnerst mit der je eigenen Existenz verknüpft ist, kann man Gott nicht in der Weise des objektivierenden, wissenschaftlichen Denkens erkennen, sondern nur in der "Erkenntnis der ersten Person", welche sich der Sprache der Bilder bedient.
Eine Methode, wie die historisch-kritische Exegese, die ganz dem objektivierenden Denken verhaftet ist und mit der Sprache der Bilder, wie sie in Träumen, Mythen, Märchen, Sagen und Legenden aufscheinen, nichts anzufangen weiß, kann deshalb von sich aus nichts über Gott aussagen; denn für sie zählen nur äußere Fakten; wie sehr wir selber unter der Macht dieses Denkens stehen, tritt dann zutage, wenn nach Aufweis der literarischen Form einer Erzählung gesagt wird: Dann ist das also nur symbolisch gemeint, oder dann ist also die Geschichte von Bethlehem nicht wahr, sondern nur eine Legende.
Entscheidend ist vielmehr, dass alles für unser Heil oder Unheil Bedeutsame in symbolhafter Sprache ausgedrückt wird.
Die Kritik Drewermanns an der allgemein üblichen Exegese gipfelt deshalb in dem Vorwurf, dass sie gottlos sei. „In ihrer Abgetrenntheit vom Gefühl, in ihrer Isolation vom Subjekt, in ihrer Unfähigkeit, die innere, psychische Realität für unendlich wirklicher zu nehmen als die Ebene der äußeren Tatsachen ist diese Form von „Exegese" prinzipiell gottlos, sooft sie auch den Namen "Gott" in ihrem Munde führen mag". 8
Das ganze Mühen um die verschiedenen literarischen Gattungen und um Entstehungsgeschichten habe in Bezug auf den Glauben das Ergebnis Null. Man könne den Inhalt der Offenbarung nicht auf der Ebene der Fakten finden, vielmehr auf der Bedeutung der Fakten. Eine Leben-Jesu-Forschung, welche nur genaue historische Fakten auszumachen versucht, geht an der Erlebniswelt Jesu, d.h. an seinem Wesen vorbei. Damit ist eingeschlossen, was schon kurz angedeutet wurde: Die historische Forschung vermag den historischen Graben zwischen unserer und der biblischen Welt nicht zu überbrücken. Vielmehr braucht es eine Gleichzeitigkeit im existentiellen Sinn, um zum Glauben an Jesus zu kommen. Hier greift D. auf den dänischen Religionsphilosophen Sören Kierkegaard zurück. Käme es auf historisches Wissen an, so sagt Kierkegaard, dann wäre uns ein Schriftgelehrter zur Zeit Jesu im Verständnis Jesu weit überlegen, weil er sicher besser Hebräisch bzw. Aramäisch verstünde als ein heutiger Professor des Neuen Testamentes. Gleichzeitigkeit im existentiellen Sinn bedeutet, in den Erlebnisraum einer anderen Person, die vor uns gelebt hat, einzutreten. Damit ist gemeint, dass ich als Heutiger so ähnlich denke und fühle, von ähnlichen Motivationen, Wertvorstellungen und Verheißungen wie ein Mensch der damaligen Zeit geleitet bin. Dazu liefert der japanische Zenmeister Suzuki ein anschauliches Beispiel. Er zitiert die Stelle in der Bergpredigt von den Lilien des Feldes (Mt 7,29) als Parallele zu den Erleuchtungserfahrungen im Zen. „Betrachtet die Lilien des Feldes. Sie arbeiten nicht und spinnen nicht, und doch sage ich euch: Selbst Salomon war nicht gekleidet wie eine von ihnen"(Mt7,29). Für ihn muss der Autor des Textes, der in einer Wiesenblume mehr Schönheit sieht als in einem orientalischen Märchenschloss, ein Erleuchteter gewesen sein. Man kann daraus schließen, dass der buddhistische Meister in den Erlebnisraum Jesu eingetreten ist und damit Wesentliches von Jesus verstanden hat.
Die Kraft der Bilder
Die historische Forschung ist bestrebt, Geschichtliches vom Mythologischen zu trennen und dieses auszuscheiden.
Nun aber sagt die tiefenpsychologische Schriftauslegung: Genau in den Erzählformen, die die historisch-kritische Methode als Mythen und Legenden bezeichnet und als unbedeutend abtut, sind die Erfahrungen der ersten Christen mit Jesus als ihr Glaubensweg gespeichert. Gerade in diesen Erzählformen liegt die zeitlose und universale Botschaft Jesu.
Alles kommt darauf an, ihre symbolhafte, verschlüsselte Sprache zu verstehen. Dazu ist die historisch-kritische Methode von sich aus nicht in der Lage, deshalb ist sie nach Drewermann
vom Prinzip her gottlos!
Die Tiefenpsychologie jedoch kann nachweisen, dass es sich um Bilder handelt, die zu allen Zeiten und bei allen Menschen im unbewussten Grund der Seele vorkommen und in Träumen, Mythen, Märchen, Sagen und Legenden aufscheinen. Diese zeitlosen und universalen Bilder bzw. Bilderfolgen können den historischen Graben zwischen der Welt der Bibel und der des heutigen Menschen überbrücken, weil sie die ewig gültige Wahrheit über den Menschen auf seinem Lebensweg zu Gott beinhalten.
Nehmen wir als Beispiel die Ostergeschichte des Matthäus. Dort heißt es unter anderem: " Und siehe es entstand ein großes Erdbeben; denn ein Engel des Herrn stieg vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein hinweg und setzte sich darauf.
Sein Aussehen war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee" (Mt 28 2,3). Nach der historisch-kritischen Exegese handelt es sich um eine Legende, die von der Gemeinde der Judenchristen gebildet wurde. Damit ist für den historischen Forscher die Stelle erledigt. Für den aber, der tiefenpsychologisch, im Umgang mit Urbildern geschult ist, ist hier eine religiöse Urerfahrung von ungeheurer Wucht und gewaltigster Dynamik geschildert. Der schwere Stein der Trauer und Verzweiflung wird durch eine überlegene und erhabene jenseitige Kraft, dargestellt durch einen Engel, weggerollt. Der Blitz ist eine plötzliche unerwartete und überwältigende Zustandsänderung. Er hat die Kraft der Verwandlung. Wir sagen ja auch, dass uns eine Einsicht oder ein Einfall wie ein Blitz durchfahren kann mit entsprechenden Folgen. Nach Jakob Böhme besteht "im Geist des Blitzes das große allmächtige Leben." "Blitz ist die Geburt des Lichtes." „Die triumphierende göttliche Geburt in uns Menschen nur so lange, als der Blitz währt; darum ist unsere Erkenntnis stückweise; in Gott aber stehet der Blitz unveränderlich und ewig also".9 Es lässt sich kaum leugnen, dass mit diesen Bildern eine reale religiöse Erfahrung nach dem Tod Jesu geschildert wird. Die ersten Christen waren wie "vom Blitz getroffen", als sich ihnen eine neue Welt auftat. Es waren gewaltige, existentielle Erschütterungen, Aufbrüche und Wandlungen, die zur Bildung solcher Geschichten führten. Nur wer sich heute von diesen Bildern anstecken lässt, wird nachvollziehen können, worin diese bestanden. Es gilt aber, die archetypischen Bilder in ihrer bleibend gültigen Bedeutung zu verstehen. Dazu gibt es nach Drewermann keinen anderen Weg, als sie in der Tiefe der eigenen Existenz, vom Ursprung her als ein "Gleichzeitiger" mitzuträumen und sie mitzuempfinden als die Wahrheit des eigenen Wesens.
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