Aus mir kann noch etwas werden!

Wann ist der Mensch reif?

Die Bezeichnung „reif" für einen Menschen scheint einer vergangenen Zeit anzugehören, als man noch von hohen Idealen beseelt war und versuchte, sein Leben danach auszurichten. In einem Wörterbuch(1) wird es verbunden mit gesetzt und lebensklug, mit abgeklärt und weise. Die genannten Eigenschaften klingen nicht so sehr nach leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit den heißen Fragen der Zeit, eher nach überlegenem Rückzug, nach einer Persönlichkeit, die abgesondert, in wohlgeordneter Sicherheit von oben herab dem Treiben der Welt zuschaut. Bei alle dem ist heute eine leidenschaftliche Suche nach Menschen, die eine hohe moralische Qualität aufweisen, nicht zu übersehen. Geschätzt werden Personen, die Vertrauen und Sicherheit ausstrahlen, die authentisch ihr Leben gestalten, die das öffentlich sagen, was viele im Geheimen denken, die überzeugend Wege aufzeigen, welche zur Lösung der anstehenden Konflikte führen . Was wir an berühmten Männern und Frauen bewundern, lässt sich nicht exakt in Worte fassen; es ist einfach der Eindruck ihrer Erscheinung, die innere Bewegtheit und Anziehung bis zur Ergriffenheit, die sie auslösen. Es gibt Begegnungen, die man nicht mit psychologischen Kategorien beschreiben kann, die aber unvergesslich sind und große Wirkungen in Gang setzen: solche, die das allgemeine Denken in der Welt heller machen, die eine Lebensqualität vermitteln, die jenseits des Wohlstands und bürgerlicher Selbstzufriedenheit liegt, die zum Guten führen. Eine solche Gestalt war Papst Johannes XXIII.(1881-1963) Die Älteren werden sich noch an manche Nachricht erinnern. Es waren häufige Überraschungen, die er lieferte. Es kam vor, dass er ohne Begleitung, ohne Zeremoniell, einfach so in den Straßen Roms auftauchte und sich mit einem Zeitungsverkäufer unterhielt. In der ersten Zeit versuchte er, einmal den großen Palast zu erkunden. Er traf in einem Raum Arbeiter des Vatikans, die vor der hohen Persönlichkeit erschrocken die Flucht ergriffen. Er rief sie zurück und es kam zu einem sehr fruchtbaren Austausch. Er hörte ihre Klagen über die schlechte Bezahlung und führte eine Änderung herbei. Ein anderes Mal hatten sich Besucher in dem großen Gebäude verirrt und plötzlich stand der Papst vor ihnen. Er sagte, er habe sich auch verirrt. Sie suchten nun gemeinsam den Ausgang. Seine spontanen Einfälle durchbrachen die strengen Regeln eines Jahrhundert alten Hofzeremoniells und die erstarrten Formen des Amtes. Seine Güte, seine Liebenswürdigkeit und seine Herzlichkeit bestimmten das Klima und lockerten eine von Gesetzen und Gehorsam erstarrte Atmosphäre auf. In einer Ansprache auf dem Petersplatz wünschte er den Anwesenden eine gute Nacht und beauftragte sie, den Kleinen zu Hause einen Kuss zu geben und zu sagen, er sei vom Papst. Solche Gesten waren echt und bewirkten mehr als zehn Enzykliken. Noch manch andere Begebenheit wird erzählt, in denen er nicht reagiert, wie ein Papst nach der herkömmlichen Meinung zu reagieren hat, sondern einfach als Mensch, der Verständnis hat für die Welt, die Not und die Freude der kleinen und der großen Leute. „Einen als Papst verkleideten Menschen" nannte ihn die Dichterin Marie Luise von Kaschnitz. Das bekannteste und bedeutendste Ereignis der ganz persönlichen und zugleich hoch politischen Art war der Besuch des Schwiegersohns des damaligen sowjetischen Präsidenten Chruschtschow Alexej Adschubej und dessen Frau Rada im Vatikan. Adschubej war Chefredakteur der regierungsamtlichen Zeitung Iswestija und gehörte zu den mächtigsten Männern im Kreml. Es war die erste Begegnung eines hohen Sowjetfunktionärs mit dem Papst seit der russischen Revolution 1917. Johannes sprach über scheinbar Nebensächliches, über slawisches Musik, die ihn tief beeindruckt habe, und viele schöne Erinnerungen, die er als Nuntius in Bulgarien erlebt hatte. Er bekräftigte, dass der Papst alle Menschen als Brüder sehe ohne Unterschied von Religion und Weltanschauung. Es muss so glaubwürdig gewesen sein, dass der bekennende Atheist Adschubej völlig überrascht war. Dieser Mann war ganz anders, als ihn seine Presse der Ideologie gemäß dargestellt hatte. Der Höhepunkt der Begegnung war, als Johannes mit einem bezaubernden Lächeln die Hand von Adschubejs Frau, Rada nahm und sie nach den Namen ihrer Kinder fragte. „Es ist etwas Einzigartiges, wenn eine Mutter die Namen ihrer Kinder ausspricht." Rada antwortete stolz:"Nikita, Alexej, Iwan." Aus seiner Zeit in Bulgarien kannte er sich in den slawischen Namen und deren Legenden aus und erzählte davon. Nikita das ist Nikolaus, Alexej ist Alexander und Iwan, das ist ja Johannes. „Johannes heiße ich auch", sagte der Papst, „schon mein Großvater und mein Vater hatten diesen Namen". So trug er an den Jüngsten der Kinder des russischen Ehepaares einen zärtlichen Gruß auf. Die Vermutung, dass für diese Besucher des Vatikans eine neue Welt aufging, dürfte berechtigt sein. Es wurde nicht über Weltanschauung, über Recht und Unrecht, über Politik gesprochen, es gelang aber ein Kontakt von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz. „Auch so macht man Politik, indem man Saatkörner der Menschlichkeit in die Furchen eines gefrorenen Ackers streut", bemerkt Christian Feldmann in seiner Schrift "Johannes XXIII, der gütige Prophet"(2).
Die größte Überraschung aber war die Einberufung des Konzils. Es war ein großes Ereignis, sowohl was den Aufzug der Versammelten aus allen Teilen der Welt, und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit betrifft, noch mehr aber was den geistigen Umbruch in der Geschichte der Kirche betrifft. In seiner Eröffnungsansprache erklärt er als wichtigstes Ziel des Konzils, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen, den kostbaren Schatz der heiligen Überlieferungen den Menschen zu erschließen. „Unsere Aufgabe ist es nicht , diesen Schatz nur zu hüten, uns nur mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sondern wir wollen uns mit Eifer, furchtlos, der Aufgabe widmen, die unser Zeitalter stellt". (3) Die Grundlinien eines neuen Verständnisses von Kirche sollten sein: Gemeinschaft des Gottesvolkes statt Machtpyramide, ein Gottesvolk auf der Pilgerschaft, das dazu lernt und sich entwickelt, das heilig und sündig, noch lange nicht am Ziel ist. Es sei besser, das Heilmittel der Barmherzigkeit anzuwenden als die Waffen der Strenge zu gebrauchen, ebenso die Überzeugungskraft der Lehre darzulegen als eine Verurteilung auszusprechen. Die Absicht des Papstes war zweifellos, die Kirche und ihre Schätze für die Entwicklung, die Not, und Sehnsucht der Menschen von heute zu öffnen, was er mit dem bekannten Wort aggiornamento ausgedrückt hat. Es sollte eine Begegnung möglich werden, die Christen sollten heraus aus ihrer Bunkermentalität, sie sollten das Gute und Wertvolle auch außerhalb der eigenen Grenzen sehen und zu einem fruchtbaren Gespräch kommen. „ Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert", betont er in seinem Vermächtnis, „ nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen". (4)
Johannes sprach neue, ungewohnte Worte, die von der Mehrheit der Konzilsteilenehmer und von einer breiten Öffentlichkeit mit freudiger Zustimmung begrüßt, aber von vielen weder verstanden noch angenommen wurden. Die Frage bleibt: wie sie umsetzen? Der entscheidende Punkt seiner durchschlagenden Bedeutung war die Wirkkraft seines Wesens, seine Güte, sein Verständnis und seine Echtheit. Es sind Eigenschaften, die aus seinem tiefen, über Jahrzehnte gewachsenen Glauben kamen und die man Reife nennen darf. Damit ist auch der Hinweis gegeben, wie sein Vermächtnis verwirklicht werden kann. Es kann nur heißen: sich auf ein Wachstum als Mensch und Glaubender einzulassen, alles zu tun, was dieses fördert.

Reif-werden im Feld der Lebensplanung und Interessen Selbsteinschätzung, Bewusstwerdung
Nach einer Umfrage (1) nach dem Lebensziel der Deutschen steht an erster Stelle eine gute Ausbildung, dann folgen Partnerschaft, finanzielle Absicherung , Selbstbestimmung und Individualität, eigene Kinder haben, das Leben heute genießen, berufliche Entwicklung, genügend Zeit für Freizeit und Hobbies, die Welt entdecken, an letzter Stelle gesellschaftliches Engagement. Das Thema „reif-werden" kommt nicht vor, genauso wenig wie das des Religiösen. Deshalb steht als erstes die Frage an: Wie kann das genannte Thema in einer Lebensplanung überhaupt einen Platz finden? Oder anders ausgedrückt: Warum soll ich mich mit diesem Thema beschäftigen, darüber etwas lesen oder dafür etwas tun? Eines könnte dem Leser schon aufgefallen sein: Die gewählten Ziele decken nicht das ganze Leben ab. Was ist, wenn sie nicht erreicht werden, wenn sich ungeahnte Schwierigkeiten in den Weg legen um Ausbildung wie um finanzielle Existenz. Was ist, wenn selbst bei gesicherten Verhältnissen die Partnerschaft zerbricht gerade wegen des Anspruchs auf Selbstbestimmung und Individualität? Wenn fehlende körperliche und psychische Gesundheit die weitere Berufstätigkeit verhindern?
Gerade an das Ziel einer guten Ausbildung ist eine Anfrage zu richten. Sie sollte ja die Grundlage sein, um das Leben zu bewältigen. Sie ist Ertüchtigung für den Beruf. Der Intellekt wird zwanzig oder sogar dreißig Jahre lang geschult. Alles soll einer rationalen Durchdringung offen sein. Aber wo ist die Schulung für den sensiblen Umgang miteinander, für eine tragende Partnerschaft, für eine stabile Familie, für die Erziehung der Kinder? Oft ist es so, dass gerade die beruflichen Vorhaben und Aussichten den Wunsch nach Kindern beiseite stellen oder erst gar nicht hochkommen lassen. Die Begründer der modernen Psychotherapie- Sigmund Freud und Carl Gustav Jung haben schon vor mehr als zwei Generationen festgestellt, dass das Grundproblem des Menschen der Industriekultur im Bereich des Emotionalen liegt. Dieser ist umfassender, tiefer und bedeutungsvoller für die menschliche Existenz, als man bei solchen Umfragen annimmt. Er entscheidet über Gelingen oder Misslingen einer Liebe, eines Lebensentwurfs, einer Familie und vor allem über das Schicksal der nächsten Generation. Die Störung auf der Ebene der Gefühle hebelt alle angeführten, scheinbar so wertvollen Lebensziele aus. Eine Scheidung kommt sehr teuer. Sie ist ein gewaltiger finanzieller Einbruch. Wenn die echten, instinkthaften Gefühle zu den Kindern fehlen, wird man im Umgang mit ihnen keine Freude und Erfüllung finden. Aber gerade diese sind Voraussetzung, damit Erziehung gelingt. Da helfen hohe intellektuelle Leistungen, selbst gründliche, theoretische Kenntnisse von Pädagogik wenig. Entscheidend ist die emotionale Wärme, welche die Seele eines Kindes und die der Mutter und des Vaters leben lässt. Ähnliches lässt sich von den anderen Themen sagen. Was heißt Selbstbestimmung, wenn man im Grunde den eigenen irrationalen Impulsen ausgeliefert ist, wenn man in Momenten, wo die Kontrolle aussetzt, Dinge tut, die niemand wissen dürfte?
Reif werden bedeutet nun, dass wir das Ganze unseres Lebens in den Blick nehmen, auch jene Seiten, die bei den Umfragen nicht genannt werden. Reife Menschen sagen, dass sie am Misslingen von den ursprünglichen Lebenszielen, sogar an Schicksalsschlägen gewachsen seien. Sie seien unabhängiger, sicherer, gütiger, verständnisvoller, wesentlicher geworden. Wer sie kennt, dem fällt auf, dass von ihnen etwas ausstrahlt, das man als ein volles Ja zum Leben bezeichnen kann: Vertrauen, Hoffnung, Trost in schweren Situationen. Weil sie schwere Zeiten selbst zur Genüge kennen gelernt und bewältigt haben, können sie anderen eine Zuflucht sein. Der Einstieg in den Prozess des inneren Werdens begann bei ihnen, als es außen nicht mehr weiter ging, als sie merkten, dass sich die Welt um sie herum nicht verändern lässt, wohl aber die Welt in ihnen selbst. Sie fingen an, ihre andere Seite, die der Gefühle und Impulse anzuschauen und fanden eine ordnende und schöpferische Kraft. So paradox es klingen mag: Sie machten sich selbst zum Thema und gerade dadurch wurden sie für viele zur Hilfe und sogar zur kostbaren Entdeckung.


1)Bei Google -de.statista.com/.../wichtigkeit-der-persoenlichen-lebensziele/ -

 

 

1)A.M.Textor , Sag es treffender Essen 1963 Stichwort reif
2)Christian Feldmann, Johannes XXIII, Der gütige Prophet, Freiburg im Breisgau 2006, S 126
3)ders.S 105
4)ders.109

Reif -werden-
Überblick
1. Reif-werden im Feld der Lebensplanung und Interessen Selbsteinschätzung, Bewusstwerdung
2. Betroffenheit als der auslösende Faktor Herausforderung und Verantwortung
3. Wachstum der Persönlichkeit nicht ohne die Wurzeln
Tiefe, Dunkelheit, Schatten, kritische Distanz, Ablehnung, Trennung
4. Der Funke, der überspringt oder was Grenzen überwindet Die Fähigkeit, einen anderen Menschen zu verstehen Beziehungsfähigkeit und sexuelle Reife
5. Die unbegrenzte Ganzheit oder
kat-holon(isch) müssen wir erst werden
6. Wege zum Ziel

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