Religion - Kein Ersatz für die Frau!
Der geistliche Weg in der Krise
Der Ausdruck „geistlicher Weg“ kann auf den ersten Blick irritieren. Es wird der Eindruck erweckt, als ob es sich um eine Sache handelt, mit der man sich so nebenbei abgibt, die für einige besonders Fromme interessant sein mag, die aber mit dem normalen Leben nichts zu tun hat.
Wenn man „geistlich“ gleichsetzt mit spirituell oder religiös, so würde dies der heute weit verbreiteten Auffassung entsprechen, jeder könne das Religiöse als sein persönliches Hobby pflegen, aber im Rang der Wichtigkeiten sei es eine Randerscheinung. Andererseits kann man auch Menschen begegnen, denen das tägliche Gebet, die Erfüllung der Sonntagspflicht und der anderen Gebote während ihres ganzen Lebens sehr am Herzen gelegen war, die aber im Alter nicht mehr beten können, die sogar mehr als früher von Ängsten gequält werden und die trotz ihres religiösen Mühens verbittert und vereinsamt sind; wo der Trost des Glaubens ausbleibt. Darunter sind nicht wenige Priester und Ordensleute - Frauen wie Männer. Die Krise im geistlichen Leben hat viele schon früher getroffen, so daß manche ihren Beruf aufgaben und mit ihm oft auch den Glauben. Meistens steht man in der Kirche ratlos vor deren Schicksal und man kann ihre Entscheidung nicht nachvollziehen. Die herkömmliche Askese - die Lehre des geistlichen Lebens - hat für solche Erscheinungen keine überzeugenden Erklärungen.
Nun ist die Tiefenpsychologie an der Reihe, die uns etwas mehr über die geheimen Motivationen eines Menschen Auskunft zu geben vermag. Überraschenderweise ist es der Traum eines Mannes, eines Patienten bei C. G. Jung, der blitzartig das Thema einer falschen und richtigen religiösen Einstellung erhellen kann. Jung bemerkt dazu, daß der Träumer in keiner Weise religiös war, als er zu ihm kam, daß er alles, was mit Kirche, Mystik und Religion zutun hat, als mittelalterlichen Aberglauben abtat, daß er jedoch total erschüttert und irritiert war, ja sogar glaubte, verrückt zu werden, als er mit dem Inhalt des folgenden Traumes konfrontiert wurde.
Der wörtliche Text lautet:
„Ich komme in ein besonders weihevolles Haus, das „Haus der Sammlung“. Im Hintergrund sind viele Kerzen, die in einer besonderen Form mit vier nach oben zulaufenden Spitzen angeordnet sind. Außen an der Tür des Hauses steht ein alter Mann. Es gehen Leute hinein. Sie sprechen nichts und stehen regungslos, um sich innerlich zu sammeln. Der Mann an der Türe sagt von den Besuchern des Hauses: „Sobald sie wieder heraustreten sind sie rein.“ Nun gehe ich selbst in das Haus hinein und kann mich ganz konzentrieren. Da spricht eine Stimme: "Was du tust, ist gefährlich. Die Religion ist nicht die Steuer, die du bezahlen sollst, um das Bild der Frau entbehren zu können, denn dieses Bild ist unentbehrlich. Wehe denen, welche Religion als Ersatz für eine andere Seite des Lebens der Seele gebrauchen; sie sind im Irrtum und werden verflucht sein. Kein Ersatz ist Religion, sondern sie soll als Vollendung zur anderen Tätigkeit der Seele hinzukommen. Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären, nur dann wirst du selig sein!“ Bei dem besonders laut gesprochenen letzten Satz höre ich ferne Musik, einfache Akkorde auf der Orgel. Etwas daran erinnert an das Feuerzaubermotiv von Wagner. Als ich nun aus dem Haus trete, da sehe ich einen brennenden Berg, und ich fühle, „ein Feuer, das nicht gelöscht werden kann, ist ein heiliges Feuer.“
Der Traum sagt es: “Die Religion ist nicht die Steuer, die du bezahlen sollst... und sie ist kein Ersatz für eine andere Seite des Lebens... sondern letzte Vollendung. Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären... Was du tust ist gefährlich...“
Es sind Worte, die für kirchliche Ohren ungewohnt klingen, vor allem aber daß sie ein Traum ausspricht, dazu noch von einem Menschen, der gar nicht kirchlich, christlich, nicht einmal religiös ist, und dem die geistige Welt der Kirche total fremd ist. Es wäre eine eigene Frage wert: Woher weiß das der Traum? Welche Instanz steht hinter dieser Produktivität des Unbewußten?
Zunächst noch einmal zum Thema „geistlicher Weg“. Wenn wir darunter eine Lebensform verstehen, in der das Religiöse einen besonderen Stellenwert einnimmt, dann darf dieser nach der Weisung des Traumes kein „Ersatz für das Bild der Frau“ sein. Welche Botschaft oder welcher Wert, der unter keinen Umständen vernachlässigt oder ausgeschlossen werden darf, steckt in dem geheimnisvollen Wort vom „Bild der Frau“?
Vorausgehend hatte der Mann von einer Frau geträumt, deren Gesicht wie die Sonne leuchtet und die ihn auch in einem Kirchenraum begleitet, ihn aber dann verlassen hat. Sie stellt die unbewußte Seele (lat. Anima) des Mannes dar mit allen Konflikten und schöpferischen Fähigkeiten, mit allen Antrieben, mit den animalischen sowohl wie den geistigen. Um konkret zu werden: das Bild der Frau steht für echte und tiefe Gefühle, für Spontanietät, für Einfallsreichtum und Intuition, für Sensibilität in Beziehungen, für Lebendigkeit, für emotionale Sicherheit und Ausstrahlung, für den Bereich des Menschlichen, der nicht planbar, machbar und berechenbar ist; der autonom dem Bewußtsein gegenübersteht, den nicht wir lenken und verändern, sondern der uns beeinflußt, lenkt und verändert.
Die emotionale Grundgestimmtheit, ob traurig, bedrückt oder zufrieden und froh, ebenso deren Ausrichtung gegen Personen oder Institutionen hat eine eigene Dynamik und Gesetzmäßigkeit, ebenso die wesentlichen Motivationen der Aggression, der Sexualität, des Lebenwollens und Eigennutzes.
Wenn nun das Religiöse, anders gesagt „der geistliche Weg“, das Bild der Frau entbehrt, heißt das der Bereich der unbewussten Seele wird ausgeklammert und damit der Sitz der Gefühle, der dunklen Antriebe, der unbewältigten Lebensgeschichte, der wesentlichen Interessen und schöpferischen Möglichkeiten. Die Religion ist demnach die Steuer, die man als Pflichtgebet, Meßbesuch, Almosen, im wörtlichen Sinn als „Kirchensteuer“, sogar als kirchlichen Beruf entrichtet, während das Innere blinden Mechanismen unterliegt. Betrachtet man die Schwierigkeiten im Zusammenleben der Christen, die Konflikte im Raum Kirche zwischen Hirten und Herde, zwischen den verschiedensten Richtungen und Parteien, zwischen kirchlichen Personen innerhalb kirchlicher Gemeinschaften, muß man zugeben, daß es im Bereich der Gefühle und der Beziehungen einen erheblichen Mangel an Sensibilität dafür aber einen hohen Grad an Unbewusstheit gibt.
Man merkt nicht, wie grob, verletzend, oft barbarisch man miteinander umgeht, wie man andere entwertet und demütigt, Vertrauen zerstört anstatt aufzubauen und das alles, weil man seine Auffassung von richtig und falsch für den Willen Gottes hält.
In Wirklichkeit ginge es darum, die eigene Angst anzuschauen, den Mangel an Ichstärke, an emotionaler und spiritueller Erfahrung, Kraft und Lebendigkeit. Konflikte würden einen ganz anderen Verlauf nehmen als in gegenseitiger Verketzerung und Verteufelung zu enden. Sie könnten Anlaß sein zum Wachstum der Persönlichkeit, zu gegenseitiger Bereicherung und zur Erweiterung des geistigen Horizontes, wenn wenigstens eine Seite damit anfinge, die eigene Befindlichkeit zu reflektieren und erst dann eine Entgegnung zu formulieren, anstatt sich bloß vom augenblicklichen Affekt hinreißen zu lassen.
Der Grad der Unbewusstheit im Hinblick auf die tragenden und die Wirklichkeit bestimmenden Emotionen steht im krassen Gegensatz zu den fast schwindelnden Höhen der Aufklärung in den theologischen Disziplinen, besonders der historisch - kritischen Methode. Die Naivität, das heißt der Mangel an Bewusstheit auf der emotionalen Seite, würde auf der kognitiven Ebene einem Stand entsprechen, in dem man noch wörtlich an das Sechstagewerk glaubt. Gerade im Bereich einer kritischen als auch lebendigen Bibelinterpretation wäre es äußerst hilfreich, aus tiefenpsychologischer Sicht die inneren Erlebnisse der frühen Christen mit denen der heute Lebenden zu vergleichen und eine rein rationale Sichtweise, welche die Realität religiöser und mystischer Erfahrungen und damit psychologische Tatsachen außer Acht lässt, als ungenügend abzuweisen.
Es sollte deutlicher als bisher ins Bewußtsein treten, daß jeweils der eigene Wahrnehmungs - und Denkrahmen für das Verstehen eines Menschen und eines geschriebenen Textes maßgebend ist. Damit ist eingeschlossen, daß jeder, der es ablehnt, seinen ganz persönlichen Horizont zu reflektieren, sich einer intellektuellen Unredlichkeit schuldig macht. Gerade die Meinung, daß eine sogenannte wissenschaftliche Sichtweise, welche nur das objektiv Beweisbare gelten läßt, die Gesamtheit der Wirklichkeit erfaßt, erweist sich als Trugschluß und fügt den Menschen unabsehbaren Schaden zu, weil sie die Seele d.h. die existentiellen d.h. emotionalen und spirituellen Belange draußen lässt. Nun sind es die Träume, die aus diesem Bereich kommen und ihn vertreten.
Die Träume beachten heißt die Reaktion der Seele auf die äußeren Gegebenheiten ernst nehmen, bedeutet Wachheit gegenüber dem, was in einem selbst vorgeht. Die Arbeit mit Träumen überwindet den Mangel an Selbsterkenntnis, verleiht die Fähigkeit, zwischen eigener Kränkung und dem Befinden anderer zu unterscheiden und öffnet den Zugang zum Religiösen in neuer, überraschend schöner und beglückender Form. Wer das Bild der Frau entbehrt, d.h. wer seine eigenen Gefühle nicht wahrnimmt, geht an der Wirklichkeit des Menschlichen und der Menschen vorbei. Darin liegt der Grund, warum die Worte, die eigentlich froh machen sollten, leer sind und nicht mehr greifen.
Ehrliches Eingeständnis
Sehr wohltuend, erfrischend und befreiend hört sich in diesem Zusammenhang das Schlußdokument des Generalkapitels einer Ordensgemeinschaft an, wo zugegeben wird, daß die religiösen Anstrengungen der Vergangenheit die Schwestern nicht vor den Gefährdungen des Lebens in dieser Welt bewahrt hätten, daß sie genauso in die Probleme der Zeit verwickelt, daß sie trotz ihrer Gebete und Gottesdienste in ihrer natürlichen Entwicklung einen argen Mangel aufweisen. Hier wird etwas ausgesprochen, was in hohem Ausmaß auch für viele im Raum der Kirche gilt und wo wir den Grund für der katastrophalen Probleme der letzten Zeit vermuten dürfen. Hier wird die Kritik Jungs am Christentum bestätigt, der aufgrund seiner Erfahrungen und Forschungen zu dem Ergebnis kommt, dass der seelische Zustand des christlichen Europäers nicht dem äußerlich Geglaubten entspricht. Im Inneren regieren eher noch archaische Götter. Die seelische Kultur ist unentwickelt und im Heidentum steckengeblieben. Mit den bisher angewendeten Mitteln ist es nicht gelungen, die Seele soweit zu christianisieren, daß die elementarsten Forderungen der christlichen Ethik einen maßgeblichen Einfluß auf die hauptsächlichsten Belange des christlichen Europäers haben.
Dasein für andere – das höchste Ideal?
Vieles spricht für die recht schmerzliche Erkenntnis, daß gerade die Grundforderung der christlichen Ethik - das Dasein für andere - zu dem beklagten Ergebnis führt, wenn sie nicht von einer kritischen Stellungnahme zu sich selbst begleitet ist. Wer von edlen Idealen - zum Beispiel des Einsatzes für Arme und Benachteiligte - begeistert ist, sieht es eher für überflüssig, hinderlich ja sogar als Zeichen von Heilsegoismus an, Mühe und Zeit zur Besserung der eigenen Person aufzubringen, da er sich ja schon längst - wie er meint - für die edelste und erhabenste Sache entschieden hat. Es gebe gar keinen Grund, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Den Gedanken, daß man auch in der Verfolgung hoher Ziele das Falsche tun, Unheil anrichten und als Mensch sogar scheitern kann, wird er weit von sich weisen.
„Man zieht das Kompliziertere vor, nämlich das Nichtwissen um sich selbst und die geschäftige Bekümmerung um anderer Schwierigkeiten und Sünden. Dort wirken sichtbare Tugenden, die die anderen und einen selbst wohltätig täuschen. Man ist - Gott sei Dank - sich selbst entlaufen,“ so Jung in seinem Vortrag auf der evangelischen Pastoralkonferenz 1931 in Straßburg (1).
Die Träume decken jedoch schonungslos die innere Wirklichkeit auf. Gerade in einem geistlichen Beruf, wo sich, wie schon angedeutet, die Einseitigkeit des Bewusstseins in Richtung des Edlen, Erhabenen, Vergeistigten bis ins Extreme steigern kann, können uns Träume sehr überraschend auf den Boden der Wirklichkeit bringen.
Eine der hohen Tugenden ist Friedensliebe und Harmoniebedürfnis. Aber es kann sein, daß wir im Traum ständig von Terroristen umlagert sind oder daß wir uns im Krieg befinden. Die andere Seite sagt uns: wir sind gar nicht so friedliebend; wir würden selbst am liebsten Angriffe auf verschiedene Personen ausführen; wir haben eine Mordswut auf unsere Vorgesetzten oder auf andere, die unser Glück angeblich oder in Wirklichkeit verhindern. Wir werden unsanft darauf hingestoßen, dass wir, obwohl wir nach außen so harmonisch wirken und nie einen Konflikt aufkommen lassen, im Krieg mit uns selbst sind.
Wenn das Unbewußte eine Seelenlandschaft malt, die ganz anders ist als unser Alltag, und uns Personen vorstellt, die uns recht unsympathisch sind, müssen wir eingestehen: das bin ich auch!
Es macht uns betroffen und wir werden vorsichtiger, was die Beurteilung anderer Menschen, auch was unsere eigenen hehren Ziele und Überzeugungen anbelangt. Es fordert die demütige Einsicht, daß unsere Motivationen gar nicht so edel sind, sondern auch manche unschöne Färbungen in sich tragen.
Kann man sich selbst entlaufen?
Noch einmal sei die von Jung erhobene Kritik an der ausschließlichen Sorge für andere und am Absehen von sich selbst aufgegriffen. Sein Urteil lautet: solche Menschen entlaufen sich selbst. Die Erfahrung in der seelsorglichen und therapeutischen Arbeit sagt auch: das Schicksal holt jeden wieder ein.
Die Themen unseres Lebens, die in den unterschiedlichsten Lebensphasen hereindrängten aber als unwichtig abgetan und ausgeschlossen wurden, kehren in späteren Zeiten zurück, sei es als eine alles lähmende Krise oder als ein Zustand voller Enttäuschung, Verhärtung und Verbitterung im Alter. Das Nichtbeachtete und Nichtbearbeitete bekommt eine eigene Dynamik, die umso stärker ist, je weniger wachsam und kritisch man sich selbst gegenübersteht.
Die Gefahr, von einem blinden Geschehen überrollt zu werden, wird erst dann gebannt, wenn die volle Aufmerksamkeit dem bisher ausgeklammerten Innern der Seele zugewandt wird und damit den Träumen und den in ihnen enthaltenen Bereichen. Es sind genau die Themen, die bisher aufgrund des hohen Engagements im Beruf oder in der Familie vermieden wurden. Sie möchten nun an die Oberfläche und mitmischen. Erst wenn sie entsprechend beachtet und gewürdigt sind, wenn sie ein Stück mitleben dürfen, werden sie ihre behindernde und lähmende Wirkung aufgeben.
Der Grund, warum unser seelischer Organismus vieles beiseite legt, ist darin zu suchen, daß ein beschämendes oder angstmachendes Erlebnis zugrunde liegt. Mit den tieferen Gefühlen in Kontakt kommen, hat deshalb immer mit Schmerz und Tränen zu tun. Der Lohn dafür ist, daß wir weicher und lebendiger werden und uns selbst näher kommen. Sobald wir unsere Härte aufgeben, spüren wir, daß uns etwas nach innen zieht zu dem Punkt, wo wir uns mehr zuhause fühlen. Alle Zeugnisse der Hl. Schrift und großer religiöser Menschen sprechen davon, daß dies der Prozeß oder der Weg ist, auf dem wir in die Nähe Gottes gelangen. Denn das Reich Gottes hat ja, wie es am Anfang bei dem Evangelisten Markus heißt, mit Metanoia, d.h. mit Wandlung zu tun (Vgl. Mk 1, 15), ein Ereignis, das immer dann eintritt, wenn uns ein tieferes und stärkeres Gefühl zu ergreift.
Ergriffensein führt zu dem Ereignis, in dem wir uns Gott nähern. Der Theologe Paul Tillich nennt „Gott ist das grundlegende Symbol für das, was uns unbedingt angeht“ ( 2). Das bedeutet Gott ist uns solange fern, als unser kleines Ich das Ergriffensein verhindert, solange wir an der Einstellung des Besitzes, des Rechthabens, der Abwehr und der Schuldzuweisung an andere festhalten. Erst wenn wir die Aufmerksamkeit voll und ganz auf das eigene Innere lenken und bereit sind, den zugrunde liegenden Schmerz zuzulassen und uns in unserem Sosein anzunehmen, kann die Gnade Gottes in uns wirken. Damit wird ein eigentätiger Wandlungsprozeß ausgelöst, als dessen Ziel die größere, umfassende Persönlichkeit steht.
Die Kunst der Wandlung wiedergewinnen
Eines muß man sich, selbst wenn man zur Kirche hält, eingestehen: sie hat den prägenden Einfluß auf die Zeitströmung verloren, weil sie nicht mehr die Kraft und Weisheit besitzt, erwachsene Menschen von Grund auf zu wandeln, wie es in der Frühzeit des Christentums war.
Will man die Kunst der Wandlung wiedergewinnen, hängt dies wesentlich davon ab, ob der Stellenwert des Emotionalen, d.h. des Bereichs der Träume ernst genommen wird und ob die Fähigkeit erlernt wird, damit sachgerecht umzugehen. Was die Menschen heute bei allem Skeptizismus suchen, ist die Echtheit in Beziehungen und im gegenseitigen Austausch, wirkliche Nähe und spirituelle Tiefe, das heißt Lebensinhalte, welche die Banalität des Alltags überschreiten. Die völlig überraschende Vorliebe Ungezählter für die Esoterik darf man als Beweis für das Ungenügen einer rein rationalen Bildungskultur und Arbeitswelt sehen.
Die Bewegung des Neuen Zeitalters, „New Age“ genannt, möchte den transrationalen Grund einer verödeten Lebenswelt erfahrbar machen. Mit anderen Worten: Die Seele des modernen Menschen dürstet nach dem Geheimnis, das größer als er selbst ist, er möchte davon ergriffen werden und darin Heimat und Frieden finden - ein Wunsch, den kritisches Denken allein nie erfüllen kann. Andererseits hat es sich für viele als Sackgasse erwiesen, den wachen Geist der Neuzeit einfach an den Nagel zu hängen und sich kritiklos der Faszination eines asiatischen Gurus oder einer „geisterfüllten“ Gruppe hinzugeben.
Es geht vielmehr darum, die spirituelle Erfahrung mit der Läuterung des Emotionalen und dem kritischen Denken harmonisch zu verbinden. Dies ist die Vision vom neuen Menschen, der Neuzeit und Mittelalter in sich versöhnt, d.h. die Bewusstheit und Fähigkeit des Denkens mit der Fülle und schöpferischen Kraft des Unbewussten zusammenführt.
Nach frühchristlicher Überzeugung, wie sie uns im Kolosserbrief entgegentritt, ist dies „der neue Mensch, der wieder jung wird an Erkenntnis, der Mensch, der nach dem Bilde dessen ist, der ihn geschaffen“ (Vgl. Kol 3,10 f). In ihm sind die bisher gültigen und trennenden Grenzen zwischen Religionen, Völkern und Ständen aufgehoben, weil Christus jeden einzelnen wandelt und zu seiner Größe führt.
Geistlicher Weg ist deshalb im rechten Verständnis ein Prozess eines Lebens, in dem die Kraft des Seelengrundes - mit anderen Worten die Gnade und Dynamik des Geistes Jesu - die Führung übernimmt und es für die Atmosphäre der Freiheit und der Liebe öffnet.
Wo es Menschen gelingt, diesen Weg als den ganz eigenen zu entdecken, ist das Bild der Frau wieder eingezogen.
Anmerkungen
1)C. G. Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GW Bd 11,Olten 1973 S.368
2)Tillich Paul, Ges. Werke, Evangelisches Verlagswerk 1959 Bd .VIII, S142