Leseprobe:


1.Jesus, Heiland oder Medizinmann?    

Die Suche nach dem Neuen    
Der Ruf nach dem Heiler    
Der Medizinmann – der Mann der heilenden Kraft    
Ein Arzt kuriert das Symptom, ein Heiler verändert den Menschen    
Indianische Heilungen    
Der kraftlose Heiland – Jesus der Mann der Kraft    
Jesus, der Heiler    
Glaube – die Innenseite der Wunder    
Begegnung nicht Behandlung    
Heilung verlangt den vollen Einsatz (Lk 8, 43 – 48)
Der verwundete Heiler    
Der bedingungslose Einsatz Jesu
    
2.Jesus – tiefenpsychologisch
    
Verwirrungen um die Tiefenpsychologie    
Nicht reduzieren – sondern amplifizieren    
Träume und Bilder: Momentaufnahmen des Inneren    
Erkenntnis ist Begegnung    
Das Reich Gottes – eine tiefenpsychologische Größe    
Jesus – der Mensch in der Mitte der Welt    
Den Menschen nahe sein    
Der projizierte Archetyp – die blinde Religiosität       
Die größere Persönlichkeit    
Freiheit und Liebe    
Ist das Christentum lebensfeindlich?    
Nachfolge: Eintauchen in die Atmosphäre Jesu
    
3.Jesus – der Retter der Welt    

„Heute ist euch ein Retter geboren“    
Überhöhung und Idealisierung?    
Dogmen – Lasten oder Schätze?    
Den Tod entmachten    
Der Tod – eine ferne Größe?    
„Nimm den Tod zum Ratgeber!“    
Ewig ist heute    


1. Jesus, Heiland oder Medizinmann?

Die Suche nach dem Neuen

Schon die Frage „Ist Jesus Heiland oder Medizinmann?“ erscheint gläubigen Christen als Zumutung. Sie beleidigt den Glauben an die unantastbare Größe und Würde der Gottheit Jesu; denn mit „Medizinmann“ verbinden viele sofort Unseriöses, Zauberei, Magie, heidnischen Aberglauben. Im Zeitalter der Esoterik werden wir jedoch mit solchen Themen konfrontiert, und wir tun gut daran, uns darauf näher einzulassen.

Es fällt auf, daß in den Esoterik - Publikationen, die durchaus ein ernsthaftes spirituelles Anliegen haben, der Name Jesus kaum auftaucht. Unter all den spirituellen Wegen, die heute den Suchenden angeboten werden, wird die Nachfolge Christi nicht einmal erwähnt. Das Christentum, wie es von seinen heutigen Jüngern vertreten wird, muß – so hat es den Anschein – auf Außenstehende eher Abschreckung ausüben, sodaß es als mögliches Lebenskonzept nicht einmal annähernd in Betracht gezogen wird. Fast bei allen Diskussionen um diese Frage wird der obersten Kirchenleitung die Schuld zugeschoben und die Stimmung entsprechend angeheizt. Eine solche Kritik trifft jedoch nicht den Kern der Sache. Es sollte zu denken geben, daß auch die nichtkatholischen Kirchen in den westlichen Industrieländern mit den Problemen des Glaubensschwunds, der Säkularisierung, im Grunde mit ihrer Bedeutungslosigkeit zu kämpfen haben.

Was die Leser von Esoterik – Zeitschriften anzieht, ist die Lebendigkeit und Frische in der Vermittlung des Neuentdeckten, eines oft sogar sensationell anmutenden spirituellen Erfahrungsraumes; das allerdings wird in den üblichen kirchlichen Veröffentlichungen und in der gängigen religiösen Literatur vermißt. Die theologische Begriffswelt erscheint den meisten verbraucht und inhaltsleer – gerade auch die Bezeichnung „Heiland“ und das ihm verwandte Wort Heil; ebenso Gnade, Erlösung, Sünde und Sündenvergebung und vieles mehr, was in kirchlichen Verlautbarungen und Predigten als feststehendes Vokabular der Verkündigung immer wieder zu hören ist.

Aufmerksamkeit und Interesse werden nur dem geschenkt, der seine Aussagen mit der eigenen Erfahrung abdecken kann, wo im Sprechen noch etwas vom Erlebten mitschwingt; nur er kann Zeuge sein für etwas, was weder im Rahmen des modernen rational - wissenschaftlichen Denkens noch in einer auf oberflächlichen, auf Ablenkung ausgerichteten, banalen Lebenseinstellung gefunden werden kann.

Es sollte zu denken geben, daß die Evangelien eine Fülle von Neuheitserfahrung des Religiösen überliefern, daß wir auf Schritt und Tritt Überraschungen begegnen; daß Ungewohntes und Ungewöhnliches den Charakter dieser Schriften ausmacht. Hätten wir Christen unseren Stifter wirklich verstanden – könnte man folgern – so müßten die spirituell Interessierten auch heute nach christlichen Zeitschriften und Büchern greifen und jede Auflage innerhalb kürzester Zeit „vergriffen“ sein. Statt dessen erleben wir das Sterben von kirchlich orientierten Verlagen und deren Produkten. Wenn es den im Neuen Testament beschriebenen neuen Menschen (vgl. 2 Kor 5, 17; Eph 2, 15; 4, 25) auf breiter Basis gäbe, dann würde es nicht fehlen an intelligenten, kraftvollen und wirksamen Ideen zur Lösung der Probleme unserer Zeit.

Um Aufmerksamkeit für Hergebrachtes und Eingeschliffenes, in diesem Fall für die christliche Tradition mit ihren Grundüberzeugungen, zu wecken, ist es kein falscher Weg, das Alte in einem Rahmen zu zeigen, der das Interesse eines großen Publikums schon gefunden hat. Ein solcher ist die Vorliebe vieler für die Naturvölker, die man früher Primitive genannt hatte. Die Anziehung, die von ihnen ausgeht, mag ihren Grund darin haben, daß Esoterisches schon immer fasziniert hat. Eher ist es aber die Enttäuschung über den modernen wissenschaftlichen Fortschritt, der sich als unfähig erweist, die von ihm verursachten Probleme zu lösen. Denken wir an die Zerstörung der Grundlagen menschlichen Lebens auf dieser Erde, der Erwärmung der Umwelt einfach deshalb, weil Menschen Tag für Tag mit technischen Hilfsmitteln leben, arbeiten und auf Reisen gehen. Eine weitere Erwärmung der Erdatmosphäre und der Weltmeere wird gewaltige Veränderungen des Klimas auslösen, und das bedeutet Vernichtung der Lebensgrundlage für viele Völker. Damit gehen Unruhen, Fluchtbewegungen und unüberschaubare Konflikte einher. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, welche Verheerungen die heute vorhandenen Waffen anrichten, wenn es tatsächlich zum Krieg kommt, oder wenn diese in die Hände von vom Wahn Besessenen geraten.

Ohne noch Katastrophen zu erwägen muß man eingestehen, daß der sogenannte Fortschritt menschliche Probleme geschaffen hat, die es in diesem Ausmaß früher nicht gab. Die Anonymität der Großstädte und die Mobilität ist der Nährboden, auf dem Drogenkonsum, organisierte Kriminalität und viele Formen zerstörerischen Verhaltens gedeihen. Entwurzelung und Heimatlosigkeit sind Ergebnisse einer Entwicklung, die den Menschen die Seele genommen hat. Im Bereich der Gefühle, eines gelingenden Zusammenlebens und einer erfüllenden Gestaltung der verfügbaren Zeit erweist sich die vorherrschende zweckrationale Einstellung und Bildung als völlig unzureichend. Was menschliche Beziehungen anbelangt – Partnerschaft und Familie – so scheint es, daß oft gerade die äußerlich Erfolgreichen den Mechanismen der unbewußten Seele besonders ausgeliefert sind. Die Zerbrechlichkeit privaten Glücks zeigt, wie wenig die Menschen ihren tiefsten Wünschen nach Nähe und lebendigem Austausch Dauer verleihen können.
Selbst die medizinischen Leistungen, die das Leben des Einzelnen erheblich verlängern – wovon man früher nur geträumt hatte – schaffen gesellschaftliche Probleme von gewaltigem Ausmaß. Wer wird die alten, gebrechlichen, pflegebedürftigen Menschen versorgen?
Zudem ist auch die moderne Medizin gegenüber Aids und Krebs ziemlich ohnmächtig. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sie in mancher Hinsicht den Menschen mehr beherrscht als ihm dient, wenn sie ein menschenunwürdiges Sterben eher verhindert als fördert.

Der Ruf nach dem Heiler

In weitem Umfang ist heute von einer krankmachenden Gesellschaft, Arbeitswelt, Familie, Ernährung und Umwelt die Rede und der Ruf nach dem Heiler erwacht. Es ist sehr aufschlußreich, die genannten Esoterikzeitschriften unter diesem Aspekt zu untersuchen. Eine einzige Ausgabe (1) bringt mehr als zwölf Anzeigen zum Thema „Heilung“ – einmal, wo man selbst Heilung finden kann, und zum anderen, wo man sich zum Heiler ausbilden lassen kann; Angebote von der einfachen Heilpraktikerausbildung über die Wiederentdeckung der Heilpflanzen, über „altorientalische Musiktherapie“, „Reinkarnationstherapie“ bis zur „Reise zu den Geistheilern“ und „Heilen durch den Geist“. Gerade der starke Andrang zur Heilpraktikerausbildung, zum Therapeuten auf den verschiedensten Ebenen, zu Gruppen, wo durch Gebet und Handauflegung Heilungen gesucht wird, läßt den Schluß zu, daß der alte Medizinmann der Naturvölker in unserer Zeit wiedererwacht ist und gewissermaßen als Urbild die Menschen in seinen Bann zieht. Nichts ist in diesem Zusammenhang angebrachter als die alten, entwertenden Vorurteile gegen die Vertreter einer ernsthaften Heilkunst auf anderem kulturellen Hintergrund aufzugeben und die Vorstellungen von Aberglaube und Betrug aus dem Weg zu räumen, weil sie dem ehrlichen Bemühen jener Menschen nicht gerecht werden und echtes Verstehen verhindern.


Der Medizinmann – der Mann der heilenden Kraft

Bei dem Ausdruck „Medizin“ im Sinne der Indianer dürfen wir nicht an Medizinfläschchen denken; es ist die Übersetzung eines indianischen Begriffes, der viel weiter und umfassender ist als unser deutsches Fremdwort. Es bedeutet ungefähr so viel wie heilige, heilende und das Heil bringende Kraft. Die Indianer sagten zu den Kirchen, welche die Weißen gebaut hatten, „Medizinhütten“. In ihrer Vorstellung war das Heilige auch das Heilende; es gab Orte oder man errichtete Hütten, wo sie dieser heiligen und heilenden Kraft begegneten. Es wäre also gar keine verkehrte Motivation würden wir sagen: Am Sonntag gehen wir in die „Medizinhütte“, weil wir uns einer heilenden Kraft aussetzen wollen.

Die Frage, was denn nun ein Medizinmann sei, läßt sich demnach etwa so beantworten: ein Mensch, mit heilenden Kräften, was mehr als Wissen um Krankheiten und Heilkräuter; es ist eine Fähigkeit aus der Mitte seines Wesens, die er sich durch seine ganz persönliche Lebensgeschichte erworben hat. Dazu gehört der Aufenthalt in der Einsamkeit, das Erleben einer großen Vision; ein Ereignis, das mit gewaltigen inneren Krisen und Umbrüchen verbunden ist und das ihn mit der in der Natur und in ihm selbst wirkenden Kraft in Verbindung bringt. Zwei der berühmtesten Medizinmänner unserer Zeit waren Schwarzer Hirsch aus dem Stamm der Sioux, der mit 19 Jahren einen im Sterben liegenden Knaben heilte, und Archie Fire Laime Deer, der zuerst Rodeoclown, Soldat, Polizist und Schäfer war und dann zum „wicasa wakan“, zum heiligen Mann seines Volkes wurde. Er bedauert, daß es keine bessere Übersetzung für Medizinmann gibt, denn er ist Priester, Seher, Arzt und geistiger Führer in einem, also jemand, der mit den existentiell bedeutsamsten Lebensgebieten umzugehen versteht und deshalb um Rat angegangen wird.

Es ist einer ernsten Nachforschung wert, wieviel heilende Kraft unser Christentum noch hat. Gewiß, man kann sich auf Wallfahrtsorte wie Lourdes, Fatima, Altötting berufen; man darf nicht unerwähnt lassen, daß die Heiligen der Kirche mit wunderbaren Heilungen in engster Verbindung stehen, aber Tatsache ist: in der säkularisierten Gesellschaft wird eher außerhalb als innerhalb der Kirche heilende Kraft gesucht. Ob es nicht daran liegt, daß die Menschen den Anschluß an die Tradition, das heißt aber auch zu den eigenen Wurzeln verloren haben und daß noch kein Weg entdeckt wurde, der überzeugend wieder dorthin führen könnte? Wichtiger, als sich auf außerordentliche Erscheinungen zu berufen, wäre es, in unseren ganz gewöhnlichen Gottesdiensten etwas von der heilenden und sinnstiftenden Kraft spüren zu können; wenn. Menschen z.B. durch das dort vorkommende Wort aufhorchen. Eine Aussage kann plötzlich so tief in die Seele fallen, daß sie Tränen der Freude und des Trostes hervorruft.

Ein Arzt kuriert das Symptom, ein Heiler verändert den Menschen

Während die moderne Medizin mit äußeren Mitteln in die physiologischen Abläufe einzugreifen versucht, geht es in der indianischen Heilkunst um die Beseitigung der Ursache, die in der gestörten Weltharmonie gesehen wird. Der Kranke - der einzelne oder auch der ganze Stamm - ist aus dieser Harmonie von Mensch, Kosmos und Schöpfung herausgefallen und muß wieder zurück gebracht werden. Anders ausgedrückt: Die indianischen Heiler verfügen über die Kraft, in die Schichten des Unbewußten einzugreifen, wo Körperliches, Psychisches und Spirituelles einander berühren. Von dorther, vom Seelengrund, geschieht denn auch eine Wandlung des ganzen Menschen.
Ein Amerikaner beschreibt den Unterschied zwischen einem weißen Arzt und einem indianischen Heiler wie folgt: Wenn ich einen Menschen heile, bin ich ein guter Arzt. Wenn ich einen Menschen heile und ihm helfe, seinen Platz im Universum zu verstehen, bin ich ein Heiler. Um es plakativ zu sagen: Ein Arzt heilt das Symptom, ein Heiler verändert die Einstellung zur Krankheit, zum Leben und zum Tod, den ganzen Menschen.


Entscheidend sind die psychischen Vorgänge, die durch eine Heilungszeremonie ausgelöst werden. Der Kranke ist in der Tiefe seiner Existenz herausgefordert, und auf dieser Ebene soll er auch reagieren. Hier berühren sich die ganzheitliche Betrachtung von Gesundheit und Krankheit einer Jahrtausende alten Tradition und die Heilungen Jesu, die wesentlich existentielle Begegnungen sind. Die moderne psychosomatische Medizin spricht heute dem psychisch – geistigen Faktor (wie dem Vertrauen in den behandelnden Arzt, der Bearbeitung von Lebensproblemen, der allgemeinen Atmosphäre) eine reale gesundmachende Bedeutung zu, obwohl die Praxis eher noch von der rein naturwissenschaftlich – technischen Auffassung geprägt ist. Nachgewiesen sind physiologische Zusammenhänge von psychischer Verfassung und dem Immunsystem des Körpers; positive Einstellung stärkt die Abwehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der sogenannte Placebo – Effekt. Dem Patienten wird ein Scheinmedikament verabreicht, welches aber aufgrund des Glaubens daran durchaus positive Wirkungen zeigt. Es ist sogar nachgewiesen, daß Stoffe, die vermeintlich – nicht in Wirklichkeit! – zugeführt wurden, tatsächlich im Blut des Patienten in erhöhter Konzentration vorkommen d.h. daß sie aufgrund seiner Vorstellung vom Körper gebildet werden.


Indianische Heilungen

Sehr beeindruckend ist, wie der schon erwähnte Medizinmann „Schwarzer Hirsch“ aus dem Stamm der Sioux von seiner ersten Heilung erzählt. Er hatte mit elf Jahren eine Vision, wo ihm ein heilendes Kraut gezeigt wurde, das er dann tatsächlich an einer abgelegenen Stelle eines Flusses fand. Genau am Tag, nachdem er die Pflanze gefunden hatte, wurde er, weil seine Berufung zum Heiler bekannt geworden war, zu einem Kranken gerufen. Hören wir ihn selbst:
„Ich war beim Abendessen, als ein Mann mit Namen Schlägt – in – Stücke eintrat und rief: „Hey, hey, hey!“ denn er war in großer Betrübnis. Ich fragte ihn, was der Grund sei, und er berichtete: „Ich habe einen Knaben, der ist sehr krank, ja ich fürchte, er wird bald sterben. Er war schon lange Zeit krank. Sie sagen nun, du habest durch den Pferdetanz und den Heyoka – Ritus große Kraft gewonnen, so könntest du ihn vielleicht retten. Ich hänge so an ihm.“ Ich sagte Schlägt – in – Stücke, wenn er wirklich Hilfe wünsche, so möge er heimgehen und mir eine Pfeife mit einer Adlerfeder bringen. Während er ging, dachte ich darüber nach, was ich tun sollte; und ich hatte Angst, weil ich noch niemanden mit meiner Kraft geheilt hatte. Aber Schlägt – in – Stücke tat mir sehr leid. Ich betete inbrünstig um Hilfe. ……………………………………………………………………………………………….
Auf heilige Weise mache ich sie gehen.
Ein heiliger Zweibeiner liegt darnieder.
Auf heilige Weise wird er gehen.“

Während ich dies sang, empfand ich in meinem ganzen Leibe etwas Seltsames, etwas, das in mir das Verlangen weckte, über alle unglücklichen Geschöpfe zu weinen, und Tränen rannen über mein Gesicht.
Jetzt ging ich gegen den westlichen Weltteil, zündete dort die Pfeife an, bot sie den Mächten dar, und, nachdem ich einen Zug getan, gab ich sie weiter herum.
Als ich den kranken kleinen Knaben wieder ansah, lächelte er, und ich konnte fühlen, daß meine Kraft zunahm.
Ich nahm zunächst die Wasserschale auf, trank ein wenig und ging hinüber zu der Stelle, wo der kranke kleine Knabe lag. Vor ihm stehend, stampfte ich viermal auf die Erde. Darauf legte ich meinen Mund auf seine Magengrube und blies durch ihn den reinigenden Wind des Nordens. Dann kaute ich etwas von dem Kraut und legte es in das Wasser, darauf blies ich ein wenig davon auf den Knaben und nach den vier Weltgegenden. Die Schale mit dem Rest des Wassers reichte ich der Jungfrau; diese gab es dem kranken kleinen Knaben zu trinken. Hierauf sagte ich der Jungfrau, sie solle dem Jungen aufstehen helfen und mit ihm im Kreise gehen, im Süden, an der Quelle des Lebens beginnend. Er war sehr elend und sehr schwach, doch mit der Jungfrau Hilfe tat er das.
Dann ging ich fort.
Am folgenden Tag kam Schlägt – in – Stücke und berichtete mir, sein kleiner Knabe befinde sich besser, er sitze aufrecht und könne wieder etwas essen. Vier Tage später ging er wieder herum. Er wurde gesund und lebte bis zum dreißigsten Jahr.
Schlägt – in – Stücke gab mir ein gutes Pferd für diesen Dienst. Aber ich würde freilich immer umsonst geholfen haben“ (2).

Ergreifend ist das Gebet des jungen Medizinmannes: Da ist nichts von Magie, welche das Numinose herbeizwingen will; auch nichts von Scharlatanerie oder einem zauberischen Hokuspokus zu finden, sondern einzig und allein die demütige Bitte an den Großen Vater um Erbarmen für Menschen in Verzweiflung.
Was den Kranken heilt, ist nicht eigenes Können, sondern die Kraft der Hingabe, die sich im Wasser und in der gefundenen Pflanze ausdrückt. Heilung ist ein Geschenk des Großen Geistes bzw. der Mächte, die die Welt leiten.  Schwarzer Hirsch sieht sich selbst als jemand, dem die Gnade zuteil wurde, in die Mitte der Welt geführt zu werden. Weiter fällt auf, wie durch das Trommeln und das Singen seine Kraft zunimmt, wie ihn aber auch das Mitleid mit allen unglücklichen Geschöpfen überkommt. Der letzte Akt besteht darin, dass er die Seele des Kindes symbolisch an die Quelle des Lebens führt, in die Mitte der Welt, deren Zeichen das heilige Kraut und das heilige Wasser sind. Vom Ursprung her soll das gestörte Verhältnis von Mensch und Kosmos, von Seele und Leib wieder geordnet werden.

Der kraftlose Heiland – Jesus der Mann der Kraft

Auf dem Hintergrund eines durchaus glaubwürdigen Berichts über indianische Heilungen drängt es einen, den Blick auf Jesus und den ihm verliehenen Titel „Heiland“ zu werfen. Während – wie schon gesagt – der Archetyp des Medizinmannes heute Menschen in seinen Bann zieht, ist die Anziehung des „Heilands“ ziemlich erloschen. Nicht einmal bei Kommunionkindern reicht es, daß sie auch die Sonntage nach dem großen Fest ihre abgelegten Treuegelöbnisse halten. Das Bild des Heilandes hat offensichtlich seine Kraft verloren.
Wir werden an Darstellungen vom „lieben Heiland“ erinnert, der mit seinen allzu gütigen und milden Gesichtszügen und dem offenen Herzen eine eher abstoßende Gestalt aus einer fremden, irrealen Welt darstellt; der nicht nach einem Hohenpriester aussieht, „der mitfühlen könnte mit unseren Schwächen und der in jeder Hinsicht auf gleiche Weise versucht wurde“ (Hebr 4, 15).Der Heiland, wie er uns seit dem 19. Jahrhundert vermittelt wurde, ist freundlich und lieb, aber irgendwie kraftlos geworden; wir trauen es ihm nicht zu, auch die verworrenen, oft verdunkelten und beschämenden Anteile unserer Persönlichkeit zu verstehen und anzunehmen.
Ganz anders ist jedoch der Eindruck, den eine Christusikone des 11. Jahrhunderts auslöst (3). Das Gesicht trägt ernste, ruhige, besonnene Züge, die trotzdem etwas von Leichtigkeit an sich haben. Die dunklen Augen scheinen einen Blick in die Tiefe freizugeben, in der „Christus dem Drachen das Haupt zerschlagen hat“, wie es in der Liturgie von der Taufe Jesu heißt. Einen solchen Heiland könnten wir uns als sicheren Begleiter vorstellen, wenn die Fluten der Angst und Verzweiflung über uns zusammenschlagen. Einem solchen Retter – Heiland ist die deutsche Übertragung des hebräischen, griechischen und lateinischen Wortes für Retter – könnten wir uns anvertrauen, wenn wir in Dunkelheiten unseres Lebens verwickelt sind.


Jesus, der Heiler

Zunächst müssen wir uns noch einmal den Wunderheilungen Jesu zuwenden. Sie gehören zum Wesentlichen seines Wirkens. Nach dem Evangelisten Matthäus sieht Jesus selbst sie als Zeichen, daß mit ihm die Messiasherrschaft angebrochen ist. „Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: „Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote stehen auf, und Arme empfangen die Frohe Botschaft.“ Selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ (Mt 11,4 - 6).
Nun ist es aber so, dass sich die Menschen unserer Zeit gerade an jenen Ereignissen reiben.
Als bei einem Gottesdienst mit jungen Leuten eine Heilungsgeschichte zu hören war, brachte ein Schüler seine Skepsis mit der Frage zum Ausdruck; was es denn soll, ein solches Märchen vorzulesen? Woran liegt es, daß von heutigen Menschen das Wunderbare, das Außerordentliche, das ehemals zum Glauben geführt hat, eher als Hindernis erfahren wird?

In den älteren katholischen Bibelkommentaren werden die Heilungswunder Jesu als Beweis seines göttlichen Auftrags und seiner Gottesherrschaft gesehen. Kritische Menschen unserer Tage können diesem Gedankengang nicht folgen. Es kann sogar sein, daß Wunder Jesus in weite Ferne rücken einmal, weil solche Erscheinungen nicht in das wissenschaftliche Weltbild passen; man müsste ja seinem gesunden Menschenverstand abschwören, wenn man das glauben wollte, meinen viele.
Gerade weil die Wunder als Aufhebung der Naturgesetze in göttlicher Vollmacht verstanden wurden und als Begründung des Absolutheitsanspruchs und als Beweis der Gottheit Christi dienten, hat sich für viele um die außerordentlichen Ereignisse im Leben Jesu eine unüberwindbare Sperre aufgebaut. Selbst im Raum der Theologie ist man heute bestrebt, das „Ärgernis der Wunder“, die eher als Hindernis denn als Stütze des Glaubens empfunden werden, möglichst zu reduzieren im Sinne der Aufklärung, die sogenannte übernatürliche Vorkommnisse auf natürliche Ursachen zurückzuführen versucht. Zudem betrachtet die historisch – kritische Exegese die Heilungsgeschichten eher als Aussagemittel der frühchristlichen Verkündigung denn als historische Berichte.
Bei aller kritischen Forschung steht doch fest, daß vieles von dem, was von den Schamanen (Medizinmännern) gesagt wurde, auch auf Jesus zutrifft. Heilende Kraft, Visionen, Heilung und Wandlung des ganzen Menschen, Wiederherstellung der Einheit von Mensch und Gott sind Elemente, die im Leben Jesu als zentrale Ereignisse vorkommen. Die Heilung eines Gelähmten (Lk 5,17 - 26) wird eingeleitet mit dem Satz: „da überkam ihn die Kraft des Herrn zu heilen“(Lk 5,17). Und noch an vielen anderen Stellen ist davon die Rede, daß eine Kraft von ihm ausgeht, die heilt (Lk 6, 19), und, daß er dieses Ausgehen spürt (Lk 8, 46). Auch Jesus hatte zu Beginn seines Wirkens eine Vision, die ihm die innigste Nähe zu Gott und damit zur Mitte der Welt aufzeigte (Mk 1,11). Auch er ging in die Stille der Wüste und setzte sich dem Umgang mit den wilden Tieren aus (Mk 1, 12).
Es fällt auf, daß Jesus, bevor er den Gelähmten zum Aufstehen auffordert, die Vergebung der Sünden ausspricht (Lk 5, 20). Sünde ist aber ein anderes Wort für die Störung der Harmonie mit Gott, mit sich selbst und mit der Welt um sich herum. Darauf weist auch die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes „Hamartia“ hin, was nichts anderes als Verfehlung heißt.
Die Parallelen zwischen Jesus und den indianischen Heilern müssen unseren Glauben an die Gottheit und Einmaligkeit Jesu nicht entwerten. Sie sind eigentlich nur der konsequente Ausdruck für die Menschwerdung Gottes, für die Tatsache, daß sein heilendes Tun die Gestalt der Menschen annahm (Phil. 2, 7).

Es geht nicht darum, das Wirken nichtchristlicher „Wundertäter“ in Konkurrenz zu Jesus zu sehen; vielmehr ist es hilfreich, auf der menschlichen Folie eines indianischen Schamanen die Wunder Jesu unserem Verstehen zu öffnen, indem aufgezeigt wird, daß die seelische Kraft über physiologische Abläufe auf den Körper Einfluß hat.
Wir sollten weniger abstrakte theologische Begriffe in den Vordergrund stellen, sondern (wie z.B. Schwarzer Hirsch) vom einfachen Erleben ausgehen und erhöhte Aufmerksamkeit auf das seelische Geschehen lenken; nämlich darauf, was in den Menschen um Jesus und in ihm selbst vorgeht; wie sich Angst und Schmerz in Zuversicht und Freude umkehren; wie sich emotionale Abläufe gegenseitig beeinflussen.
Wir werden den Heiligen Schriften dann gerecht, wenn wir uns wie Jesus für das Schicksal der Menschen interessieren und fragen, was sich denn in ihnen abspielte, als sie von Jesus geheilt wurden. Wenn wir die Menschwerdung Gottes ernst nehmen, dann müßte es auch möglich sein, uns in Jesus selbst hineinzudenken. Allerdings setzt dies einen Erlebnisraum voraus, der dem von Jesus wenigstens annähernd ähnlich ist. Wir müssen vermeiden, mit theologischen Fachausdrücken wie „göttliche Vollmacht“, „Messianität“, „Königsherrschaft Gottes“ die Geschehnisse erklären zu wollen und dabei Unverständnis zu ernten; denn solche Begriffe bedürfen selbst der Erklärung, mehr noch der Erfahrung.