Die österliche Bußzeit (Fastenzeit)

Hauptinhalt der kirchlichen Bußzeit ist die Vergebung der Sünden. Für die meisten scheint dies heute im Gegensatz zu früher überhaupt kein Thema zu sein. Kein anderer Begriff im kirchlichen Raum hat so an Bedeutung verloren wie das Wort „Buße“ und „Umkehr“. Es zeigt sich vor allem darin, dass die Beichten rapid zurückgegangen sind und dass auch die Bußandachten nicht den rechten Ersatz bieten.

Das Wort Buße ist in seiner Bedeutung entleert und zum Ausdruck von Lebenseinschränkung sogar Lebensfeindlichkeit geworden.
Man denkt an Zurückstellen eigener Wünsche, an Unterdrückung eigener Gefühle, Ausrichtung an allgemein nicht einsichtige Gesetze. Viel zum negativen Charakter der Buße trägt auch bei, dass es in der Rechtspflege verwendet wird, wo „Bußgelder“ auferlegt werden.
Was die kirchliche Bußpraxis anbelangt konkret das Schwinden der Beichte, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich in den letzten 30 Jahren die Einstellung zu Lebensgestaltung, zu Werten und Normen und Verantwortung ihnen gegenüber selbst gläubiger Christen wesentlich geändert hat. Das sogenannte moderne Lebensgefühl zeichnet sich dadurch aus, dass man die Schuldgefühle, die früher zur Beichte geführt hatten, nicht mehr hat und dass selbst bei eingesehenen und bereuten Verfehlungen die Sündenvergebung durch den Priester nicht mehr die entlastende Wirkung zeigt.

Dies hat mit dem Verhältnis zur Kirche zu tun, das sich bei der Mehrzahl der in der westlichen Welt lebenden Christen wesentlich verändert hat. Sie betrachten nicht mehr wie in der Zeit der Jugendbewegung – man denke an die „Hymnen an die Kirche“ von Gertrud von Lefort – die Kirche als eine heilige, unantastbare Größe, der anzugehören eine große Gnade ist und deren Vermittlung durch den Beichtpriester eine ewigkeitsentscheidende Bedeutung hätte.

Die Buße in der säkularisierten Gesellschaft

So sehr einerseits der Begriff der Buße in einer säkularisierten Welt entleert ist, so sehr wird sie unter anderem Namen in der Öffentlichkeit eingefordert. Dies wiederholt sich regelmäßig immer dann, wenn die Aufmerksamkeit auf Verwicklungen von Persönlichkeiten oder Institutionen mit der unseligen Geschichte des Dritten Reiches fällt. Die Kommentare in der Presse laufen meist auf den Vorwurf hinaus, das Schuldbekenntnis sei nicht ehrlich genug. Man verlangt ein Eingeständnis der Schuld ohne Wenn und Aber; eine innere Betroffenheit müsste spürbar werden. Jeder Versuch der Rechtfertigung wird in den Augen der selbsternannten Richter noch mehr zur Belastung. Dies harte Urteil traf vor Jahren den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes ebenso wie den Leiter einer politischen Sendung und die Institution Kirche im Zusammenhang mit einer Erklärung des Vatikans zum Völkermord an den Juden 1). Von jüdischer Seite wurde der Vorwurf erhoben, es komme das Eingeständnis über das Ausmaß des Versagens im Hinblick auf die Katastrophe nicht zum Ausdruck und es sei keine Basis zur Aussöhnung. Bei aller Vorsicht bei solchen Reaktionen müsste man darüber nachdenken, wo im kirchlichen Denken und Reden ein echtes Mitbetroffensein und Mitleiden spürbar wird und ob nicht bei allem noch so klugen Abwägen das leidenschaftliche Engagiert sein für die Opfer zu kurz kommt.

Es ist durchaus eine Überlegung wert, ob nicht das säkulare Wort für Umkehr und Buße Betroffen sein heißt; damit ist ein Zustand gemeint, wo wir eine uns sehr unangenehme Tatsache an unser Inneres heranlassen, wo unser bisheriger Denkrahmen, unsere Vorstellungen und unser Wissen über Gut und Böse ins Wanken kommt; wo wir unsere Ratlosigkeit eingestehen. Zugeben und nicht verteidigen ist der Weg, wo die Gefühle und damit die gegensätzlichen Parteien wieder zueinander finden können.
Nicht Sünde sondern Betroffen sein und das echte Gefühl sind der Punkt, wo sich eine innere Wende vollziehen kann, d.h. wo sich eine neue Ausrichtung des Empfindens und Denkens anbahnt. Es liegt auf einer anderen Ebene als die erneute willensmäßige Ausrichtung an der vorgegebenen Norm und hat eine ganz andere existentielle Bedeutsamkeit und Wirkung. Der Vorgang des Betroffen seins beginnt nicht bei dem, was wir tun sollen, sondern bei dem, worunter wir leiden.

Was die Menschen quält, sind nicht die Verfehlungen gegenüber der Kirche und einem personalen Gott, sondern der Mangel an Anerkennung und Nähe, an lebendigem Kontakt, an Sinnhaftigkeit. Schon vor mehr als 100 Jahren hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard das wirkliche Problem der Menschen nicht Schuld sondern Verzweiflung genannt; damit meint er ein Steckenbleiben in einer verfahrenen Beziehung, das Festsitzen im Lebensprozess, die Hoffnungslosigkeit, welche sich bei den einen in depressiven Zuständen, bei anderen in Zynismus und Häme äußert.

Es führt nicht weiter, diesem Lebensgefühl die kirchliche Lehre der Sündhaftigkeit des Menschen entgegenzuhalten oder sogar eine Schuld einzureden. Das Eingestehen des eigenen Anteils an einer unglücklichen Situation, das Durchleuchten des eigenen Schattenbereichs setzt einen Prozess voraus, der den Schutz einer bedingungslosen Annahme braucht.

Und damit sind wir bei der Haltung, die Jesus gegenüber den Verlorenen und Verzweifelten zeigte Vgl. Lk 7, 36 – 50; 15, 1ff). Die Begegnung mit Jesus hatte eine volle Wandlung der einzelnen Menschen zur Folge. Denken wir an Zachäus, jenen neugierigen Zöllner, den Jesus aus Einsamkeit und Härte seines Herzens erlöste und ebenso einen seiner Kollegen, Levi, der in seine Nachfolge trat (Lk 19, 1 – 20; Mt 9, 9).

Eine echte Wandlung geht nicht ohne Wandlung der Gefühle und des ganzen Erlebnisraumes mit seinen Antrieben und Impulsen. Und dies ist nur möglich, wenn jeweils stärkere Affekte am Werk sind. Im Zusammenhang von Umkehr, Buße und Wandlung gewinnt der bei Dietrich Bonhoeffer entdeckte Satz des Philosophen Spinoza eine Schlüsselposition: „Affekte werden nie durch die Vernunft, sondern nur durch stärkere Affekte aufgehoben“ (2).
Man darf sich vorstellen, dass Jesus sich bei den Menschen, denen er sich zuwandte, Gefühle auslöste, die stärker waren als die bisherigen der Verlorenheit, Verwirrtheit, des ewigen Ungenügens. Es war das Erleben, berechtigt zu sein, seinen Selbstwert wieder erhalten zu haben. „Gerechtfertigt“ nennt es Paulus im Brief an die Römer (Röm 5, 1).

Die oft beklagte Autonomie, nach welcher der moderne Mensch strebt, muss nicht den Grundsätzen des Evangeliums widersprechen. Richtig verstanden kann es heißen, dass ein Mensch nicht mehr von der Gnade der Menschen sondern allein von der Gnade Gottes lebt; dass er nicht mehr von deren Gunst abhängig ist und nicht mehr in der ständigen Angst vor Zurückweisung sein muss. Eine von Gott geschenkte Rechtfertigung mit der echten, tiefgreifenden Wandlung des Erlebnisgrundes bedeutet zugleich ein Mehr an Persönlichkeit, eine dichtere Einheit und Geschlossenheit, ein frei sein von Schuldgefühlen, mit denen andere ins eigene Innere Zugriff haben, von den Zwängen, die einem das Leben abschnüren.

Das Heil, das in der Vergebung der Sünden besteht meint den Anschluss an die Quellen des Lebens (Offb 21, 6). Damit ist gemeint, an jenem Punkt ankommen, im unbewussten Teil unserer Seele, wo echte Lebensfreude und die Einfälle und Antriebe zum Guten ihren Sitz haben. Der Zöllner Zachäus wurde förmlich eingetaucht in Freude und das machte es ihm möglich, über seinen Schatten zu springen und sogar die Hälfte seines Vermögens wegzugeben (Lk 19, 8).

In der frühchristlichen Zeit wusste man noch mehr, dass ein Prozess der Wandlung Zeit braucht. Um Christ zu werden d.h. in den Erlebnisraum Jesu einzutreten, waren bis zu zwei Jahre vorgesehen. Die Zeit vor Ostern gehörte der näheren und intensiveren Vorbereitung auf die Taufe. Sehr bald verband sich damit die Buße der Abgefallenen und Ausgeschlossenen und ihre feierliche Wiederaufnahme in die Gemeinde. Sie kam nach dem Ausmaß der Wandlung dem Weg der Taufe gleich. Von ihm aus gesehen müsste heute Buße verstanden werden, nämlich als ganzheitlicher, spirituell motivierter und tiefenpsychologisch wirksamer Prozess. Es geht also um mehr als um „vermehrtes Gebet und Werke der Liebe“, wenn die „Gnade der Kindschaft in uns erneuert werden soll“ (3). Entscheidend ist der Vorgang in der Tiefe der Seele, der nicht unmittelbar vom Bewusstsein aus steuerbar ist.

Fasten – die innere Reinigung

Als hilfreich hat sich dazu die Wiederentdeckung des Fastens erwiesen, sodass der alte Name „Fastenzeit“ weiterhin seine Berechtigung hat. Fasten ist eine Möglichkeit, Leib und Seele zu reinigen. Selbst wenn kein voller Nahrungsentzug erfolgt, sondern nur Verzicht auf Alkohol und abendliches Fernsehen, kann dies eine tiefgreifende innere Veränderung bewirken.

Durch Wegfall der oberflächlichen Bedürfnisbefriedigungen werden wir mit den tieferliegenden Problemen konfrontiert und zu einer existentiellen Antwort herausgefordert.

Wir müssen uns fragen: Welche innere Leere decken wir mit dem Essen, mit den kleinen Genüssen und Ablenkungen zu? Beim vollen körperlichen Fasten, wo die vorhandenen Energievorräte abgebaut und Gifte ausgeschieden werden, kommen von selbst Prozesse des Unbewussten in Gang. Man kann es an den Träumen wahrnehmen. Sie sind besonders klar und eindrucksvoll, meist haben sie die Reinigung zum Thema: man träumt von Waschmaschinen, vom Hausputz, von Feuerstellen, vom Sieden und Kochen.

Seelische Reinigung meint, dass alles, was nicht zu uns gehört, was zu unserem Schaden uns übergestülpt wurde, abgestoßen wird. Damit sind Weisen des Urteilens und Verhaltens gemeint, die schablonenhaft und routiniert, nicht der Wahrheit dienen. Unser Herz soll geläutert werden; es soll so weit kommen, dass uns die aufsteigenden Impulse von selbst zum Guten führen, dass ein Gespür erwacht für das, was echt, dauerhaft und lebendig ist, der Sinn für die Wahrheit, die jedem aufgegeben ist.

Die vierzigtägige Vorbereitung auf Ostern ist dann fruchtbar, wenn Sie auch erlebnishaft in das Paschamysterium Jesu, in das Geschehen seines Todes und seiner Auferstehung einführt. Erst dann vollzieht sich eine echte Tauferneuerung. Fasten, Verzicht auf Ablenkung, Aushalten der Stille sind deshalb wirksame Hilfen, weil sie das Bewusstsein für die Wirkung der Urbilder öffnen und deren Eigentätigkeit anregen. Wer durchlässig ist für Vorgänge des Unbewussten, den berühren die Bilder der Hl. Schrift, besonders die der einzelnen Fastensonntage, und sie beginnen in ihm zu arbeiten.

1)Das vatikanische Dokument: „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“, in Herder-Korrespondenz 1998,H.4,189
2)Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh,1994,201
3)Präfation der Fastenzeit I, Messbuch der Kirche