Der Leib als Raum der Heilung

I.DIE RÄUME DES LEIBES UND DIE SPALTUNG DES MENSCHEN

Leiberfahrung ist Selbsterfahrung, d. h. ich werde mir ein Stück bewusst, wie ich bin, wer ich bin. Je mehr ich mich sensibilisiere für das, was in meinem Leib vorgeht, wie er ist, was ihm fehlt nicht hypochondrisch, indem ich nur nach meinen Krankheiten schaue, sondern existentiell, ganzheitlich, dass ich hineingehe in meinen Leib, mit ihm eins werde, um so mehr tritt mir auch die Ganzheit meiner Persönlichkeit bzw. was ihr fehlt vor Augen.

Leib, Seele, Geist sind im Grunde (ganz wörtlich) eine Einheit; das „Grund" Übel des Menschen unseres Zeitalters ist, dass er um diese Einheit nicht mehr weiß, dass er sie vielleicht noch in der Kindheit, häufig aber nie erfahren hat, und dass er die Spaltung in Leib und Geist nicht als Krankheit erlebt, sondern als normal, ebenso im Verlust der Seele gar keinen Mangel sieht. Und trotzdem leidet er. An seinen ungeordneten und verwirrten Emotionen, an seiner Einsamkeit und Depression. Der Wohlstand der modernen Industriekultur ist mit der Spaltung des Menschen in Intellekt und Emotionalität und dem Verlust der Seele erkauft. Inzwischen weiß man, wie gefährlich die Errungenschaften der modernen Zivilisation werden können, wenn nicht bald etwas geschieht. Aber wo anfangen? Äußere Maßnahmen werden nicht greifen, solange sich nicht die Verursacher ändern. Man sollte deshalb fragen: Wie kann die Spaltung des Menschen aufgehoben, d. h. ganz wörtlich auf eine höhere Ebene gebracht und aufgelöst werden?

Die Spaltung des Menschen als Wirklichkeit des Leibes
Die einzelnen Regionen und Räume des Körpers entsprechen der seelischgeistigen Funktion, bzw. diese haben darin ihren Sitz.
Gehen wir von unten, von der Erde aus: Wie wichtig ist der gute Kontakt zur Erde: Erst dann haben wir einen guten Grund, auf dem unser Leibseelischgeistiges Gebäude aufruht. Übertragen in die Sprache der Psychologie heißt das: Um als Mensch leben zu können, sind primär die Emotionen, die im unteren Bereich des Körpers, im BauchBeckenRaum ihren Sitz haben, von Bedeutung. Hier sind die Energiequellen für Leib und Seele: die Verdauung; sie ist Erzeugung von Energie durch Verbrennung; dann sind da die Genitalien, die von sich aus auf die Antriebe hinweisen. In diesem Raum ist der Ursprung des Lebens; biologisch gesehen eine Selbstverständlichkeit, aber existentiell, von der Lebenseinteilung des Menschen her, eine längst vergessene Wahrheit. Es geht um den Ursprung eines Lebens, das biologische, emotionale, geistige, kosmische und transzendentale Dimensionen hat.

Der oberste Teil des Menschen, das Haupt, ist Träger des Geistes; die Aufrichtung der Primaten bzw. der Hominiden, unserer tierischen Vorfahren, brachte die Menschwerdung, die Geistentfaltung oder Geistbeseelung  wie immer man das nennen mag. Jedoch hat sich in Europa eine Entwicklung vollzogen, die man als eine Hypertrophie des Kopfes bezeichnen könnte; d.h. dem abgehobenen, objektivierenden, analysierenden Denken und Machenwollen wurde alleinige Bedeutung zugeschrieben. Mit Intellekt und Wille allein glaubt der Mensch der Technik, die Probleme seines Lebens und die der Gegenwart bewältigen zu können. Emotionen, Gefühle, Innenerfahrung gelten als Quantitäten, die man gut vernachlässigen kann. Der Schwerpunkt des Menschen ist vom Bauch in den Kopf gerutscht. Herzmitte und der Raum des Atems werden genauso übersehen. Im Körper wird sichtbar, wie weit der Mensch von seinem Ursprung entfernt ist.

Auf die Situation des modernen Menschen angewandt, heißt das: Seine Spaltung in einen unteren und oberen Bereich, in Intellekt und Emotionalität bzw. die Unterdrückung des unteren ist eine spürbar körperliche Wirklichkeit. Sie bedeutet Verkrampfung im Bauch/Beckenraum, im Zwerchfell und im Schultergürtel. Der Kopf ist so vom Körper getrennt, vom Herzraum, dieser wiederum vom Bauchraum. Im Erlebnisbereich bedeutet dies den Verlust des Emotionalen, der Spontaneität, wie dauerhafter Bindungen, menschlicher Wärme und Zuwendung. Ebenso bedeutet es die Verdrängung des Religiösen als eine die Wirklichkeit bestimmende Kraft (nicht als Kompensation für frustriertes Glück).
An dieser Kraft scheint es in den Kirchen zu mangeln, angesichts der Tatsache, dass etwa eine Million Jugendlicher zu Sekten flüchten, weil sie auf der Suche nach emotionaler Nähe und spiritueller Erfahrung in den alten Kirchen nichts Entsprechendes finden. 1)

Der überschätzte Intellekt, die unterschätzten Emotionen
Die reine Rationalität, der bloße Intellekt ist ein von der Ganzheit der Persönlichkeit abgespaltener Teil. Als solcher ist er nicht alleinige Quelle der Erkenntnis, wie man fälschlich meint, sondern hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren und bringt Wucherungen, vergleichbar von Krebszellen, hervor. Ergebnis ist die Aufblähung unserer technischen Welt; wo eigentlich das Leben leichter und angenehmer sein sollte, wird die wahre Lebensqualität zerstört. Man denke nur an das Glück und Elend mit den Autos!
Der Betrieb an den Universitäten, wo sozusagen moderne Welt geschaffen wird, unterliegt nur den Gesetzen der „reinen Vernunft", ganz gleich ob Medizin, Psychologie oder Theologie. Der Anspruch der Wissenschaft verlangt dies. Aber wo wird der Umgang mit Emotionen und den Fragen, die in Einsamkeit und Verzweiflung auftauchen, gelehrt? Für diese Fragen gibt es keine Wissenschaft, denn sie sind „nur" subjektiv. Selbst die Lehre vom objektiven Sinn kann keinem Verzweifelten helfen, wenn sie ihm nicht subjektiv vermittelt wird.
Mit subjektiv meine ich das unüberschaubare und unkontrollierbare Reich der Emotionen. Erst sie geben dem Wort einen Leib; Worte, die nur aus dem Intellekt kommen, sind hohl und leer und greifen in der Not eines Menschen nicht, selbst wenn sie objektiv noch so richtig sind. Sie mögen als bloße Bezeichnung von Dingen in der technischen Welt und im Rechtsbereich ihre Funktion haben, aber was den Umgang miteinander und das Eindringen in die tiefere geistige Welt anbelangt, zeigen sie den Seelenverlust des modernen Menschen an. Man spricht zwar viel von guten Beziehungen und Utopien einer besseren Welt, aber man ist unfähig zu echten und tiefen Gefühlen und ist sich dieses Mangels auch gar nicht bewusst. Die Einseitigkeit der nur rationalen Lebenseinstellung, der Schwerpunkt im Kopf, das objektivierende, distanzierende Denken, alle Dinge, selbst Gott und die Erlösung, werden nur außen oder von oben herab angeschaut entfernen den Menschen von seinem Ursprung, vom Mitmenschen, vom Lebenspartner, von Kindern, Kollegen, Nachbarn, von sich selbst und von Gott. Er wird entwurzelt und einsam. Das heißt aber dann: Die Frage des Religiösen ist vom Emotionalen nicht zu trennen.

Anfragen an die Verkündigung

Das Wort hat seinen Leib verloren; das bedeutet, dass es abgeschnitten ist vom dazugehörenden Erleben, aus dem es kommt und was es beim Zuhörer auslöst. Es dürfte eine allgemeine Erfahrung sein, dass Ergriffenheit nur erreicht, wer selbst aus Ergriffenheit spricht. „Ergreift das Wort nur, wenn es euch selbst ergriffen hat", heißt es in einem Gedicht von Lothar Zenetti. 2)

In der Theologie ist es so, dass nicht mehr Erfahrenes wachgerufen und ins Wort gebracht
wird, wie das in den Ursprüngen des Christentums war, sondern dass nüchtern, sachlich, objektiv analysiert, reflektiert, systematisiert und katalogisiert wird, wie es den Geboten der Wissenschaft entspricht. Ob eine solche Art, mit dem Wort Gottes umzugehen, der geistigseelischen Not des modernen Menschen gerecht wird, kann man bezweifeln. Aber das ist auch gar nicht deren Aufgabe, kann man hören. So klaffen theologisches Reden und menschliche Erfahrung auseinander. Der Hauptvorwurf Eugen Drewermanns an die herkömmliche Theologie ist, dass sie erfahrungslos über fremde Erfahrungen spricht und dass sie den Ursprung religiöser Erfahrung mehr verschüttet als eröffnet. 3)

Worte, die keinen Leib haben, können die Wirklichkeit weder erreichen noch gestalten. So ist es denn auch nicht zu verwundern, wenn die geistige Entwicklung der Gesellschaft an Kirche und Theologie vorbeigeht; denn verzweifelt suchen sich Menschen aus dem Gefängnis der reinen Vernunft zu befreien und wieder Anschluss an die irrationalen Quellen zu finden, sei es in Meditationstechniken, in Begegnungsgruppen, in religiösen Aufbrüchen (meist außerhalb der Kirche) und in allen Formen des spirituellen und emotionalen Erwachens, die New-Age enthält.
Die Frage stellt sich, ob man auf diesem Hintergrund so unbedarft den Gläubigen sagen kann: „Wir sind erlöst"; wenn ein großer Teil der Anwesenden mit ihren Eheproblemen nicht mehr ein und aus weiß und von der Kanzel bzw. vom Ambo dazu kein „erlösendes" Wort kommt!

II.WEGE DER HEILUNG

Worte werden dann lebendig, wenn sie aus dem Ursprung kommen. In ihm liegt alles, was „ursprünglich" ist, das Echte, Wahre, Unverfälschte; es ist jener Erlebnisraum, wo wir spontan agieren und reagieren; dort sind die Impulse, uns zu behaupten und andere spontan zu bejahen, die Ursache emotionaler Gemeinsamkeiten, die Quelle einer Liebe, welche über Sympathie und Antipathie und über die natürlichen  Bindungen hinausgeht, wenn sie an den transzendentalen Grund angeschlossen ist. Der Bauch/Beckenraum ist im Wissen ostasiatischer Weisheitsschulen - ich nenne Zen - Sitz einer kosmischen Kraft, der Ki-Kraft, welche Erfahrung des Religiösen und Zugang zur Vitalität miteinschließt. Die Differenzierung dieser Kraft ist nach Religion und Kultur verschieden.

Die Abspaltung des Geistes von den Emotionen bzw. der Emotionen vom Geist kann nicht ohne Auflösung der emotionalen zu körperlichen Verspannungen geratenen Barrieren geheilt werden. Das heißt, wir müssen auf die emotionalen Befindlichkeiten der Menschen achten und sie ernst nehmen, wenn das Religiöse ankommen soll. Dazu gehört auch die Arbeit an den Verkrampfungen im Bauch/Beckenraum, im Nacken und Schultergürtel, des Herzens und des Atems. Der Raum des Herzens ist der Sitz der Gefühle, positiv verstanden als vom Bewusstsein erhellte und Bewusstsein erhellende Stimmungen, mit Wert aufgeladene Beziehungen, wodurch das Herz höher schlägt, weiter wird, wo man wieder richtig durchatmen kann, wo eine gute Atmosphäre ist. Negativ sind es belastende, erdrückende, beengende Stimmungen, die einem das Herz abdrücken, wo der Atem stockt und stillsteht, wo kein Raum mehr ist zum Atmen. Der Bauchraum, der nicht atmet, vertritt verdrängte Emotionen, d. h, der Ursprung des Lebens ist gar nicht zugänglich.

Anfragen an Therapieformen
Nun gibt es heute viele Therapieformen, die mit dem Bauch anfangen, aber dabei auch stehen bleiben. Der erste Schritt dabei ist, dass der Patient zunächst mit seinen Impulsen in Kontakt kommt, dass er seine Wut herausschreit; in vielen Kursen wird die autonome Körperreaktion ein wildes Ausagieren von Aggression, wo die Kontrolle des Bewusstseins ausgeschaltet wird als Mittel eingesetzt. Die Frage ist nur, inwieweit die Antriebe auch an den Verstand angeschlossen werden, d. h. inwieweit der Klient angemessen damit umgehen und sein Leben bewältigen kann. Entscheidend für die leibseelische Ganzheit und Gesundheit ist, inwieweit Herz und Geist mit dabei sind, inwieweit der Raum des Herzens die Einheit von unten und oben, von Antrieben und Idealen darstellt. Konkret heißt das: ist Sexualität ein Feuerwerk für den Augenblick oder wird diese Energie „zum wogenden Meer zwischen den Ufern zweier Seelen?" (Khalil Gibran).
Wird die Aggressionsfähigkeit des Menschen so kultiviert, dass er fähig wird, auf andere zuzugehen, sich den Problemen zu stellen und sie auszutragen? Erst damit wäre die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes aggredi = auf den anderen, zugehen erreicht.

Der unerlöste Leib
Die christliche Erlösung - wie sie dogmatisch verstanden wird - muss Erlösung der Gefühle bedeuten und nicht deren Unterdrückung. Hier ist eine ernsthafte Besinnung über den tatsächlichen und nicht den fiktiven Zustand der Erlösung in unserer Kirche angebracht. Inwieweit werden die Antriebe von Aggressivität und Sexualität nur vom Willen gesteuert, d. h. nur kontrolliert und unterdrückt, aber nicht gewandelt? Und inwieweit blockiert die Unterdrückung der Antriebe auch die spirituelle Kraft? Verkümmertes Menschsein und spirituelle Mittelmäßigkeit prägen das Bild vieler eifriger, frommer Christen, deren guten Willen niemand bezweifeln kann.
Vieles spricht dafür, dass deshalb so viele diese Kirche verlassen oder zu ihr keinen Zugang finden, weil in ihr echte Gefühle nicht leben dürfen und weil die spirituelle Tiefe fehlt. Man findet keinen Raum zum Atmen. Der Mangel an spirituellem Tiefgang wird dann offen, wenn Erwachsene nach langen Jahren der kirchlichen Abwesenheit Prozesse ganzheitlicher religiöser Wandlung durchmachen und bei der Gemeinde vor Ort weder bei den Gläubigen noch beim Hirten Verständnis finden.

Auf Meditationskursen trifft man immer wieder Personen, die sonst in der Kirche nicht zu sehen sind und die auch keinen Anschluss an die Heimatgemeinde finden, weil die dortigen Gottesdienste zu fahrig und zu oberflächlich sind und ihrem spirituellen Anspruch nicht gerecht werden.
Man kann für die Krise der Kirche heute die Schlechtigkeit, den Egoismus, die Verschlossenheit der Leute verantwortlich machen oder die Unfähigkeit der Kirche, mit Emotionen umzugehen und den Mangel an spiritueller Reife. Es wird dann in der Kirche Zukunft geben, wenn es gelingt, die Trennung des Emotionalen, Spirituellen und kritischen Denkens zu überwinden und die Ganzheit des Ursprungs wiederherzustellen.

Die Funktion des Atems
Der Therapievorgang, der Weg zur Einheit ist Mobilisierung der Emotionen und ihr Anschluss an das Bewusstsein über das Herz. Es mag bei vielen eine zeitliche Verschiebung nötig sein, aber es gibt auch die Möglichkeit, dass dies ein einziger Vorgang ist. Und das geht über den Atem!
Der Atem, der, bewusst wahrgenommen, in die Tiefe geführt wird, schafft die Einheit von Körper, Seele, Geist, zugleich löst er die Abschottungen zwischen den einzelnen Räumen des Körpers, im Beckenraum, Zwerchfell, im Nacken; er macht den Körper durchlässig für die Energie, die aus dem Ursprung aufsteigt. Im Sinne der initiatischen Therapie Dürckheims wird der Leib transparent für die Transzendenz. Oder anders ausgedrückt: Das Religiöse geht über den Leib.
Der Atem kann Bewusstsein und Unbewusstes wieder miteinander verbinden, damit den Kopf mit Herz und Bauch. Um diesen Vorgang zu verstehen, müssen wir die Funktion des Atems noch genauer betrachten. Der Atem wird anders, sobald wir ihm Aufmerksamkeit schenken; in diesem Augenblick ändert sich auch schon unsere Einstellung von außen nach innen, von Zerfahrenheit, Gedankenflucht, zu Sammlung und Konzentration. Damit sind wir mitten in der Übung der gegenstandslosen Meditation, die in den letzten Jahrzehnten in der Form des Zazen zu uns gekommen ist.

Im Zazen kommt es darauf an, mit dem Atem eins zu werden, sich der Atembewegung zu überlassen, mitgehen mit dem Ausatmen, das bedeutet: sich ganzheitlich loslassen. Es wird in uns etwas aufgelöst.
Im Einatmen wird eine neue Form geschaffen. Weil wir als westliche Menschen ein überzüchtetes Ich haben, erstarrte Formen des Daseins, sollen wir den Schwerpunkt auf das Ausatmen legen. Hingegen muss der in der indischen Kultur Verwurzelte erst seine Individualität bilden, d. h. nach oben kommen; deshalb legt Yoga den Akzent auf das Einatmen und auf eine bewusstere Beeinflussung und Veränderung des Atems. Für uns ist es besser, wenn wir uns der autonomen Tätigkeit überlassen, aber in Bewusstheit. Damit bekommen wir Anschluss an das autonome Wirken des Unbewussten. Der lang Übende erfährt, dass er vom Atem mitgenommen wird und der Lebendigkeit in sich begegnet. Silvia Ostertag schreibt vom Atem im Zazen: „Im Mitgenommensein spüre ich, dass ich selbst diese Bewegung bin. Und indem ich erlebe, dass ich selbst Atem bin, weiß ich, dass ich mitgenommen bin. Indem ich meine Lebendigkeit erfahre, erspüre ich ihre Quelle: die unbegrenzte Lebendigkeit." 4)

Der Eingriff in das Unbewusste
Der Atem ist an der Grenze zwischen dem willkürlichen Nervensystem der Großhirnrinde, das dem Bewusstsein entspricht und dem vegetativen Nervensystem, Sympathikus und Parasympathikus, welches das Unbewusste enthält.
Wir können willkürlich aus und einatmen, den Atem auch halten; meist jedoch geht er von selbst wir können das Atmen nicht vergessen. Über den Atem haben wir Einfluss auf das vegetative System und damit auf das Unbewusste, auf die Emotionen, die unseren willentlichen Entscheidungen und auch dem Denken vorgelagert sind.

Beim rechten Meditieren werden tiefere, dem Willen unzugängliche Schichten des Unbewussten angesprochen; diese wirken wiederum auf das Bewusstsein zurück. Über den Atem können wir deshalb die Quellen des Emotionalen und des Spirituellen erreichen. Den Emotionen werden neue Flussbette gegraben, während die rein willentliche Steuerung oder Beherrschung der Antriebe Stauungen hervorbringt und aus den Blockaden und Verkrampfungen nicht herausführt. Eine Wirkung eines ZenKurses kann sein, wie wenn sich eine Blüte öffnet. Man kann auf andere Menschen zugehen, ist voller Energie und Lebensbejahung. Ich denke jetzt an das letzte Sesshin im Sommer und die anschließende Bergwanderung. Die Energie zeigte sich in der Leichtigkeit, mit der man trotz schwerem Gepäck nach oben steigen kann, ohne sich zu erschöpfen. Zugleich fällt auf, wie nahe einem die Natur ist: Berge, Bäume, Wiesen. Blätter und Blumen haben intensivere Farben. Man kann richtig in die Landschaft eintauchen.
Nicht unerwähnt darf bleiben, wie sehr sich das Religiöse öffnet. Es ist nicht mehr eine Nebensache oder etwas Aufgebürdetes, von außen Kommendes, sondern etwas, was in einem selbst, in der Tiefe des Herzens und in jedem Wesen zu spüren ist.

Atem führt zur Ganzheit
Atem ist Leben. Um an den Ursprung des Lebendigen heranzukommen, empfiehlt es sich, nicht beim Kopf, auch nicht beim Bauch, sondern bei der Verbindung von Bauch, Herz und Kopf, beim Atmen zu beginnen. Atem ist jene Seite des Lebens, wo wir nicht von außen gemacht und nicht konstruiert, sondern von innen her dem Fluss des Lebens folgen und zur Einheit mit uns selbst, miteinander, mit allen lebenden und nichtlebenden Wesen und mit dem Sinngrund gelangen. Etwas von dieser Wahrheit gibt die Rede des Häuptlings Seattle wieder: „Die Luft ist kostbar für den roten Mann; denn alle Dinge teilen denselben Atem." 5)

1) Die Angaben (1 Million) stammen vom Sektenbeauftragten der evangelischen Kirche in Bayern in einem Bericht in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 16. 9. 1988. 
2) L. ZENETTI, Texte der Zuversicht, München 1972.  
3) E. DREWERMANN, Das erfahrungslose Sprechen von fremden Erfahrungen oder: Das Brotgelehrtentum. in: Tefenpsychologie und Exegese II Olten 1983, 13 ff.
4)Vgl. S. OSTERTAG, Einswerden mit sich selbst. München 1981, 56.
5)SEATTLE, Wir sind ein Teil der Erde. Olten 1984, 20.


Weitere Literatur
B. BRANDT, Sitzen, Schweigen, Hören. Übungsbücher zur Scharing-Eutonie, Mainz 1986.
K. GRAF DÜRCKHEIM, Die Erdmitte des Menschen, Weilheim 1986.
H. PETZOLD, Psychotherapie und Körperdynamik, Paderborn 1974.
R. KURZ / H. PRESTERA, Botschaften des Körpers. München 1981.
G. KREPPOLD, Die Bibel als Heilungsbuch, Münsterschwarzach, 1984.
DERS., Kranke Bäume, kranke Seelen, Münsterschwarzach 1986.
DERS., Die Bergpredigt zwischen Innerlichkeit und Utopie I + II. Münsterschwarzach.