Wie viel Zen braucht das Christentum?
 
„Wenn schon Religion, dann Buddhismus!“ ist die Maxime Ungezählter, die dem Christentum ablehnend, sogar feindlich gegenüber stehen. Es ist etwas vom Lebensgefühl des so genannten postmodernen Menschen.
In jüngster Zeit hat allerdings Dalai Lama die Europäer davor gewarnt, Buddhisten zu werden. Sie sollten lieber die Wurzeln ihrer eigenen Tradition suchen nämlich die des Christentums!
Es geht nicht darum, dass wir fremdes Glaubensgut unbedarft übernehmen, sondern dass wir Aspekte unserer Existenz, die uns in unserer westlichen Zivilisation verloren gingen durch Anregungen von außen neu entdecken. Der Osten hat die Kultur der Stille hervorgebracht, der Westen die Kultur des Wortes. Wir brauchen die Stille (der Meditation), damit das Wort wieder Kraft gewinnt. Buddha lehrt die Versenkung, bei Jesus ist es die Begegnung, welche den Menschen das Reich Gottes öffnet. Er selbst nennt es „Glaube“. Wir brauchen aber auch die Versenkung, die uns der Osten lehrt, damit menschliche Begegnung gelingen kann. Östliches Denken geht von der Wurzel und Einheit aller Dinge aus. Christlich ist die Einheit in der Verschiedenheit, was der Inhalt unseres Trinitätsdogmas ist.
Es lassen sich noch viele Elemente anführen, durch die uns eine fremde Religion nicht zur Bedrohung sondern zur Ergänzung d.h. zur Ganzheit wird. So ist die Erfahrung des Religiösen über den Leib (Atem) eine hilfreiche Entdeckung für suchende Menschen.
Der Dialog wird dann fruchtbar, wenn er zu den zentralen Themen der Urerfahrung des Religiösen hinführt. Zu diesen gehört im Zen die Erleuchtung, eine Erfahrung, von welcher auch die christlichen Mystiker lebten. Was für die Blütezeit christlicher und außerchristlicher Mystik gilt, muss in erhöhtem Maß auch für die Ursprünge des Christentums zutreffen, das heißt, wir dürfen die Aussagen des frühen Christentums über die Taufe mit heran nehmen. Über vergleichbare Erfahrungen können wir einen Verstehensrahmen finden und damit auch Art und Umfang der Persönlichkeitsveränderung von Menschen ermessen, von denen es heißt: „Wenn also jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden“ (2 Kor 5, 17). Wichtig ist, dass hier die Wurzeln der jeweiligen Religion, noch mehr der menschlichen Existenz berührt werden.
 
Erleuchtung im Zen
Unter Erleuchtung (satori, kensho) ist eine Erkenntnis der je eigenen Erfahrung und deshalb nur dem voll und ganz verstehbar, welchem eine solche Erfahrung zuteil geworden ist. Es ist ein Ereignis, das sich nach Jahren mühevollen Übens - das heißt des Sitzens im Schweigen - einstellt. Es ist mit dem Willen nicht unmittelbar machbar und lenkbar, vielmehr ein Geschehen, das einem plötzlich widerfährt. Der Schüler übt sich nur in der Entleerung des Bewusstseins, indem er sein Ich an einem unlösbaren Rätsel, dem Koan fest macht. Wenn er zum Beispiel den Meister fragt: „Wie komme ich zur Erleuchtung?“ sagt dieser: „Höre das Murmeln des Baches!“ Das denkende, von Inhalt zu Inhalt springende Ich wird angehalten und vom unruhigen, auf Gegenstände fixierten Tun auf das Empfangen, auf aufmerksame, hellwache Passivität umgestellt. Das kleine Ich-Gehäuse wird aufgebrochen, der Schwerpunkt des Denkens, Fühlens und Wollens verlagert sich aus ihm heraus in den Seelengrund, der vom absoluten Sein berührt und gehalten wird. Dieser Vorgang wird als umfassende Einheit erlebt. Menschen, die in der östlichen Tradition stehen, wissen sich in die kosmische, die so genannte Große Ordnung eingefügt. Christliche Mystiker sagen, sie seien mit Gott eins geworden. Sie spüren das Sein in unbegrenzter Fülle.
 
Wandlung des Erkennenden
Es ist das Ende aller Entfremdung und damit aller Angst, Not und Zerrissenheit. Alle Zweifel und alle Unsicherheiten sind einer beglückenden Gewissheit gewichen. Der „Durchbruch zum Wesen“, wie Dürckheim den Vorgang nennt, ist die Erfahrung eines Nicht-Ich. Diese seelische Instanz, das Selbst, ist vom Ich grundsätzlich verschieden. Während unser empirisches Ich durch Vererbung und Umwelt geprägt ist, gehört das Selbst dem Bereich des vom Äußeren unabhängigen Geistigen und Ewigen an. Hier auf dem Seelengrund ist der letzte Sinn, die Bezogenheit zum umfassenden Ganzen. Das bedeutet, dass die spontanen Einfälle und Impulse von selbst, ohne große Überlegungen, auf das Gute bezogen sind und die Situation des Augenblicks treffen. Hier dürfen wir an manche Episoden des hl. Franziskus denken. Lassalle beschreibt Erleuchtete als Menschen, in denen sich unerschütterliche Ruhe, innere Sicherheit, Furchtlosigkeit und Dankbarkeit mit sprühender Vitalität verbinden.

Reinigung des Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnisrahmens
Erleuchtung ist Befreiung aus emotionalen Verwicklungen. Damit verlieren menschliche Leidenschaften wie Begierden, Zorn, Neid, Eifersucht, Stolz ihren bedrängenden Charakter. Mit den Antrieben und der Motivation wird der gesamte Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnisrahmen gewandelt.
Ein Erleuchteter sieht die Dinge, wie sie sind, ohne Vorurteile, d.h. ohne die Affekte, mit denen Personen, Weltanschauungen, Religionen, Institutionen, politische Gruppierungen und Völker behaftet sind und die Wahrnehmung verzerren. Das Eigentliche des neuen Zustandes liegt nicht in außerordentlichen Erscheinungen, sondern darin, dass das Organ des geistigen Aufnehmens und Verarbeitens sich verändert. Die Hindernisse, die uns den Blick für die Wahrheit verstellen, werden ausgeräumt; die gefärbte Brille fällt ab. Der Sinn für Echtheit und Wahrhaftigkeit erwacht und bestimmt von nun an die ganze Lebensweise.
Die Große Erfahrung (nach Dürckheim) ist die Antwort auf die quälenden Lebensfragen nämlich der Angst vor Vernichtung, vor Sinnlosigkeit, vor Isolierung und Einsamkeit.
Dementsprechend sieht Dürckheim die drei Kennzeichen eines Menschen, der „durch“ ist: keine Angst vor dem Tod, Sinn im Unsinn und universale Liebe.
Dieses Gipfelerlebnis, verleiht die Gewissheit, dass Leben und Tod gleichwertig und nur zwei Seiten der einen Sache sind; es führt in einen Zustand, wo man sich trotz des Zusammenbruchs seiner bisherigen Überzeugungen in einem unbedingten Ordnungs- und Sinngefüge gehalten weiß; wo man auch in der schlimmsten Einsamkeit von Liebe geradezu überflutet wird. 
Die Art dieser Liebe ist aber nicht die im herkömmlichen Sinn, die wieder neue Abhängigkeit schafft; sie ist jenseits von Sympathie und Antipathie. Sie übersteigt die Grenzen der Familie, der politischen und sozialen Zugehörigkeit, des Volkes und der Rasse, hebt das Gefühl der Verlassenheit auf und verleiht das Empfinden, jedem Wesen nahe zu sein. Zu bemerken ist: Dürckheim spricht nicht von Theorie sondern von Menschen, bei denen er diesen Zustand angetroffen hat.

Erleuchtung im christlichen Bereich
Wenn wir daran festhalten, dass im Namen Jesu das Heil gekommen ist dann dürfen wir die Wirkungen, die in der Erleuchtung des Zen und in den Gipfel- Erfahrungen anderer Religionen vorkommen, auch für die christliche Seite annehmen. Das „Sein in Christus“ muss das menschliche und spirituelle Niveau eines erleuchteten Buddhisten nicht aus-, sondern einschließen.
Lassalle weist auffallende Ähnlichkeiten von Erleuchtungserlebnissen im Zen mit den Aufstiegs- und Gipfelerfahrungen des heiligen Benedikt, des heiligen Ignatius, des heiligen Johannes vom Kreuz und der heiligen Teresa von Avila sowie mit den Aussagen und Anleitungen von Meister Eckhart, Johannes Taulers, Hugos und Richards von St. Viktor nach. Noch mehr dürfen wir davon ausgehen, dass die Hl. Schrift den Erlebnisgrund und Denkrahmen Erleuchteter widerspiegelt. Hinter allen Bekehrungserlebnissen steht das „Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), „das heller ist als die Sonne“ (Apg 26, 13), Christus selbst, dessen Gesicht auf dem Berg wie die Sonne leuchtete (vgl. Mt 17,10).

Eines dürfte deutlich geworden sein: In den Gipfelerfahrungen kommen sich die beiden Religionen sehr nahe. Es gibt sehr intensive Begegnungen zwischen christlichen Mystikern und Zen-Meistern. Zen-Mönche sagen: „Zwischen euch und uns ist nur eine Wand, so dünn wie ein Blatt Papier.“ Ihnen ist Freiheit und Freude nicht abzusprechen. Dies sollte für uns Anlass sein, manche Aussage über den Buddhismus zu überdenken. Wir werden der anderen Seite solange nicht gerecht, als wir noch von „Selbsterlösung“ sprechen. Denn das große Ereignis der Erleuchtung ist nicht Ergebnis der eigenen Anstrengung, sondern ein Geschenk, das sich unter Ausschaltung des Ich vollzieht.

Bei der Diskussion um Zen-Praxis und christliche Meditation bleibt als allerwichtigste Frage: Wie kommen wir zu jenem Zustand, dessen Auswirkungen geschildert wurde? Die Menschen unserer Zeit interessieren weniger die philosophischen und theologischen Theorien, sondern die praktischen Anleitungen, wie man sein Leben vertiefen kann, wie man wieder religiös wird. Hier füllt  Zen eine Lücke, die durch die Einseitigkeit der rationalen Geisteskultur des Westens im praktizierten Christentum klafft. Im letzten geht es darum, zur religiösen Urerfahrung der christlichen Taufe zu finden.
Es gibt Zen-Praktizierende, die ohne das christliche Erbe auskommen. Noch mehr aber findet man in christlichen Meditationshäusern Menschen, die mit großer Ergriffenheit an der angebotenen, schlichten Eucharistiefeier teilnehmen und viele andere, die wieder zum Glauben gefunden haben.      

Der Blick nach draußen
Die Meditationshäuser, wo Zen geübt wird, sind immerhin Stätten, wo Menschen in einer religionslosen Zeit das Religiöse zum ersten Mal als tragende Kraft spüren und darin eine wesentliche Spur ihres Lebens erkennen. (Meine eigene Erfahrung: Den entscheidenden Impuls für einen bewussten inneren Weg fand ich bei Professor Graf Dürckheim, also  außerhalb der Kirche). Zu erwähnen ist auch Willigis Jäger, der als Benediktiner wegen seiner nicht mehr ganz korrekten Rechtgläubigkeit das Haus in Würzburg verlassen musste und kurze Zeit später ein eigenes  Meditationszentrum errichten konnte. Die ihm das ermöglicht haben, sind Menschen, die in seinen Veranstaltungen eine tiefe existentielle Erfüllung fanden. Heute ist sein Haus ein Ort der spirituellen Ausstrahlung, die Menschen auf der Suche nach Sinn und Lebensvertiefung anzieht. Wie immer man seine theologischen Aussagen beurteilen mag, die spirituelle Kraft dieser Begegnungsstätte und anderer Orte, wo Zen geübt wird, wäre genau das, was wir in unseren Kirchen zur Überwindung von spiritueller Schwäche bräuchten. Es sollte zu denken geben, dass das Spirituelle in dieser Art der Meditation eine Dynamik entfaltet, die man bei kirchlichen Veranstaltungen in dieser Intensität nicht antrifft. Die absolute, qualifizierte Stille ist der große Schatz, der eine gewaltige existentielle Dichte mit sich bringt und der erst wieder im christlichen Raum entdeckt werden muss.