Die Indianer und das weiße Christentum

Inhalt

1.Eine Standortbestimmung

       
Ungeahnter Aufstieg - maßloses Leid       
Unsere Lebensweise ist die einzig richtige   
Eine Klimakatastrophe droht       
Die Wahrheit außerhalb der Zivilisation ...   
Wir haben unser Land und unsere Freiheit verloren       

2.Zivilisation ohne Seele
       
„Die Weißen sind verrückt - sie denken mit dem Kopf“       
„Sie haben uns das Leder vom Leib gerissen“   
„Du kennst dein Herz nicht“       
„Die Erde ist unsere Mutter“       
Der heilige Kreis: Gemeinsam um das Feuersitzen       
Der Mensch muss von den Tieren und Pflanzen lernen       
„Meine Religion lehrt mich, arm zu sein“    
„Mit Tränen in den Augen vom Religiösen reden“   

3.Ein indianischer Weg
       
Begegnung zweier Welten       
Der Körper als Organ höherer Erfahrung   
Der Tod als Ratgeber       
Eine andere Wirklichkeit - auch für Christen?       

4.Die Indianer: Wilde oder Weise?       

Literatur                                                  


1. Eine Standortbestimmung

Ungeahnter Aufstieg - maßloses Leid

Rund 500 Jahre sind es her, seit Kolumbus jenen Erdteil entdeckt hat, den er selbst Indien nannte, der aber dann den Namen Amerika bekam. Seitdem heißen seine Ureinwohner Indianer, obwohl sie mit Indien nichts zu tun haben...........

Für die ursprünglichen Bewohner jedoch brachte dieses Ereignis maßloses Leid: Unterwerfung, Verlust ihres Lebensraumes, Untergang ihrer Kultur und Ausrottung ganzer Stämme und Völker. Man entzog ihnen die Lebensgrundlage, indem man sie aus den fruchtbaren Gebieten vertrieb oder die Büffelherden abschoss, von denen sie lebten. Viele wurden von ansteckenden Krankheiten dahingerafft, die von den Weißen eingeschleppt oder mit denen sie sogar absichtlich infiziert wurden; viele starben an der für sie schädlichen Ernährung und an der ungewohnten Arbeit. Das Schlimmste aber war, dass es nicht als Verbrechen galt, Indianer zu töten. So wurden nicht nur führende Krieger wie etwa der berühmte Häuptling Sitting Bull ermordet, sondern auch wehrlose Frauen und Kinder.
Dies geschah in einem Land, in dem die Erklärung der Menschenrechte stattfand und das heute von seinem Präsidenten als die „finest nation“, die edelste Nation.................

Die Ereignisse von damals können uns als Christen, die wir mit unserer Geschichte verbunden sind und mit Verantwortung tragen für den christlichen Namen, nicht unberührt lassen. Wir sind zutiefst betroffen und beschämt, sogar entsetzt, wie wenig die Botschaft Jesu gegriffen hat, wenn es um Menschen aus fremden Kulturen ging. Wie man die einheimischen Völker Amerikas behandelte, bleibt eine Schande für Europa wie für die von Weißen regierten Staaten Amerikas und ein ständiger Stachel, unser Verständnis von Christlichkeit zu hinterfragen.

2.Zivilisation ohne Seele

„Die Weißen sind verrückt - sie denken mit dem Kopf“

„Sieh“, sagte Ochwiä Biano, „wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nasen spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, sie suchen etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, daß sie verrückt sind“. Ich fragte ihn, warum er denn meine, die Weißen seien alle verrückt. Er entgegnete: „Sie sagen, dass sie mit dem Kopf denken“. „Aber natürlich. Wo denkst du denn?“ „Wir denken hier“, sagte er ernst und deutete auf sein Herz. Ich versank in langes Nachsinnen.
So schildert C. G. Jung seine Begegnung mit dem Häuptling der Taos-Pueblos-Indianer in Neu- Mexiko.
Zum ersten Mal in seinem Leben, so schreibt der Erforscher des Unbewussten weiter, habe ihm jemand ein Bild des wirklichen weißen Menschen gezeichnet. Es war ihm, als hätte er, der doch auf Grund seiner reichen psychotherapeutischen Erfahrung Einblick in das Wesen und in die unbewussten Tiefen des modernen Menschen hatte, bisher nur sentimental beschönigende Farbdrucke gesehen. „Dieser Indianer“, so fährt Jung fort, „hatte unseren verwundbaren Fleck getroffen und etwas berührt, wofür wir blind sind“............................

Unsere Lebensweise ist die einzig richtige

Im allgemeinen Denken der Europäer - ob der Missionare, der Auswanderer oder der heutigen Bevölkerung - ist in der Einstellung zu anderen Kulturen die Tendenz vorherrschend: Die anderen sollen so werden wie wir! Sie sollen so denken und sich so verhalten wie wir - eben „zivilisiert“!
In Europa hat sich im Zusammenhang mit dem Christentum und noch mehr durch die Aufklärung folgende Auffassung gebildet - und sie gilt als selbstverständlich: Unsere Lebensweise, unsere Anschauung von Menschen und Welt ist die einzig richtige, die am meisten fortgeschrittene; alle anderen Völker sollen unserer Norm entsprechen. Wer nicht in diesen Rahmen passt, gilt als „primitiv“, als „wild“, wie man früher sagte. Es gibt nur eine Form, nämlich die der Angleichung der Kulturen - so die allgemeine Meinung -, dass die anderen, die Zurückgebliebenen unsere Zivilisation annehmen, d.h. unsere Werte, unsere Lebensgewohnheiten und Denkweisen.
Heute spricht man von „Entwicklungsländern“ und „Entwicklungshilfe“. Nun darf man gewiss Menschen nicht ihrem Elend überlassen, aber jetzt, etwa 50 Jahre, nachdem dieser Begriff geprägt wurde, müssen wir neu über seinen Inhalt nachdenken.
Die Frage lautet: Entwicklung wohin?
Zur Verstädterung wie in den westlichen Industriestaaten, zur Auflösung der Stammeseinheit, der Sozialstrukturen, zu maßlosem Konsumrausch, zur absoluten Herrschaft des Geldes, zur Erzeugung von neuer Armut?
Es steigen berechtigte Zweifel auf, ob der westliche Lebensstil - unsere Zivilisation - wirklich dem einzelnen und der Menschheit zum Heil geworden ist..................

………….genau dies sucht man bei den Völkern außerhalb unserer Industriekultur.
So ist in den letzten 20 Jahren das Interesse für ......... Naturvölker erwacht. Unter diesen verdienen die Indianer Nordamerikas besondere Aufmerksamkeit. Nach einem Jahrhundert blutiger Unterwerfung, in dem sie ihre Eigenart, ihre Freiheit und ihren Stolz aufgeben mussten, fangen sie an, sich ihrer Traditionen zu erinnern und Anschluss zu suchen an die Kraft ihrer Wurzeln.
Sie melden sich heute in der Öffentlichkeit mit ihren berechtigten Anliegen zu Wort und klagen die weißen Amerikaner und auch uns Europäer an. Sie stellen den dunklen Schatten dar, den man in der Geschichte des Landes mit den unbegrenzten Möglichkeiten nicht wahrhaben will. Und sie beleuchten auch unsere, so selbstverständlich geltende Lebensweise von einer Seite, die wir nicht sehen wollen und die zu sehen doch lebenswichtig wäre. Lassen wir dazu einen indianischen Weisen, der in beiden Kulturen zu Hause war, selbst zu Wort kommen. Die Rede ist von Tatanga Mani (Walking Buffalo 1871- 67), der sich kritisch mit der Kultur des weißen Mannes auseinandersetzte.

Wir haben unser Land und unsere Freiheit verloren

„Wir haben unser Land und unsere Freiheit verloren, aber noch haben wir unsere Art zu denken und zu  leben bewahrt. Als Indianer könnten wir einen bedeutenden Beitrag zu eurer Kultur leisten. Nur den Weißen kommt es in den Sinn, dass auch die Menschen anderer Hautfarbe, seien sie nun rot oder schwarz oder gelb, sich Gedanken darüber machen, wie diese Welt besser werden könnte.
Vieles ist verrückt in der Welt des weißen Mannes. Wir glauben, dass die Weißen sich mehr Zeit nehmen sollten, um mit der Erde, den Wäldern und allem, was wächst, vertrauter zu werden, statt wie eine in Panik geratene Büffelherde herum zurasen.
Wenn die weißen Menschen auch nur einige unserer Ratschläge befolgten, fänden sie eine Zufriedenheit, die sie jetzt nicht kennen und die sie auf ihrer verbissenen Jagd nach Geld und Vergnügen vergeblich suchen. Wir Indianer können die Menschen immer noch lehren, wie man im Einklang mit der Natur lebt“.
„Im Einklang mit der Natur leben“ war die längste Zeit für europäisch Denkende kein Thema, im Hinblick auf die drohenden Katastrophen jedoch wird es die brennende Frage schlechthin. Deshalb findet die indianische Welterfahrung, wie sie im angeführten Text zum Ausdruck kommt, in Europa mehr und mehr Beachtung.
In der Auseinandersetzung um Umwelt und Zukunft der Menschheit sollte die indianische Haltung, auf alles Lebendige Rücksicht zu nehmen, als wesentlicher Bestandteil eines neuen Denkens mit einbezogen werden.
Dabei wird sich herausstellen, dass auch das von uns gelebte und verkündete Christentum erhebliche Einseitigkeiten und Mängel aufweist. Trotz vieler Bemühungen haben Christen noch keine überzeugende Lösung der angesprochenen Probleme gefunden. Mit der Bildung, die wir im christlichen Raum erhalten, haben wir Tüchtigkeit im Beruf und im günstigsten Fall Treue zu den überlieferten Werten gelernt.
Aber reicht das aus, um die Not zu wenden?..................

„Ihr Weißen verbreitet den Tod“

Indianer, die wieder zur Identität ihres Volkes gefunden haben, halten den „Zivilisierten“ einen Spiegel vor, der genau die dunklen Punkte des modernen Lebens ins Visier nimmt.
Tahca Ushte zum Beispiel, der nach einer sehr bewegten Lebensgeschichte - er war Rodeo-Clown, Soldat, Schildermaler, Mitglied der Stammespolizei - zum „wicasa wakan“ wurde, zum heiligen Mann seines Volkes, indem er, wie er selbst sagt, dem Ruf seines Herzens folgte. „Medizinmann“ ist eine unzutreffende Übersetzung der Weißen: Das, was er ist, müsste mit Priester, Seher, Heiler umschrieben werden. Er war einer der geistigen Führer, die die alte Stammestradition wieder zum Leben erweckten.
Lassen wir ihn selbst darstellen, wie er sich versteht:
„Ich bin ein Medizinmann, ein „wicasa wakan“. Medizinmann - das ist ein Wort, das die Weißen erfunden haben. Ich wünschte, es gäbe ein besseres Wort, um auszudrücken, was „Medizinmann“ für uns bedeutet, aber ich finde keines und du auch nicht, und so müssen wir uns wohl damit zufriedengeben.
Ein „wicasa wakan“ muß viel und oft mit sich allein sein. Er will weg von der Menge, weg von den kleinen alltäglichen Dingen. Er liebt es zu meditieren, sich an einen Baum oder an einen Felsen zu lehnen und zu fühlen, wie sich die Erde unter ihm bewegt und wie über ihm das Gewicht des weiten, flammenden Himmels lastet. Auf diese Weise lernt er zu verstehen. Er schließt die Augen und beginnt klarer zu Sehen. Was du mit geschlossenen Augen siehst, das zählt.
Der „wicasa wakan“ liebt die Stille, er hüllt sich in sie ein wie in eine Decke - eine Stille, die nicht schweigt, die ihn mit ihrer donnergleichen Stimme vieles lehrt. Solch ein Mann liebt es, an einem Ort zu sein, wo er nur das Summen der Insekten hört. Er sitzt, das Gesicht gegen Westen, und bittet um Beistand. Er redet mit den Pflanzen, und sie antworten ihm.  …….............