Die Kraft des Mysteriums


Mythen und Mysterium

Neues Leben aus alten Geheimnissen

I. An welche Mythen glauben wir? Geschichten, die das Leben verändern.

Um dreißig Jahre jünger oder die „Quelle der Jugend"

 

Ein Buch über alternative Gesundheitspraxis beginnt mit einer Geschichte, die kaum zu glauben ist. Der Verfasser erzählt von einer Begegnung mit einem pensionierten Offizier der Britischen Armee, Colonel Bradford, welche sein Leben für immer verändert hat. Als er (der Verfasser) eines Nachmittags im Park sitzt und seine Zeitung liest, kommt ein älterer Herr auf ihn zu und setzt sich neben ihn. Er scheint an die Siebzig zu sein, hat spärliches graues Haar, gebeugte Schultern. Beim Gehen stützt er sich auf einen Spazierstock. Es entwickelt sich ein interessantes Gespräch über Erlebnisse und Abenteuer aus seiner Zeit als Offizier, in der er fast jeden Winkel der Erde kennen gelernt hatte. Es folgen Einladungen und weitere Zusammenkünfte mit lebhaften Unterhaltungen und Diskussionen. Dem Gesprächspartner des britischen Obersts fällt auf, dass dieser anscheinend über etwas reden will, was für ihn von großer Bedeutung ist, aber aus Befangenheit bisher zurückgehalten hat. Erst nach einiger Zeit, nachdem das Vertrauen gewachsen ist, eröffnet er ihm sein Geheimnis.

Als er in Indien stationiert war, hörte er von Einheimischen eine seltsame Geschichte. Es handelte sich um eine Gruppe tibetanischer Mönche, die das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt haben sollen. Es sei über Jahrtausende von den Mitgliedern dieser mystischen Vereinigung überliefert worden. Ihr Kloster sei so abgelegen und isoliert, dass von diesem nichts in die Außenwelt gedrungen und es deshalb für die Weltöffentlichkeit unbekannt geblieben sei. Allerdings würden die Einheimischen von alten Männern erzählen, die auf geheimnisvolle Weise ihre Gesundheit und Lebenskraft zurückgewonnen hätten, nachdem sie das Kloster gefunden und einige Zeit dort verbracht hatten. Man sprach von jenem Ort als von der „Quelle der Jugend". Aber niemand von den Bewohnern dieser Gegend schien seine genaue Lage zu kennen.

Beim englischen Offizier setzte sich allmählich die Überzeugung durch, dass es diese Stätte tatsächlich geben müsse. Er stellte Nachforschungen an über Landschaft, Klima und Richtungsangaben. Je mehr er sich damit beschäftigte, umso stärker wuchs sein der Wunsch, die „Quelle der Jugend" wirklich zu finden. Das Verlangen danach war schließlich unwiderstehlich geworden und so entschloss er sich, nach Indien zurückzukehren, um nach diesem Geheimnis zu forschen. Er lud seinen neugewonnenen Freund dazu ein; der lehnte jedoch ab. Aber in dessen Kopf spukte weiterhin der aufregende Gedanke, es könnte sie doch geben, die „Quelle der Jugend".

In den folgenden Jahren verschwand Colonel Bradford allmählich aus seiner Erinnerung, bis sich der alte Mann mit der Nachricht meldete, er stünde unmittelbar vor der Entdeckung des großen Geheimnisses. Kurze Zeit später kündigte ein Brief sein Kommen an und dass er die „Quelle" sogar mitbringe. Schließlich war es soweit und dem Erzähler wurde vom Portier des Hauses ein Colonel Bradford gemeldet. Voller Erregung erwartete er den Besucher. Doch als dieser eintrat, sah er nicht jenen alten Mann vor sich, der die „Quelle der Jugend" gesucht hatte, sondern einen fremden, viel jüngeren Menschen. Er versuchte seine Enttäuschung damit zu entschuldigen, dass er jemand anderen erwartet habe.

Doch der Fremde behauptete, dass er derselbe sei, welcher vor Jahren mit ihm von der „Quelle der Jugend" gesprochen und sie nun tatsächlich gefunden habe. Verwirrt, verblüfft und mit ungläubigem Staunen starrte der Freund seinen Gast an. Nur langsam erkannte er, dass dieser Mann dem Colonel wohl ähnlich war, jedoch aussah, wie Bradford in seinem besten Alter vor dreißig Jahren etwa ausgesehen haben mochte: eine große aufrechte Gestalt, die Gesundheit ausstrahlte, und nicht der gebeugte, blässliche, alte Herr mit Stock. Das Haar war dicht und dunkel, keine Spur von Grau darin. Er sei es wirklich, beteuerte der Colonel und bitte nun um gastliche Aufnahme.

Er erzählte von seiner Suche nach der „Quelle der Jugend" in Indien und Tibet, von seinem Aufenthalt in jenem geheimnisvollen Kloster, von der Lebensweise der Mönche und wie er in einem Spiegel sein eigenes Gesicht um  Jahre verjüngt gesehen habe.

Nach und nach kam der zurückgekehrte Offizier auf weitere Einzelheiten seiner Erlebnisse bei der „Quelle der Jugend" zu sprechen und erklärte, wie man die Verwandlung zu Gesundheit und Kraft auch bei uns vollziehen könne. Von den Lamas (den tibetanischen Mönchen) würden fünf Riten praktiziert, welche die seelisch-körperlichen Energiezentren wecken.

Damit beginnt im Buch von Peter Kelden die Beschreibung der Übungen, die im Raum der alternativen Gesundheitspraktiken als „Die Fünf Tibeter" bekannt sind. (1)

Diese Geschichte klingt unglaublich, sie widerspricht den Erkenntnissen der modernen Medizin wie der menschlichen Erfahrung, so weit uns bekannt ist. Der kritische Leser hält sie für eine gut erfundene Erzählung, um Lust auf die dargestellten Übungen zu wecken.

Bei tieferer und ernsthafter Betrachtung erinnert sie an das Märchen vom Wasser des Lebens, an die Vorstellung vom Jungbrunnen auf mittelalterlichen Gemälden und in Volksliedern, in dem man alt und verschrumpelt eintaucht und aus dem man jugendlich-frisch wieder heraus steigt. Es ist ein Menschheitstraum - ein Mythos seit Jahrtausenden, der heute unter dem Namen „Die Fünf Tibeter" Gestalt angenommen hat. Was immer man von der Geschichte halten mag, eines ist sicher: Das Thema übt eine gewaltige Faszination aus. Es gibt eine Überfülle von Literatur und Selbsterfahrungskursen dazu. Dabei wird gesagt, es sei unnatürlich, krank zu werden, Ärzte, Krankenhäuser, Psychologen zu benötigen, Angst zu haben vor einem schlimmen Alter, es sei unnatürlich, wenn Beweglichkeit, Leistungskraft und Denkvermögen mit dem Alter abnehmen und wenn wir nur das statistische Durchschnittsalter von 72 bis 82 Jahren erreichen.

Normal und natürlich sei vielmehr, ein Leben lang gesund zu sein, für sich selbst sorgen zu können, sich auf ein schönes Alter voller Aktivität, Lebenslust und Weisheit zu freuen und das biologische Alter von mindestens hundert Jahren bei voller körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheit zu erreichen.

Die Vorstellung von der ewigen Jugend und alles, was heute dazu an medizinischem und finanziellem Aufwand, an Fitness-Trainings und Gesundheitspraktiken geschieht, macht wie kaum eine andere Erscheinung unserer Zeit deutlich, wie wirksam ein Mythos sein kann. Die Themen bestätigen die These, dass hier eine Art Gegenwelt zur alltäglichen Wirklichkeit der Schule und Arbeit, des traditionellen Christentums wie der modernen Wissenschaft aufgebaut wird.

 

Der Siegeszug der Mythen

Ob wir wollen oder nicht, bei aller Aufklärung und rationaler Lebenskultur können wir den Bereich der „Mythen" nicht mehr übergehen. Es ist nicht nur die Esoterik, welche die Mythen wieder zu Wort kommen lässt, es geschieht auch in Fußballstadien, in Kongresshallen und Fernsehstudios, wo auf anscheinend nicht erklärbare Weise Millionen zu Begeisterungsstürmen hingerissen werden. Hier ist der Mythos des Helden am Werk (erleichtert stellen wir fest, zumeist auf unblutige und weniger grausame Art). Doch spricht man von Angriff und Verteidigung, vom Schießen und Treffen, von Sieg und Niederlage, von Trophäen - eine Sprache, die ursprünglich das Kriegsgeschehen wiedergab und die noch etwas von der Aufregung, Spannung und Bedeutung eines Kampfes anklingen lässt. Die Mannschaften und die einzelnen Helden werden nach der Zahl der geschossenen Tore eingeschätzt wie ehedem nach der Zahl der erschlagenen Feinde und der eingenommenen Städte. Auch heute noch „heftet man sich die Siege an die Fahnen". Ein Held kam zu Ansehen. Kriegsruhm bedeutete einstmals mehr als das Leben. Damit verbunden war Macht: Er konnte damit rechnen, fortan eine wichtige Position im Stamm oder im Reich einzunehmen. Heute sind es Verträge mit Werbefirmen. Der Erfolg einer einmal erreichten Spitzenposition in der Öffentlichkeit drückt sich in Millionen aus. Was zwischen Stars und Publikum - ganz gleich in welcher Branche - abläuft, gehört einer Ebene an, die außerhalb der Vernunft liegt, die aber zu manchen Zeiten eine ganze Stadt, ein Land, sogar die halbe Welt in Atem hält.

Die Frage: „Wer ist der erste? „ Wer ist der beste?" macht deutlich, welche Kraft der Mythos des Helden auch heute noch besitzt und mit welcher Gewalt er Menschen in seinen Bann zieht.

In den Rahmen gehört auch Harry Potter, die erfolgreichste Figur kindlicher Fantasie unserer Zeit. Es ist der Mythos vom jugendlichen Helden, manche sagen sogar vom göttlichen Kind, der die Auflagenzahlen in die Höhe treibt und die Kinos füllt.

Selbst wenn Erzeugnisse der Medien und des Buchmarktes  unpolitisch sind,  lassen sie erkennen, von welchen Motiven Menschen heute bewegt werden.

In einer Esoterikzeitschrift ist neben verschiedenen Themen von „Himmel und Hölle", von „Visionen", vom „Licht der Liebe", vom „Weltuntergang", von „Tod" und „Jenseits" zu lesen. Die Werbung greift gerne auf religiöses Vokabular zurück, nicht ohne Erfolg; die häufige Verwendung der Worte wie  „Paradies", „Himmel", „Hölle", „Teufel", „Kloster" spricht für sich.

Die genannten Begriffe haben die Eigenschaft, Emotionen, Verheißung und Hoffnung, vielleicht auch etwas wie Gruseln oder Schauder zu wecken oder zumindest neugierig zu machen und zum Kaufen, Lesen oder Anschauen zu locken.

Es wird eine psychische Kraft angesprochen, die eigentätig wirkt. Greifen wir noch einmal eine der hervorstechendsten Titel heraus, in denen wir in aller Deutlichkeit einen Mythos der Zeit erkennen.

In einer Ausgabe von „Esotera" ist vom „Weg des Kriegers" die Rede. Dabei geht es um Übungen, die eine spirituelle Welt im Sinne der indianischen Schamanen eröffnen sollen.

Zu welchen Mühen und Anstrengungen im religiösen Bereich der Mythos des Weges Menschen unserer Tage anregen kann, zeigt das Wiederaufleben der Fußwallfahrten. Im Jahr 2019 gab es 347.538 Fußpilger nach Santiago  (2).

Zugleich ist es Mode geworden, Flugreisen nach Indien, Nepal und Japan zu buchen, um dort in einem Ashram oder Zen - Kloster mit ursprünglichem religiösem Leben in Kontakt zu kommen.

Das Thema des Todes übt ebenfalls eine gewaltige Anziehung aus. Es gibt inzwischen schon reiche Literatur über Nahtoderlebnisse. „Einmal Hölle und zurück" heißt ein Artikel in einer esoterischen Zeitschrift. „In Todesnähe: Jeder erlebt das Sterben anders" ist ebenfalls auf dem Umschlag zu lesen. „Sterbeforschung", „Sterbebegleitung, „Sterbehilfe" sind Themen, die durchaus ernsthaft diskutiert werden.

Nebenbei seien Versuche erwähnt, die an die Nähe des Todes heranführen wie „Bungeespringen" oder verschiedene andere Formen extremer sportlicher Herausforderung. Der bekannte, inzwischen verstorbene indische Guru Shri Rajneesh Baghwan, Osho genannt, soll durch eine Art Nahtoderfahrung zu seinen extremen Bewusstseinszuständen gelangt sein und damit zur außerordentlichen Kraft, Menschen anzuziehen. In der Tat hat das Erlebnis des nahen Todes viele Menschen verändert.

Ein zentraler Punkt für alle, die sich auf transzendentale Erfahrung einlassen, ist die Erleuchtung. Darunter  wird verschiedenes verstanden. Es muss nicht immer mit Lichterscheinungen zu tun haben. Das Eigentliche ist, dass der Schwerpunkt des Erkennens, Denkens und Erlebens nicht mehr im gewohnten, alltäglichen Rahmen liegt, sondern in einem Raum außerhalb. Ein „Interview mit einem Erleuchteten" wird auf der Titelseite von „Esotera" angekündigt (3).Man liest ein Gespräch mit einem jungen, spirituellen Lehrer, der nach dem Zustand des klinischen Todes „Satsang" die höchste Stufe der Erkenntnis erlangt hat. Dies wird ihm als derzeit einzigem Deutschen von anerkannten buddhistischen Meistern bestätigt. Der Artikel zeigt den Stellenwert dieses Themas in spirituellen Kreisen.

 Eine weitere Vorstellung, welche Menschen heute in Beschlag nimmt, ist die Idee der Reinkarnation oder Wiedergeburt. Es sollen etwa 23% der Bevölkerung Europas davon überzeugt sein, in dieser Welt schon einmal gelebt zu haben und nach dem Tod wieder eine irdische Existenz zu erlangen. Während für die Menschen Asiens Wiedergeburt ein Fluch ist, sehen die Anhänger der Reinkarnation im Westen in ihr die Chance eines besseren Lebens nach dem Tod. Nach hinduistischer Auffassung ist es Ziel aller Wiedergeburten, den Kreislauf des Samsara zu durchbrechen und die Befreiung aus dem Gesetz des Karma zu erlangen.

„Befreiung" ist ebenfalls ein Stichwort, das als Mythos große Verbreitung fand mehr im politischen als im spirituellen Bereich.  Die Theologie der Befreiung hat in Südamerika große Hoffnung geweckt und ebenso in Europa viele junge Menschen angesprochen. Im Bereich der östlichen Befreiungswege sind es allerdings nicht politische Inhalte, sondern die Frage, wie das Ich aus seinen Abhängigkeiten, die es in der Isolierung festhalten, befreit werden kann.

Ein ganz wesentliches Thema esoterischer Bewegung ist der Ruf nach Heilung. Eine einzige Ausgabe der genannten esoterischen Zeitschrift bringt dazu mehr als zwölf Anzeigen, einmal, wo man selbst Heilung findet, zum andern, wo man sich zum Heiler ausbilden lassen kann. Darunter fallen Begriffe wie "Geistheiler", "Heilkraft der Hände", „Rückführungstherapie", „Heilen durch  den Geist", "Heilen mit Humor" und vieles andere für Außenstehende Ungewohnte.

 

                     Christus nur ein Mythos?

Während auf dem Feld der neuen, außerkirchlichen, spirituellen Aufbrüche und der alternativen Gesundheitspraktiken eine Blütezeit der Mythen angebrochen zu sein scheint, geht im Raum der Kirche die Angst vor den  Mythen um. Man befürchtet, auf Grund der historischen Forschung könne die ganze Geschichte von Jesus nichts anderes sein als eine besondere Form der Mythologie des Altertums.

In einem Gespräch mit einem modernen Bibelwissenschaftler stellt der „Spiegel" die Behauptung auf, dass Christus nur eine „Kunstfigur" in der Bibel und im Glauben der Christen eben nur ein Mythos sei. Die Antwort des Professors klingt sehr gewunden. Die Vertreter des Nachrichtenmagazins kommen mit der Absicht, zentrale Bibelberichte über Jesus zu verifizieren oder zu falsifizieren. Dem historisch-kritischen Urteil des Exegeten fallen die Jungfrauengeburt, neben vielen Reden Jesu die Einsetzung des Abendmahls, die Osterberichte und die Himmelfahrt Jesu zum Opfer.

Gerd Lüdemann, Professor für „Frühchristliche Studien" in Marburg, spricht von einem großen Betrug, welche die ersten Christen und die spätere Kirche  an Jesus verübt hätten. Die Evangelisten hätten ihm Worte in den Mund gelegt, die er nie gesagt, ihm monströse Wundertaten angedichtet, die er nie vollbracht hat, und ihn zum Weltenrichter erhoben, der er nie sein wollte. Die Person Jesu sei durch die Übermalungen des Neuen Testaments bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Dies sei geschehen aus der Sicht einer vorgeblichen Auferstehung, die nie stattgefunden habe. Damit greift Lüdemann auf frühere Forscher wie Rudolf Bultmann und andere zurück, die sagen, der Kern des historischen Jesus sei von altertümlicher Mythologie überlagert. Darauf nun eine Religion aufzubauen und sogar Einfluss in der Öffentlichkeit geltend zu machen und Macht auszuüben, so folgerte mit Lüdemann auch Rudolf Augstein, der verstorbene  Herausgeber des „Spiegel", sei ein absoluter  Verstoß gegen die intellektuelle Redlichkeit und die Würde des Denkens.

Die skeptischen Leser fühlten sich in ihrer Ablehnung des Christentums bestätigt. Auf die Behauptung von einigen Leuten vor 2000 Jahren könne man ja schließlich keine Überzeugung aufbauen. Das widerspricht einfach jeder Vernunft.

Müssen wir an Mythen glauben? Fragen sich kirchentreue Christen verunsichert, entsetzt bis empört. Denn seit ihrer Kindheit haben sie gehört, dass die Erzählungen von Jesus auf Tatsachen beruhen, während Mythen doch Produkte der Fantasie seien, eben unwahre Geschichten, die sich auf keine Realität stützen könnten und deshalb auch keinerlei Bedeutung hätten. Man denkt an die griechische Mythologie, an die so häufig anstößigen Geschichten von den Göttern, die voll Hass und Neid aufeinander Intrigen spinnen, die ihr Liebesleben ohne moralische Hemmung pflegen und bei alledem die Geschicke der Menschen je nach Laune lenken. Jesus in die Nähe der Mythen zu rücken ist deshalb für die meisten unerträglich. Die wenigsten können die Ergebnisse der sogenannten historisch-kritischen Forschung annehmen, welche die Geschichtlichkeit vieler Erzählungen von Jesus bestreitet; denn es werden Grundüberzeugungen, die in der unerforschten und unzugänglichen Tiefe der Seele wurzeln, in Frage gestellt.

Gewiss, wir haben uns daran gewöhnt, die Schöpfungsgeschichte, die Erschaffung des Menschen, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies unter dem Aspekt der Mythologie zu betrachten. Wir werden damit den Naturwissenschaften gerecht. Aber wie ist es mit der Auferstehung Jesu, seiner zentralen Stellung als Retter und Erlöser, als Sohn Gottes? Kritische Bibelwissenschaftler sagen, man dürfe die Erzählungen vom leeren Grab, von den Erscheinungen Jesu vor seinen Jüngern, von seiner Himmelfahrt nicht als historische Berichte betrachten. Sie seien zu verschieden und ließen sich nicht harmonisieren. Der Satz „er ist dem Simon / Petrus erschienen" (Lk 24, 34) sei die älteste historisch gesicherte Überlieferung. (4)  Was sonst über die Ereignisse unmittelbar nach dem Tod Jesu in den neutestamentlichen Schriften gesagt wird, gehöre in den Bereich des Glaubens und nicht in den der historischen Fakten, oder wie Religionsforscher sagen, in den der Mythologie. Der Eindruck bleibt bestehen, dass die historische Forschung einen Graben aufreißt, den sie mit ihren Methoden nicht überbrücken kann, vor allem, dass unserem Glauben das Fundament entzogen wird.

Weil man im Bereich der Mythologie sehr unsicheren Boden betritt, sucht man Gewissheit durch die Erforschung des historischen Jesus, d.h. der Ereignisse aus der Zeit vor seinem Tod. Man möchte Abstand nehmen von den Überhöhungen und Idealisierungen, die das geschichtliche Bild Jesu nach seinem Tod überdeckt haben und die als mythologisch gelten. Vielen wäre ein schlichter Rabbi, der mit Gott gerungen hat, lieber als ein zum Sohn Gottes erhobener Übermensch, wie sie meinen.

Wegen der Verpflichtung auf geschichtliche Grundlagen versucht man, ältere Quellen als die Evangelien zu erschließen. Die bedeutendste davon ist die sogenannte Q-Quelle, ein Evangelium vor den Evangelien. Man hofft, dort die ursprünglichen Aussagen Jesu und seine Gestalt ohne Überlagerungen aus späterer Zeit zu finden. Damit könnte die Frage, die häufig von kritischen und von der Kirche enttäuschten Menschen gestellt wird, beantwortet werden, nämlich:                                       Was wollte Jesus eigentlich?

Auf diesem Hintergrund ist das Gespräch von Professor Paul Hoffmann mit der Wochenzeitung „Publik - Forum" zu verstehen. Er meint, der Rückgriff auf die frühe Jesus -Tradition könne den wirklichen Jesus von dem Ballast befreien, der ihm und uns durch mythische Deutung und durch dogmatische Spekulation aufgebürdet wurde. Die Hoheitstitel von Jesus als dem Christus, dem erhöhten Herrn und dem von Gott gesandten Messias, dem Sohne Gottes, wesensgleich mit dem Vater seien ein Mythos und als solcher eine Zumutung für den Menschen unserer Zeit. „Er braucht keine Lehre von der Trinität, von der Hypostatischen Union (Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott), sondern einen Gott, der ihm zur Seite steht und von dem er lernen kann, in Freundlichkeit mit seinen Mitmenschen umzugehen", so der Bibelwissenschaftler aus Bamberg wörtlich. „In der Verkündigung Jesu geht es um eine Wahrheit, die sich jedem Menschen vermitteln lässt und die ihm hilft, in dieser Welt in Würde zu leben." (5) Professor Hoffmann glaubt, den Schlüssel zum besseren, eigentlichen Jesus-Verständnis gefunden zu haben. Nach seiner Meinung sind die radikalen Aussagen der Seligpreisungen der Armen, der Feindesliebe, des Gewalt- und Rechtsverzichts die eigentlich bedeutsamen, ohne dass das Dogma eine Rolle spielt. Von kritischen Christen wie von Außenstehenden bekommt er dafür lauten Beifall. In weltanschaulichen Diskussionen dürfte es kein schlimmeres Unwort als „Dogma" und „dogmatisch" geben. Endlich einer, der es wagt, den Unmut und das Unverständnis über kirchliche Lehre und unnötige Lasten beim Namen zu nennen, kann man hören. Ein menschliches, ein praktisches Christentum, das für die Versöhnung aller Menschen eintritt und sich ohne Vorbehalt für die Armen einsetzt, ohne den Aufwand an Ideologie, ohne Streitereien um Rechtgläubigkeit - einen solchen Glauben könnte man eher bejahen, ist die Meinung vieler.

Es fällt auf, dass Mythos und Dogma gleichgesetzt und gleichermaßen als unbedeutend, sogar belastend abgelehnt werden. Dabei hat man sich seit Jahrhunderten bemüht, Dogmen, verstanden als Lehraussagen, von Mythen als unwahren Geschichten abzugrenzen.

Man muss zugeben, dass es der kirchlichen Verkündigung bisher nicht gelungen ist, die Notwendigkeit und den Inhalt der grundlegenden Lehraussage einer distanzierten, aber nicht unbedingt feindlichen Öffentlichkeit einsichtig zu machen. Es scheint, als ob die Kirche in ihren Verlautbarungen eine fremde Sprache spreche.

Eigentlich ist es die Barriere des Nicht-Verstehens, welche Ratlosigkeit, Unmut und zornige Ablehnung erzeugt. Bei den öffentlichen Diskussionen über Religion, Kirche, Christentum und Jesus tritt die beschriebene Stimmung offen zutage.

 

Der Kampf gegen Wortgespenster

 

Das Bemühen, dem Menschen unserer Zeit den Glauben verständlich zu machen und ihn von der Zumutung eines mythischen Weltbildes zu befreien, ist unter dem Stichwort „Entmythologisierung" bekannt geworden. Ihr bedeutendster Vertreter Rudolf Bultmann betrachtet es als unumgängliche Aufgabe der Verkündigung, die Glaubensaussagen von den Vorstellungen eines mythischen Weltbildes zu reinigen. Er macht sich zum Fürsprecher eines Bewusstseins, das durch das naturwissenschaftlich-technische Denken geprägt ist. Bultmann lässt nur gelten, was rational einsehbar ist. Seine Aussagen von 1941 dazu sind den Theologie-Studierenden seitdem ziemlich vertraut: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht" (6).  Heute achtzig  Jahre nach Erscheinen dieses Artikels hat sich sein Programm ziemlich erfüllt. Man ist in der Entmythologisierung ein schönes Stück weitergekommen; es gibt kaum einen ernsthaften Vertreter der Bibelauslegung, der noch am Glauben an Dämonen und Teufel, an die wunderbare Speisung der Fünftausend (Mk 6, 30-44), an den Wandel Jesu auf dem See (Mk 6, 45-52), an die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2, 1-11) und andere Wunder wörtlich festhält. Gar nicht zu reden von der Geburt Jesu aus der Jungfrau, von den Ostergeschichten, von seiner Himmelfahrt. Man ist der Meinung, nun dem historischen Kern der Person Jesu näher gekommen zu sein.

Aber wurde dadurch den Menschen unserer Zeit auch die Botschaft Jesu nähergebracht? Daran darf man ernsthaft zweifeln. In keiner Epoche der Geschichte vollzog sich auf breiter Basis eine solche Distanzierung von Kirche und Christentum wie in den letzten 60 Jahren, nie zuvor war die Kritik an christlichen Werten so grundlegend und waren die Austritte so zahlreich. Aber noch mehr fällt ins Gewicht, dass in derselben Zeit das Reich der Mythen einen gewaltigen Einzug in das geistige Leben gehalten hat. Zu denken ist an die nationalsozialistische Ideologie, welche sich auf altgermanische Mythologie stützte und die Seelen der idealistisch gesinnten jungen Menschen vereinnahmte. Wenn heute Titel einer Zeitschrift wie „Einmal Hölle und zurück", „Wegweiser zum Paradies", „Gefährten aus der Anderswelt"  Interesse wecken, wenn sich junge Menschen ganz offen zu Satanskulten bekennen, wenn in fast jeder größeren Stadt regelmäßig Esoterik-Tage stattfinden, kann man den Schluss ziehen, dass hier eine Leerstelle in den Seelen der Menschen besteht. Es gibt ein ungestilltes Verlangen nach dem Geheimnisvollen, nach Vorstellungen und Kräfte, welche einen der Langeweile, der Verödung des Zusammenlebens und der Arbeitswelt, der Sinnleere und Einsamkeit entreißen. Die „Mythen" der christlichen Religion füllten einmal diese Leerstelle aus, aber sie tun es heute anscheinend nicht mehr.

Im Hinblick auf dieses Ergebnis könnte man nach einem Wort von C. G. Jung sagen: Wir haben Wortgespenster entmythologisiert, nicht aber die psychischen Tatsachen.

Nichts ist deshalb mehr gefordert als sich um ein tieferes und umfassenderes Verständnis der Mythen zu bemühen.

II. Was sind Mythen?

Nur Fiktionen?

 

Ursprünglich sind Mythen Geschichten von der Herkunft und Taten der Götter, von der Entstehung der Welt und der Menschen, von deren Schicksal und vom Weltende. Weil niemand mehr an Götter glaubt, dürften eigentlich - so müsste man meinen -die Mythen erledigt sein. In Wirklichkeit haben sie im modernen Lebensgefühl neue Aktualität und Bedeutung erhalten. Es gibt - wie das Beispiel von der Quelle der Jugend beweist - Geschichten, wo Orte, Geschehnisse, Namen, Wesen eine geheimnisvoller Anziehungskraft haben. Heute sind es nicht mehr Götter, welche die Geschicke lenken, es sind unsichtbare und unbegreifbare Mächte, denen man sich anvertraut oder hingibt und von denen man sich führen lässt.

An der historischen Realität von Colonel Bradford und seiner Verwandlung kann man zweifeln; Tatsache ist, dass die „Fünf Tibeter" viele Menschen bewegen. Wer sich darauf einlässt, für den ist nicht entscheidend, ob es Colonel Bradford wirklich gegeben hat, sondern dass die angegebenen Übungen und das ganze Aufgebot an Lebensverbesserung versprechen, gesund zu bleiben und weniger früh zu altern. Dazu kommt der viel beklagte aber wirksame Wahn unserer Zeit, die nur für den jungen, kraftvollen, leistungsfähigen Menschen eine Perspektive offen hält. Unsere Gesellschaft steht offensichtlich im Banne des Mythos von der ewigen Jugend. Damit nähern wir uns der Erkenntnis, dass Mythen keine leeren Fantasiegebilde darstellen, sondern Faktoren, die Macht über uns haben. Entscheidend ist, dass uns bewusst ist, von welchen Mythen wir geführt oder sogar beherrscht sind und welche wir uns als heilsame Begleiter auswählen.

Mythen decken den irrationalen, nicht kontrollierbaren Erlebnishintergrund der Seele auf. So können historische Handlungen zu Mythen werden, welche die Gefühle der Menschen berühren. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist der Kniefall des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal der Ermordeten im Warschauer Ghetto, eine symbolische Handlung, die ganz wesentlich zur Aussöhnung der Völker des Ostens mit den Deutschen beigetragen hat.

Andererseits war gerade die altgermanische Mythologie von den Nationalsozialisten zur Entfachung der Kriegsbegeisterung missbraucht worden. In einer Ausgabe des „Völkischen Beobachters" im Mai 1940 wird das Auslaufen der deutschen Flotte nach Dänemark und Norwegen mit den Schlagzeilen „Nordmeerfahrt der deutschen Flotte" angekündigt. „Nordmeerfahrt" klingt nach Geheimnis, nach Abenteuer auf den Spuren der Wikinger und lässt die Schrecken des Krieges vergessen.

Während eine rein rationale Einstellung die Mythen für Aberglauben hält und sie für null und nichtig erklärt, hat dieses Thema in der Tiefenpsychologie einen ganz anderen Stellenwert. Nach Jung sind sie keine Fiktionen, sondern bestehen in beständig sich wiederholenden Tatsachen, die immer wieder beobachtet werden können. (7) Sie sind den Träumen vergleichbar und bringen den unbewussten und schicksalhaften Teil der menschlichen Existenz zum Ausdruck. Man kann sie als Spiegelung der inneren Vorgänge, Konflikte, Entwicklungen und Verheißungen sehen. Wie die Träume werden die Mythen nicht er - funden, sondern vor - gefunden, nicht absichtlich ausgedacht und gemacht, sondern erlebt. Sie geben in konkreten äußeren Handlungen das wieder, was eigentlich im Innern der Menschen vor sich geht. Ein Mythos hat deshalb eine psychologische Wirkung! Er zieht Menschen an zur Bewunderung, Verehrung und Nachahmung. Selbst ein negativer Mythos wie Hitler kann Menschen auch heute noch faszinieren - und wenn es „nur" die nüchterne wissenschaftliche Forschung ist. Das Wesen des Mythos ist es, dass er Menschen bewegt im Unterschied zu einem bloßen Faktum etwa dem Datum einer Schlacht. Unter dem Aspekt feststellbarer Tatsachen ist der Mythos unzuverlässig, im besten Fall eine fantasievolle Verkleidung eines historischen Kerns. Auf der Ebene der Motivation, des Sinnzusammenhangs und der geistigen Orientierung enthält der Mythos die entscheidende Triebkraft und ist damit eine äußerst wichtige Realität. Immer dann, wenn Menschen im Grund ihres Wesens von etwas erfasst und zu leidenschaftlichem Tun und Handeln bewegt werden, kann man von einem Mythos als von einem kraftgeladenen Symbol sprechen. Nur ein solches vermag es, die unserem Bewusstsein abgewandten Teile unserer Persönlichkeit, worüber wir selbst nicht verfügen, anzusprechen. Deshalb ist das Erzählen von Geschichten, von Mythen und Märchen bei Kindern und auch bei Erwachsenen so beliebt. Die andere Seite unserer Seele übernimmt für eine Stunde die Regie unseres seelischen Haushalts. Nicht wir handeln, sondern mit uns geschieht etwas. Wir werden mithineingenommen in die dargestellten Ereignisse. Es wird dann für uns befreiend und heilend, wenn wir uns in den Gestalten und Handlungen ein Stück erkennen und unser eigenes Schicksal wiederfinden. Es kann uns aufgehen, welche Lebensthemen uns begleiten und bestimmen. Eine solche Einsicht kann wie ein Blitzschlag unser Leben erhellen und wie eine Wiedersehensszene eine gewaltige Erschütterung auslösen. Ich denke an einen Mann, der von der Figur des Gottesknechtes, von der die Lesung des Karfreitag handelt, so getroffen war, dass er aus den Tränen nicht mehr heraus kam. Bei genauerem Betrachten erkannte er sein eigenes Schicksal, das sich an ihm zu vollziehen hatte. Es war für ihn schmerzlich und beglückend zugleich.

Von welchem Mythos wird mein Leben bestimmt?

 Mit Recht sagen deshalb Psychologen, dass jeder Mensch persönliche Mythen hat, solche, die für ihn Inspiration, seelischen Fortschritt und Energie bedeuten, aber auch andere, welche ihn daran hindern, sein Leben bewusst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Wir können durch den rechten Umgang mit den Mythen die Schwierigkeiten überwinden, die uns hindern, erfüllt und sinnvoll zu leben. Wir tun deshalb gut daran, uns ihre gewaltige Kraft und Lebendigkeit anzueignen, um unser Fühlen, Denken und Handeln in der rechten Weise zu formen. Wir beginnen damit, wenn wir die Frage zulassen:  Von welchem Mythos wird mein Leben bestimmt? Hier können uns die Träume ein großes Stück weiterhelfen. Wer regelmäßig seine Träume aufschreibt, wird die häufige Wiederkehr bestimmter Traumbilder erkennen. Zum Beispiel träumte ein Mann über Jahre hinweg von Szenen des Ausgesetzt Seins. Er sitzt beim Fliegen nicht in der Kabine des Flugzeugs, sondern außen auf dem Rumpf. In seinen Träumen kommen ständig Obdachlose vor, die auf der Straße übernachten. Es ergibt sich eine Ähnlichkeit mit den Irrfahrten des Odysseus, der seine Heimat nicht erreichen kann. Hier wie dort geht es um die Sehnsucht, endlich daheim zu sein, um Ankommen, um Dabeisein, um Überwindung des Ausgeschlossenseins. In der Gestalt des Odysseus können sich deshalb Menschen wiederfinden, die bewusst um eine innere Entwicklung ringen, die Auswege aus den Verstrickungen, Engpässen und Sackgassen suchen und die ihr Leben als Wandlungsprozess begreifen.

Wer gut mit seinem mythischen Bereich - darunter fallen Träume, Märchen, Symbole, Fantasie und „unglaubliche Geschichten" - umgehen kann, wird das eigene Leben in größeren Zusammenhängen sehen und eine Führung von innen erkennen.

Die Heimat der Seele

Mythen wollen in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht äußere Fakten beschreiben wie etwa den Wechsel von Tag und Nacht, sondern das seelische Geschehen, welches damit verbunden ist.

Ein Beispiel dafür: Um die Wiederkehr der Sonne am Morgen im Osten nach dem Untergang am Abend im Westen zu erklären, hat sich der Mythos von der Nachtmeerfahrt des Sonnenhelden gebildet. Dieser fährt entweder in einem Schiff oder im Bauche eines Walfisches oder eines anderen Seeungeheuers, von dem er verschlungen wurde, während der Nacht auf dem Meer nach Osten, um dort in neuer Pracht wieder aufzugehen. Jedoch ist dieser Mythos mehr als eine äußere, plausible Erklärung eines sonst unverständlichen Naturphänomens. In einem tieferen Sinn meint er die Wandlung des Bewusstseins, das am Abend beim Einschlafen absinkt und dann am Morgen erneuert und gestärkt wieder erwacht. Das Wissen um sich selbst ist der Sonne vergleichbar; es ist das Licht, das unser Dasein erhellt. Das Meer dagegen gilt als Symbol des dunklen, unbewussten Teils unserer Seele, in dem während des Schlafes unser Bewusstsein mit Klarheit und neuer Kraft ausgestattet wird.

Solange die Naturvorgänge wie Sommer und Winter, der Wechsel des Mondes, Trocken- und Regenzeiten beseelt und als Spiegelung des eigenen Wesens gedacht waren, fühlten sich die Menschen in dieser Welt zuhause. Der Zugang zur eigenen Seele, d. h. zum Bereich jenseits der Vernunft, ist deshalb der Schlüssel, wenn wir uns selbst, die mythische Welt der Bibel und unsere Zeit verstehen wollen. Es sei noch einmal Jung zitiert:

Mythen sind ursprünglich Offenbarungen der vorbewussten Seele, unwillkürliche Aussagen über unbewusstes seelisches Geschehen." (8) In ihnen wirken autonome Gestaltungskräfte, die den Menschen von innen her leiten, sogenannte Archetypen. Es herrscht sogar ein tiefes Bedürfnis nach mythischen Anschauungen, weil sie den Kontakt zum seelischen Hintergrund herstellen. Deshalb haben Mythen eine vitale Bedeutung. „Sie stellen nicht nur dar, sondern sind auch das seelische Leben des primitiven Stammes, der sofort zerfällt und untergeht, wenn er sein mythisches Ahnengut verliert, wie ein Mensch, der seine Seele verloren hat". (9) Die Religion ist die Mythologie des Stammes. Ihr Verlust führt immer zu einer moralischen Katastrophe. Es sei an die Indianer erinnert, die ihre Wurzeln verloren haben und zum großen Teil dem Alkohol verfallen sind. Einer der Gründe ist eine ihnen aufgezwungene Schulbildung im westlichen Stil, wodurch sie den Kontakt zur Tradition ihrer Ahnen aufgeben mussten.

  Aber auch der weiße Mann hat seine Verbindung zum Ursprung größtenteils verloren. Zeichen dafür ist die Flucht in Drogen und andere Suchtmittel. Das wieder erwachte Interesse für Mythen gilt mehr den Religionen des Ostens und der Naturvölker, während der Sinn für die Werte der bodenständigen, christlichen Tradition immer mehr schwindet. Die Entwurzelung des modernen Menschen darf nicht unterschätzt werden. Sie ist eine Ursache großer Übel.

Die Esoterik ist der Versuch, verlorene Bereiche wieder zu finden - allerdings mit der Gefahr, Errungenschaften der europäischen Geistesentwicklung aufzugeben. Den wenigsten, die sich auf esoterische Praktiken einlassen, ist die in unserem Kulturkreis anstehende Herausforderung bewusst.,

Sie besteht darin, ein neuer Mensch zu werden, der den Kontakt mit dem seelischen Bereich gefunden hat und dabei seinen Verstand nicht geopfert hat.

Ein sehr überzeugendes Beispiel eines noch lebendigen alt-indianischen Mythos fand Jung auf seiner Reise durch Neu-Mexiko bei den Pueblo Indianern. Ihm fiel auf, dass einige Männer den ganzen Tag unbewegt auf dem Dach ihres Hauses standen. Im Gespräch mit dem Häuptling erfuhr er,

sie würden damit der Sonne helfen, über den Himmel zu gehen. Sie würden es nicht nur für sich, sondern auch für die Weißen tun, ja für die ganze Welt!  Das verleiht ihnen - so konnte Jung feststellen - eine unvergleichliche Würde und tiefsten Sinn.

Man kann über diese Naivität lächeln, wenn man ausschließlich den Aspekt der Naturwissenschaft gelten lässt. Aber gar mancher ausgebrannte, krisengeschüttelte Großstädter wäre froh, etwas von der Sinnerfülltheit dieses Pueblo-Häuptlings in sich zu tragen.

Wir sollten gut unterscheiden zwischen dem vorwissenschaftlichen Weltbild und der existentiellen Bedeutsamkeit einer mythologischen Erzählung oder Handlung. Obwohl wir den Zusammenhang vom Stehen auf dem Dach und der Bewegung der Sonne als irreal, sogar als absurd ablehnen, bleibt die psychologische Tatsache der Sinn-Fülle bestehen. Jeder Mythos hat seine Wahrheit und seine Wirkung. Es handelt sich um Bilder, welche die Seele in Schwingung versetzen.

Denken wir an den heiligen Franziskus und seinen Sonnengesang. Da ist etwas zu spüren von der Freude und Dankbarkeit für das Licht, das sie spendet. Bei genauerer Betrachtung ist die Sonne, die „schön und herrlich ist in ihrem Glanz", in ihm selbst. In ihm leuchtet etwas vom Licht Gottes auf. Die Bezeichnung „Schwester Sonne" ist mythologisch; die Sonne bekommt eine Seele. Diese Ausdrucksweise ist durch keine äußeren Fakten gerechtfertigt, aber sie geht uns nahe; es wird eine Brücke zu einem Mann geschlagen, der 700 Jahre vor uns gelebt hat. Die naturwissenschaftliche Informationen, dass die Sonne der uns nächste Fixstern, dass sie der Mittelpunkt des Planetensystems ist, dass sie in 25 Tagen einmal um die eigene Achse, in 220 Millionen Jahren einmal um den Kern des Milchstraßensystems kreist, mögen interessante Daten sein, aber sie lassen uns im Grunde unserer Seele kalt trotz der 5700 Grad Celsius an der Oberfläche und der 10 Millionen Grad im Innern der Sonne.

Mythen sollten wir deshalb immer als Aussagen betrachten, die unser Herz berühren, allerdings auf dem Hintergrund eines vorwissenschaftlichen beseelten Weltbildes. So war für die Menschen des Altertums und des Mittelalters das, was wir heute Weltraum nennen, der Ort, wo Gott auf seinem Thron sitzt, der „Himmel". Es ist nur konsequent, dass man sich die endgültige Heimkehr Jesu zu Gott als ein äußeres Emporgehobenwerden, als ein Aufsteigen, als eine „Himmelfahrt" bildhaft ausmalte. Bei aller Wissenschaftlichkeit sollten wir uns über die Menschen früherer Epochen nicht allzu erhaben dünken. In der Alltagssprache sind wir immer noch dem alten Weltbild verhaftet, wenn wir sagen: „Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, die Sonne scheint!" Eigentlich müsste es heißen: „Die Erde hat sich um 180° gedreht"; oder: „Es dringen Lichtstrahlen zu uns". Die Sonne als solche tut gar nichts.

Wir lassen uns aber unsere Art, so über Tag und Nacht zu reden, deshalb nicht nehmen, weil sie ein Ausdruck der Seele ist und uns den farblosen Alltag etwas bunter macht.

Ebenso wenig sollten wir das Bild von der Himmelfahrt Christi aufgeben. Im Bericht des Lukas heißt es: „Er wurde zum Himmel emporgehoben" (Lk 24, 51). Wir würden aber etwas unterschlagen, würden wir diese mythenhafte Vorstellung nur mit dem Satz übersetzen: Jesus ist in Gott eingegangen. Das Tagesgebet zu diesem Fest liefert einen wichtigen Hinweis zum Verständnis. Es heißt:" In der Himmelfahrt deines Sohnes hast du den Menschen erhöht." Es geht um die Würde und die Größe des Menschen, die in Jesus schon Wirklichkeit wurde und jedem verliehen wird, der sich ihm anschließt. Es ist das Emporgehobenwerden zu einem Zustand, der über allem ist, was Menschen quält, ängstigt, entzweit, entwürdig, erschreckt und erstarren lässt; es ist die endgültige Überwindung der Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren, fallen gelassen oder erniedrigt zu werden.

Der mühsame Weg nach Hause

 

Allerdings liegt ein solches Erlebnis für die meisten in weiter Ferne. Sie fühlen sich eher geschüttelt und gebeutelt von Empfindungen, die Enttäuschung, Trennung, Verlassenheit oder Heimweh heißen. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen Gott als die Erfüllung ihres Lebens spüren aber zugleich von einem tiefen Schmerz getroffen sind. Sie fühlen sich wie abgeschnitten und eingesperrt, wie von einer höheren Macht daran gehindert, den Weg weiterzugehen. Offensichtlich können wir  nicht so leicht über uns selbst verfügen, wenn es um Fragen von Gelingen und Misslingen unseres Daseins geht. Mit Recht haben die Naturvölker diese Situationen in Symbolgeschichten, in denen sich der einzelne mit seinem Schicksal aufgehoben und versöhnt fühlte, zum Ausdruck gebracht.

Die bekannteste Erzählung von Heimweh und Heimkehr ist die von den Irrfahrten des Odysseus. Sie hat wie kaum eine andere die Gemüter der Menschen über Jahrhunderte bewegt. Odysseus, der König der Insel Ithaka, gehört zu jenen Griechen, die nach einem zehnjährigen Krieg Troja erobert hatten. Von dort bricht er mit seinen 12 Gefährten auf, um in seine Heimat zurückzukehren. Doch die Fahrt wird zu einem tragischen Abenteuer. Er selbst kann zwar den Gefahren, dem einäugigen Riesen Polyphem,  den verschlingenden Ungeheuern Skylla und Charybdis, den verlockenden Sirenen, dem Meer und seinen Stürmen entkommen, verliert aber auf grausame Weise seine Begleiter und sein Schiff; er wird von einer Insel zur anderen verschlagen, bis er schließlich völlig mittellos und nackt  bei den Phäaken landet. Erst nach 10 Jahren Meerfahrt, insgesamt nach 20 Jahren, seitdem er fortzog, kann er wieder sein Land betreten.

Dazwischen liegen unzählige Mühen, Leiden, Bedrohungen, aber auch die häufige Versuchung, sein fernes Ziel, die Heimat zu vergessen. So geschah es bei den Lotophagen, den Lotosessern, und bei der Zauberin Kirke.

Die schwierigste Aufgabe für den Helden des Trojanischen Krieges ist seine Hadesfahrt. Er muss zum Ort der Verstorbenen, in das Reich der Väter, in die Unterwelt hinabsteigen, um Antwort auf seine Fragen zu bekommen. Ihm wird nicht nur gesagt, dass er heimkehren wird, er wird auch über vieles belehrt, was das Leben und den Tod sinnvoll macht. Er erhält Einblick in das Leben seines Volkes.

Als er schließlich in seiner Heimat ankommt, ist er für die meisten ein Fremder selbst für seine Gattin, seinen Vater und seinen Sohn. Absichtlich spielt er seine Rolle als Bettler zu Ende und hält sein Wesen und seine Kraft verborgen, bis der Augenblick da ist, bei dem er sich als der wahre Herrscher zeigt und die Freier tötet. Endgültig daheim ist er aber erst, als er von seiner Frau Penelope als ihr Gatte erkannt wird. Sie hatte ihn mit dem Ehebett auf die Probe gestellt; er sollte es vor die Kammer tragen. Aber nur er konnte wissen, dass es unverrückbar ist, weil um das gemeinsame Lager das ganze Haus gebaut ist.

Das eheliche Bett ist der Ort des Einswerdens, der intimsten Gemeinsamkeiten, des Ausruhens in Einheit und Geborgenheit. Deshalb ist das Wissen um dessen Beschaffenheit gleichbedeutend mit dem Wissen um die gemeinsame Liebe als dem tragenden Grund des Lebens zweier Menschen.

Heimkehr ist freudiges und schmerzliches Geschehen zugleich.  Es sei erinnert an Szenen des Wiedersehens von Russlandheimkehrern mit ihren Angehörigen im Durchgangslager Friedland. Man sah in Tränen aufgelöste, wie vom Schmerz gezeichnete Gesichter. In solchen Momenten verlieren Menschen ihre Fassung. Es ist, als ob eine ganz andere Macht über sie Gewalt gewinnen würde. Mit Recht sprechen wir von angestauten Emotionen, die in solchen Augenblicken durchbrechen. Es sind die Erschütterungen, die Menschen noch einmal mit dem Erlebten, mit dem durchgestandenen Leid, der Todesangst in Bombennächten und in Schützengräben, der Verzweiflung, der Einsamkeit und der Ausweglosigkeit in Kontakt bringen. Man könnte sagen, dass der gesamte, sonst ruhende und sogar abgetrennte seelische Hintergrund wachgerufen und somit das Erlebnis der inneren Einheit und Ganzheit möglich wird. Darin liegt der aufwühlende und beglückende Charakter des Wiedersehens nach durchlittener Trennung. Die neugewonnene Erfahrung des Einsseins mit dem Menschen, der einem am meisten bedeutet, mit der vertrauten Umgebung und mit sich selbst macht im Grunde das aus, was wir als Heimkehr bezeichnen.

Das Drama der Seele

 

Die Erzählung von Odysseus ist voller Dramatik. Man findet eine Fülle von immer wieder neuen, ungewohnten Szenen und Figuren. Man weiß nie, wie es ausgehrt, zu welcher List Odysseus greift, was ihn dann anschließend erwartet, auf welche Weise sich sein Geschick zum Guten wendet. Seine Heimkehr ist im wörtlichen Sinn ein Drama, ein aufregendes Geschehen mit tiefem Ernst.

Ursprünglich war „Drama" der Name für die Handlung im griechischen Theater. Wenn Zuschauer innerlich bewegt, erschüttert, unter Tränen den Ort der Darstellung verließen, hatte es sein Ziel erreicht. Man kann sagen: Ein Drama ist ein Prozess, in dem sich Menschen unterschiedlichster Art begegnen, wo sich unlösbar scheinende Verwicklungen abspielen, wo unvorhergesehene Ereignisse bei Handelnden und Zuschauern stärkste Affekte auslösen, sie betroffen machen, nachdenklich oder auch zufrieden stimmen. Man spricht deshalb von Eröffnung, Verwicklung, Verdichtung, Peripetie (Wendepunkt) und Lysis (Ergebnis) als den Bestandteilen des Dramas. Jedes Theaterstück und jede spannende Geschichte ist nach der Gesetzmäßigkeit des Dramas aufgebaut. Ähnlich dürfen wir auch die Vorgänge in unserer Seele oder besser gesagt in unserer Persönlichkeit betrachten. Es ist ein Entwicklungsweg, der dramatisch verläuft. Wir sind den gegensätzlichsten Strömungen in uns selbst ausgesetzt. Manchmal drohen sie uns zu zerreißen. Die Figuren und Handlungen in unseren Träumen geben uns unmittelbar und oft recht drastisch die innere Problematik wieder. Wir sind von Einbrechern, Terroristen oder wilden Tieren bedroht oder auch verführerischen Szenen ausgesetzt und meinen, nicht mehr entrinnen zu können. Plötzlich wandelt sich die ganze Szene; es kann z.B. sein, dass ein Leichnam lebendig wird, oder dass wir, statt von Terroristen umgeben, im Kreis der Freunde sitzen. In unserer Seele geschieht etwas ohne unser Zutun und trotzdem sind wir zuinnerst beteiligt. Die verschiedenen Figuren stellen  Impulse, Einstellungen des Zorns, des Hasses, der Liebe und der Sexualität dar und tragen wie auf einer Bühne das Drama unserer Seele aus. Dass dem so ist, sagen uns spätestens unsere Krisen und Konflikte. Wir stehen dabei   vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Wie kommen wir zu einer Einheit und Ausrichtung unserer Gefühle und unseres Denkens? Wie können wir spontane Impulse zulassen und dadurch Lebenslust und Lebensfreude finden, ohne unsere Verantwortung und unsere Verpflichtungen aufzugeben und ohne die Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion, zu Differenzierung und Unterscheidung zu verlieren? Wie gelingt Nähe, ohne die Freiheit zu opfern? Wie überwinden wir Zerrissenheit, Verlorenheit, Fremdheit, Einsamkeit, Leere und Öde zugunsten von Einheit und Fülle? Wie gelangen wir von Misstrauen, Hass, Ablehnung und Verschlossenheit zu Liebe und Vertrauen? Wie kommen wir von der Fremde in die Heimat?

Die innere Einheit ist Ergebnis des Erlebens in Bewußtheit, nicht des abstrakten Planens und Machens. Sie ist ein Widerfahrnis, eine Wirkung aus dem Bereich jenseits des Bewusstseins. Wer seine eigene Lebensgeschichte über eine längere Zeit eingehend beobachtet und sich mit ihr auseinandersetzt, wird aufs Ganze gesehen eine sinnvolle Ausrichtung erkennen. Wir dürfen sogar auf eine innere Anlage, auf eine geistige Kraft schließen, die größer und weiser als wir selbst die Geschicke unseres Lebens leitet. Diese Instanz ist gleichbedeutend mit dem transpersonalen Ursprung, dem Seinsgrund, Seelen- oder Weltengrund, Begriffe, die in der Philosophie,  Mythologie und Mystik eine zentrale Rolle spielen und im tiefsten Sinn den verborgenen Gott in uns meinen. Es ist der Punkt im seelischen Haushalt, der über den Affekten und über unserer Vernunft steht, der die Regie unseres seelischen Dramas in Händen hält und das Geschehen zu seinem Ziel führt, im Bild gesprochen: Den Menschen heimkehren lässt.

Unter diesem Aspekt können wir die Irrfahrten des Odysseus als Bild eines Entwicklungsprozesses zu einem höheren Menschsein und zum Geheimnis Gottes betrachten. Im griechischen Mythos ist zwar von Gott als dem letzten Ziel nicht ausdrücklich die Rede, aber in letzter Bedeutung ist die Heimkehr Symbol für das Ankommen im göttlichen Mysterium.

Man denke auch an das Gleichnis vom verlorenen Sohn und dessen Heimkehr ins Vaterhaus (Vgl. Lukas 15, 11-32). In der Geschichte von Odysseus machen Risiken, Irrwege und Umwege die Dramatik der Erzählung aus. Die einzelnen Prüfungen sind verdichtete Darstellungen des seelischen Dramas von allgemeiner Gültigkeit. Es sind Etappen, „Warteschleifen", Knotenpunkte, wo sich neue Wege auftun oder der Weg im Steckenbleiben oder Absturz endet. Schauen wir einige dieser Abenteuer nach ihrem symbolischen Gehalt näher an.

Am bekanntesten ist die Geschichte vom Riesen Polyphem. Odysseus war mit seinen Gefährten in dessen Höhle eingedrungen. Als dieser zwei seiner Gefährten verschlingt und allen anderen dasselbe Schicksal bevorsteht, blendet ihn Odysseus und besiegt dessen Übermacht und Grausamkeit. Der Riese vertritt den primitiven Instinkt, den Mangel an Beziehungsfähigkeit, die pure Rücksichtslosigkeit und brachiale Gewalt. Einäugigkeit meint eine Einseitigkeit der psychischen Einstellung, wie etwa das bloße Leistungsstreben oder die Vorstellung von der Machbarkeit allen Glücks. Wer sich auf den inneren Weg macht, muss als erstes eine solche Haltung überwindenEs fällt auf, dass am Beginn eines Einweihungsweges bzw. einer neuen Lebensweise das zeitweise Blindsein eine Rolle spielt. So geschah es mit Paulus, als er vor Damaskus die Erscheinung des überlichten Lichtes, das heller war als die Sonne (Apg 22, 9 - 11) hatte. Offensichtlich geht es darum, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Zuvor aber muss man die alte Sichtweise ablegen.

Ein anderes Ereignis, das weniger Bedrohung als Versuchung ist, findet bei den Lotophagen statt. Odysseus und seine Begleiter werden eingeladen, von der Lotosblume zu essen. Sie verschafft Glückseligkeit, hat aber die Wirkung, dass sie das Ziel ihrer Fahrt, die Heimat vergessen.Hier ist eindeutig auf eine Gefahr hingewiesen, die auf dem inneren Weg lauert. Gemeint ist ein bedenkenloses Suchen nach Euphorie, die Vorstellung, der Glückszustand könne immer noch mehr bis zu rauschhafter Ekstase gesteigert werden. Es ist die Fehleinschätzung, das Leben dürfe nur aus Harmonie bestehen, man könne allen Widerständen ausweichen. Echter Fortschritt ist aber nur möglich, wenn man sich den Herausforderungen des Lebens stellt.

Eine sehr rätselhafte Figur ist die Zauberin Kirke. Sie lockt Odysseus und seine Männer durch ihre herrliche Stimme an, verwandelt sie dann aber in Schweine und raubt ihnen die Erinnerung an die Heimat. Aber Hermes schützt Odysseus durch ein Heilkraut so, dass dieser die Rückverwandlung seiner Gefährten erzwingen kann. Schweine gelten als Ausdruck einer unpersönlichen, seelenlosen Sexualität. Die Gefährten, verfallen dieser Verlockung; sie verlieren ihre Sehnsucht und damit die Spannkraft des Geistes.Der Aufenthalt bei den Lotophagen und bei der Zauberin Kirke stellt das Steckenbleiben in einer Phase des psychischen Prozesses dar. Es ist, als ob das Drama in einer Nebenszene enden würde. Wenn das Eigentliche nicht durchgehandelt wird, bleibt ein schales Gefühl zurück. Vielleicht hat die Unzufriedenheit und Freudlosigkeit vieler Menschen darin ihre Ursache, dass ein wichtiger Teil ihres Lebens nie zu Ende gebracht wurde, dass man sich der unglücklichen Situation nie gestellt, dass man nie mit Leidenschaft ein Ziel verfolgt, weder sich richtig gefreut, noch richtig gelitten und getrauert hat, dass anstehende Entscheidungen nie getroffen wurden, dass das Leben an einem irgendwie vorbeiging. Die Geschichte von den  Lotosessern und von Kirke soll uns warnen, den Willen zum Neuaufbruch zu verlieren und  die Chance einer neuen Existenz zu verspielen.

Am geheimnisvollsten bleibt der Abstieg des Odysseus in die Unterwelt. Es ist die Begegnung mit den Verstorbenen, mit dem Reich der Schatten, die Hinwendung zur anderen Seite des freudigen und kraftvollen Lebens, zu Krankheit, Alter, Tod und zu den Ahnen. Er erfährt, dass heutiges Denken und gegenwärtige Schicksale in der Vergangenheit ihren Ursprung haben.Das Hinabsteigen in die Unterwelt entspricht im modernen psychologischen Sprachgebrauch der Auseinandersetzung mit dem unbekannten Teil der Seele, dem sogenannten Unbewussten. Wer darin verwickelt ist, den erleben wir als nach innen gekehrt und sehr verletzbar gegenüber Einflüssen und Reizen von außen. Wer die Chance nützt, ist sehr hellhörig für das, was in ihm vorgeht. Träume in dieser Zeit handeln von unterirdischen Gängen, von Kellergewölben  oder U-Bahn-Schächten,  wo man auf dunkle Gestalten oder sogar Leichen stößt.  Die Seele lenkt alle Aufmerksamkeit in die Tiefe, damit Licht dorthin kommt und damit wir auch mit den Kräften des Grundes und der Vergangenheit ausgesöhnt und verbunden werden.

Sehr verbreitet und beliebt ist in jüngster Vergangenheit die sogenannte Familienaufstellung nach Bert Hellinger.Die Absicht ist, mit der Herkunftsfamilie noch einmal in lebendigen Austausch zu treten, mit den ungelösten Konflikten und Konstellationen der Eltern, Geschwister und Verwandten. Es ist eine Hinwendung zum eigenen Ursprung mit vielen faszinierenden Einsichten aber auch mit schmerzlicher und befreiender Erschütterung. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte und mit dem Grund der Seele kann man mit Recht als Hadesfahrt der Menschen unserer Zeit bezeichnen.

Hadesfahrt ist Höllenfahrt. Wer darin verwickelt war oder noch ist, wird dem zustimmen. Er ist im innersten Grund so aufgewühlt, als ob der Boden durchgebrochen wäre; als ob er sich in Stockwerken oft sogar hunderte von Metern tiefer als die Erdoberfläche bewegte; als ob er in einen tiefen Brunnen, in die Einsamkeit gestoßen worden sei. Die Menschen, mit denen er lebt, erscheinen wie in weite Ferne gerückt. Selbst ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung erreichen ihn nicht, ebenso wenig interessieren die ganz gewöhnlichen Dinge des Alltags. Die Arbeit ist anstrengend. Was sich auf der Oberfläche der Erde abspielt, das tägliche Miteinander und das große Weltgeschehen scheint seine Bedeutung verloren zu haben. Andererseits besteht eine große Sehnsucht nach Menschen, die einen verstehen und die einem nahe sind.

 Das betörende Lied von sich selbst

 

Eine weitere Gefährdung des inneren Weges stellen die Sirenen dar, an deren Insel Odysseus mit seinen Gefährten vorbeifahren muss. Ihr honigsüßer Gesang hat bisher noch jeden, der ihm ahnungslos folgte, in den Abgrund gestürzt. Odysseus wurde jedoch von Kirke gewarnt. Er verstopft deshalb seinen Begleitern die Ohren mit Wachs. Um selbst die entzückenden Stimmen ohne Schaden hören zu können, lässt er sich an den Mastbaum binden und gibt den anderen den Auftrag, ihn noch mehr zu fesseln, sollte er den Wunsch nach Freilassung äußern.

Die Sirenen wurden von asketischen Lehrern als Verlockungen der Lust gesehen. Für diese Versuchung steht aber eigentlich Kirke, welche Menschen in Schweine verwandeln kann. Die Stimmen, „süß wie Honig", weisen eher in eine Richtung, die etwas zu tun hat mit: „Sich Honig um den Bart schmieren lassen". Der Sirenengesang hat nämlich die Heldentaten des Odysseus zum Inhalt. Er hört sein eigenes Lob und ist in Gefahr, darauf hereinzufallen. Gemeint ist damit ein geistiges Versacken und Versumpfen, das nur mehr um sich selbst kreist, sich selbst bestätigt und bestätigen lässt. „Wie gut, wie edel gesinnt, wie vernünftig sind wir doch, haben wir nicht immer schon Recht gehabt", kann man in manchen (kirchlichen) Kreisen zwar nicht wörtlich aber doch dem Sinne nach hören. Den wenigsten ist bewusst, dass sie damit das Erstarren eines lebendigen Geistes und das Ende ihrer Entwicklung ankündigen. Zeichen derartiger Stagnation ist, wenn gerade die Wachen, Kritischen und Lebendigen eine Gruppe bzw. die Kirche verlassen.

Man kümmert sich nicht mehr darum, was außerhalb der eigenen vier Wände vor sich geht und es kommt einem nicht in den Sinn, sich von fremden geistigen und religiösen Aufbrüchen anregen zu lassen oder andersgerichtete Entwicklungen als Herausforderung anzunehmen.Selbstlob, Selbstbespiegelung, Selbstzufriedenheit und geistiger Stillstand sind eine Haltung, die Jesus den Frommen seiner Zeit vorwirft und die kritische Beobachter heute in der kirchlichen Szene wahrzunehmen glauben. Unser Christentum würde im Hinblick auf die existentielle Not der Menschen unserer Zeit gewiss anders dastehen, es würde den Suchenden Antwort und Heimat bieten, würde man im kirchlichen Binnenraum die neuen spirituellen Ansätze von außerhalb ernster nehmen.

Odysseus kann den Sirenen entkommen, weil er gewarnt ist und weil er gegen das eigene Versagen Vorsorge getroffen hat. Er ist sich der Gefahr, aber auch seiner Schwäche bewusst. Hier ist der Unterschied zu seinen Gefährten, die naiv und ahnungslos, d.h. ihrer selbst unbewusst die Gefahr nicht einzuschätzen wissen und den Sirenen sofort ins Garn gehen würden. Deshalb dürfen sie deren Gesang nicht hören. Was Odysseus die Prüfung bestehen lässt, ist seine Entschlossenheit. Sie wird ausgedrückt im Bild des Gebundenseins an den Mastbaum. Es handelt sich um eine zutiefst liegende Ausrichtung auf ein Ziel, auf einen höchsten Wert, für den man alles andere zu opfern bereit ist; es ist eine Einstellung, welche sich von Äußerlichkeiten und seien sie noch so verlockend, nicht betören lässt. Sie ist Ergebnis von Entscheidungen, die meist sehr schmerzlich nach langem Ringen gefällt wurden und die einen viel gekostet haben. Wichtig ist die Bewusstheit, d.h. dass man geistig wach, hellhörig, vielleicht sogar durch Schaden klug geworden um die verschiedenen Möglichkeiten weiß, sie auch emotional abgewogen hat und nun (wie Odysseus am Mastbaum) zu dem steht, was man als richtig erkannt hat.

Nicht Remythologisierung, sondern kritische Unterscheidung

 

Müssen wir an Mythen glauben? Lautet die gestellte Frage. Bevor wir eine Antwort versuchen, sollten wir uns fragen: An welche Mythen glauben wir schon längst, ohne dass wir darum wissen? Welchen sind wir verfallen und meinen, die Wahrheit und die Freiheit errungen zu haben?

Eines ist sicher: Wir brauchen weder Fiktionen noch Unsinniges für bare Münze zu nehmen. Entscheidend ist die Einsicht:  Mythen sind nicht die Wirklichkeit, aber sie sind deren wirkende Bilder. Wir sollten sie als nach außen verlagerte existentielle Vorgänge begreifen. Der rechte Umgang mit den Mythen kann deshalb nicht eine Remythologisierung, ein Rückfall in den naiven, früheren Zustand des Erkennens, in die Unbewusstheit sein wie bei manchen fundamentalistischen Gruppierungen. Sie  halten immer noch daran fest, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen, dass die Schlange im Paradies zum ersten Menschenpaar gesprochen und dass Gott die Frau aus der Rippe des Adam erschaffen hat. Hier handelt es sich eindeutig um einen Verstoß gegen die Erkenntnis  der Naturwissenschaft von der Entwicklung der Arten in Jahrmillionen. Man erreicht damit zwar innere Geschlossenheit und eine scheinbare Einstimmigkeit. Häufig gehen damit aber Intoleranz, Gruppendruck und Rechthaberei einher. Gerade bei großen „Begeisterungen" einer Gruppe oder einer Massenversammlung ist zu fragen, ob nicht ein Mythos eine allzu große Kraft bekommt und das kritische Denken  des einzelnen beeinträchtigt oder sogar ausschaltet.

            So geschah es im „Dritten Reich" bei der Mehrheit des Volkes. Anfällig dafür ist nicht nur der politische Bereich. Gerade das Religiöse ist in Gefahr, in rauschhafte, euphorische Zustände abzugleiten und Abhängigkeiten und Entmündigung des einzelnen zu verursachen. Wo nicht mehr zwischen Bildern und Wirklichkeit unterschieden wird, bauen sich Wahngebilde auf, die zur Katastrophe führen. Es gibt Sekten, die eigene Mitglieder töten oder kollektiven Selbstmord begehen. Es gibt ebenso den geballten Angriff auf andere. Das letzte Beispiel ist das Ereignis vom 11. September 2001. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass auch einmal das Kreuz, an dem nach christlichem Glauben der Gottessohn für die Versöhnung und Erlösung der Menschen gelitten hat, zum Symbol von Kriegen und schrecklichen Gräueltaten wurde. Die mittelalterliche Kirche glaubte, in den Kreuzzügen, d. h.  in der gewaltsamen Eroberung des Heiligen Landes, den Willen Gottes zu erfüllen.  In Wirklichkeit war man einem Mythos zum Opfer gefallen. An keinem anderen Beispiel wird deutlicher, wie sich religiöse Motive ohne kritischen Verstand in das Gegenteil  des ursprünglich Gemeinten verkehren können.

Aufgrund dieser und ähnlicher Verirrungen und Fehlentwicklungen ist man gegenüber allem, was mit Mythen, mit irrationalen Kräften und Vorstellungen zu tun hat, auch im theologischen Bereich äußerst skeptisch geworden. Aufklärung ist berechtigt, aber sie darf nicht so weit gehen alles, was mit dem Bereich Mythos zu tun hat, für ein reines Nichts zu erklären. Das ist dasselbe, als wenn man die seelischen Realitäten wie Liebe und Hass, Angst und Mutlosigkeit, Freude und Zuversicht für bloße Einbildung hielte. Hier ist ein Grund  vieler Zerwürfnisse,  nicht gelingenden Zusammenlebens und der  Stagnation in der Kirche. Eine Ausdrucksweise, welche einzig auf genaue Abgrenzung und hohe Abstraktion Wert legt und menschliches Leben „entmythologisiert" beschreibt, unterschlägt den Erlebnishintergrund, die emotionalen Unterschwingungen einer Rede. Sie erreicht nur den Intellekt, bewegt aber nichts in den Herzen der Hörer und Leser. Mythen dagegen sprechen zur Seele. Sie sind unerlässlich, um den Hunger nach Gefühl, nach Buntheit des Lebens und nach Sinn zu stillen.

Wenn mythische Vorstellungen in der Esoterik, in den Medien und in der Werbung erscheinen, heißt das doch, dass sie nicht tot sind und eine versteckte Macht ausüben. Das geforderte kritische Nachdenken über uns selbst kann uns die Frage lösen, von welchen irrationalen Voraussetzungen unser Denken und Handeln  beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt wird. Dies kommt dem Postulat der Aufklärung nach Rationalität, nach Bewusstwerdung und Durchschaubarkeit wesentlich näher als das Pochen auf die reine Wissenschaftlichkeit. Gerade die Mythen, die uns ansprechen sind wie unsere Träume eine wichtige Spur, um uns mit den dunklen Seiten unserer Persönlichkeit, mit unseren Ängsten, unseren Sympathien und Antipathien, unseren Feindbildern, mit Krisen, Trauer, Leid, Sterben zu konfrontieren und die verborgenen Funken der Hoffnung, des Neuanfangs und des Überlebens zu entdecken.

Weil diese Auseinandersetzung zu wenig oder gar nicht stattfindet und der existentielle Wert der Bilder nicht erkannt, nicht lebendig und überzeugend dargestellt wird, haben sie ihren eigentlichen Ort, den der Religion, verloren. Deshalb lesen wir heute eher in esoterischen Zeitschriften etwas über Engel, Jenseits, Himmel und Hölle statt in der theologischen Literatur. Es ist wie mit dem Bildersturm, der vor dreißig Jahren bei der Renovierung von Kirchen ausgebrochen war. Weil man mit Darstellungen und Figuren aus bestimmten Stilepochen nichts anzufangen wusste, muß man sie heute im Museum oder auf dem Dachboden suchen. Inzwischen dringt die Einsicht durch, dass die Gläubigen unter der absoluten Leere und Kälte der Kirchenräume leiden und vieles, was man früher als wertlos beiseite schob, holt man  zurück. Will man die mythischen Bilder aus dem Umfeld des Esoterischen bzw. des Profanen wieder in den christlichen Raum stellen, dann geht es nicht - um es noch einmal zu sagen - um eine Rückkehr in den vorrationalen Zustand der Geistesgeschichte, noch um eine „Weg"- Erklärung eines menschlich bedeutenden Tatbestandes, sondern um die Wiederentdeckung einer Erfahrung, ihrer Ausstrahlung und ihres erlösenden und beglückenden Charakters.

Es gibt einen Umgang mit Mythen, der zur Erlösung führt und einen, der in der Unerlöstheit, in der Angst, Abwehr, Isolation und Verzweiflung stecken bleibt.

Wir aber sollten bei den biblischen Erzählungen, die religionspsychologisch Mythen genannt werden, nach dem erlösten und heiligen Erlebnisraum des Erzählers suchen. Dies geschieht nicht, wenn wir sie analysierend von uns fernhalten, sondern nur, wenn wir uns wach und kritisch ihrer heilenden und heiligenden Wirkung aussetzen.

Um auf die geistige Not eine überzeugende Antwort zu finden, brauchen wir die Kraft der biblischen Mythen. Gegen die Orientierungslosigkeit unserer Zeit, wo man nicht mehr weiß woher und wohin, ist es hilfreich, die Bilder des Anfangs und der Vollendung wach zu rufen. Dies ist nicht zu denken, ohne dass wir uns auf einen durchgreifenden Wandlungsprozess einlassen.

III. Mythen: die Seelenlandschaft der Bibel

 

Das Geheimnis des Anfangs

 

„Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben. Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren" (Gen 3, 1-7).

Während die altgriechische Mythologie das Verstoßensein in die Fremde in den Irrfahrten des Odysseus darstellt, hat die Bibel dieselbe Problematik im Mythos vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies ausgedrückt. Im christlichen Raum spricht man von der Erbsünde als Grundbefindlichkeit des unerlösten Menschen. Die Geschichte von Adam und Eva galt bis in unsere Zeit als historische Tatsache. Aufgrund der Forschungsergebnisse über die Entstehung der menschlichen Art wird die Erzählung jedoch inzwischen als Symbolgeschichte verstanden, als Mythos, der Aussagen über die menschliche Existenz als solche machen will und dazu konkrete Bilder verwendet.

Am Beginn steht die Schlange, die „schlauer ist als alle Tiere des Feldes", die sprechen kann und das ganze Drama in Bewegung setzt. Wir werden an Fabeln und Märchen erinnert, wo Tiere eine wichtige Rolle spielen und sehr häufig die entscheidende Wende herbeiführen. So ist es der Fuchs im Märchen vom „Goldenen Vogel", der dem Königsohn immer wieder aus seiner Verlegenheit hilft. Die Schlange, ein auch in Träumen häufig erscheinendes Symbol, stellt einen neuen Lebensimpuls dar, der zunächst Angst macht, aber eine wichtige Entwicklung im Leben eines Menschen einleitet.

In der Paradiesgeschichte ist es ebenfalls die Schlange, die eine Wandlung des Ganzen in Gang bringt. Auf ihren Rat essen die Menschen vom Baum der Erkenntnis. Die bildhafte Ausdrucksweise meint das Erwachen des Geistes - so die psychologische Interpretation. Der Mensch tritt aus dem Zustand der Unbewusstheit, der „paradiesischen Unschuld", heraus und beginnt, die Welt und die Menschen um sich mit anderen Augen wahrzunehmen. Was ihm früher vertraut war, erlebt er jetzt als fremd; er lernt, die Dinge kritisch zu sehen und zu beurteilen, nachdem er Abstand vom Bisherigen gewonnen hat. Es ist ein Erwachen zum eigenständigen Denken und zur eigenen Individualität.

Die Frage ist, was daran so schlimm sein soll, dass Gott den Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis mit der höchsten Strafe bedroht. Es ist nicht anzunehmen, dass Gott dem Menschen das Denken verbietet, nachdem er ihm schon die Vernunft gegeben hat. Nicht deren Gebrauch als solcher ist gefährlich, sondern das „Sein wie Gott", die Aufblähung des Bewusstseins. Die Einheit mit Gott, mit der Schöpfung und mit sich selbst steht auf dem Spiel.

In unserer Zeit, in der rationales Erkennen als allein gültig erklärt wurde, wird der Verlust einer bergenden, seelischen Heimat besonders schmerzlich bewusst. Im Zeitalter der Moderne bedeutet Erwachsenwerden den Eintritt in die Leere. Wer seiner Kindheit entwächst, legt nicht nur die Gewohnheiten des Kindes ab, nicht nur das Stofftier und das Spielzeug, sondern auch das geheime, mythologische Weltverständnis, wo die Dinge um uns noch eine Seele haben. Das Elend beginnt damit, dass wir die besondere Beziehung zum Hund, zu einem alten Baum, zur Wiese hinter dem Haus, zu den Großeltern oder zum Briefträger verlieren. Als wir in den Kindergarten gingen, da gab es noch eine ganz private Kosmologie, eine Sicht der Welt um uns, wo alles vertraut und lebendig, wo die Seele daheim war. Dazu gehörte - sicher nicht bei allen - auch die Kirche, der Schutzengel, Himmel und Hölle, das Paradies, die Weihnachtskrippe, das Christkind, das Licht der Osternacht. Wer erwachsen wird oder zumindest es glaubt zu sein, für den/die ist diese Seite wie ein Bild auf dem PC ausgelöscht. Das Religiöse ist plötzlich zur bedeutungslosen Nebensache geworden. Bindungen zur Kirche werden, weil sie unverständlich geworden sind, leichten Herzens durchschnitten. Es ist bei jungen Leuten Mode geworden, aus der Kirche auszutreten. Man experimentiert mit neuen Lebensformen und mit neuen religiösen Ansätzen, bis man eines Tages feststellen muss, dass man allein dasteht und dass man von dem, was die moderne technologische Gesellschaft bietet, nicht leben kann. Für viele ist es so, als ob ihnen die Öde und Langeweile aus allen 30 Fernsehprogrammen, aus allen Lichtreklamen, aus jeder Pressemitteilung entgegenspringen würde.

Es ist die eigene Leere, das Verstummen einer inneren Schwingung, das Vertrocknetsein der seelischen Quellen, das hinter einer nicht recht greifbaren Einsamkeit steht.

Man hofft, sie bei einem neuen Lebenspartner zu überwinden und überfordert ihn völlig; denn es handelt sich um eine Beziehungslosigkeit, die tiefer und umfassender ist, als dass der andere sie beheben könnte.

In der Paradiesgeschichte schämen sich Mann und Frau voreinander, weil sie nackt sind. Damit soll gesagt sein: Die seelische Einheit ist zerbrochen. Jeder muss seine Individualität, sein Personsein, seine Würde vor dem anderen schützen. Im Grunde seiner Seele fühlt man sich vom anderen bedroht. Der andere ist einem fremd geworden. Es ist ein Schicksal, unter dem heute so viele leiden. Es gibt Entwicklungen, die man als Erwachen zum je Eigenen bezeichnen kann, die aber Entfremdung vom anderen miteinschließen. Man will die Freiheit und erntet die Einsamkeit. Die Frage, die so viele umtreibt, lautet: Gibt es ein beglückendes Einswerden ohne das Ureigenste aufgeben zu müssen?

Bei genauer Betrachtung darf man den Schluss ziehen, dass die Enttäuschungen im Bereich der Gefühle mit einer geistigen Einseitigkeit nämlich der Überbetonung des Intellekts zu tun haben. Man lässt sich nicht mehr von einer tieferen Gemütsbewegung ergreifen, stattdessen hält man sich aus jeder letzten Verbindlichkeit heraus und beurteilt alles von außen und von oben herab. Man stellt sich auf einen über Alles erhabenen Standpunkt, einen Ort, wo nur Gott stehen kann. Dieses Denken dürfte dem nahe kommen was in der biblischen Erzählung als „sein wollen wie Gott" bezeichnet wird. Während wir aber Gott erfahren als den, der zugleich ganz unten und jedem Geschöpf nahe ist, ist der von der Hybris des Rationalen besetzte Mensch sich selbst und allen Wesen fremd geworden. Dahinter steht die Verengung und Überheblichkeit, die rationales Erkennen für den einzigen Zugang zur Wirklichkeit hält. Diese Einstellung übersieht, dass es auch eine Erkenntnis über das Eins-Werden, d.h. über Einfühlen und Verstehen gibt.

Es gibt eine wissenschaftliche Forschung, die sogar Erzeugung und Vernichtung von Menschen als ihr gutes Recht ansieht. Weit verbreitet ist ein Skeptizismus und Nihilismus, deren Grundaussage lautet: Nichts ist wahr, nichts ist gültig, nichts ist heilig; Vertreter der Institutionen, welche Werte hochhalten, vor allem die der Kirche, verdienen nichts als Spott und Verachtung! Der Fernsehjournalist Peter Hahne klagt darüber, dass in keinem anderen Land der Welt die eigene Kultur und vor allem die Religion derart verspottet werde wie hierzulande. Letztlich ist es der überschätzte Gebrauch der Vernunft, der als Geist der Aufklärung die öffentliche Meinung seit 200 Jahren bestimmt.

Aufklärung ist berechtigt, wenn sie sich gegen naive Gläubigkeit und falsche Autoritätshörigkeit richtet. Sie überschreitet dann ihre Grenzen, wenn sie die irrationalen Bedürfnisse und das Wesen des Menschen selbst als erklärbar zu verstehen versucht. Es ist der Geist, der in dem Satz von Sigmund Freud „Religion ist nichts als Kindheitsneurose" (10) zum Ausdruck kommt.

Auf dieser Linie liegt Gerd Lüdemann, wenn er als höchste Offenbarung glaubt, verkünden zu müssen: „Allein Aufklärung kann dem überall pulsierenden Leben auf dieser Erde eine bleibende Statt bereiten. Überlassen wir den Himmel denen, die sich nach ihm sehnen: den Engeln, den Spatzen und den Christen" (11). Er übersieht,  dass man mit den Mitteln rationaler Forschung weder einen Menschen, noch weniger eine religiöse Schrift verstehen kann und dass nur Ehrfurcht und Achtung vor der Überzeugung eines jeden menschliches Zusammenleben möglich machen. Gerade die von ihm geforderte Aufklärung hat jenes Sinn-Vakuum geschaffen, das heute für viele, gerade Intellektuelle unerträglich geworden ist. Er nimmt  die innere Not nicht zur Kenntnis, die Menschen in die Fänge von Sekten und Gurus treibt. Es sollte zu denken geben, dass vornehmlich akademisch Gebildete dem völlig irrationalen Konzept des Shree Raijnesh Bhagwan folgten. Vieles spricht dafür, dass diejenige geistige Richtung, die alle Mythen mit Stumpf und Stiel auszurotten versucht, am ehesten in Gefahr ist, dem Irrationalen zu verfallen oder schon verfallen ist.

Die Menschheit hat vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das bedeutet, dass das rationale Durchdringen und Rechenschaft vor der Vernunft zu ihrem Weg geworden sind. Sie kann ihn nicht mehr zurückgehen. Aber er führt zum Untergang, wenn er sich mit der Überheblichkeit des scheinbar Alles - Wissenden und Alles - Könnenden verbindet.

Tatsache ist, dass eine solche Einstellung den Zugang zum Glauben verhindert und eine Theologie, die davon geprägt ist, den Suchenden wenig Hilfe bieten kann. Charlene Spretnak, tätig in der amerikanischen Frauen-, Friedens- und Umweltschutzbewegung, beschreibt in ihrer Lebens- und Leidensgeschichte auch ihr Verhältnis zur katholischen Kirche. Sie litt schrecklich an der spirituellen Leere und hoffte, in der Religion eine Antwort, die dem Mangel der modernen Gesellschaft etwas hätte entgegensetzen können, zu finden und entschloss sich, auf eine kirchennahe Universität zu gehen. Sie immatrikulierte sich als „hoffnungsvolle Pilgerin" an einer von Jesuiten geleiteten Universität. Das Ergebnis war enttäuschend. Sie zahlte ihr Geld, erhielt eine gute Ausbildung und verlor ihren Glauben - an die katholische Kirche im Besonderen und an das Christentum im Allgemeinen. Sie hatte in der kirchlichen Institution nichts gefunden, was ihr spirituelles Vakuum gefüllt hätte.

Der weitere Weg führte sie nach Indien und dort traf sie auf die buddhistische Meditation. Die spirituelle Unterweisung, die sie erhielt, war genau das, was sie brauchte, nämlich eine Erweiterung des menschlichen Erfahrungsbereiches von der existentiellen Leere zur inneren Fülle.

Der verbotene Zugriff

 

„Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Garten Eden die Kerubim auf und das Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten" (Gen 3, 22-24).

Die Geschichte des Paradieses endet mit der Vertreibung der ersten Menschen. Der Baum des Lebens wird sogar unter Bewachung gestellt.

Die Cherubim, die mächtigsten Figuren der anderen Welt, und das Flammenschwert drücken die Wichtigkeit des Verbots aus. Es muss von großer Tragweite sein, wenn der Mensch es wagen sollte, an den Baum des Lebens zu gehen.

Wir denken heute an die heiße Diskussion um künstliche Zeugung, Stammzellen, Klonen und Veränderung des Genoms.  Mit welchen Risiken der Griff nach dem Baum des Lebens verbunden ist, geht aus einer Zeitungsnotiz hervor. In Holland wurde bei einem durch künstliche Zeugung achtzehnfachen Vater eine Erbkrankheit festgestellt. Ganz abgesehen von der medizinischen Katastrophe darf man sich fragen: Welche Gefühle werden in Kindern gegenüber einem Vater aufsteigen, mit dessen Belastung sie leben müssen und von dem sie aus der Zeitung erfuhren? Ob nicht das Flammenschwert für berechtigten, lodernden Zorn auf unbefugte Grenzüberschreitung steht?

Damit ist aber der tiefere Gehalt des Mythos noch nicht ausgeschöpft. Es muß sich um ein Problem handeln, das die Menschen aller Zeit nicht erst die der modernen Forschung angeht. Zu denken ist an den Umgang des Menschen mit der Rückseite seines Daseins, mit Mächten, über die nicht er bestimmt, sondern die ihn bestimmen. Es tut nichts zur Sache, ob man sie Götter, Dämonen, Archetypen, Triebe oder die unbewusste Seele nennt. Hier kann jeder, ganz gleich in welchem Jahrtausend er lebt, tödliche Fehlgriffe tun oder das Richtige für sich wählen. Die Völker der alten Kulturen wussten mehr als wir heute um Kräfte, aus denen wir leben, die uns über uns hinausheben und die uns bedrohen. Einen Hinweis liefern die heute noch praktizierenden Schamanen.

Von ihnen werden Ereignisse berichtet, die unserem wissenschaftlichen Weltbild völlig entgegenstehen z.B. medizinisch nicht erklärbare Heilungen, Elevationen, d.h. über der Erde schweben, sogenannte Bilokationen, nämlich zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten sein. Die Medizinmänner waren es auch, welche Mittel kannten, um vor Gefahren der anderen, unbekannten Seite des menschlichen Daseins zu schützen. Deshalb war der Umgang mit diesen Kräften mit vielen Riten und Tabus umgeben.

An die Stelle des Schamanen sind in unserer Zeit der Arzt und der Psychotherapeut getreten. Sie können nur so erfolgreich sein als sie der menschlichen Natur in ihrer Gesamtheit gerecht werden, als sie die heilenden und schädigenden Kräfte in ihrer Eigenart ernst nehmen.

Für die Lösung unserer persönlichen Probleme sind nicht nur die vitalen Antriebe der Aggressivität und Sexualität von Bedeutung, sondern vornehmlich die Geistesdynamik der unbewussten Seele. Deren tiefere Schichten sind mit hoher Energie aufgeladen, sie sind die Basis des Erlebens und der Gefühle, die Lebensenergie. Sie ist im Bild des Baumes enthalten. Gerade wegen der gewaltigen Dynamik des Unbewussten ist es nicht unproblematisch, mit ihr in Berührung zu kommen; denn sie kann einen auch verschlingen. Bei den Naturvölkern sprach man von Seelenverlust, in der heutigen Psychiatrie heißt dieser Vorgang Psychose. Es ist ein Zustand, in dem ein Mensch nicht mehr weiß, wer er ist. Es ist der Tod des sich selbst bestimmenden Ich. Wegen dieser Gefahr dürfen die Menschen nach biblischer Darstellung nicht an den Baum des Lebens, d.h. sie dürfen mit diesen Kräften nicht in unmittelbaren Kontakt treten. Sie müssen sich vielmehr dieser Erde zuwenden, sie unter großen Mühen bebauen, Städte gründen, für ihre Nachkommen sorgen, lernen recht zu tun und vieles mehr, was sie an den Boden bindet. So geht es aus der Geschichte Kains und Abels, der Söhne Adams und Evas hervor (Vgl. Gen 4, 1-17).

Nach modernem Verständnis bedeutet das: Der Mensch, der zur Eigenständigkeit erwacht, sollte seine Identität zunächst in der Beziehung nach außen festigen. Im Sprachgebrauch der Tiefenpsychologie heißt das: Bevor er sich auf intensivere Erfahrung mit den tieferen Schichten der unbewussten Seele einlässt, sollte er seine Ich-Funktionen entwickeln. Dazu gehört unter anderem der Abschluss einer Berufsausbildung und die Fähigkeit, für eine Familie Verantwortung zu übernehmen. Als Regel gilt: Erst wenn die Entwicklung nach außen abgeschlossen ist, wenn bestimmte Ziele wie die Position im Beruf erreicht sind, ist die andere Seite am Zug. Sie kündigt sich meist durch eine Krise an.

Die große Versuchung heute ist, dass nicht nur junge Menschen um jeden Preis zum Baum des Lebens vordringen, dass sie, ohne die mühsame Bearbeitung der Erde und ohne das langsame Wachsen abzuwarten, ihr Lebensgefühl bis zum letzten steigern wollen. Es ist nicht nur die Droge, die aus einem gesund verlaufenden Lebensprozess herauskatapultiert, es können auch manche Angebote der Selbsterfahrung sein, die noch stärkere Energien und noch intensivere Erlebnisse zu wecken versuchen. Es wird immer dann verkehrt, wenn die dunkle Seite der Teilnehmer, Leid und Trauer übersprungen wird, wenn sie nicht lernen, auch Einsamkeit und Schmerz auszuhalten.

Es gibt nicht nur die Versuchung durch den Baum der Erkenntnis, die des berechnenden, überheblichen Intellekts. Es gibt auch eine Versuchung durch den Baum des Lebens, die des Gefühls. Während das erstere das Leben erstarren und erkalten lässt, bewirkt der unvorbereitete, ungeschützte und unkontrollierte Genuss vom Baum des Lebens die Auflösung der inneren Verfassung. Es ist das Suchtverhalten in jeder möglichen Form, wo Menschen die Fähigkeit verlieren, ihr Leben selbst zu gestalten. Meist ist damit Selbstüberschätzung bis zu Allmachtsgefühlen verbunden. Man kann vom Strom des Lebens überschwemmt werden, auch von Impulsen und Erlebnissen religiöser Art, die man nicht mehr einordnen kann und die einem den Boden unter den Füßen entziehen. Deshalb haben alle alten Kulturen strenge Regeln zum Umgang mit der gewaltigen Energie des Unbewussten entwickelt, weil sie intuitiv um deren Gefährlichkeit wussten.

Cherubim und Flammenschwert haben deshalb an dieser Grenze ihren berechtigten Platz.

 

Die großen Bilder der Zukunft

Vom Paradies vertrieben auf dem Weg zur Stadt Gottes

 

„Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der eine heißt Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es auch Bdelliumharz und Karneolsteine. Der zweite Strom heißt Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der dritte Strom heißt Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat" (Gen 2, 10-14).

„Ich, Johannes, sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem herniedersteigen aus dem Himmel von Gott her, gekleidet wie eine Braut, die geschmückt ist für ihren Mann..." (Offb 21,2)

„Und er entrückte mich im Geiste auf einen großen hohen Berg und zeigte mir die Heilige Stadt Jerusalem, die von Gott aus dem Himmel herniederstieg in der Herrlichkeit Gottes. Ihr Lichtglanz glich einem kostbaren Stein, wie kristallheller Jaspis..."

„Sie hat eine mächtige, hohe Mauer mit zwölf Toren, und auf den Toren zwölf Engel und Namen daraufgeschrieben; dies sind die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. ~ Von Osten her sind es drei Tore, von Norden drei Tore, von Süden drei Tore und vom Westen drei Tore. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine, und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. Und der mit mir sprach, hatte einen goldenen Messstab, um die Stadt, ihre Tore und die Mauer zu messen. Die Stadt ist im Viereck gebaut, ihre Länge so groß wie ihre Breite. Er maß bei der Stadt mit dem Stabe zwölftausend Stadien; ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich „(Offb 21, 10, 16).

„Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Selig, wer sein Gewand wäscht: Er hat Anteil am Baum des Lebens, und er wird durch die Tore in die Stadt eintreten können". (Off 22, 13-14) .

 

Das Paradies steht am Anfang, die Heilige Stadt am Ende der Geschichte. Zwischen beiden Polen vollzieht sich das Drama jedes einzelnen und das der gesamten Menschheit. Beide Bilder haben als Grundriss die Vierheit, das Mandala mit Gold und Edelsteinen als den großen Kostbarkeiten. Es ist in beiden Fällen ein Symbol, das in den Träumen meist in der zweiten Lebenshälfte vorkommt. Es sagt uns, dass da noch ein Schatz zu gewinnen ist trotz Misserfolgen, Scheitern und nachlassender Lebenskraft. Mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis geht die Harmonie des Ursprungs verloren. Der Mensch erwacht zu Eigenständigkeit und Besonderheit. Er wird aus dem Paradies der Geborgenheit und Sorglosigkeit in eine Welt der Gegensätze, der Not, des Kampfes und der Verzweiflung getrieben. Das vielbeklagte Streben nach Besitz, Macht und Genuss kann im letzten als Suche nach etwas, was größer ist als man selbst, nach einer Einheit, wo das kleine Ich aufgehoben ist, gesehen werden. Welche Irrungen einer auch gehen mag, auch sie erweisen sich im Nachhinein als heilsam, wenn die Kostbarkeit des ganzen und zukünftigen Menschen erreicht wird.

Bilder der Erlösung wie das der Heiligen Stadt sagen aus, dass der zukünftige Zustand der Einheit, ausgedrückt in den Symbolen der Vierheit, der kostbaren Steine und des aus sich selbst leuchtenden Lichts, im Grunde der Welt und des eigenen Herzens schon als Keim bereit liegt.

Bei der von Gott gewirkten Erlösung, wie sie bei den großen religiösen Gestalten sichtbar wird, spielt der Intellekt nicht mehr die verhängnisvolle Rolle, indem er nur Gegensätze aufreißt. Der von Gott erfüllte Geist - es ist der Lichtglanz in der Stadt - ist sowohl zu kluger und konsequenter Unterscheidung als auch zu tiefer Verbundenheit fähig. Das Denken, das an die Erfahrung eines Größeren angebunden ist, weiß um seine Grenzen und verfällt nicht der Hybris, alles und jedes aus seiner Sicht zu beurteilen, zu „kritisieren". Dies bringt keine Einschränkung der Freiheit mit sich, genauso wenig wie echte Liebe den Spielraum zweier Menschen einengt. Das Licht Gottes nimmt dem menschlichen Intellekt nicht seine Eigenständigkeit, vielmehr öffnet es ihm den Blick für die Einheit und Verbundenheit mit der Schöpfung und für deren Schönheit.

Es sei erinnert an den Sonnengesang des heiligen Franziskus, der, so lässt sich sagen, den Zustand der Vollendung in seinem außergewöhnlichen Leben vorausnimmt. In der Osternacht wird die Schuld des Adam als glücklich gepriesen, weil die Erlösung durch Christus alles überbietet, selbst das Paradies. Damit ist gemeint: Das Paradies steht für Ganzheit, Ungetrenntsein von Mensch und Gott, von Mensch und Natur aber in Unbewusstheit, in kindlicher Art, in Nichtunterschiedenheit, ohne individuelle Ausprägung. Die „Heilige Stadt" hingegen ist das Symbol für die Entfaltung des Geistes, sowohl in ausgereifter Individualität wie in absoluter Nähe und Harmonie miteinander. Man könnte auch sagen: Wir werden erwachsen sogar noch mehr als das und haben doch die Unbefangenheit, die Leichtigkeit und die Lebensfreude des Kindes.

Bei genauerem Hinschauen lassen sich noch andere Bezüge zwischen dem Paradies und der Heiligen Stadt finden. Fast sieht es so aus, als ob die Bilder vom Beginn und vom Ende der Menschheitsgeschichte absichtlich aufeinander abgestimmt wären. Erwähnt wurde schon, dass beide die Grundstruktur des Mandalas zeigen und somit die Einheit und Harmonie des Anfangs und der Vollendung darstellen. Während das Essen von der Frucht des Baumes Trennung, Einsamkeit und Angst mit sich bringt, steht eine Hochzeit am Ende der Zeiten als Zeichen des Einswerdens von allem, was bisher nicht zusammenging. Es sind die Gegensätze, die jedes Menschenleben belasten und sogar zerreißen. Weder ein starker Wille noch ausgefeilte psychologische Techniken vermögen sie im letzten zu überbrücken. Es sind die ungelösten Probleme des eigenen Lebens und die der großen Menschheit: Die Frage nach dem Sinn des Leids, die ungestillte Sehnsucht nach Nähe und einem ebenbürtigen Gegenüber, die Diskrepanz der hohen Ideale und der gelebten Realität, die Kluft zwischen unbeschreiblichem Luxus und niederdrückendem Elend, der tödliche Hass zwischen Stämmen und Völkern. Im letzten ist es der Gegensatz, der in der Natur des Menschen selbst enthalten ist, die Kluft zwischen Trieb und Geist, zwischen Menschlichem und Göttlichem.

Erlösung durch Gott besagt: Es gibt eine Lösung jenseits menschlicher Vorstellungen. Sie überschreitet den Horizont des herkömmlichen Denkens. Davon klingt etwas an, wenn Jesus diejenigen selig preist, die arm sind, und die zum Jubeln auffordert, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (Vgl. Mt 5, 1,10); oder wenn der heilige Franziskus den Tod als seinen Bruder begrüßt. Weil hier menschliches Begreifen versagt, kann die Heilige Stadt, der Inbegriff der Vollendung, nicht von Menschenhand geplant und gebaut sein, sondern sie kommt vom Himmel auf die Erde, von jener Welt, die uns nicht zugänglich ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Hinblick auf die beiden Symbole ist zu beachten. Wie beim Essen von der Frucht des Paradiesbaumes das Erkennen in seiner tragischen Auswirkung ausgelöst wird, so steht bei der hochzeitlichen Begegnung von Bräutigam und Braut ebenfalls das Erkennen im Mittelpunkt; doch es ist jetzt Verstehen und Einswerden durch das Gefühl statt  Trennung und Entzweiung durch den Intellekt.

Das Gemeinte verdeutlicht am besten die Szene, in der Jesus nach seiner Auferstehung Maria von Magdala bei ihrem Namen ruft. Sie hält die Gestalt zuerst für den Gärtner und dann erkennt sie ihn als den, den sie sucht. Wer seinen Namen hört, achtet auf das Mitschwingen der Untertöne. Sie sind es, die das eigene Herz in Bewegung versetzen und etwas von der Zuwendung, Wertschätzung und Nähe des Gegenüber spüren lassen. Der Name, in Liebe und Achtung ausgesprochen, öffnet das Innere, berührt das ganz Eigene. Mit Recht steht der Name für die Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit und Würde des einzelnen. Nicht von ungefähr spielt deshalb in den Schriften des Neuen Testaments der Name eine so große Rolle. Man könnte sagen, dass Maria von Magdala stellvertretend für alle, die Jesus suchen, beim Namen genannt wird. In der Geheimen Offenbarung verspricht Christus dem, der siegt, einen leuchtenden Stein - einen Edelstein - und mit ihm einen neuen Namen, den niemand kennt als der Empfänger (Vgl. Off 2, 11). Hier tritt noch einmal das Geheimnis der neu-gewordenen Persönlichkeit zutage. Es geht um höchste Entfaltung des einzelnen aber in liebender Verbundenheit mit dem Erlöser und mit allem, was lebt.

In Zusammenhang damit steht auch die Rede von den Gewändern, dem bekleidet- und unbekleidet Sein. Nach dem Sündenfall wird den ersten Menschen schmerzlich bewusst, dass sie nackt sind.  Gemeint ist, wie schon gesagt, dass sie sich selbst, einander, Gott und der Schöpfung fremd geworden sind. Es ist ein Vorgang, der dann eintritt, wenn die Liebe zu erkalten beginnt. Man empfindet sich plötzlich ungeschützt und bloßgestellt, zweifelt an seinem eigenen Wert, fühlt sich der Lächerlichkeit preisgegeben. Man kann sich nicht mehr spontan und arglos äußern. Es ist, als ob man unbekleidet einer unerwartet hereingebrochenen Kälte ausgesetzt sei - ein Zustand, an dem ein großer Teil der Wohlstandsgesellschaft leidet.

Erlösung heißt dann Bekleidung. Wir dürfen dabei an Wärme, Sicherheit und echte Lebensfreude denken, an einen Zustand, in dem man den Ausdruck seiner Identität gefunden hat.

Im Mittelpunkt der großen Verheißungen der Geheimen Offenbarung stehen weiße Kleider, die alle erhalten, welche zum „Lamm" gehören. Weiß trägt man an Festtagen, zur Erstkommunion oder zur Hochzeit, nicht im Alltag. Es drückt etwas aus, das sich von dieser Erde und ihrem Getriebe abhebt; es verweist auf eine geistige Welt, die an den Höhepunkten des Lebens aufscheint.

In den Ursprüngen des Christentums trugen die Neugetauften weiße Kleider, wovon der „Weiße Sonntag" seinen Namen hat. Taufe bedeutete eingetaucht werden in den Erlebnisraum Jesu; es war die Befähigung, seine Worte vom Glück der Armen und Verfolgten, von der Schönheit der Lilien, von der Liebe zu den Feinden entgegen allen natürlichen Empfindungen nachzuvollziehen.  Es ist ein Durchbruch zum Grund der Seele, von dem aus die bisher gültigen Werte auf den Kopf gestellt werden. Das weiße Kleid sollte sagen: Wir sind umhüllt von der Kraft, vom Erleben, vom Denken und Fühlen Christi, der den Urgrund durch seinen Tod erschlossen hat. Dies ist wohl auch der Sinn des geheimnisvollen Wortes vom „Waschen der Gewänder im Blut des Lammes" (Off 22,14).

Der Mythos, der nicht untergeht

 

Der Mythos von der Heiligen Stadt Jerusalem gehört keineswegs der Vergangenheit oder einer imaginären Zukunft an. Wie kaum ein anderes Symbol ist er zutiefst in den Seelen der Juden, Christen und Araber verwurzelt. Ein Beleg dafür sind die zahllosen Kämpfe, Auseinandersetzungen, Opfer, Leiden, Klagen und überhöhten Hoffnungen, die mit dem Namen „Jerusalem" verbunden sind. Die Geschichte dieser Stadt sagt eindeutig, dass bewegende Urbilder, d.h. Mythen stärker sind als äußere Fakten. Sie überlebte grausamste Zerstörungen und ist heute noch ein Ort, mit dem man Heiliges, Kostbarstes, Bedeutendes und leidenschaftlich Umkämpftes verbindet.

Die jüngsten Auseinandersetzungen in Palästina haben sich am Streit um die heiligen Stätten entzündet. Als General Sharon den Bezirk des ehemaligen Tempels betrat, verletzte er die Seelen der frommen Moslems zutiefst. An dieser Stelle, so glauben sie, ist Mohammed auf seinem Pferd in den Himmel geritten und deshalb gehört dieser Ort nur den Gläubigen (Moslems). Der Friede, schon zum Greifen nahe, entschwand durch den provozierenden Akt in weite Ferne.

In den Weltkriegen bekam die Hauptstadt eines Landes beinahe die Bedeutung einer „Heiligen Stadt". Mit deren Einnahme oder Zerstörung glaubte man den Feind am empfindlichsten zu treffen und die Niederlage zu besiegeln. Hitler hatte vor, Moskau, den Sitz des Erzfeindes, voll und ganz dem Erdboden gleich zu machen. Andererseits legten die Westmächte nach ihrem Sieg großen Wert darauf, einen Teil des von den Russen eingenommenen Berlins zu besetzen und nahmen dafür wesentliche strategische Nachteile in Kauf - eine Entscheidung, die sie bald bereuten. Hier hat sich offensichtlich der Mythos gegen die politische Vernunft durchgesetzt. Umso interessanter ist es, den tiefenpsychologischen Wurzeln dieses Phänomens nachzugehen.

Die „Heilige Stadt" als ein Symbol der Ganzheit besagt: es geht  um das Ganze. Das Überleben, die heiligsten Werte, die Zukunft stehen auf dem Spiel. Deshalb ist höchster Einsatz bis zur Hingabe des eigenen Lebens gefordert. Verständlich wird, dass in solchen Momenten die Emotionen hochschlagen, dass ruhiges und kluges Überlegen kaum eine Chance hat. Die arabischen Selbstmordattentäter werden gegen jede Einsicht von ihren Führern mit der Überzeugung immunisiert, nach dem Tod in das Paradies zu gelangen. Nichts macht deutlicher, welche Kräfte die beiden Symbole „Paradies" und „Heilige Stadt" auszulösen vermögen.

Unsere Sicht sagt allerdings: Damit wird man weder der Hl. Schrift der Juden, Christen und wahrscheinlich auch nicht der Moslems, noch dem Willen Gottes, noch dem tiefenpsychologischen Verständnis des Symbols gerecht. Es ist nämlich in Wirklichkeit etwas anderes gemeint als nur leidenschaftlicher Kampf.

 „Stadt" steht für das höhere Bewusstsein, für (rechtliche) Sicherheit, für Bildungsmöglichkeiten, für Weite des Denkens und Dichte des Erlebens durch Austausch, gegenseitige Anregung und gemeinsames Tun, für den Sinn und die Pflege des Schönen, für die Künste, für ein friedliches Zusammenleben.

Die Stadt der Geheimen Offenbarung ist „im Viereck gebaut, ihre Länge ist so groß wie ihre Breite" (Offb 21, 16). Das Symbol der Vierheit meint, wir sollten von allen (vier) Seiten ein Problem betrachten. Nicht nur Gefühle, die für die Realität blind machen können, sondern auch die Verstandesteile, nicht nur nüchterne Tatsachen, sondern auch die Fantasie, welche neue ungewohnte Lösungen findet, sollen zu ihrem Recht kommen.

Im Falle des israelisch - arabischen Konflikts wäre es die Einsicht, dass der Frieden allen zugute kommt, dass die Israelis die Araber genauso brauchen wie die Araber die Israelis und dass jede gewaltsame Handlung, ganz gleich von welcher Seite sie verübt wird, allen Parteien schadet.

Damit Jerusalem nicht ewig Zankapfel bleibt, bräuchte es auf beiden Seiten Menschen, die das große Symbol des Friedens in sich selbst schon verwirklicht haben, die nicht nur die Weitsicht des Politikers haben, sondern auch die emotionale und spirituelle Kraft sich durchzusetzen. Solche Menschen brachte die Geschichte hervor: Mahatma Gandhi, der ohne Blutvergießen den Halbkontinent Indien mit den unterschiedlichsten Völkern zur Unabhängigkeit führte; Klaus von der Flühe, der im ausgehenden Mittelalter die Schweiz, den Bund der Eidgenossen, vor dem Zusammenbruch bewahrte; der heilige Franziskus, der in den zerstrittenen Städten Mittelitaliens eine Atmosphäre des gegenseitigen Verstehens stiftete und der, als sich die feindlichen Heere der Christen und Moslems auf einem Kreuzzug gegenüberlagen, den Mut hatte, um des Friedens willen selbst zum Sultan zu gehen. Es sollten auch nicht jene Männer und Frauen der Fünfziger Jahre vergessen werden, die nach dem blutigsten aller Kriege die Grundlagen für ein neues geeintes Europa schufen. Die Entwicklung der letzten Jahre gab ihnen wie kaum jemals in der Geschichte recht. Der schon verwirklichte Teil dieser großen Vision übte eine so gewaltige Faszination aus, dass die künstlich geschaffenen Zwangssysteme des Ostens zerbrachen und der Wunsch von immer mehr Ländern nach Aufnahme in die Gemeinschaft laut wird.

Hier können wir das friedensstiftende Symbol der Stadt erkennen. In dem schon zusammengewachsenen Kern unseres Kontinents finden die Außenstehenden das, was von jeher Menschen vom Land in die Stadt gezogen hat: eine höhere Organisation des Zusammenlebens, die Grenzen aufhebt, die Schutz und Rechtssicherheit bietet, die bessere Arbeitsbedingungen und Wohlstand schafft und dadurch größere Freiheit garantiert. „Stadtluft macht frei", hieß es einst im Mittelalter, als Leibeigene aus dem Gebiet ihres Grundherren flohen und in der Stadt ihr Leben auf eine neue Basis stellten. Was hier über die Stadt als kulturelle Erscheinung gesagt wurde, soll deutlich machen, welches Gewicht die Stadt als Mythos in den Vorstellungen der Menschheit in sich trägt. Städte wie Troja, Ephesus, Mykene sind untergegangen, ihr Mythos nicht.

„Von der Quelle der Jugend"  zum Wasser ..

 

„Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus" (Offb 22, 1).

Es liegt nahe, hier noch einmal an den Mythos von der „Quelle der Jugend" zu denken. Er schlägt nach wie vor die Menschen in seinen Bann und anscheinend mit zunehmendem Erfolg.

Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 50 Jahren fast um zehn Jahre gesteigert. Man sieht heute wesentlich mehr Menschen in voller Rüstigkeit und Lebendigkeit in einem Alter, wo man Generationen früher krumm, gebeugt und leidend war. Bei allem Fortschritt gibt es jedoch nicht weniger Pflegebedürftige und die Versorgung der Älteren steigert sich in der modernen Gesellschaft zu einem unlösbaren Problem. Offensichtlich kann der Mythos von der „Quelle der Jugend" den Menschen von der Vergänglichkeit doch nicht erlösen.

Im Hinblick auf das Unausweichliche braucht es noch eine andere Quelle als medizinische Forschung und alternative Gesundheitspraxis. Erfahrungen mit Menschen, denen das Schicksal des nahen Todes auferlegt war, sollten uns aufhorchen lassen und können dem Problem von Alter, Krankheit und Tod eine andere Sicht geben. Es gibt Berichte über Sterbende, die durchaus glaubwürdig sind und immer neu bestätigt werden. Der irische Schriftsteller John O' Donohue erzählt in seinem Buch Anam Cara vom Sterben einer jungen Frau:

„Allmählich breitete sich eine unglaubliche Heiterkeit und Ruhe über sie aus. Ihr Entsetzen verwandelte sich in eine Heiterkeit, wie sie ihr in dieser Welt nur selten begegnet war. All ihre Ängste und Befürchtungen waren restlos dahingeschmolzen. Jetzt befand sie sich in absolutem Einklang mit sich selbst und dem Rhythmus ihrer Seele" (12).

Hier ist eine Szene dargestellt, die Personen aus der Hospizbewegung immer wieder so erleben und worin sich mancher wieder findet, wenn er an den Abschied von den eigenen Angehörigen denkt. Beeindruckend ist die Abschiedspredigt eines Priesters, der mit 53 Jahren an Leberkrebs starb. Von der Diagnose bis zu seinem Tod waren es nur vier Wochen. In dieser Zeit verfasste er das Schreiben, das dann während des Trauergottesdienstes verlesen wurde. Die Totenfeier sollten die Anwesenden als Freudenfest begehen. Er ist am Ziel angekommen, geborgen in einer unendlichen Liebe. Man darf sich deshalb mit ihm freuen. Das Gottvertrauen, zu dem er andere so oft aufgerufen hatte, hat in den schwersten Stunden gehalten, auch wenn alles bisherige Bemühen darum nur „Trockenübung" war. Er kann nun seinen Freunden näher sein als jemals zuvor. Er freut sich auf das Wiedersehen (13).

Wir dürfen dazu sagen: Er hat die „Quelle der Jugend" gefunden anders als der englische Oberst, anders als die moderne Medizin und alternative Gesundheitspraxis, eine Quelle jenseits der Vergänglichkeit.

... und zu den Bäumen des Lebens

 

Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker" (Offb 22, 1-3).

In der Vision von der Gottesstadt ist der Baum des Lebens - er erscheint sogar in der Mehrzahl - frei zugänglich. Kein Cherubim, kein Flammenschwert, kein Zaun steht davor, vielmehr erblickt der Seher Bäume auf dem Platz in der Mitte der Stadt, jenseits und diesseits des Stromes. Jeder kann von deren Früchten essen, sogar die Blätter sind wertvoll; sie dienen zur Heilung der Völker. Was in der Erzählung des Anfangs verwehrt wird, ist nun unbeschränkt möglich. Im Unterschied zum Baum der Erkenntnis, dessen Frucht den Tod bringt, wird jeder, der vom Baum des Lebens isst, ewig leben.

Was mit „Bäumen des Lebens" gemeint sein kann, zeigt die Geschichte eines Mannes, dem der französische Dichter Jean Giono begegnet ist. (14)

Im Sommer 1913 machte der Schriftsteller eine Wanderung auf einer Hochfläche in den südlichen französischen Alpen. Die Gegend war rau und unwirtlich. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, nur verdorrtes Gras; die Bachläufe waren ausgetrocknet; die Dörfer waren zum größten Teil verlassen, die Häuser verfallen. Die restlichen Menschen, die noch dort lebten, waren gereizt, kämpften ums bloße Überleben und suchten eine Gelegenheit, die Gegend zu verlassen. Wie die Natur waren auch die Menschen trostlos. Auf der Suche nach einer Wasserstelle traf Jean Giono einen Hirten. Dieser gab ihm zu trinken und lud ihn ein, in seiner Hütte zu übernachten. Da stellte sich heraus, dass der einsame Mann nicht nur Schafe hütete, sondern jeden Tag 100 Eicheln in die Erde grub. In den letzten 3 Jahren hatte er bereits 100 000 Eichen gepflanzt, von denen 20000 durchgekommen waren. Jean Giono war sehr beeindruckt von diesem schweigsamen Menschen, der früher im Tal Bauer war und jetzt unbeirrbar seiner Aufgabe nachging, ohne Dank zu erwarten, nur mit der Überzeugung, dass es richtig sei. Nach dem ersten Weltkrieg kam der Schriftsteller wieder in die Gegend. Von weitem sah er einen grauen Nebel; als er näher kam, sah er, dass es ein Wald war, junge Eichen, über die man nicht mehr schauen konnte. Der Wald erstreckte sich in der Länge auf elf, in der Breite auf drei Kilometer. Er kam wieder mit dem alten Mann ins Gespräch und dieser erzählte ihm, dass er nun auch Buchen heranziehe und .Birken, wo er Wasser vermutete.

Wieder vergingen Jahre. Inzwischen war die Forstverwaltung auf den neuen Wald aufmerksam geworden und glaubte an eine natürliche Regenerierung des Waldes. Im Jahr 1935 war bereits der Wald mehr als 20 Kilometer breit und es zeigten sich schon ansehnliche Stämme. 1945 kam der Schriftsteller wieder in die Gegend. Sie hatte sich verändert. In den Bachbetten floss wieder Wasser, ebenso aus den Brunnen von dem Regen, der wieder regelmäßig fiel. Der Wind, der früher so feindlich pfiff, war ruhig geworden; die Luft angenehm.

In die Dörfer war wieder Leben zurückgekehrt. Die Häuser waren ausgebessert oder wieder aufgebaut, in den Gärten gab es Gemüse und Blumen. Man sah glückliche Menschen. Es lohnte sich wieder, in dieser Gegend zu leben. Insgesamt verdankten 10000 Menschen dem Werk und der selbstlosen Treue eines Mannes ihr Glück; eines Menschen, dessen einzige Freude darin bestand anzupflanzen und zu sehen, dass es wächst. Nach 10 Jahren war der Wald höher als er selbst; nach 20 Jahren hatte sich die Welt um ihn verändert: die Erde, die Luft, der Himmel, die Menschen.

Es ist eine Geschichte von Bäumen und Wasser des Lebens, vom unbeirrbaren Vertrauen und von der Freude, dass Leben hervorbricht größer, umfassender, als dass wir es überschauen können.

Mit den Bäumen wachsen wir selbst und nehmen etwas auf von ihrem Wesen, das über Werden und Vergehen eines Sommers hinausreicht. Jedes Jahr bringt ihnen Zuwachs an Umfang und Höhe. Sie überragen weit ein Menschenleben. Unsere Laubbäume werden gewöhnlich 300 Jahre alt. Es gibt Eichen und Linden, die von Zeiten bis vor 500 oder 700 Jahren erzählen könnten; Ölbäume bringen es auf 2000 Jahre und mehr.

Mit Recht gilt der Baum deshalb als Symbol für das Beständige und Bleibende des Lebens, aber auch für Wandlung und für die Lebenskraft, die größer ist als wir selbst. Ich denke an einen Traum, den ein Mann in der Zeit einer schweren Krise und eines durchgehenden Umbruchs hatte. Er sieht einen mächtigen Baum vor sich. Dieser trägt in seiner Krone eine schwere Baumaschine, wie sie zum Ausheben von Baugruben und Einebnen von Flächen verwendet werden. Der Traum wollte ihm sagen: Die ursprüngliche Lebenskraft - dargestellt durch den Baum - ist stärker als alles, was ihm von außen aufgesetzt wurde und sei dies sogar so stark und schwer wie ein Bulldozer. Dieses Bild - ein Mythos vom Baum - war für den Träumer in seinen Unsicherheiten und Zweifeln Anlass, auf ein inneres Wachstum zu setzen.

Wir dürfen uns einen Baum in uns selbst vorstellen, der sich wie in der Natur draußen immer tiefer verankert, von Jahr zu Jahr seine Krone vergrößert, mehr Licht empfängt und verarbeitet und immer weniger übersehen werden kann. Im Grunde ist er das Symbol für den inneren Menschen oder für die sich entfaltende geistig-spirituelle Persönlichkeit. Sie unterliegt nicht dem Vergehen des Jahreszyklus, sondern legt wie ein Baum die Jahresringe an. Aus dieser Sicht dürfen wir vertrauen, dass heute unlösbar scheinende Konflikte im Laufe der Jahre überwachsen werden, dass uns eine höhere, weitere Sicht der Dinge zuteil wird und mehr Licht in unser Leben einströmt.

Jesus hat sehr gerne Bilder vom Wachsen, von Aussaat und Ernte gebraucht, um zu vermitteln, worum es ihm ging. Er kennt das Leben des Bauern sehr gut, er weiß um die Mühen der Arbeit auf den Feldern, um Erfolg und Misserfolg, vor allem um das selbstverständliche Vertrauen, mit dem ein Mann der Erde das Saatgut übergibt und dann auf das Keimen, Wachsen und Reifen hofft.  Das hat sehr viel Ähnlichkeit mit der Art, wie ein Mensch glaubt und das Wirken Gottes im eigenen Herzen geschehen lässt. Wie der Landwirt darf er sorglos sein; denn von selbst bringt der einmal in die Erde gefallene Samen seine Frucht hervor.

Der Vorgänger Jesu Johannes der Täufer, den Jesus sehr schätzte, greift ebenfalls das Thema des Wachsens auf und sagt zum Verhältnis zwischen ihm und Jesus: „Er (damit meint er Christus) muss wachsen - ich aber abnehmen" (Joh 3, 30).

Den ersten Satz können wir ganz gut zum Baum in uns sagen: Er muss wachsen, das heißt der ganze, zukünftige Mensch, die umfassendere und größere Persönlichkeit. Wir werden an einen eigentätigen Prozess angeschlossen, in dem die Gegensätze ihre spaltende und schmerzende Kraft verlieren und wir ausgeglichener, erfüllter, gelassener, selbstgewisser, gütiger und verständnisvoller werden.

Die Früchte, die uns leben lassen

 

Die Schwelle zum unbekannten Land in uns selbst können wir ohne Schaden überschreiten, wenn wir stärker geworden sind in unserer Ich-Struktur und wenn wir mit der auf uns einstürmenden Dynamik besser umgehen können. Dazu verhelfen uns gerade solche Erfahrungen des Leben, die uns zunächst unerträglich oder absurd erscheinen. Insofern wir durch Leid gewandelt werden, dürfen wir das bewältigte Schicksal als stilles Kapital betrachten, das sich von selbst vermehrt. Es sind die Früchte, die am Baum des Lebens reifen (Offb 22, 2). Alles, was wir angenommen und verarbeitet haben, wirkt aus sich weiter, verleiht unserer Existenz Tiefe und Echtheit und weckt in uns die Sehnsucht nach Neuem und Wesentlichem.

Eine solche Frucht ist es, wenn wir auf die erschreckende Nachricht von einer tödlichen Erkrankung in unserem Bekanntenkreis nicht mit Ausweichen und Panik reagieren, sondern mit dem/der Betroffenen ein Gespräch in Wahrhaftigkeit führen können.

Der Zugang zum Baum des Lebens ist jenen nicht mehr verwehrt, die einen Läuterungsweg gegangen und in den Erlebnisraum des Sinngrunds, des freigesetzten Geistes eingetreten sind. In der Offenbarung des Johannes sind es diejenigen, „die aus der Bedrängnis kommen und die ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht haben" (Offb 7, 14).

Bei allen Aufgeregtheiten und beklagenswerten Zuständen unserer Zeit ist doch zu beobachten, wie viele Menschen mit Ernst und Hingabe nach dem Baum des Lebens suchen.

Nicht wenige nehmen in Form von Meditationskursen, von Exerzitien, einer persönlichen Analyse oder einer weiten Fußwallfahrt ungemeine Mühen auf sich. Sie tun es, weil sie spüren, den Grund der Freude und Hoffnung, die echten und tiefen Gefühle eines sinnerfüllten Daseins neu entdecken zu müssen. Sie suchen den Baum des Lebens nicht aber in Leichtfertigkeit und Vermessenheit sondern in Ernst und Verantwortung. Ohne die Früchte vom Baum des Lebens, d.h. das tiefere geistige Erleben kann der Mensch nicht auskommen. Er braucht etwas, das nicht er macht, sondern das ihn ergreift, das größer ist als er selbst und das Chaos seiner Emotionen. Erst diese Kraft nährt seine Gefühle und verleiht ihnen sinnvolle Ordnung. Nur der letzte geistige Grund kann die Fragen nach dem Woher von Freude und Zuversicht, von Glück, von Liebe, von Sinn beantworten. Nach C. G. Jung, der jahrzehntelang Menschen in Lebenskrisen erfolgreich behandelt hat, „funktionieren" deren Gefühle deshalb nicht mehr, weil sie den Kontakt zur geistigen Sinnquelle verloren haben.

 Sinn ist nicht machbar und niemals Resultat einer intellektuellen Operation, noch weniger Ergebnis der platten Aufklärung. Sinn ist eher das Erleben von Gehaltensein und Getragensein durch ein Umfassendes, dem wir uns absolut anvertrauen können: Je mehr wir die ganz andere Seite als eigentätige Instanz in uns wirken lassen - im verstehenden Gespräch, im Gebet, in der Stille oder im Aushalten des Schmerzes - desto mehr kommen wir an unser wahres Selbst heran. Desto mehr erwacht auch das Ja zum Leben selbst in absurd scheinenden Situationen. Wir essen dann von den Blättern des Lebensbaumes, „die zur Heilung der Menschen dienen" (Offb 22, 2). Wir schöpfen vom Wasser des Lebens und meinen damit Lebenskraft und Lebensfreude. Wir sind an einem Punkt in der Tiefe unseres Herzens, der alle Menschen zugleich anzieht.

IV. Der Traum vom neuen Menschen

 

„Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu". (Offb 21, 5)

Alte und neue Suche

 

Der Traum vom neuen Menschen und von einer neuen Welt ist so alt wie die Menschheit. Jung entdeckte in gnostischen Schriften des Altertums den Mythos vom größeren, zukünftigen Menschen (anthropos). Damals schon hat viele die Frage umgetrieben, ob der Mensch in seinem jetzigen Zustand, in seiner Ohnmacht, in seiner Zerrissenheit, in seiner Vergänglichkeit und in seinem Elend für immer verharren müsse. Es war die Vorstellung verbreitet, man könne sich selbst wandeln und die Gegensätze von Trieb und Geist, von Sterblichkeit und Ewigkeitshoffnung überwinden. Dies erwartete man sich von den Mysterienreligionen, deren Einweihungswege große Verbreitung fanden. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass der Mythos vom neuen Menschen wie kaum ein anderer die Gemüter unserer Zeit ebenso aufwühlt und beherrscht; neuerdings ist es die Diskussion um therapeutisches und reproduktives Klonen, um Stammzellenforschung, um Eingriffe in das Genom, d.h. in die Erbsubstanz Dahinter steht  dier Vorstellung, bessere, fehler- und krankheitsfreie Menschen  erzeugen zu können.

Das Thema des neuen Menschen als faszinierendes Ziel hat als erster in unserer Zeit Friedrich Nietzsche aufgegriffen. Für ihn war es der „Übermensch", der sich „jenseits von Gut und Böse", d.h. unabhängig von bürgerlichen Moralvorstellungen verwirklicht. Auf ihn beriefen sich die Nationalsozialisten, als sie ihren Mythos vom Herrenmenschen in die Tat umsetzten. Ähnlich brutal war auch der Versuch in den sogenannten sozialistischen Staaten, einen neuen Menschen zu schaffen. Beiden Ideologien ist gemeinsam, dass sie den konkreten Einzelnen in seiner Würde und Unantastbarkeit übersahen und vor allem die Meinung vertraten, der Mensch sei von außen machbar und bestimmbar. In jüngster Zeit schwelte der Streit um die Frage: Muss man zuerst die Strukturen, d.h. die äußeren Lebensbedingungen verbessern, damit der Einzelne sich ändern kann, oder soll der Einzelne bei sich beginnen, damit nach und nach auch die Verhältnisse anders werden? Für beide Ansichten gibt es gute Gründe. Es ist berechtigt zu sagen: Solange Menschen in unwürdigsten Verhältnissen leben, ist der Sinn für die Würde des Einzelnen schwer vorstellbar. Nichts ist mehr gefordert als deren Verbesserung mit allen Mitteln anzustreben. Andererseits haben äußere Freiheit, sozialer Aufstieg und Wohlstand allein noch nicht den besseren Menschen hervorgebracht. Das lässt sich mit genügend Beispielen belegen. Missionsschwestern berichten aus Südamerika, dass Kinder aus den ärmsten Vierteln aufgrund ihrer schulischen Bildung zwar höhere Positionen in der Gesellschaft erreichen, aber dann genauso wie alle anderen skrupellos nur ihren Vorteil suchen. Oft tut sich gerade nach dem mühsamen Erringen des materiellen Ziels eine geistige Leere auf und es bricht die große Krise aus. Häufig zeigt sich das in der Geschichte von Ehen. Die gemeinsame Anstrengung z. B. um das zu bauende Haus hatte die beiden eng zusammengehalten; nachdem dies erreicht ist, hat man einander nichts mehr zu sagen und ödet sich an. Der große Bruch mit der Tradition, der sich in den so genannten Achtundsechziger Jahren vollzog, kam in einer Phase wirtschaftlicher Blüte. Es gab so gut wie keine Arbeitslose. Gerade damals schlugen die Ideen um alternative Lebensinhalte und Lebensformen in Bezug auf Arbeitsverhältnisse, Religion, Sexualität, Kleidung, Freizeitgestaltung bis hin zum Essen wie eine Bombe ein. Kein vernünftiger Mensch wird behaupten, die wirtschaftlichen Verhältnisse hätten die neuen Bewegungen hervorgebracht; wohl aber hat sich auf ihrem Höchststand ihr Ungenügen für das menschliche Glück gezeigt. Weil das Alte nicht mehr trägt - so konnte man hören - experimentiert man mit Neuem. Ob nicht eher die Ansprüche gewachsen sind, die früher durch den Überlebenskampf und den Druck der Konvention zurückgehalten wurden? So der Wunsch nach Nähe, nach erfüllter Partnerbeziehung, nach Freiheit und Selbständigkeit, aber auch nach spiritueller Erfahrung und einem letzten Sinn, der alles, auch das Leid und den Tod, umfasst.

Die Fragen, die von innen aufbrechen, lassen sich nicht mehr überhören. Die auswuchernden Angebote esoterischer Selbsterfahrungskurse und Literatur machen es offenkundig. Auch namhafte Psychologen haben sich der Sinnfrage angenommen und sie als Thema des neuen Menschen gesehen. Die humanistische Psychologie, verbunden mit den Namen Carl Rogers, Ruth Cohn, Abraham Maslow, Viktor Frankl, Erich Fromm versuchte eine Antwort auf die Sinnleere der vom bloßen wirtschaftlichen Streben enttäuschten Menschen zu finden. Man kam davon ab, in Kategorien von gesund und krank zu denken, sondern sah im Menschen eine geistige Anlage, die ihn zu einem erfüllten Leben führen will. Im Wesentlichen geht es um einen neuen, wirksameren Umgang mit den Gefühlen. Carl Rogers hat aufgrund seiner eigenen Entwicklung und der Beobachtungen an seinen Klienten einen Menschentyp beschrieben, der anders ist als jener von der bisherigen Gesellschaft geprägte. Er nennt ihn den „neuen Menschen" (15). Sein Konzept ist nicht auf Glücklich- und Zufriedensein abgestimmt, sondern begreift das Leben als herausfordernd, bedeutungsvoll, ansprechend und lohnend. Er fand in seiner Praxis Menschen, die sich durch Echtheit und Wahrheitsliebe auszeichnen, durch Aufgeschlossenheit für neue Gedanken und Entwicklungen, ebenso durch die Fähigkeit, Anteilnahme und Nähe zu zeigen. Wichtig ist ihnen die Verbundenheit mit der Natur, mit ihr in Einklang zu leben und alles dafür zu tun, dass sie nicht noch mehr zerstört wird. Weiter sind sie skeptisch gegenüber Institutionen. Sie vertrauen ihrer eigenen Autorität und nehmen die Verantwortung für Entscheidungen wahr. Einem blinden Glauben an die Technologie und die Machbarkeit aller Dinge stehen sie ablehnend gegenüber, ebenso einer Überbewertung des Materiellen. Sie haben jedoch eine ausgeprägte Sehnsucht nach dem Spirituellen. Das zeigt sich in bemerkenswertem Interesse für östliche Religionen, für Meditationspraktiken und andere Formen der spirituellen Selbsterfahrung, z.B. Fußwallfahrten.

Erleuchtung - ein Schlüssel zum neuen Menschen

 

Einige Meister des am Zen orientierten spirituellen Lebens wie Prof. Dürckheim und der Jesuitenpater M. Enomya Lasalle sprechen von einem neuen Bewusstsein, auf das die Menschheit zugeht, das nicht mehr vom Äußeren, vom Vordergründigen und rein Rationalen geprägt sein wird, sondern von der Erfahrung der existentiellen Tiefe und der Transzendenz. Nach Lasalle sind viele Erscheinungen unserer Zeit als Geburtswehen des neuen Menschen zu betrachten. Die Tatsache, dass die Menschen im Westen wie im Osten aus der Geborgenheit ihrer Traditionen herausgefallen sind, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Es hat wenig Sinn, die alten Ideale noch entschiedener anzumahnen, um sie auf diese Weise wieder zu beleben. Der Wahrheit gemäßer und weiterführender ist es, in den Gegebenheiten eine Entwicklung zu Höherem zu sehen und alles zu tun, damit sie an Gestalt gewinnt. Lasalle geht davon aus, dass die Alleingültigkeit des rationalen Denkens an ihre Grenzen gestoßen ist. Nicht ein Rückfall in das vorrationale Bewusstsein der Naturvölker und vergangener Epochen der europäischen Geistesgeschichte steht an, sondern der Schritt zum Überrationalen. Damit ist eine Form des Erkennens gemeint, welche nicht über Schlussfolgern und Erklären geschieht, sondern durch unmittelbare Wesensschau. Die tägliche Übung zusammen mit Intensivkursen des Sitzens in der Stille - Sesshin genannt - bringt diesem Ziel näher. Teilnehmer solcher Veranstaltungen berichten, dass sich ihre Wahrnehmung verändert. Die Natur erscheint wie näher gerückt. Blätter und Gräser leuchten entgegen, die Stimmen der Vögel, die sie vorher gar nicht hörten, klingen vertraut; manche sagen, das leere Geäst eines Baumes würde ihnen wie aus dem Innern hervorwachsen; sie hätten das Empfinden, wieder in der Schöpfung zuhause zu sein.

Die unmittelbare Wesensschau erläutert Lasalle auch am Beispiel des Gebets: Wenn man jedes Wort und jede Silbe ganz bewusst ausspricht, wisse man die Bedeutung, ohne darüber nachzudenken. Man könne unmittelbar erfassen, was gemeint ist. Diese Art des Verstehens nennt er „Durchsichtigkeit". Sie zeichnet sich aus durch außerordentliche Klarheit und Gewissheit. Erfahrungen dieser Art geschehen im Zustand der Erleuchtung, die im Japanischen Kensho oder Satori genannt werden. Menschen, denen dieses Erlebnis zuteil wurde, beschreibt Lasalle als erfüllt von spiritueller Kraft und sprühender Lebendigkeit. Sie scheinen sich im Zentrum des Lebens, der Kreativität und Spontaneität zu befinden.

„Erleuchtung" ist der Schlüssel zum Verständnis des Zen und östlicher Religionen, ebenso zum neuen Bewusstsein. Sie scheint deshalb so erstrebenswert, weil sie die Not des modernen Menschen in ihrem tiefsten Kern erfasst und aufhebt. Sie gibt ihm die Einheit mit dem Ganzen wieder: Mit der Welt, in der er heimatlos geworden ist, mit den Menschen, zu denen keine Brücke mehr besteht, und mit der transzendentalen Mitte, die ihm verloren gegangen ist. Dürckheim beschreibt diese Gipfelerfahrung als einen Zustand der absoluten Fülle und Einheit, der beglückenden Kraft und universalen Liebe, befreit von Sinnleere, von Einsamkeit und Angst vor dem Tod. Wer eins geworden ist mit dem Seinsgrund, ist nicht mehr besorgt um das Danach, er berührt die Ewigkeit in diesem Augenblick im Hier und Jetzt.

Viele sind heute fast süchtig nach außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen, die sie in indischen Ashrams suchen. Die Gefahr ist, dass sie dann von sogenannten Erleuchtungserlebnissen überschwemmt werden, damit nicht umgehen können und dabei Verstand und Freiheit verlieren. Ein echtes Satori-Erlebnis jedoch hebt das eigenständige Denken nicht auf, sondern steigert es sogar. Nur hier würde nach Lasalle die Weiterentwicklung auf einer höheren Stufe einsetzen.

Wenn die Freiheit abhanden kommt, bedeutet das einen Rückfall in den Einheitszustand früherer Kulturepochen, in Unmündigkeit, Abhängigkeit und archaische Unbewusstheit.

Die eigentliche Erleuchtungserfahrung hingegen ist durch ein Überbewusstsein gekennzeichnet. Plötzlich geht der Sinn von allem auf. Es ist das Empfinden, endlich dort angekommen zu sein, wonach man sich schon immer gesehnt hat. Die damit verbundene Dichte des Erlebens trübt aber keineswegs die Klarheit des Denkens im Unterschied zu ekstatischen religiösen Zuständen, bei denen nur noch fixe Ideen mit entsprechender emotionaler Stärke hervorgebracht werden. Zeichen der Echtheit sind Gesprächsbereitschaft und Dialogfähigkeit, ebenso die Weigerung, das Eigene anderen aufzudrängen, stattdessen die Bereitschaft, sich zurückzunehmen, wenn man abgelehnt wird. Die Gegensätze werden in solchen Momenten wegen der höheren Ebene des Seins bedeutungslos.

Erfahrungen dieser Art sind nicht so selten, wie man meinen könnte. Dürckheim beruft sich auf Berichte aus Bombennächten. Beim Herannahen der todbringenden Flugzeuge habe sich zunächst die Angst bis ins Unerträgliche gesteigert, dann aber sei eine Stille eingetreten, in der die Angst plötzlich verschwunden war. Es war ein Zustand, wo Leben und Tod gleich - gültig, d.h. gleichgeltend wurden. Das würde bedeuten, dass es einen Punkt des Erlebens jenseits der Emotionen und Ängste gibt. Wer dort angelangt ist, hat das Ziel des neuen Menschen erreicht.

Franziskus, ein neuer Mensch

 

Bei allen Überlegungen um den neuen Menschen taucht die Frage auf: Gibt es ihn wirklich? Oder ist das Ganze nur Illusion? Es wurde gesagt, dass die angeführten Entwürfe der Psychologen wie der spirituellen Lehrer auf Erfahrungen und Beobachtungen beruhen. Es hat den zukünftigen Menschen schon gegeben und gibt ihn heute in Gestalten, die durch ihre Ausstrahlung, durch ihre Lauterkeit und durch ihre religiöse Kraft überzeugen. Sie wurden zu Vorbildern, vielfach wurden sie Heilige genannt. Einer der bedeutendsten ist der hl. Franziskus. Er stellt das Gesagte wie kaum ein anderer dar, ob man es nun als Erleuchtung, Ganzheit oder als Bild des neuen Menschen bezeichnet. Seine Art war eine von Gott gewirkte Spontaneität. Er hielt wenig von Regeln und Gesetzen. Von ihm werden Zustände berichtet, welche den Satori-Erfahrungen der Japaner vergleichbar sind. Tatsächlich hat der Heilige aus Assisi im Land der aufgehenden Sonne große Beachtung gefunden. Es gibt dort sogar eine ausgiebige Literatur über ihn. Brücke sind die genannten Gipfelerfahrungen, die bei Franziskus als ein „Aufgehen in Christus", bei Zen-Praktizierenden als „Verschwinden des Menschen" bezeichnet werden. Doch sind es weniger die ekstatischen Erlebnisse, welche Franziskus für unsere Zeit so bedeutsam machen, sondern eher die Tatsache, dass sein Leben zeigt, was mit Ganzheit und Selbstwerdung gemeint ist. Am deutlichsten wird das in dem von ihm verfassten Lied von der Schöpfung, dem schon erwähnten Sonnengesang. Der bloße Tag, für andere öd, leer oder nur mühsam zu leben, ist für ihn Anlass, Gott zu danken; das Licht der Sonne ist für ihn etwas Wunderbares, Spiegel seiner inneren Freude und Helle. Es ist ein Ja zum Leben, zu allen Wesen auf und über der Erde, das nicht mehr überboten werden kann. In allen Geschöpfen findet er die Kostbarkeit und die Güte Gottes, er entdeckt den Wert der Demut und der Keuschheit. Er ist Gott, den Elementen und den leidenden Menschen, die in ihrer Not und Zerstrittenheit nicht mehr weiter wissen, zugleich nahe. Aus dem Text spricht die Kraft, alles Schwere und Belastende, selbst die Schrecken des Todes zu überwinden; denn der Tod ist ihm zum Bruder geworden. In Franziskus ist die verlorene Einheit des Paradieses wieder hergestellt.

Zwei Worte lösen allerdings Widerstand aus, nämlich Demut und Keuschheit. Man könnte sie wie „Dogma" und „dogmatisch" zu den Unwörtern zählen. Der Begriff „Demut" stößt manchen sehr bitter auf, weil sie an Demütigung denken, an erniedrigende und beschämende Behandlung, die sie oft auch im Raum der Kirche erfahren mussten. Noch dazu sind Aussagen von Franziskus überliefert, die geradezu abstoßend klingen. Unter anderem heißt es, dass nur - für uns unverständlich - Laster und Sünde zu uns gehören. Ermahnungen zur Demut widersprechen dem modernen Lebensgefühl, dem ganz normalen Empfinden von Würde und gesundem Selbstbewusstsein.

Ebenso kann man das Wort „Keuschheit" kaum mehr aussprechen, ohne Verlegenheit oder Hohngelächter auszulösen. Hierin eine Zielvorstellung des neuen Menschen zu sehen, scheint geradezu absurd, zumal klar geworden ist, dass durch bloße Unterdrückung der eigenen Impulse noch kein besserer Mensch entsteht schon eher Depressionen oder zumindest depressive Stimmungen. Hier tut sich eine Barriere zur Welt des hl. Franziskus auf, die unüberwindbar scheint. Würde man allerdings diese sperrige Seite des Heiligen einfach ausklammern, hätte man ihn nicht verstanden und würde in oberflächlicher Begeisterung stecken bleiben. Hier kann uns das, was über Erleuchtung gesagt wurde, ein Stück weiterhelfen.

Es geht um einen möglichen inneren Zustand, der jenseits der gewöhnlichen Reaktionen und Empfindungen, jenseits der Impulse zur Selbstbehauptung und Vergeltung, auch jenseits des sexuellen Begehrens liegt. Man könnte vom archimedischen Punkt der Seele reden nach dem griechischen Philosophen Archimedes, der sagte: „Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!". Der Erleuchtete - vorausgesetzt die Erleuchtung ist echt - ist an diesem Punkt und er kann die bisher geltenden Gesetze seiner Seele für unwirksam erachten. Die so genannten Bedürfnisse nach Anerkennung, Zuwendung und Sexualität verlieren ihre einfordernde Kraft. Wer dort angekommen ist, kann sich zurücknehmen, sogar die letzte Position einer Gesellschaft einnehmen, ohne dass er etwas von seiner Selbstachtung verliert. Der ewige Streit, wer der Größte ist (Vgl. Mk 9, 33-37), der auch die Jünger Jesu bis in unsere Zeit nicht verschont, findet auf dem Niveau der Erleuchteten sein Ende. Er ist überflüssig, weil jeder, der wie der Heilige aus Assisi die Fülle Gottes als unüberbietbaren Schatz in sich trägt, auf die Wertschätzung der Menschen nicht mehr angewiesen ist. Er kann demütig sein, ohne bitteren und schalen Nachgeschmack zu empfinden; er steht jenseits von Karriere-Denken und jeglicher Rangordnung; und deshalb kann er getrost einen niederen Platz einnehmen. Demut, so gesehen, ist das Ende allen Gezeters und Gezerres der Rechthaberei, um Aufstieg und Ansehen. Es ist im Grunde die Voraussetzung für dauerhaften und wirksamen Frieden.

Ähnlich dürfen wir auch das Thema der Keuschheit sehen. Es ist ein Missverständnis zu meinen, es ginge nur um willentliche Unterdrückung der Sexualität. Vielmehr gibt es ein tieferes geistiges Erleben, welches die Triebimpulse nicht unterdrückt, sondern wandelt. Auf dieser Ebene ist eine Beziehung zwischen Mann und Frau ohne körperlichen Austausch aber in inniger Verbundenheit möglich.  Es ist ein Glück, das aus der gemeinsamen Tiefe fließt, das einander nicht enttäuscht und verletzt und auch keinen Anlass zur Eifersucht gibt. Vorherrschend ist nicht das Gefühl, etwas zu vermissen oder nicht gelebt zu haben, vielmehr tiefe Dankbarkeit für das, was ist, für die Freude einer ergreifenden Nähe in Freiheit. Vermutlich war es zwischen Franziskus und Klara so. Berichte über ihr Leben deuten darauf hin.

Es ist auch an die Erzählung zu denken, in der Franziskus, noch hingerissen von einer Berührung durch Gott seinen Freunden die Antwort auf ihre Frage nach dem Grund seiner Verwandlung gab: „Ja, ich habe an eine Frau gedacht. Und die Braut, die ich heimführen will, ist edler, reicher und schöner, als ihr jemals gesehen!" Er hatte eine Kostbarkeit erfahren, welche das tiefe Glück einer Liebe zwischen zwei Menschen noch weit übertrifft. Dem modernen Zeitgeist erscheinen solche Sätze wie Märchen aus Tausend und einer Nacht, als unglaubliche Geschichten. Eher hält man die Verjüngung des Colonel Bradford für pure Wirklichkeit als anzunehmen, jemand könne ohne Sex mit seinem Leben zufrieden sein und dabei noch eine unbeschreibliche Freude erleben. Man sollte sich durch die Überschätzung der Sexualität in unserer Zeit nicht blenden lassen. Die Schattenseiten sind nicht zu übersehen. Man hält es für die eigentliche Erfüllung, jedem Verlangen auf diesem Gebiet nachzugeben. Aber im Grunde ist es meist nur Feuerwerk für den Augenblick. Man bleibt ausgebrannt zurück, enttäuscht darüber, dass Einsamkeit und Zerrissenheit doch nicht überwunden wurden. Das Aufblühen neureligiöser und esoterischer Gruppen kann als Hinweis dafür verstanden werden, dass Menschen im Grunde ihres Herzens mehr suchen als die Bedürfnisbefriedigung für den Augenblick. In der Tiefe der menschlichen Seele wohnt die Sehnsucht, das Chaos und die Verstrickung auf dem Gebiet der Gefühle und menschlicher Beziehungen zu entwirren. Bei aller Kritik an der esoterischen Welle bestätigt sie doch eines, dass der Mensch nach dem geistigen Erleben sucht. Oft sind es einfache Menschen, denen trotz aussichtsloser Schwierigkeit das (Zusammen-) Leben gelingt, der Beweis für eine Kraft, die stärker ist als menschliche Schwäche, kalter Egoismus und die Macht der Triebe. Sie übernimmt von innen heraus aufgrund des tieferen Erlebens die Führung und stiftet Ordnung, ohne etwas von der Lebendigkeit und dem schöpferischen Reichtum zu nehmen. Wenn die Spontaneität der Antriebe und Gefühle sich mit dem kritischen und ordnenden Denken von innen her versöhnt, entsteht etwas qualitativ Neues.

Franziskus war die Spontaneität in Person; es hat ihm nicht an Einfallsreichtum, Einfühlungsvermögen, Herzlichkeit und echter Zuneigung gefehlt. Er ist eine Verkörperung des neuen Menschen, der aus seinen Gefühlen lebt und doch das im Augenblick Richtige tut.

Noch eine Bemerkung zu den recht sperrigen Begriffen der Demut und Keuschheit, die vielen widerstehen. Es ist wie mit den Koans, die als unlösbar erscheinende Rätsel dem Zen-Schüler auferlegt werden. Wenn der Meister, gefragt nach dem Weg zur Erleuchtung, sagt: „Höre das Klatschen der linken Hand!", so löst das bei einem, der im Bereich des logischen Denkens verharrt, ähnlichen Widerstand aus, als wenn wir die Reden des hl. Franziskus über Demut und Keuschheit hören. Wie aber das Rätsel nur über die Übung des Sitzens und nicht über das Nachdenken aufgeht, so werden wir den Wert der von Franziskus gepriesenen Tugenden nur über das Leben begreifen. Die falschverstandenen, oft missbrauchten und geschmähten Worte „Demut" und „Keuschheit" bezeichnen keinen Mangel an Menschlichkeit und Lebensglück, sondern sind Teil eines Zustands, den Lasalle und andere spirituelle Meister als das neue Bewusstsein bezeichnen. Insofern dieses die bisherige Art zu fühlen und zu denken an Dichte und Vergeistigung des Erlebens und an rationaler Einsicht übersteigt, stellt es eine höhere Stufe der Entwicklung dar.

Heute wird jede religiöse Bewegung sehr kritisch unter dem Aspekt ihrer sozialen Wirksamkeit beurteilt. Die entscheidende Frage lautet: Hat ein religiös - geistiger Impuls, der von großen Gestalten der Geschichte in die Welt gesetzt wurde, nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen verändert? Der Vorwurf der folgenlosen Innerlichkeit wird gerne gegen eine Frömmigkeit erhoben, welche die Menschen eher auf das Leben nach dem Tod vorbereitet als dass sie die Zustände auf dieser Erde verbessert. „Alle mystischen Erlebnisse in Ehren", so die kritischen Stimmen, „aber die Herrschaftsverhältnisse der damaligen Gesellschaft, vor allem der Kirche sind dieselben geblieben".

Man muss zugeben, dass Franziskus so gesehen sehr wenig bewegt hat; seine Mahnungen zu Demut und Gehorsam schließen es aus. Es war nie seine Absicht, irgendeinen weltlichen oder geistlichen Herrschaftsanspruch in Frage zu stellen. Sozial engagierte Freunde und Nachfolger des Heiligen sehen ihn als einen, der sich radikal auf die Seite der Armen gestellt habe. Dafür spreche auch, dass er seine Brüder „Minori" - die Geringen, nannte in Anklang an das geringe Volk in Assisi. Ob nicht die Bezeichnung zunächst die Erfahrung widerspiegelt, dass er sich selbst im Hinblick auf das Große und Gewaltige, dem er begegnete, sehr klein vorkam? Seine Liebe zu den Armen ist gewiss überwältigend. Einem Mann, den er mit einem Bündel Holz keuchen sah, nahm er die Last ab und legte sie auf seine eigenen Schultern. Einen anderen, der über seinen Grundherrn wegen ungerechter Behandlung erbost war und laut fluchte, beruhigte er und versuchte, ihn dazu zu bewegen, seinem Herrn um Gottes Willen zu verzeihen. Franziskus begründet seinen Rat damit, dass der Mann dann innerlich frei werde. Als der sich dann immer noch weigert, schenkt er ihm seinen Mantel. Die Geste der Güte überzeugt den Verbitterten und sein Herz wird weich und er kann seinem Herrn vergeben. Nach heutigem Wissen und Denken werden auf diese Weise soziale Probleme nicht gelöst. Moderne Sozialkritiker würden in dieser Handlung eher Verharmlosung des Unrechts und genau ihre Sicht bestätigt sehen.

Aber werden wir dem Heiligen aus dem Blickwinkel unserer Auffassung von Gleichheit, von Persönlichkeitsrechten, von Selbstbestimmung und Demokratie gerecht?

Franziskus hat zwar die Strukturen des mittelalterlichen Feudalsystems und des hierarchischen Aufbaus der Kirche nicht angetastet, aber er hat sie unterlaufen. Er dachte auf einer Ebene jenseits der Gegensätze von Arm und Reich, von Hoch und Niedrig. Der Mann aus Assisi hat das äußere Haus der damaligen Gesellschaft nicht abgerissen, aber durch seinen Anstoß ist es gelungen, darin gütiger miteinander umzugehen und menschlicher zu wohnen. Gewiss war es nicht überall so, doch gab es einige Nischen, wo ein neues Miteinander auf brüderlicher bzw. geschwisterlicher Basis möglich wurde.

In seinem Orden sollte es keine Oberen und damit auch keine „Unteren" geben, sondern die Leiter der Gemeinschaft sollten „ministri" heißen, das bedeutet „Diener". In der neu entstandenen Bruderschaft gab es ehemalige Grundherren, Adelige, aber ebenso Menschen von geringer Herkunft. Die Angehörigen des sogenannten „Dritten Ordens", die Gemeinschaft der Laien, verpflichteten sich, keine Waffen zu tragen - was für die damalige Zeit keine leichte Entscheidung war. Franziskus ging es primär darum, eine Atmosphäre der gegenseitigen Achtung und des Vertrauens zu stiften, vor allem möglichst vielen seine eigene Erfahrung der Liebe Gottes zugänglich zu machen.

In den westlichen Wohlstandsgesellschaften erscheint das Thema von Armut und Reichtum wesentlich anders als vor 100 sogar vor 50 Jahren. Die Räume des Gesellschaftshauses sind komfortabler geworden. Das Problem ist allerdings, dass vor allem junge Leute nicht mehr wissen, wofür sie sich anstrengen sollen, denn sie haben schon alles (Materielle). Wonach sie aber hungern, ist echte Liebe, Nähe, Vertrauen, ein Ziel, wofür es sich lohnt zu leben. Den wenigsten ist bewusst, dass diese Inhalte auf jener Ebene zu erlangen sind, auf der Franziskus versuchte, die Welt zu verändern.

Bei aller Sympathie für Franziskus bleibt die Frage: Wie kann der neue Mensch in uns selbst Gestalt gewinnen? Wie können neue Lebensimpulse, neue Ideen, eine größere Weite des Denkens sowohl wie stärkere emotionale und spirituelle Kraft in uns einströmen?

Menschen, die eine tiefgreifende Wandlung erlebten, sagen, der Wendepunkt in ihrem Leben war da, als es nicht mehr weiterging im Beruf, in der Zweierbeziehung, in der Familie; als sie gezwungen waren, sich hinzusetzen und zu schauen: Was ist? Der Blick in die eigene Tiefe statt auf die Schuld der anderen hat die Perspektive verändert und damit auch die Stimmung und die Atmosphäre. Gespräche mit einem einfühlenden Menschen haben das, was bisher so verwirrend, bedrückend und bedrohlich war, in Worte gefasst und damit Klarheit, tiefere Einsichten und emotionale Entlastung gebracht. Die andere Spur war für viele die tägliche Übung der Kontemplation, die Zeit einer qualifizierten Stille. Das bloße Beobachten des Atems bringt es mit sich, dass man anders wahrnimmt, dass man achtsam wird für das, was in einem selbst und um einen geschieht. Es entwickelt sich Sensibilität für existentielle Tiefe, für das, was für einen wichtig ist, was einen erfüllt und von unnötigem Ballast befreit. Es führt dazu, dass man immer weniger äußere Dinge braucht, auf Abwechslung und Ablenkung nicht mehr angewiesen ist und dass die innere Leere so nach und nach überwunden wird. Andererseits betonen sie, dass sie ohne die Verarbeitung ihrer Lebensgeschichte in therapeutischem bzw. seelsorgerlichem Gespräch in den Engräumen ihrer Entwicklung stecken geblieben wären. Der westliche Mensch braucht die Bewusstwerdung, den Zuwachs an Wissen über das, was in ihm ist, wer er ist und was aus ihm werden möchte. Dies kann ihm nicht von außen gesagt werden, sondern muss ihm am ehesten im Gespräch aufgehen.

Mit sich selbst in Kontakt kommen, seine eigene Befindlichkeit wahrnehmen und gut unterscheiden, über sich selbst reden, seine eigene Dunkelheit nicht ausklammern, das ist das geeignete Mittel über sich selbst hinauszuwachsen. Wir dürfen auf den in uns angelegten personalen, geistigen Kern als Wesens- und Sinngrund vertrauen. Er will sich von selbst zum zukünftigen, größeren Menschen entfalten. Die Vorstellung vom neuen Menschen muss deshalb keine Fiktion bleiben. Er ist eine Möglichkeit für jeden, der sich den Herausforderungen des Lebens stellt und die Besserung der Welt bei sich selbst beginnt.

 

V. Vom Mythos zum Mysterium - die Wahrheit der Mystik

 

In Seinem Buch „Gott existiert, ich bin ihm begegnet" (16) schildert der französische Journalist André Frossard das wichtigste Ereignis seines Lebens:

„Um 17 Uhr 10 Minuten war ich auf der Suche nach einem Freund in einer kleinen Kirche des Quartier Latin eingetreten und verließ sie um 17 Uhr 15 Minuten im Besitz einer Freundschaft, die nicht von dieser Erde war.

 Als ein Skeptiker und Atheist .der äußersten Linken war ich eingetreten, und größer noch als mein Skeptizismus und mein Atheismus war meine Gleichgültigkeit gewesen: Mich kümmerten andere Dinge als ein Gott, den zu leugnen mir nicht einmal in den Sinn kam, so sehr schien er mir längst nur mehr auf das Konto der menschlichen Angst und Unwissenheit zu gehören - ich ging wenige Minuten später hinaus als ein katholischer, apostolischer, römischer Christ, getragen und emporgehoben, immer von neuem ergriffen und fortgerissen, von der Woge einer unerschöpflichen Freude

Ich war zwanzig Jahre, als ich eintrat. Als ich hinausging, war ich ein zur Taufe bereites Kind, das mit weit aufgerissenen Augen die Welt betrachtet, den bewohnten Himmel, die Stadt, die nicht ahnte, dass sie ihre Fundamente in die Luft gebaut hatte, die Menschen im prallen Sonnenlicht, die in der Dunkelheit zu gehen schienen, ohne den ungeheuren Riss zu sehen, der soeben den Vorhang dieser Welt geteilt hatte..... Zuallererst werden mir die Worte „geistliches Leben" eingegeben. Sie werden mir nicht gesagt, ich forme sie nicht selbst, ich höre sie; als würden sie neben mir mit leiser Stimme von einer Person gesprochen, die sieht, was ich noch nicht sehe."(17)

Die weiteren Schilderungen des ehemals überzeugten Atheisten sind nur schwer nachvollziehbar. Am ehesten versteht man etwas, wenn man die Bilder als solche auf sich wirken lässt. Wie eine Lawine hätten sie sich über ihn ergossen.

Im Mittelpunkt des Gesehenen steht ein "unzerstörbarer Kristall, von einer unendlichen Durchsichtigkeit, von einer beinahe unerträglichen Helle, von einem eher blauen Licht."(18) Es ist eine  Welt, anders als die bisher bekannte, von einem Glanz und einer Dichte, dass unsere Welt im Vergleich dazu nur ein Schatten und ein Traum ist. Mit einem Schlag ist ihm klar: „Es ist die Wirklichkeit, es ist die Wahrheit." Ihm ist, als ob er an einem dunklen Strand stünde und von dort aus den Blick auf das weite Meer der eigentlichen Wirklichkeit werfe. Ihm geht auf, dass im Universum eine Ordnung  und dass die Spitze dieser Ordnung der Aufweis von Gottes Gegenwart ist, eine Wahrheit, die durch sich selbst überzeugt und nicht bewiesen zu werden braucht. Dieser Gott ist Person, er ist der, „den die Christen unseren Vater nennen", den er vor einer Sekunde noch geleugnet hatte und dessen milde Güte er nun an sich erfährt. Frossard spricht von einer Milde, "die keiner anderen gleicht, die alles durchdringt, die alle Gewalt übertrifft, die fähig ist, den härtesten Stein zu zerbrechen und, was härter ist als der Stein, das menschliche Herz."(19) Diese Milde hatte ihn überwältigt. Dabei empfand er eine Freude, die nur einer nachfühlen kann, der dem Tod gerade noch entkommen ist. Ihm kam es vor, als wäre er ein Schiffbrüchiger, der gerade noch zur rechten Zeit aufgefischt worden war. Aber erst in diesem Augenblick war ihm zum Bewußtsein gekommen, in welchem Schlamm er versunken war. Nach all dem Geschehenen fragt er sich, wie er darin leben und atmen konnte.

Der Bericht klingt in den Ohren eines nach den üblichen Mustern Denkenden einfach absurd, noch unglaublicher als die Geschichte vom Colonel Bradford. Das Ereignis, auf das sich André Frossard bezieht, fand 1939 statt und hat wegen der Kriegsereignisse kaum weiteres Aufsehen erregt. Heute würde man die Geschichte unter esoterische Literatur einreihen oder sie aus der Sicht der historisch-kritischen Forscher als eine besonders eindrucksvolle Darstellung betrachten, mit welcher der Verfasser seinen Übertritt vom Atheismus zur katholischen Kirche zu begründen versucht.

Die Psychiatrie findet eine andere Erklärung, sie kennt  durchaus Visionen. Nach dem Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie sind dies „optische Halluzinationen meist im Zusammenhang mit religiös - ekstatischen Erlebnissen. Es werden leuchtende Gestalten, Gott, Christus, Engel, Verstorbene, Blumen oder schreckhafte Fratzen, Teufel, wilde Tiere und dergleichen gesehen. Die Erscheinungen werden bald als übersinnliche Wahrnehmungen, bald wieder als täuschende Vorspiegelungen aufgefasst. Vorkommen vor allem im Fieberdelir und in anderen Delirformen" (20).

Manches von dem Gesagten trifft auf das Erlebnis des französischen Journalisten zu. Es ist eine Schau von Bildern, verbunden mit ekstatischen Erlebnissen. Aber er befand sich nicht im Delir, er war bei klarem Verstand vorher, nachher und während des Verlaufs, keine Spur einer geistigen Verwirrung in seinem noch kurzen Leben, das er als keimfrei von allen religiösen Vorstellungen bezeichnet. Der Einwand der literarischen Gattung wird der Faszination, die von der Schilderung ausgeht und die so ungewohnt und individuell ist, nicht gerecht. Kann man sich eine solche Fülle des Ausdrucks, wo man hinter jedem Wort ein Staunen, sogar ein Beben und Zittern spürt, durch Lektüre mystischer Literatur aneignen? Wenn ja, dann müsste der Autor selbst ein großer Mystiker gewesen sein oder zumindest ein vom Religiösen tief durchdrungener Mensch. Da dies bei André Frossard aber nicht so war, bleibt nur die Möglichkeit, ihm die Geschichte als solche abzunehmen, als Bericht eines Erlebnisses, das sich ohne sein Zutun ereignet und den jungen Mann von Grund auf verändert hat.

Damit bewegen wir uns auf jener Ebene, welche die letzte Motivation des Menschen darstellt. Sie kann höchste  psychische Realität für sich beanspruchen und berührt den Bereich der Mythen. Sie sind, so wurde gesagt, wie die Träume Ausdruck seelischer Vorgänge und menschlicher Schicksale, zugleich kraftgeladene Bilder, die Menschen bewegen, Helles und Dunkles hervorbringen, aber auch unverbindlich bleiben können. Das Wort „Mythos" ist jedoch bei einer mystischen Erfahrung wie im gegebenen Fall unangebracht, es würde die Einmaligkeit, die Dichte und die Wirkung des geschilderten Ereignisses nicht ausloten.

Statt von „Mythos", erscheint es angebrachter, von „Mysterium" zu reden. Mysterium heißt wörtlich Geheimnis, meint aber im religiösen Raum mehr als etwas Anvertrautes, um das nur ein bestimmter Personenkreis weiß. Es hat mit der Urerfahrung des Religiösen zu tun, mit dem, was größer ist als wir selbst, als unsere Vorstellung und unser Denken, mit dem „Licht jenseits der Vernunft", wie es Dag Hammersköld ausdrückt. Es ist ein Bereich der Wahrnehmung, der nicht mit logischen Schlussfolgerungen zu erfassen ist. Es ist die ganz persönliche Betroffenheit und Konfrontation mit sich selbst; wer dem echten Mysterium begegnet, wird aufgewühlt und in allem, was er bisher war, in Frage gestellt. Zugleich ist damit ein erlösendes, heilendes und unübertroffenes Erleben verbunden. Ergebnis ist die  Wandlung der Persönlichkeit, die neue Lebensinhalte gewinnt. Seelische Verödung, Sinnleere, Einsamkeit und damit einhergehende Verzweiflung, Menschenverachtung und Hass, die dunklen Seiten des Mythos werden überwunden. Mythen können eine Spur, ein Anfang zum großen Ziel sein, aber auch in die Irre führen. Im Mysterium ist der durchgelebte, gelungene und angekommene Prozess der Gottesbegegnung enthalten. Für die Kreuzfahrer, die bei der Eroberung Jerusalems ein Blutbad anrichteten, war das Kreuz offensichtlich zum dunklen Mythos geworden, für Franziskus, der das Vertrauen des Sultan gewann, war das Kreuz ein Mysterium. Er betete um Erleuchtung seiner eigenen Dunkelheit und hat die Zerrissenheit seines Wesens am eigenen Leib durchgelitten und nicht auf andere abgeladen. Er wusste, was es heißt „mit Christus gekreuzigt" (Gal 2, 20)und" mit Christus auferweckt „(Kol.3,1) zu sein.

Es ist anzunehmen, dass die antiken Mysterienkulte etwas von den Wirkungen der Wandlung vermitteln konnten und deshalb so große Attraktivität besaßen. Auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass das Wort „Mysterion" im frühen Christentum eine zentrale Rolle spielte. Es war der Ausdruck für das Heilswirken Gottes, für die beglückende Erfahrung des Glaubens an Christus, für die Begegnung mit ihm in den heiligen Riten, welche dann ebenfalls Mysterien genannt wurden. Solange sie mit Ernst, Hingabe und Ergriffenheit vollzogen werden, hat das Christentum die Kraft dieser Ausstrahlung - auch heute noch; denn im Mysterium liegt der letzte Grund der Motivation für das religiöse Leben wie für Zusammensein in gegenseitiger Achtung und Annahme, für das Leben überhaupt. Zugleich ist hier eine Kraft zu finden, die stärker ist als die Strömungen und Nöte der Zeit. Die Spur des Mysteriums im eigenen Leben und in den Zeugnissen anderer zu suchen, ist deshalb eine Aufgabe, die nicht unterschätzt werden sollte.

Geschichten der Wandlung: die eigentlichen Wunder

 

Kommen wir noch einmal auf die ungewöhnliche Geschichte André Frossards zurück. Im Mittelpunkt soll hier nicht sein Übertritt zur katholischen Kirche stehen, sondern die Erschütterung seiner Existenz, eine Erfahrung, die vom Intellekt nicht einzuordnen ist. Der Verfasser ist sich dessen bewusst, dass dieses Ereignis für seine Zeitgenossen etwas Schockierendes an sich hat, und dass er keine Erklärung für den plötzlichen Wandel geben kann; ebenso dass die Bilder und Worte, die er verwendet, nicht annähernd das schildern können, was er erlebt hat. Es ist-so Frossard-, wie wenn ein Maler unbekannte Farben sieht und sie mit seinen bisherigen Mitteln malen müsste. Wie immer das Geschaute gewesen sein mag, Tatsache ist: Es ging davon eine gewaltige Wirkung aus. Sie hat den Betroffenen von Grund auf verändert, sie hat ihn in einen Zustand versetzt, um den wir ihn eigentlich beneiden müssten: denn der überwältigende Einbruch ist begleitet von einer Freude, die, wie er sagt, nichts anderes ist als der Jubel des vom Tod Erretteten. Es muss ein nicht mehr zu überbietendes Glück gewesen sein, völlig verschieden von dem, was er bisher als solches betrachtet hatte. Jene andere Welt, die er sah, ist von einem solchen Glanz und einer solchen Dichte, dass die bisherige nur als Schatten und Traum erscheint.

Im Zeitalter der Esoterik erregt ein solcher Bericht keine außerordentliche Verwunderung mehr. Aber wie ernst wird er genommen? Können wir ihn einfach als fromme Legende beiseite legen und weiter den gewohnten Denkschemata folgen oder könnte hier ein Schlüssel verborgen sein, der uns die Enge und Ratlosigkeit unserer Zeit aufschließt?

In der Geschichtsforschung und selbst in der Theologie haben ekstatische Erlebnisse so gut wie keinen Stellenwert; wichtig sind allein äußere Fakten oder Lehrinhalte. Anders wird es, wenn man nach der Motivation, nach den geistigen Antrieben derer fragt, die Geschichte gemacht oder zumindest großen Einfluss auf ihre Zeit bis in unsere Tage ausgeübt haben. Hier dürfte die Dramatik der inneren Wandlung, wie sie André Frossard wiedergibt, von entscheidender Bedeutung sein. Berichte, die als „mystisch" oder mythologisch vorschnell übergangen werden, müssten deshalb mit ganz anderen Augen gesehen werden. Sie enthalten eine Dynamik, die über den äußeren Ereignissen steht und die Lehrinhalte erst verständlich macht.

 Im Wesentlichen geht es im Bericht von André Frossard um die Wende seines Lebens. Wörtlich sagt er: „Meine Gefühle, meine innere Welt, mein Gedankengebäude, in denen ich mich schon häuslich eingerichtet hatte, waren nicht mehr da, selbst meine Gewohnheiten waren verschwunden, mein Geschmack verwandelt" (21).

Man wird erinnert an den heiligen Franziskus, als sich ihm nach der Begegnung mit den Aussätzigen das Bittere in Süßigkeit verwandelt hat. Bei Frossard wie bei Franziskus ist der „Geschmack" ein anderer geworden, d.h. das Empfinden dafür, wohin es einen vom Innersten her zieht, was einen ausfüllt. Anders als bei Frossard sind bei Franziskus einzelne Schritte festzustellen, die auf eine längere Entwicklung, auf ein langsames Vorantasten auf seinem Weg schließen lassen.

Umbrüche in diesem Ausmaß sind die eigentlichen Wunder. Sie führen uns zu anderen großen Gestalten der Kirchengeschichte wie Ignatius und Augustinus und schließlich zu den Quellen des Christentums selbst, zur Heiligen Schrift. Von allen Personen des Neuen Testaments können wir am besten den inneren Weg des Apostels Paulus verfolgen. Er hat in seinen Briefen am meisten von sich selbst preisgegeben. Man darf davon ausgehen,  dass hinter den meisten Aussagen, die später zur unumstößlichen Lehre wurden, ursprünglich eine ganz persönliche Erfahrung stand.

Denken  wir noch einmal auf das gewaltige Erlebnis André Frossards . Könnte es nicht sein, dass Paulus Ähnliches widerfuhr? Er spricht im Galaterbrief nur in einem kurzen Satz davon, dass ihm „Gott in seiner Güte seinen Sohn offenbarte" (Gal 1, 15). In der Apostelgeschichte ist es eine Lichterscheinung, die mit dem Erlebnis des französischen Journalisten vergleichbar ist. Was immer die Historiker davon halten, Tatsache ist, dass die Wirkung einer so genannten „Offenbarung" nicht zu leugnen ist. Der Apostel beschreibt sie mit den folgenden Worten: „Doch was mir damals ein Gewinn war, habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr, ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat (wörtlich: Mist), um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein" (Phil 3, 7-8).

In der  Geschichte André Frossards kann man dazu einige Parallelen erkennen. Ein ungeheurer Riss hatte den Vorhang dieser Welt geteilt, seine Gefühle, seine innere Welt, seine Gedankengebäude waren nicht mehr da, selbst seine Gewohnheiten waren verschwunden, sein Geschmack verwandelt. Zweifellos beschreiben beide, der Mann aus Tarsus und der Journalist des 20. Jahrhunderts ein ähnliches, wenn nicht sogar dasselbe Ereignis. Es ist etwas Endgültiges und Unwiderrufliches. Man trifft hier auf ein Zeugnis von Menschen, deren inneres Universum erschüttert und umgedreht ist. Es ist für jeden, der nur die gewöhnlichen Dinge des Lebens kennt, unbegreiflich, unfassbar, nicht nachvollziehbar und nicht einzuordnen. Das Besondere daran ist nicht der Wechsel der Konfession oder einer religiösen und politischen Ausrichtung, nicht der Austausch von Lehrinhalten und intellektuellen Modellen, sondern der Zusammenbruch des gesamten Denk- und Erlebnisrahmens. Was bisher als wertvoll, erstrebenswert und heilig galt, hat sich als null und nichtig erwiesen.

Was Paulus ursprünglich für „Gewinn" hielt, war sein Ansehen in jüdischen Kreisen vor dem großen Einbruch in sein Leben. Er entsprach seiner Herkunft und seinem Verhalten nach in allem dem, was man von einem gesetzestreuen Juden erwartete. Er hätte als Gesetzeslehrer wahrscheinlich eine große Karriere vor sich gehabt. Dann kam es ohne sein Dazutun ganz anders. Paulus versucht immer wieder seine Leser und Hörer davon zu überzeugen, dass die große Wandlung seines Lebens nicht von ihm selbst ausgedacht, sondern Ergebnis einer Erfahrung war und unmittelbar auf Gott zurückzuführen ist. Es ist die Begegnung mit Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, die seinem Leben die nichtvorhersehbare Wende gibt.

Was Paulus über Christus sagt, ist als Folge seines Umbruchs zu verstehen und nicht als kluge theologische Spekulation. Seine Aussagen über den Erlöser und die Erlösten, über den Weg zu Gott, spiegeln seine eigene Geschichte wider. Man wird deshalb dem Menschen Paulus nicht gerecht, wenn man nicht von einer radikalen Erschütterung seiner Existenz, von einer Auflösung aller gewohnten Denkstrukturen und einer Umschichtung seiner bisherigen Antriebswelt ausgeht. Was man ihm als mythologische Überhöhung des historischen Jesus oder als willkürliche Übernahme von Vorstellungen aus den antiken Mysterienkulten vorhält, ist im Grunde wie bei André Frossard nur der Versuch, etwas in Worte zu fassen, was sich im letzten nicht sagen lässt. Er selbst ist sich dieser Problematik bewusst, wenn er schreibt, dass „er unsagbare Worte hörte, die ein Mensch nicht aussprechen darf" (2 Kor 12, 4) und dass „ wir jetzt in einen Spiegel schauen und nur rätselhafte Umrisse sehen" (Vgl. 1 Kor 13, 12).

Nach seinen eigenen Worten war das, was er in der Zeit seiner Wandlung durchgemacht hat, wie  ein Sterben. Gewöhnlich wird in der theologischen Rede sofort die Auferstehung hinzugefügt. Aber man sollte dem Tod nichts von seinem Ernst und seiner Radikalität nehmen.  So meint es auch Paulus, wenn er an die Römer schreibt: „Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? ... Wir werden durch die Taufe mit ihm (Christus) in seinen Tod hinein begraben" (Röm 6, 4). „Wir wissen ja, unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit unser der Sünde verfallener Leib seine Macht verliere und wir nicht ferner der Sünde dienen" (Röm 6, 6).

Diese Sätze werden bei der Tauferneuerung in der Osternacht gesprochen. Sie lösen aber meist keine weitere Betroffenheit aus. Für Paulus waren sie jedoch mehr als eine erbauliche Katechese. Sie spiegeln etwas von dem Schicksal, das so gewaltsam, so tragisch und beglückend zugleich über ihn hereinbrach.

„Sterben" bedeutet unwiderruflich vom bisherigen Leben Abschied nehmen, von allem, was einem lieb ist, von Familie und Freunden, von Besitz, von Plänen und Hoffnungen. Wird eine solche Bezeichnung auf einen innerseelischen Vorgang angewandt, so dürfen wir nichts von den Schrecken und Ängsten ausklammern, die einen Sterbenden befallen, ebenso wenig den Bereich, von dem er endgültig losgelöst wird. Der Zusammenbruch der bisher gültigen Ideale, für die man sein Leben einsetzte, ist eine Erschütterung, die bis in die letzten Wurzeln der Existenz reicht und deshalb auch den ganzen Menschen fordert. Ein Mann, der einen solchen Prozess während eines Selbsterfahrungskurses durchmachte, berichtet, es sei wie eine Bombennacht gewesen. Zuerst waren es massive Ängste, begleitet von dem Gefühl, niemand und nichts zu sein, ohne jeden Eigenwert, ohne eigenes Können, ohne Beruf, ohne Bedeutung für irgendjemand auf dieser Welt. Dazu kam die Vorstellung, jeden Halt zu verlieren und ins Bodenlose zu versinken.

Der Sturz vom Pferd, mit dem in der christlichen Überlieferung die Bekehrung des Saulus dargestellt wird (in den neutestamentlichen Berichten heißt es nur: „er stürzte zu Boden", vgl. Apg 9, 4; 22, 7; 26,14), ist deshalb ein gutes Bild dafür, was in einem solchen Augenblick im Innern eines Menschen vor sich geht. Wenn nichts mehr bleibt von dem, woran sich einer bisher festhielt, wofür er kämpfte und woraus er lebte, dann ist er in der Tat in einer gewissen Weise gestorben. Sein Ich als durchgehende Einheit wird aufgelöst, zerrissen, „gekreuzigt", wie Paulus von sich bekennt (Gal 2,19; 6,14). Dann aber geschieht das, was Paulus „Auferstehung mit Christus" (Röm 6, 6 f) nennt. Das Ich wird in einem größeren Umfang neu zusammengesetzt, es hat den Anschluss an die transzendente Lebensquelle gefunden, welche für den Apostel Christus ist. Nur aus dem unmittelbaren Zugang wird verständlich, wenn er sein Verhältnis zu Leben und Tod so beschreibt: „Für mich ist das Leben Christus und das Sterben Gewinn" (Phil 1, 21). An anderer Stelle bezeichnet er diesen Prozess als Vorgang, durch den er von „Christus ergriffen wurde" (Phil 3, 12). . Es gibt in der Tat Entwicklungen im Laufe eines Menschenlebens, Persönlichkeitsumbrüche, die dem, was Paulus beschreibt, zumindest annähernd ähnlich sind. Anders als bei André Frossard ist es meist die tiefste Dunkelheit, wo eine Umkehrung des Bewusstseins erfolgt; wo einer, dem buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wieder„Land sieht" und festen Grund fasst.

Der oben zitierte Mann berichtet, er habe nach einer befreienden abendlichen Aussprache am nächsten Morgen zum ersten Mal die Vögel singen gehört. Anspannung, Druck und Niedergeschlagenheit waren abgefallen. Es kehrte wieder Zuversicht ein. Das Ergebnis dieses Kurses beschrieb er so: „Ich weiß nun, was sterben und auferstehen ist, und ich ahne auch, was die Taufe einmal war." Für ihn ist der Satz: „ Wurdet ihr also auferweckt mit Christus, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes" (Kol 3,11), keine leere Formel mehr.

So bereichernd ein solcher Durchgang ist, so schwierig wird die Zeit nachher. Wer selbst nie Ähnliches erlebt hat, wird dem ganzen Geschehen verständnislos, skeptisch, mißtrauisch, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber stehen. Bekannte und Freunde, denen man das Erlebte anvertrauen möchte, können meist damit nichts anfangen; ebenso kann es sein,daß man auch nächsten Angehörigen fremd wird, bestimmte Erwartungen im Zusammenleben kann man nicht mehr erfüllen, man zieht sich zurück, man hat andere Vorlieben und andere Interessen. Es entsteht eine Kluft zur sonst vertrauten Umgebung. Das Geheimnis trennt, führt aber auf einer anderen Ebene zusammen. So war es bei André Frossard, bei Franziskus, bei Paulus und bei Jesus selbst. Bei Paulus kommt hinzu, dass der Bruch mit den strengen traditionalistischen Kreisen, denen er angehörte, als ein besonders verabscheuungswürdiger Frevel betrachtet wurde. Paulus ist es bis zu seinem Tod nicht mehr gelungen, den aufgerissenen Graben zu überbrücken. Bei allen Missionsunternehmungen kam Widerstand von den Juden, die in seiner Botschaft einen Angriff auf den überlieferten Glauben sahen.

Paulus hatte den universalen Charakter des Mysteriums, von dem er ergriffen wurde, erkannt und deshalb das Evangelium für die Heiden geöffnet. Was sich im ganz persönlichen Erlebnis eines einzelnen in der Tiefe seiner Existenz ereignet hat, wurde für Ungezählte von Bedeutung. So sehr das Mysterium den intimsten Raum eines Menschen berührt, so individuell es ist, so sehr hat es aber auch die Kraft, nach außen zu wirken und Menschen anzusprechen und zu überzeugen. Ebenso paradox ist, wir heute Menschen mit völlig verschiedenen historischen Hintergrund in der Tiefe des Geheimisses nahekommen können.Entscheidend ist ob wir uns wie sie in die Zeitlosigkeit eintauchen lassen.

Das Mysterium und die reine Lehre

Um Paulus und die Geschichte des frühen Christentums zu verstehen, kann uns sogar die Kritik, die heute am Apostel geübt wird, ein Stück weiter bringen. Man sieht in ihm einen eigensinnigen, weltfremden Rabbi, der die schlichte und menschenfreundliche Botschaft Jesu verfälscht und den einfachen Mann aus Nazareth mit göttlicher Glorie umgeben habe. Es sei Aufgabe der Forschung, die ursprüngliche Gestalt und reine Lehre aus dem hellenistischen Beiwerk herauszuarbeiten. Aus einer jüdischen Reformbewegung habe man ganz auf der Linie des Paulus eine Mysterienreligion nach Art der antiken Kulte gemacht. Jesus selbst - so die Überzeugung der Kritiker - wollte keine Religion stiften, vor allem hat er sich nicht als Sohn Gottes bezeichnet.

Zu diesem Ergebnis kommt man dann, wenn man die Schriften des Apostels als trockene Lehre, bzw. als besondere Variante der damaligen jüdischen Gesetzesauslegung betrachtet. Es wurde schon gesagt, dass seine Briefe wesentlich seine eigene Erfahrung wiedergeben und nicht als starre Formeln zu verstehen sind. Er will nicht eine trockene Lehre vermitteln sondern das Geschehen, das sich an ihm selbst vollzogen hat: das Eingetauchtwerden in den Erlebnisraum des gekreuzigten und auferstandenen Christus und damit die Wandlung des ganzen Menschen. Was der Mann aus Tarsus über Glauben und Rechtfertigung schreibt (vgl. Röm 1-8), hat das eine Ziel, in den Lesern das, was sein eigenes Leben verändert hat, zu wecken. Er selbst drückt es so aus: „Meine Botschaft und meine Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden" (1 Kor 2, 4). Begriffe wie „Botschaft" und „Verkündigung" lösen heute bei den meisten Desinteresse oder Langeweile aus; zu verbraucht und abgenützt sind sie inzwischen geworden. Offensichtlich war es bei den Zuhörern des Paulus anders. Wahrscheinlich spürten sie etwas von dem großen Geheimnis, von dem er erfasst war. Das Erlebnis seiner umwerfenden Gottesbegegnung schwang in seinen Worten unmittelbar mit und es wurde gegenwärtig, wovon er sprach.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich Ergriffenheit  von selbst überträgt. Manche erinnern sich an Situationen, in denen der Vater mit Tränen von Kriegserlebnissen erzählte, und man eine Stecknadel hätte fallen hören. Paulus wusste um die Wirkung seiner Worte, die nicht auf geschliffenem Argumentieren beruhte, sondern auf der Eigendynamik des Selbsterlebten. Wenn nicht seine eigene Geschichte, die so dramatisch verlief wie kaum eine andere, in seinen Worten, in seinem Gesicht und in seiner Stimme Ausdruck gefunden hätte, wer hätte ihm wohl ernsthaft zugehört? Eine bloß theologische Doktrin über jüdische Streitfragen - welchen Nichtjuden in Korinth oder Ephesus hätte das schon interessiert? Was Paulus mit „Erweis von Geist und Kraft" meint, ist jenes Geschehen, das sich ohne sein unmittelbares Bemühen zwischen ihm und den Menschen ereignete.

Der Geist bringt Früchte (Gal 5, 22). Paulus nennt sie „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung" (Gal 5, 22,23). Damit ist eine Atmosphäre verbunden, in der man sich aufgehoben und geborgen fühlt, in der Nähe entsteht und zugleich der Raum des einzelnen nicht eingeengt ist. Wer intensive Formen der spirituellen Selbsterfahrung kennt, dem dürfte das Gesagte nicht fremd sein. Entscheidend ist, dass die Wirkung eines solchen Erlebens nicht durch irgendwelche geschickte psychologisch-fundierte Methoden, durch ekstatische Musik oder Bewegung entsteht, sondern am ehesten durch ein offenes und ehrliches Gespräch in der Runde. Zum Höhepunkt wird die Eucharistiefeier am Schluss. Es sind Momente, die den Teilnehmern äußerst kostbar sind. Mit Recht darf man sagen, dass hier das Mysterium, von dem Paulus spricht und das in den Anfängen des Christentums so bedeutend war, gegenwärtig wird und eigentätig wirkt. Niemand hat das Gefühl, dass er sich einer fremden Mysterienreligion unterworfen hat oder dass ihm im Nachvollzug des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, in seiner Anrufung als Kyrios eine unerträgliche Doktrin übergestülpt worden sei. Vielmehr haben die Teilnehmer den Eindruck, ganz sie selbst sein zu dürfen und der Wahrheit des eigenen Lebens ein Stück näher gerückt zu sein. Die Forderungen von Professor Hoffmann „nach einem Gott, der dem modernen Menschen zur Seite steht und von dem er lernen kann, in Freundlichkeit mit seinen Mitmenschen umzugehen, nach einer Wahrheit, die hilft, in dieser Welt in Würde zu leben", kann man in den Augenblicken einer gelungenen Eucharistiefeier als erfüllt ansehen. Manche sagen: „Eine solche Stunde gibt wieder Sinn, dafür lohnt es sich zu leben!"

Am rechten Vollzug des Mysteriums erledigt sich die Frage der reinen Lehre von selbst. Andererseits verkommt eine Religion, die das Geheimnis der Gotteserfahrung nicht mehr kennt, zu bloßen moralischen Appellen. Eine solche kann den modernen Menschen nicht  aus seiner Sinnleere, Einsamkeit und Angst retten. Es sei noch einmal an den ungeahnten Aufstieg der Esoterik erinnert. Man darf vermuten, dass in den traditionellen Kirchen das Mysterium nicht den Stellenwert besitzt, der ihm als Quelle von Lebensbejahung und Sinn eigentlich zukommen müsste.

Es kann nicht darum gehen, die Einfachheit der Wahrheit Jesu der Mysterienreligion seiner späteren Jünger entgegenzusetzen. Vielmehr ist es so, dass die hohen Lehren Jesu, die Forderung des selbstlosen Einsatzes, der Hingabe, des Gewaltverzichts und der Feindesliebe, der Umkehrung der Werte eine vollständige Wandlung eines in normalen Verhältnissen aufgewachsenen Menschen erfordern. Begeisterung und guter Wille erlahmen nach kurzer Zeit, Egoismus und Machtausübung kehren in versteckten Formen zurück. Man denke an die Geschichte der spirituellen Aufbrüche im Christentum, wie an die der sozialrevolutionären Bewegungen: die alten verkehrten Grundeinstellungen, gegen die man einmal mit großer Begeisterung angetreten war, kommen mit großer Selbstverständlichkeit wieder, meist unter dem geheiligten Mantel religiöser oder politischer Doktrin. Man sollte sich über das Wesen des Menschen keine Illusion machen. Eine dauerhafte, durchgehende Umkehr zu Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Lebensführung, zu Selbstlosigkeit und Einsatz für die Mitmenschen wird niemand allein mit gutem Willen schaffen. Ohne die Erfahrung einer Kraft aus dem Bereich jenseits des eigenen Vermögens werden sich die eingeschliffenen Strukturen des Denkens, Verhaltens und des Wert-Erlebens nicht verändern. Paulus nennt die Kraft, die seinem Leben eine andere Richtung gab, Gnade Gottes. Ohne sie gibt es keine „Gerechtigkeit", d.h. kein Rechtsein vor Gott und den Menschen. Weil sie nicht menschlicher Berechnungund und Anstrengung  unterliegt und jeden menschlichen Horizont überschreitet, bleibt sie Geheimnis, Mysterium. Erst die Begegnung mit diesem schafft die Voraussetzung dafür, dass die edlen Ziele verwirklicht werden können, die in der Aussendungsrede Jesu und in der Bergpredigt aufscheinen.

Das Leben Jesu selbst ist nicht ohne Urerfahrung des Religiösen, d.h. nicht ohne das Mysterium zu denken. Nach den Berichten der Evangelisten Mathäus, Markus und Lukas unterwarf sich Jesus dem Ritus der Taufe durch Johannes. „Als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete" (Mk 1, 10). Erinnern wir uns an den Bericht André Frossards, der davon sprach, dass der Himmel einstürzte und auf ihn zukam. Wir können den Bogen schlagen von einem Mann des 20. Jahrhunderts zurück zu Jesus selbst. Es soll deutlich werden, dass in der Heiligen Schrift etwas geschildert wird, das wie bei Frossard höchste existentielle Realität beanspruchen kann. Das vom französischen Journalisten berichtete Erlebnis dürfte nur ein Hauch gewesen sein im Vergleich zu dem, was Jesus widerfuhr. Während Frossard das Wort „geistliches Leben" vernahm, hörte Jesus eine Stimme, die sprach:  „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden" (Mk 1, 11). Fühlen wir noch einmal nach, was der junge Mann in Paris über die kostbarsten Augenblicke seines Lebens sagte: Die Gegenwart Gottes wurde evident, d.h. er erfuhr die Milde dessen, den die Christen „unseren Vater" nennen, eine Milde, die alle Gewalt übertrifft, „ die fähig ist, den härtesten Stein zu zerbrechen und sogar das menschliche Herz;" dieser überwältigende Einbruch war von einem nicht beschreibbaren Jubel begleitet. Wir können dann vielleicht ahnen, was mit Jesus geschah; dass sein Leben eingetaucht war in den Grund allen Seins, dass menschliche Worte noch weniger als bei Frossard und Paulus das Erlebte gebührend auszudrücken vermögen.

Die unglaublichste Geschichte: Die Auferstehung Jesu

 

Als fundamentale Überzeugung der Christen gilt die Auferstehung Jesu. Sie ist eigentlich die unglaublichste aller Geschichten. Dass ein Toter ins Leben zurückkehrt, sichtbar und greifbar wird, dass er redet und isst, das zu glauben erscheint als absoluter Verstoß gegen jede intellektuelle Redlichkeit. Zudem sind die Berichte von den Ereignissen nach dem Tod Jesu, vom leeren Grab und von den Erscheinungen so widersprüchlich, dass es unmöglich ist, daraus einen exakten historisch gesicherten Ablauf zu erschließen. Das Wichtigste daran ist allerdings die Tatsache: Die Auferstehung Jesu, den Vorgang als solchen, hat niemand gesehen. Im „Arbeitsbuch zum Neuen Testament" von H. Conzelmann und A. Lindemann, das wohl den heutigen Stand der historisch-kritischen Forschung wiedergibt (22), heißt es denn auch,  die Auferstehung Jesu sei kein historisches Ereignis, also nicht  nachweisbar wie das Datum einer Schlacht oder die Gründung einer Stad.. „Historisch lässt sich nur feststellen, dass Menschen nach dem Tod Jesu ein ihnen geschehenes Widerfahrnis behaupteten, das sie als Sehen Jesu bezeichneten - und die Reflexion dieses Widerfahrnisses führte diese Leute zur Interpretation: Jesus ist auferweckt worden" (23).

Dies klingt recht ernüchternd und enttäuschend für jeden Christen, der mit „Auferstehung" Osterfreude und Osterjubel verbindet. Vor allem das Wort „behaupten" ist geeignet, einem die bisherige Gewissheit zu rauben. Zu beachten ist, dass die wissenschaftliche Sprache Gefühle und Stimmungen nicht berücksichtigt, sondern nur das äußerlich Feststellbare im Auge hat. Die wissenschaftliche Denkweise kann weder die Person Jesu verstehen, noch seine Anliegen, noch das, was mit seinen Jüngern nach seinem Tod geschah, denn zunächst handelt es sich um etwas äußerst Personales. Wir können die Auferstehung Jesu nur im Spiegel derer sehen, die ihm persönlich nahe standen, seiner Jünger. Aber wir können diesen Spiegel durchaus näher betrachten und uns darüber Rechenschaft ablegen, ob wir uns auf ihn verlassen dürfen. Es geht um das Wort „Widerfahrnis", das nicht in den Rahmen der wissenschaftlichen Sicht passt, aber wie die subjektive Erfahrung von Liebe und Vertrauen, von Hass und Leidenschaft einen Anspruch darauf hat, als Wirklichkeit ernst genommen zu werden. Es musste sogar den Rahmen dessen sprengen, was Menschen gewöhnlich an Stimmungen und Gefühlen, an tiefen und wichtigen Erlebnissen zustößt. Sonst hätte diese sogenannte „Behauptung" nicht die eigene Trauer und Mutlosigkeit überwunden und andere Menschen überzeugt. Es führt wieder in den Raum des Mysteriums.

Wer auf die Ausschließlichkeit der wissenschaftlich-rationalen Erkenntnisweise fixiert ist, wird allerdings davor Halt machen. Beim Thema des Mysteriums wurde bereits der Bogen von einem Zeugnis unserer Zeit zu Franziskus, Paulus und Jesus geschlagen. Aus der Geschichte des Christentums noch viele andere Beispiele  angeführt werden. Wir können sogar noch weiter gehen und die Gipfelerfahrungen anderer Religionen mit heranziehen. Im Bereich der indianischen Welterfahrung etwa sind die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen nichts Außergewöhnliches. In den Büchern des amerikanischen Anthropologen Carlos Castaneda, der sich selbst in das indianische Schamanentum einweihen ließ, wird eine andere Wirklichkeit als die der europäisch geprägten Zivilisation dargestellt. Was immer man davon halten mag, nicht zu leugnen ist die Wirkung, die davon ausgeht. Schon die Augen seines Lehrmeisters, eines alten Indianers, ziehen ihn an. Er gewinnt die Kraft, „seine eigene Geschichte zu löschen, weil die Dichte der neuen Erfahrungen die bisherige Sinnleere aufhebt. Er wird mit dem Tod konfrontiert, verliert auf diesem Weg seine Angst und überwindet seine depressive Stimmung. Der Tod wird sogar sein „Ratgeber" Manches mutet fremd an. Aber das Ergebnis seines Innenweges sind Einstellungen, die uns auch im christlichen Raumvertraut vorkommen, nämlich völlige Enthaltsamkeit im sexuellen Bereich absoluter Gehorsam gegenüber seinem Meister und später dann seiner Meisterin und Ablehnung jeglichen materiellen Gewinns.(Er arbeitete einige Zeit inkognito als Koch in einer Autobahnraststätte in Mexiko, obwohl er schon längst von seinen  Büchern hätte leben können).

Die drei Ordensgelübde im christlichen Raum. Gehorsam, Armut und Keuschheit vollzieht der weltberühmt gewordene Schriftsteller auf seine Weise. Er  versucht er immer wieder darzulegen, dass er diesen Weg nicht selbst ausgesucht, seine neue Lebenseinstellung nicht selber ausgedacht oder willentlich hervorgerufen hat, sondern vielmehr von höheren Mächten geführt wurde.

 .Das „Widerfahrnis", von dem die ersten Christen berichten, hat also Parallelen auch in anderen Kulturen Parallelen  und  kann nicht von vorneherein als Fantasie und Illusion abgetan werden. Hier sei noch einmal erinnert an das, was über „Erleuchtung" gesagt wurde. Dürckheim zählt sie zu den Gipfelerfahrungen, die in allen Religionen vorkommen. Es wurde schon gesagt, dass ein „Erleuchteter" die Angst vor dem Tod, vor Einsamkeit und Sinnleere verliert und zu einer Liebe fähig wird, die den Rahmen der bisherigen Beziehungen sprengt. In alten Zen-Unterweisungen heißt es: Einer, der Satori hat, sieht in einer einzigen Mauerblume die Schönheit der ganzen Welt. Für westliche Menschen klingt das unverständlich, höchst paradox. Dahinter darf man eine Erfahrung vermuten, die an Kostbarkeit und Schönheit nicht mehr zu überbieten ist. Das Mauerblümchen ist nur Auslöser dafür. Beim Betrachter wird ein Erlebnisfeld aktualisiert jenseits dessen, was menschliche Vernunft erfassen kann. Dürckheim berichtet von einem Gespräch mit einem Japaner in seiner Wohnung in Tokio. Der  Besucher war von einem Gemälde  Caspar David Friedrichs  fasziniert und stellte mit bewegter Stimme die Frage, ob der Maler war „durch"(wörtlich „ jenseits")war. Dürckheim wollte wissen, was er damit meine. Daraufhin erklärte der Gast seinen Eindruck noch deutlicher. Er sagte: „Wer dieses Bild gemalt hat, war jenseits der Todesangst! Er sah den Sinn in jeder Sinnlosigkeit! Er lebte die universale Liebe"! Dürckheim bemerkt dazu, dass diese drei Bedeutungen des Wortes „jenseits" eine Erfahrung widerspiegeln, die sich ungefähr so ausdrücken lässt: Man hat ein Leben entdeckt mit einem neuen Bewusstsein. Nicht nur die Inhalte, sondern der Denkrahmen, die Art, die Dinge wahrzunehmen und zu bewerten, sind anders geworden. Man steht jenseits der Gegensätze, die uns die Logik und Unlogik des alltäglichen Lebens auferlegen, an einem Punkt jenseits von dem, was einem bisher wichtig oder bedeutungslos, gut oder schlecht erschien, selbst außerhalb des geistigen Bewegungsrahmens derer, die einem aufgrund der Abstammung und der Religion nahe standen. Es ist der Erfahrungshorizont derer, die „jenseits" oder wie Dürckheim sagt, die „durch" sind. Für ihn ist hier eine Realität, noch wirklicher als jede sogenannte wissenschaftliche Erkenntnis.

In den Schriften des Neuen Testaments treffen wir auf dieses Erfahrungsfeld auf Schritt und Tritt. Es sei noch einmal auf Paulus verwiesen. Im Brief an die Römer drückt er seine Überzeugung auf folgende Weise aus: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgend eine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 6, 38). Der Apostel sagt mit seinen Worten, was der Japaner und Dürckheim auf ihre Weise zum Ausdruck bringen. Ähnlich wie sie redet er aus einem Zustand heraus, in dem er über den Gegensätzen von Leben und Tod, der guten und bösen Schicksalsmächte, über Gegenwart und Zukunft steht. Wie die Zen - Leute spricht auch Paulus von der Liebe. Er ist an einem Punkt, wo er allen Menschen und allen Wesen nahe ist, und trifft damit die Aussagen des heiligen Franziskus im Sonnengesang. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom  hatte sich Paulus kurz vor dieser Stelle auch über das Schicksal der Schöpfung geäußert und war intuitiv zu der Einsicht gekommen, dass „auch die Schöpfung von der Sklaverei und Verlorenheit zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes befreit wird" (Rö 8, 21). Ein anderes Zitat über Leben und Tod finden wir im Brief an die Philipper. Paulus schreibt aus dem Gefängnis und weiß nicht, wie sein Prozess ausgehen wird, aber er kann sein Los, wie immer es sein wird, mit Zuversicht annehmen.  „Für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn" (Phil 1, 21). Es ist ein Satz, den man ehrlicherweise nicht leichtfertig aussprechen sollte,  setzt er doch eine Verfassung voraus, mit der man dem Schlimmsten ins Auge schauen kann. Seitdem Paulus seine Umkehr erfahren hat, sieht er sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Das zentrale Wort dafür heißt „in Christus sein" (Rö 8, 1; Koll 3, 11). An dem Punkt, wo die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig wird, verliert sie sich auch zwischen den Menschen. Erinnern wir uns, wie Menschen, die vom selben Schicksal eines plötzlichen Todes getroffen sind, doch einander nahe kommen.

 Es wurde gesagt, dass der Zustand der Erleuchtung die universale Liebe mit einschließt. Wenn Christus in jedem einzelnen gegenwärtig ist und immer stärkere Konturen annimmt, dann werden die Unterschiede nach Herkunft, Stand und Geschlecht unbedeutend. „Da gilt nicht mehr Hellene und Jude, nicht Beschneidung und Unbeschnittensein, nicht Barbar, Skythe, Knecht, Freier, sondern alles in allem Christus" (Koll 3, 11). Es ist dieselbe Kraft, die in jedem wirkt und deshalb von selbst Nähe, Verstehen und Vertrauen schafft. Anders gesagt: Menschen, welche eine hohe Sensibilität für existentielle Tiefe haben, spüren diese auch bei anderen und es entsteht sehr bald eine Gemeinsamkeit. Die echten Mystiker aus Christentum, Buddhismus und Islam finden im Gespräch der Religionen bald zueinander. Die Erfahrung des gemeinsamen Urgrunds verbindet, die Begrifflichkeiten der Kulturen hingegen trennen. Die Schriften von Zen-Meistern aus dem alten Japan und China, ebenso die der Sufis  werden wegen ihres spirituellen Gehalts gerne und mit Gewinn auch von Christen gelesen, weil man darin eine gemeinsame spirituelle Mitte entdeckt.

Noch einmal: Wesentlich ist das Erfahrungsfeld, auf dem die Erscheinungen des Auferstandenen zu verstehen sind. Das Sehen des Auferstandenen ist nur auf diesem Hintergrund möglich oder anders gesagt: Wer immer Jesus nach seinem Tod als Lebenden gesehen hat, war eingetaucht in das Erfahrungsfeld, das Paulus „sein in Christus", das Dürckheim „durch sein", das die Zen-Leute „Satori" (Erleuchtung) nennen. Es gab  keine neutralen, unbeteiligten Beobachter und Berichterstatter,  sondern nur solche, denen sich aufgrund der personalen Begegnung ein inneres Auge öffnete. Es ist durchaus dem Geschehen vergleichbar, wenn zwei Menschen ihre Liebe entdecken und ihnen eine neue Welt aufgeht. Ganz in der Nähe liegt auch der Vorgang, wenn ein Erleuchteter in einer Blume die Schönheit der ganzen Welt sieht oder im Murmeln des Baches alle Symphonien der Welt hört.

Zum weiteren Verständnis sei noch eine Begebenheit im Zusammenhang mit dem russischen Starzen und Mystiker Seraphim von Sarow angeführt.  Als ihn der Gutsbesitzer und Richter Motowilow, ein tiefgläubiger Mann, einmal in seiner Einsiedelei besuchte und sie in ein Gespräch über den Geist Gottes kamen, versuchte der Gast in das Gesicht des Meisters zu blicken. Er sah darin eine blendende Sonne. Aus seinen Augen fuhren Blitze. Der Einsiedler erklärte ihm, dass er bei ihm dasselbe beobachtet habe. Offensichtlich kann nur ein Erleuchteter den außergewöhnlichen Zustand des anderen wahrnehmen. Übertragen auf die Auferstehungsberichte heiß das: Nur wer selbst „mit Christus auferweckt ist" (Koll 3, 1), was Paulus von sich und seinen Lesern sagt, kann auch den Auferstandenen sehen. Wem Jesus, der Gekreuzigte, erschienen ist, wurde gleichzeitig in den neuen Seinszustand verwandelt.

Im Mittelpunkt der Überlegungen müsste deshalb das Wahrnehmungsorgan stehen, mit dem wir die Ereignisse um Tod und Auferstehung Jesu betrachten. Der rein historisch-kritischen Sicht wird der Kern dessen, was in den Texten steht, wie den Zeitgenossen von damals verschlossen bleiben. Erst wenn sich das schon angesprochene innere Auge auftut, wenn ein existentieller Durchbruch in den Tiefenschichten der Seele geschieht, finden wir Zugang zur Welt des Neuen Testaments. Nicht die historische Gleichzeitigkeit, in der wir nach dem genauen geschichtlichen Verlauf fragen, bringt uns dem Verständnis der Auferstehung näher, sondern die existentielle. Wenn es zum Verständnis der Person Jesu, seiner Lehre und seines Todes auf die genauen historischen Fakten ankäme, wären uns die Zeitgenossen Jesu, sogar die Pharisäer weit voraus. Dies ist die Meinung des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard.

Andererseits gibt es in der Geschichte Menschen, welche die Heilige Schrift im historischen Sinn sehr naiv gelesen haben. Aber sie waren sehr kritisch zu sich selbst und haben das Organ der intuitiven Wahrnehmung für die Gestalt Jesu sehr hoch entwickelt. Weil sie in das beschriebene Erfahrungsfeld eintauchten, konnte ihnen der gekreuzigte und auferstandenen Jesus Grund und Sinn ihres Lebens werden und in ihnen eine Kraft ausstrahlen, die bis heute weiterwirkt. Es sei noch einmal auf den heiligen Franziskus verwiesen.

Die Ostererzählungen - ein Widerspruch in sich?

 

Matthäus 28, 1-9

 

Auferstehung Jesu. „Als der Sabbat vorüber war und der Morgen des ersten Wochentages anbrach, kamen Maria Magdalena und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es entstand ein großes Erdbeben; denn ein Engel des Herrn stieg vom Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Sein Aussehen war wie ein Blitz, und sein Gewand war weiß wie Schnee. Aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und waren wie tot.

Der Engel aber wandte sich zu den Frauen und sprach: „Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferweckt worden, wie er gesagt hat; kommt und seht den Platz, wo er lag! Geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferweckt ist von den Toten. Seht, er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Seht, ich habe es euch gesagt." Da gingen sie eilends, in Furcht und großer Freude, vom Grabe weg und liefen, um seinen Jüngern die Kunde zu bringen."

 

Im Vergleich dazu: Markus 16, 1-8; Lukas 24, 1-24; Johannes 20, 1-18.

 

Die Angaben der Evangelisten über die Ereignisse am ersten Tag der Woche, dem dritten Tag nach dem Tod Jesu, sind bei genauerer Betrachtung recht unterschiedlich.  Es lässt sich aus ihnen kein genauer historischer Verlauf rekonstruieren.

Die Forscher gehen sogar so weit zu sagen, die Ostererzählungen der Evangelien sowie die Himmelfahrts- und Pfingstgeschichte seien mit großer Wahrscheinlichkeit spätere erzählende Darstellungen des Glaubens, dass Jesus lebt und dass er als Auferstandener die Kirche stiftete. Wenn aber die Ostererzählungen Schöpfungen des Glaubens und nicht dessen Grundlage sind, worauf soll man dann seine Überzeugung von der Auferstehung Jesu begründen, werden sich viele fragen. Es gibt allerdings Zeugnisse außerhalb der Ostergeschichten, die durchaus ein historisches Fundament haben.

Das älteste finden wir im Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Es lautet: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift und erschien dem Kephas" (1Kor 15, 3-5). Die Schriftausleger nehmen nun an, dass der letzte Satz „er ist dem Kephas erschienen" der Grund sei, auf den sich dann alle anderen Erzählungen aufgebaut hätten. Petrus habe damit, historisch gesehen, die Kirche gegründet. Der Glaube jedoch sieht dies als eine Tat des auferstandenen Jesus.

Wenn die Erscheinung vor Petrus die älteste Überlieferung für sich beanspruchen kann, muss das nicht heißen, dass die weiteren Ereignisse, die Paulus anführt, keine Glaubwürdigkeit haben. Der anschließende Text lautet: „er erschien ... dann den Zwölf, danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt" (1 Kor 15, 5-8).Für Paulus sind seine eigene Lebensgeschichte und sein radikaler Einsatz für den neuen Weg unlösbar mit der Auferstehung Christi verbunden. „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und unser Glaube sinnlos" (1 Kor 15, 14). Ebenso wenig ist der Glaube der Christen und das Schicksal der Toten nicht von der Auferstehung Christi zu trennen. Eines ist gewiss: Bei den ersten Christen bestand die feste Überzeugung, dass Jesus lebt. Dies klingt etwas anders als die Feststellung: „sie behaupteten". (24)

Was ist nun von den Ostererzählungen zu halten, wenn sich der Grabbesuch der Frauen, das leere Grab, die Erscheinung des Engels und seine Botschaft historisch nicht belegen lassen? Der Hinweis, es seien Darstellungen des Glaubens, kann die Enttäuschung nicht so leicht aufheben. Man war ja von Kindheit daran gewöhnt, die Texte wörtlich zu nehmen. „Glauben" klingt in den Ohren heutiger Menschen nach einem vagen Fürwahrhalten. Und was soll man zu dem Vorwurf von Gerd Lüdemann sagen, die ersten Christen hätten mit den Geschichten von der Auferstehung und vielen unechten Jesusworten einen großen Betrug begangen?

Den Berichten werden wir dann gerecht, wenn wir die schon angesprochene Linie  des Denk-und Erlebnisrahmens,aus dem heraus sie entstanden sind, weiter verfolgen. Es wurde schon gesagt, dass es ein Erfahrungsfeld jenseits der rationalen Wahrnehmung gibt, das höchste Bedeutsamkeit und Gewissheit und damit  Wahrheit für sich beanspruchen kann. Es reicht bis in die Wurzeln der Existenz und fordert die ganze Aufmerksamkeit und den vollen Einsatz der Person. Das nächstliegende Beispiel ist die Liebe zweier Menschen.Kein Paar wird auf die Idee kommen, ihre Echtheit und Dauer  durch psychologische Tests zu überprüfen. Vielmehr ist es eine in der Tiefe der Existenz wahrgenommene Gewissheit, die den Schritt für das gemeinsame Leben wagen lässt. Wenn es vielfach nicht gelingt ist, ist der Grund eher darin zu suchen, dass das „Wahrnehmungsorgan" für das, was und wer zu einem passt, nicht geschärft ist; daß man die Wurzeln der eigenen Existenz zu wenig kennt. Neben dieser allgemein menschlichen, nicht-naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise gibt es die der Mystik, die gewiss nicht allen offen steht. Es sei hingewiesen auf den Bericht des André Frossard sowie von Zen-Praktizierenden.

Damit soll gesagt sein: Hier handelt es sich nicht um ein Phantom, sondern um eine Realität. Auf dieser Ebene sind die so genannten „Widerfahrnisse" der ersten Christen, d.h. die Erfahrungen mit dem auferstandenen Jesus anzusiedeln. Paulus scheint der beste Zeuge dafür zu sein, dass es dabei um Erschütterungen des gesamten Denk- und Werterahmens geht, um den Einsturz des ganzen inneren Universums. Erlebnisse dieser Art gleichen einem Erdbeben und ziehen wie dieses auch längere Nachbeben nach sich. Solange der Untergrund der Seele aufgewühlt ist, bestimmt er ganz und gar bis in die Träume hinein das Denken und Fühlen. Menschen, die eine Katastrophe, einen Überfall oder eine Bombennacht miterleben mussten, haben Jahre, oft ihr ganzes Leben damit zu tun und müssen immer wieder davon reden. Genauso können es beglückende Ereignisse sein, von denen man nicht loskommt. Das Erzählen ist deshalb wohltuend, weil man den Anschluss findet an das, was einen bewegt. Das Erfahrungsfeld, das sich ständig meldet und einen zu vereinnahmen versucht, bekommt einen Namen. Die innere Seelenlandschaft wird nach außen verlagert, die vorhandene Energie in Bilder und dramatische Abläufe gefasst. Auf diese Weise können sich Menschen mit traumatischen Erlebnissen entlasten, andererseits wird die Freude eines Menschen bei aufmerksamen und aufnahmebereiten Zuhörern verstärkt. Je nach Ergriffenheit des Erzählers kommt das eigene Erlebnisfeld und das der anderen in Schwingung.

Übertragen wir dies Überlegungen auf die Entstehung und Abfassung der Ostererzählungen. Wir können sie als Versuch sehen, die beeindruckenden und dramatischen Vorgänge in den Seelen derer, die an den Geschehnissen beim und nach dem Tod Jesu beteiligt waren, in der religiösen Vorstellungswelt der damaligen Zeit zum Ausdruck zu bringen. Umgekehrt gilt: Wir können aus den dargestellten dramatischen Abläufen, aus den hochemotional aufgeladenen Figuren und Personen auf das Erlebnisfeld der ersten Christen schließen. Die Fragestellung der Erzähler lautet nicht: Was ist genau abgelaufen? Sondern: In welche Worte kann ich das fassen, was mich aufgewühlt, berührt, umgeworfen hat?

Ihre Absicht ist nicht, eine genaue Berichterstattung über objektiv beobachtbare Ereignisse zu liefern, sondern dasselbe Erlebnisfeld bei den Zuhörern und Lesern zu wecken und sie zutiefst emotional am Geschehen zu beteiligen. Das heißt für uns: Wir dürfen die Osterberichte mit ihrem Bildgehalt unmittelbar auf uns wirken lassen. Wir spüren damit etwas von dem Erlebnisraum, in dem die ersten Jünger dem Auferstandenen begegnet sind. Wir dürfen uns ohne Vorbehalt und ohne Verstoß gegen Logik und Vernunft auf das Oster-Halleluja einstimmen lassen.

Beginnen wir mit den Einzelheiten. Das „gewaltige Erdbeben" (Mt 28,2) lässt etwas vom Beben des Seelengrundes, d.h. von der gewaltigen Erschütterung der ersten Christen ahnen. Eine kurze Bemerkung in der Apostelgeschichte bestätigt diese Annahme. Es heißt von der Urgemeinde: „Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt" (Apg 4,31). Das Beben der Erde ist wiederum Ausdruck für das Beben des Herzens, das der Geist bewirkt. Man erzählt ja auch etwas, das unfassbar ist, mit bebender Stimme.

Im Engel, der vom Himmel steigt, der den übergroßen Stein wegwälzt, dessen Gesicht wie der Blitz und dessen Gewand wie Schnee ist (Mt 28, 2,3), dürfen wir die übermächtige Kraft im Durchbruch zur Transzendenz sehen. Menschen, die mit Mystik Erfahrung haben, empfinden die Anziehung und Wirkung des transzendenten Grundes als eine Größe, die sie überwältigt. Dazu gehört auch, dass die Wächter wie tot zu Boden fallen (Mt 28, 4). Man könnte sie auch als Symbole für alle rationalen Absicherungen, logische Schlussfolgerungen oder zeitlebens aufgebaute Ängste gegen ein tieferes Sicheinlassen auf das Geschehen mit Gott betrachten.

„Sein Aussehen war wie der Blitz" (Mt 28,3) steigert noch die Wucht des Erlebnisses. Ein Blitz hat eine Energie, die im ganz wörtlichen Sinn nicht zu fassen ist. Es sei auch an die Begegnung des Gutsbesitzers Motowilow mit dem Starzen Seraphim von Sarow erinnert. Er sah aus den Augen des Alten Blitze hervorsprühen. Hier leuchtet das Erfahrungsfeld der Ostergeschichte auf. Eine Parallele finden wir auch im Epheserbrief, in dem das Wort „Energeia - Energie" zusammen mit noch zwei weiteren Ausdrücken für Kraft und Stärke auftritt. Wörtlich heißt es: „Die Augen eures Herzens seien erleuchtet, dass ihr inne werdet, ... was es um die überragende Größe seiner Macht ist, die sich an uns, die wir glauben, tätig erweist in seiner Kraft und Stärke" (Eph 1, 18,19). Eines dürfte sicher sein: Mystiker, und als solche darf man die ersten Christen bezeichnen, sind energiegeladene, wenn nicht sogar „energische" Menschen. Blitze in den Augen sind Zeichen von Lebendigkeit und Ausstrahlung.

„Sein Gewand war weiß wie Schnee" (Mt 28, 3). Das Weiß, von dem schon gesprochen wurde, ist der Niederschlag einer Erfahrung, die einen in die ganz andere Welt hebt. Hier darf man noch einmal an den Bericht von André Frossard denken. Er kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, der gerade noch zur rechten Zeit aufgefischt wurde und der erst in diesem Augenblick erkannte, in welchem Schlamm er versunken war. Wäre dem französischen Journalisten die Bilderwelt der Bibel vertraut gewesen, hätte er wahrscheinlich seinen neuen Zustand mit dem schneeweißen Gewand des Engels verglichen.

Der Engel vertritt die höchste Autorität, nämlich die Autorität Gottes. Im Grunde ist es die überwältigende Überzeugung des Erzählers, die der Engel ausspricht: „Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat" (Mt 28, 5,6).

Die Wirkung der Erscheinung ist Furcht und Freude zugleich. Ein seelisches Erdbeben hinterlässt abwechselnd Angst und Hochstimmung, bis sich das Meer des Unbewussten wieder beruhigt hat. Beim Wort „Freude" dürfen wir an den „Jubel des vom Tod Erretteten", des französischen Journalisten  denken, ebenso an den des heiligen Franziskus, der den Namen Jesus wie eine Süßigkeit auf seiner Zunge zergehen lässt, und der „trunken von Liebe und Mitleid mit Christus die süße Melodie seines Herzens nicht zurückhalten kann", ein Holzscheit und einen Stecken nimmt, damit wie mit einer Geige spielt und darin die reine Seligkeit empfindet (25). Die wenigen Sätze und noch mehr der Sonnengesang lassen darauf schießen, dass Franziskus in das Erlebnisfeld der ersten Jünger und in das von Jesus selbst eingetreten ist, und dass er den Mann aus Nazareth wie kaum ein anderer verstanden hat.

Die Auferstehung Jesu erscheint als die unglaublichste Geschichte. Ist sie Erfindung, Behauptung, Täuschung, Mythos oder Wahrheit? Dies zu entscheiden wird einer Wissenschaft, die sich nur auf äußerlich feststellbare Fakten stützt, nicht gelingen. Es setzt nämlich eine Erkenntnisweise voraus, welche ganzheitlich, mit Herz und Verstand und mit dem ganzen Einsatz der Person vorgeht und in der sich der Forscher selbst nicht draußen lassen kann.

Unsere Schwierigkeit im Umgang mit den heiligen Texten kommt mit großer Wahrscheinlichkeit davon, dass uns als westlichen Menschen ein Organ der Wahrnehmung verloren gegangen ist, das den östlichen Kulturen wie selbstverständlich vertraut ist. Es ist der Blick  in das eigene Innere und in die Tiefe der Transzendenz. Um zu verstehen, was Jesus ursprünglich wollte, was mit ihm geschehen und wer er in Wirklichkeit ist, sollte man nicht nur historisch-kritisch, vielmehr noch selbstkritisch sehen, d.h. den Rahmen der eigenen Wahrnehmung überprüfen.

VI. Christus: nicht Mythos sondern Mysterium

 

Von Christus als von einem Mythos zu reden heißt  im Empfinden der meisten heute soviel wie ihm die Bedeutung für unsere Zeit absprechen. Tatsache ist, dass die historische Forschung viele Erzählungen über Jesus in das Reich der Mythen und Legenden verwiesen hat. Es hat den Anschein, als ob einem damit die Grundlage des Glaubens entzogen würde. Selbst wenn die Tiefenpsychologie den Mythos als solchen als Ausdruck realen seelischen Geschehens aufwertet, bleibt trotzdem die Frage: Ist das, was von Jesus an Außergewöhnlichem, „Unglaublichem" berichtet wird, seine Wunder, die Hoheitstitel des Gottessohnes, des Messias bzw. des Christus, des Erlösers nichts als eine allgemein verbreitete jüdische Vorstellung, sogar ein Menschheitstraum also nichts als ein Mythos, der dem historischen Jesus übergestülpt wurde?

Nimmt man die Berichte des Apostels Paulus und anderer ernst, so steht am Anfang des Christentums nicht ein Mythos wie etwa der von der ewigen Jugend, sondern das Mysterium als Erfahrung von etwas Unerhörtem und Einmaligem. Es ist   die Wende seiner Lebensgeschichte. Der Apostel spricht von einer „Offenbarung Jesu Christi" (Gal 1, 12).Die überwältigende Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Gal 1, 16), sprengte den Verstehensrahmen eines jüdischen Rabbi und die der Vorstellungen seiner Zeit. Paulus war mit seinen Aussagen über Jesus nicht mehr einzuordnen. Deshalb gab es die erbitterte Ablehnung der traditionellen Kreise.

Nicht die Jünger haben aus ihrem Meister eine mythologische Figur gemacht, sondern Jesus hat als historische Person und im Schicksal seines Todes Wirkungen ausgelöst, die mit den Symbolen der Mythologie z.B. der Himmelfahrt umschrieben werden, aber im letzten nicht fassbar, ein Mysterium bleiben. Um dem Geheimnis Jesu auf die Spur zu kommen, bräuchte es ähnliche Erfahrungen wie die eines Paulus, eines Franziskus, André Frossards oder eines Zen-Meisters.

Wir machen dann den entscheidenden Fortschritt, wenn wir den Blick von außen nach innen, vom rein-logischen Denken zur existentiellen Betroffenheit wenden. Auf dieser Spur beginnen wir, ein Stück der  Probleme von uns selbst und der großen Welt  zu verstehen.

 

 

Die Kraft des Mysteriums

 

Neues Leben aus alten Geheimnissen

 

I. An welche Mythen glauben wir?

Geschichten, die das Leben verändern 1

Um dreißig Jahre jünger oder die „Quelle der Jugend"...................................................................................... 1

Christus nur ein Mythos?................................................................................................. 4

Der Siegeszug der Mythen................................. Fehler! Textmarke nicht definiert.

II. Was sind Mythen?........................................................................................................ 11

Nur Fiktionen?................................................................................................................. 11

Die Kraft der Helden............................................ Fehler! Textmarke nicht definiert.

Die Heimat der Seele..................................................................................................... 14

Der mühsame Weg nach Hause.................................................................................. 17

Das Drama der Seele.................................................................................................... 19

Das betörende Lied von sich selbst............................................................................ 23

Kein Zurück zum Mythos , sondern kritische Unterscheidung................................ 25

III. Mythen: die Seelenlandschaft der Bibel............................................................... 27

Das Geheimnis des Anfangs........................................................................................ 27

Der verbotene Zugriff..................................................................................................... 32

Die großen Bilder der Zukunft...................................................................................... 34

Vom Paradies vertrieben auf dem Weg zur Stadt Gottes........................................ 34

Der Mythos, der nicht untergeht................................................................................... 39

„Von der Quelle der Jugend"  zum Wasser des Lebens.......................................... 41

... und zu den Bäumen des Lebens............................................................................ 42

Die Früchte, die uns leben lassen............................................................................... 45

........................................................................................................................................... 51

IV. Vom Mythos zum Mysterium - die Wahrheit der Mystik..................................... 58

Geschichten der Wandlung: die eigentlichen Wunder............................................. 62

Das Mysterium und die reine Lehre............................................................................ 67

Die unglaublichste Geschichte: Die Auferstehung Jesu.......................................... 70

Die Ostererzählungen - ein Widerspruch in sich?.................................................... 75

V. Christus: nicht Mythos sonder Mysterium........................................................... 81

Anmerkungen..................................................................................................................... 85

 

 

 

Anmerkungen

1.    Peter Kellen, „Die Fünf Tibeter" Das alte Geheimnis aus den Hochtälern des Himalaja lässt Sie Berge versetzen, München 2001

2.    Deutsche St. Jakobus - Gesellschaft, Aachen, Rundbrief v. 12.12.2001: Es waren 1999 genau 154613 Pilger

3.    V Esotera, Das Magazin für Neues Denken und Handeln, Nov. 99 l.Titelseite

4.    H. Conzelmann, A. Lindemann Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen, 1998 522

5.    Publik -Forum, Zeitung kritischer Christen, 23.Febr. 2001 / S 26

6.    Rudolf Bultmann in Kerygma und Mythos, hrg. V. Hans Werner Bartsche, Bd I, Hamburg - Bergstedt 1960, S 15-48

7.    C.G.Jung,GW Bd11 439

8.    C. G. Jung, GW Bd9, S 168

9.    Ebenda

10. .Sigmund Freud, Studienausgabe Bd IX, 158

11. Gerd Lüdemann, Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat, Lüneburg 1998, 123

12. .Christ in der Gegenwart,54(2002)159

13. John O'Donohue, Anam Cara, München 1997, 240

14. Abschiedspredigt von Eberhard Gottmann in: Inge Hasselbeck, Über den Fluss schauen, Ein literarischer Begleiter, St. Ottilien 2001

15. Vgl. Jean Giono, Der Mann mit den Bäumen, Zürich 1981

16. André Frossard, „Gott existiert, ich bin ihm begegnet", Freiburg 1970

17. Ebenda

18. Ebd.

19. Ebd.

20. Klaus Uwe Peters, Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, Art. Visionen

21. Frossard, 9

22. H. Conzelmann u. A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 12. Auflage, Tübingen 1998

23. W. Marxen zit. nach ebenda 524

24.ebd.

25.Franziskus von Assisi, ,Legenden und Laude, hgg.von Otto Karrer Zürich 1982,177

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