DerTodesschrei Jesu
„Jesus stieß einen lauten Schrei aus und hauchte seinen Geist aus."(Mk15,37). Wer das Sterben dieser Szene miterlebt hat, konnte sie nie mehr vergessen. Drei Evangelisten(Mt,Mk,Lk) berichten übereinstimmend, beim Sterben Jesu verfinstert sich die Sonne , die Erde bebt(Mt 27,50- 51 und Mk), der Vorhang des Tempels zerreisst. Der römische Hauptmann, der ungezählte Todesschreie gehört hatte, erschrickt. Dieser Schrei klang ganz anders als die, welche er bisher vernommen hatte: So etwas hat er noch nie erlebt.Der von Schlachten abgehärtete Mann ist erschüttert und kann nur sagen: "Dieser Mann war Gottes Sohn."(Mk15,39). Ähnlich geht es den Umstehenden, die zu wohlwollender oder neugieriger Teilnahme gekommen waren. Sie kehrten an die "Brust schlagend nach Hause zurück."(Lk23,48).
Der Tod- die Sammlung des Lebens
Der Tod ist das Ereignis, über das wir nicht verfügen können, das nach wie vor bei aller Aufklärung und Wissenschaftlichkeit ein dunkles Geheimnis bleibt. Und doch hat er eine durchsclagende Wirkung auf alle, die mit /der Verstorbenen in Verbindung standen. Es ist der Anlass, der die Eigenart, die Bedeutung und Größe eines Lebens noch einmal wachruft. Es ist üblich, in Anzeigen, Trauerreden und in vielen Gesten der Verbundenheit hervorzuheben und zu würdigen, was ihm / ihr und seinen Angehörigen, Freunden und anderen wichtig war, wofür er/sie gelebt, gearbeitet, gehofft und gelitten hat. Wir können das Schicksal nicht zurückdrehen, aber wir können uns noch einmal bewusst werden, welchen Raum dieser Mensch in unserem Leben eingenommen, was er /sie für uns war.So dürfen wir auch die Schilderung der Sterbens Jesu als Versuch sehen, seine Bedeutung darzustellen. Das Letzte, das Jesus als historische Person äußert , ist kein Wort, sondern ein Schrei..Wie immer es gewesen sein mag, dem Erzähler ist wichtig, den Vorgang zu berichten, weil darin eine tiefe Wahrheit verborgen ist.
Schreie des Lebens
Zunächst gilt es zu schauen, was ein Schrei bedeuten kann. Es gibt Schreie um Hilfe, Schmerzensschreie, Schreie der Freude und der Lust, Schreie des Zorns und des Angriffs, Schreie des Schreckens und derAngst. Schreie werden immer dann laut, wenn uns etwas zutiefst nahe geht, wenn unsere Existenz bedroht, angegriffen oder zuinnerst aufgewühlt ist ,wenn unser Lebensnerv getroffen wird, oft sogar, wenn es um Leben oder Tod geht und wenn Worte nicht mehr möglich sind. Ein Schrei will sagen: Ich bin noch da! Schaut her! Ich will nicht übergangen und übersehen werden. Wir dürfen an die Schreie des Kindes denken , wenn es hungrig ist und Hilfe braucht. Es ist ein Naturphänomen, das man auch bei Tieren beobachten kann.Der Schrei in existentiell extremen Situationen ist nicht absichtlich herbeigeführt, sondern kommt spontan, aus der ganz anderen Seite unserer Existenz, worüber wir keine Verfügung haben. Statt zu sagen: „Er/sie schreit", müsste es eher heißen:
Es schreit!
Ein Sterbender ist so geschwächt, dass er absichtlich keinen lauten Ton äußern kann. So ist es am Ende und auch am Beginn unseres Lebens. Der letzte Schrei, wenn ein solcher erfolgt, wird nicht vom Ich mit bewusstem Wollen hervorgebracht, noch weniger der erste Schrei am Anfang des Lebens. Der neue Mensch will sagen: Ich bin da! Hier trifft die besprochene Deutung am ehesten zu. Nicht dass das Kind absichtlich schreit, vielmehr geschieht es. Eigentlich schreit eine Instanz, die mehr weiß und mehr kann als unser kleines, eingesperrtes, verunsichertes und verwirrtes Ich, das beim Neugeborenen erst wachsen muß. Für diese Stelle außerhalb unseres Bewusstseins gibt es verschiedene Namen, die in den Religionen, in den Mythen und in der Mystik aufscheinen und Ausdruck von Erfahrungen sind. Mystiker sprechen vom Seelengrund, vom Seelenfunken, von der inneren Burg, der Tiefenpsychologe und Erforscher der Seele C.G.Jung nennt die Instanz, welche autonom, eigentätig wirkt, das Selbst im Gegensatz zum Ich, dem Zentrum des Bewusstseins. Es hat die Oberhoheit über die ganze Persönlichkeit, steht an der Grenze zwischen Leben und Tod, ist der letzte Motor des Denkens und Verhaltens und zeigt sich in schwierigen und existentiell wichtigen Situationen als das spontane Handeln, als der rettende, kluge Einfall, als die echte Freundlichkeit, als die wohltuende Atmosphäre oder als der Schrei in tödlicher Bedrohung. Ein Schrei durchbricht den gewohnten Ablauf des Tages, der Arbeit wie der Erholung, zeigt die Gefährdung und Verunsicherung der eigenen Existenz an, ruft entsprechende Aufmerksamkeit und Reaktionen hervor und zeigt damit, dass die handelnde Instanz auch in den anderen gegenwärtig ist. Das Selbst als die Mitte und Ganzehit der Persönlichkeit ist höchst individuell und universal zugleich.
Der gemeinsame Punkt
In diesem Punkt geht es es um unser ganz Eigenes. Zugleich sind wir den andern nahe.
Es ist menschliche Erfahrung, daß bei einer äußersten Erschütterung z.B. beim Tod eines Angehörigen oder Freundes das Trennende, das sich zwischen Menschen aufgebaut hat, abfällt und sie einander nahe kommen. So ist es, wenn wir einander trösten ohne viele Worte nur, indem wir sichtbar sind. Wenn der gemeinsame Schmerz den Grund der Seelen aufwühlt, berühren wir einander in der Tiefe. Wir werden von einem Punkt ergriffen, in dem jeder er/sie selbst ist und der doch allen gemeinsam ist.
In einer Situation auf Leben und Tod ist der ganze Organismus auf den Ernst des Geschehens ausgerichtet und er bietet alle Kräfte auf für den Schrei, der das Schicksal eines Menschen zum Ausdruck bringt. Am eindrucksvollsten zeigen dies die Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munch, die den Titel „Der Schrei" tragen.
Es ist jeweils eine menschliche Figur unter einem roten Himmel zu sehen, die ihre Hände gegen die Ohren presst, während sie Mund und Augen angstvoll aufreißt. Munch verarbeitete in dem Motiv eine eigene Angstattacke während eines abendlichen Spaziergangs, bei der er einen Schrei zu vernehmen meinte, der durch die Natur ging.
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Es schrie um sein Leben
Ein Schrei, den eine Krise auslöst, konzentriert alle Kräfte und alle Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, auf den einen Punkt des bloßen Überlebens oder auf einen äußerst wichtigen Wert z. B. die Liebe zum eigenen Kind oder zum Lebenspartner. So kann es der Schrei der Hingabe oder der Verzweiflung sein. Es ist die absolute Konzentration, die uns ins Zentrum unserer Persönlichkeitbringt, wo alle unwesentlichen Dinge, Interessen und Vorstellungen abfallen.
Den bedingungslosen Einsatz, den das Leid bzw. ein drohender Verlust erzwingt, dürfen wir als den Preis sehen, den wir für Heilung, für ein Dasein in Würde und Erfüllung bezahlen.
Der Schrei - der Wendepunkt
Weil der Schrei aus dem Seelengrund die ganze Existenz d.h. die Emotionen wie die Denkweisen erfasst, bedeutet dies einen Wendepunkt im Leben eines Menschen. Es kann heißen, dass es von Jetzt ab aufwärts geht, das ein Weg einsetzt, der uns von Krankheit, Behinderung, vom Ausgeschlossensein befreitund in ein Leben der Würde oder in eine Sicht der Welt mit ganz anderen Zielen und Werten führt.
Aus dem Leben Jesu wird eine Episode geschildert, wo ein Schrei die Wende herbeiführt. Als Jesus Jericho verließ, saß ein blinder Bettler am Wege. Als er hört, dass Jesus vorbeizieht, schreit er laut: „Jesus, Sohn Davidas erbarme dich meiner."(Mk.10,46-52). Das laute Schreien ist ja die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. In einem Religionsbuch wird die ganze Gestalt des Blinden rot dargestellt. Dieses Rot bedeutet die Anstrengung des Mannes. Er ist rot angelaufen, weil er aus Leibeskräften schreit. Dieses Rot gibt die Dramatik der Szene sehr treffend wieder. Es ist sein voller Einsatz. Er schreit um sein Leben; er denkt: jetzt, - wo Jesus vorbeigeht - oder nie! Und tatsächlich hat der Schrei Erfolg. Zuerst wird er gescholten und abgewiesen, vielleicht mit dem Argument, er solle die feierliche Atmosphäre nicht stören; der Meister könnte sich belästigt fühlen. Was sei er schon als Bettler, wo es doch um viel wichtigere Dinge geht. Als er aber nicht aufhört, wird Jesus aufmerksam und läßt ihn rufen. Hier schlägt die Stimmung zu seinen Gunsten um. Es ist der entscheidende Wendepunkt! Die Umstehenden ermuntern ihn jetzt, zu Jesus zu kommen. Was in der folgenden Begegnung auffällt, ist dies: Jesus fragt ihn nach dem, was er will, nach dem was aus ihm herauskommt. Er darf seinen Wunsch frei äußern und Jesus respektiert sein Schreien und seinen Einsatz um jeden Preis als Ausdruck seines Glaubens und sieht darin den Grund, dass Heilung möglich ist. „Dein Glaube hat dir geholfen" (Markus 10,52) lautet der Satz, mit dem Jesus ihn und andere Bittsteller entläßt.
Das Schreien des blinden Bartimäus kommt unmittelbar aus ihm selbst, aus seinem Schmerz; es ist nicht die eigene Anstrengung, sondern das zu gelassene Erleben! Der entscheidende Moment liegt darin, daß hier Kräfte des Unbewußten den Leidenden ergreifen und damit die Tiefe der gesamten Existenz mobilisieren, während bei einem rein willentlichen Vorsatz der innere Mensch unbewegt bleibt.
Der Wendepunkt am Kreuz
Der Schrei des Blinden von Jericho als rettender Glaube führt uns wieder zum letzten Schrei Jesu am Kreuz. Ihm gehen Worte der totalen Gottesferne voraus.
„Um die neunte Stunde aber rief Jesus mit lauter Stimme: „Eli, Eli, lema sebachtani, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk,27,46) Dann folgt der Schrei und Jesus gibt seinen Geist auf. Ist Jesus in einer totalen Verzweiflung gestorben? Wenn wir davon ausgehen, das der Schrei aus der letzten Tiefe der Existenz hervorgeht, aus dem bodenlosen Abgrund, dann ist Jesus nicht Gott- los geworden, sondern mit dem Urgrund d.h.mit dem Vater eins geworden.. Der Schrei seines Todes wurde zum Wendepunkt.
Noch eine andere Stelle ist für das Verständnis wichtig. Im Hebräerbrief lesen wir: „Als Christus auf Erden lebte hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden". (Hebr 5,7). Der Hebräerbrief bestätigt, daß der Schrei Jesu am Kreuz, wo es buchstäblich ums Ganze geht, um die ganze Welt, wie beim blinden Bartimäus der rettende Glaube ist. Wenn wir davon ausgehen, dass der Schrei der äußersten Anspannung und Not aus der innersten Instanz kommt, die zugleich die Mitte aller ist, dürfen wir sagen, dass Todesschrei Jesu den Seelengrund nicht nur der Umstehenden, sondern auch der Menschen aller Zeiten berührt hat und damit allen Leidenden, Gequälten und Geschundenen nahe kommt. Der Verfasser des Hebräerbriefes führt weiter aus: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in jeder Hinsicht auf gleiche Weise versucht wurde - doch fern von Sünde" (Hebräer 4,15). Das Wort „versucht" sollten wir hier eher mit „erschüttert", „zerrissen", „verzweifelt" wiedergeben, um die Situation eines Menschen auszudrücken, der „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen"? hinausschrie.
der Wendepunkt in der Tiefe
Als Menschen, die an Jesus glauben, dürfen wir annehmen, daß Jesus auch unsere Verlassen-heit, unsere Ausweglosigkeit und Verzweiflung mit hinausgeschrien hat. Eine Vorstellung, die uns weiterhelfen kann. Denn wenn wir in einem Loch der Gefühlsleere, der Angst und der inneren Lähmung stecken, müssen wir aushalten, bis sich sich etwas bewegt, bis der Punkt erreicht ist, wo sich etwas umdreht. Entscheidend ist die Hoffnung , dass es einen Wendpunkt gibt. Es muß nicht das wörtliche Hinausschreien sein, meist genügt das Aussprechen von unangenehmen Erinnerungen, von Verletzungen, Beschämungen, Vorstellungen und Phantasien, die uns an einem fruchtbaren Austausch hindern. Wichtig ist immer: es gilt in das Erleben zu kommen, die wirklichen Gefühle beim Namen zu nennen und sie nicht aus falscher Rücksicht zu verschweigen.
Alles hängt davon ab, ob wir den Wendepunkt in der Tiefe unserer Seele erreichen, d.h. ob wir auf tiefere Gefühle stoßen, zu solchen, die unser angespanntes und zerrissenes Ich tragen und entlasten; wo wir Kräfte in uns spüren, denen wir uns anvertrauen dürfen, weil wir sie als innere Einheit, als Freiheit und Friede erleben; wo wir das Alte, das uns bisher quälte, ruhig vergessen können. Hier geschieht es, dass die innerste Instanz, der göttliche Funke, der Urgrund von allem ins Wirken kommt und Krisen zu Wendezeiten werden.