Macht und Ohnmacht in der Kirche

Ein Blick in die Wirklichkeit

Kaum ein Wort ist in den Diskussionen und Artikeln der letzten Zeit in kirchlichen Kreisen öfters zu hören bzw. zu lesen als „Macht" und „Missbrauch". Die Theologie weiß eigentlich dazu keine rechte Antwort. Hilfreicher ist es deshalb, den Blick in die konkrete Wirklichkeit der Kirche zu lenken, auf das, was deren Mitglieder tatsächlich erleben, auf deren Sorgen, Ängste, Nöte, Sehnsüchte und verlorenen Hoffnungen einzugehen. Ohne die Missbrauchsgeschichten zu zitieren, sollen einmal die Klagen, die Unzufriedenheiten, die Schieflagen zu Wort kommen, welche die Gut-Gläubigen bewegen und für viele ein Anlass sind, die Kirche zu verlassen.                                                                         I

Erfahrungen von Ohnmacht.

An vielen Orten hört man die Klage: wir bekommen keinen Pfarrer mehr, unsere Pfarrei wird mit anderen zusammengelegt. In der Kirche ist nur alle 3 Wochen ein Gottesdienst. Die Leute treffen sich immer selteneres. Wir müssen ohnmächtig zuschauen, wie alles auseinandergeht.

Eine junge Frau hat ihr Theologiestudium absolviert, zur gleichen Zeit ein junger Mann in ihrem Alter. Dieser hat sich für das Priestertum entschieden. Er wird in der Pfarrgemeinde die erste Rolle einnehmen. Sie kann im besten Fall als Pastoralreferentin angestellt werden, aber dann wird sie nur die zweite Rolle spielen.    Entscheidend dafür ist: Wer steht am Sonntag vor der Gemeinde und kann sich gewichtig darstellen?  Wer predigt während der Sonntagsmesse?  Wessen Wort gilt? ...

Andere Szenen: Einer Pastoralreferentin zerbricht die Ehe. Sie hat zwei Kinder. Nach geltendem Recht verliert sie den Arbeitsplatz, wenn sie einen neuen Partner kennen lernt und ihn heiratet. Sie müsste ein ganzes Leben allein bleiben.                                                                                                                                                                                                                                                                                            Ein Pfarrer hat eine Frau kennengelernt als Partnerin für die Arbeit wie für den persönlichen Bereich. Er will offiziell dazu stehen das heißt er will diese Frau heiraten. Er kann es nur, wenn er aus dem Amt ausscheidet. Kaum jemand in der Pfarrei hätte etwas gegen den Schritt des Pfarrers. Die Gläubigen, die ihn mögen und schätzen, fühlen sich ohnmächtig gegenüber einer Institution, die Gesetze erlässt, die sie nicht mit dem Evangelium vereinbaren können und darin nur Machterhalt vermuten.

 Eine Sprache, die Macht ausdrückt:

Macht und Ohnmacht des kirchlichen Alltags kann man gut in (heute nicht mehr so) gebräuchlichen Redewendungen erkennen.                                                                                                                             Die Oberen und die Unteren                                                                                                      

Allein schon die im kirchlichen Raum übliche Bezeichnung „die Oberen" drückt ein Machtgefälle aus. Wenn die einen die Oberen sind, dann sind die anderen die Unteren! Wie passt dies zur Absicht Jesu, der sagte: „Ihr aber alle seid Brüder! (Mt23,8)?                                                                                                                                                                                                                                                                  Von „Oberen" kann man hören: Da haben wir nur noch wenige, über die wir verfügen können!" Dahinter steh eine Auffassung von kirchlicher Gemeinschaft wie von einer militärischen Einheit. Der oberste Befehlshaber hat den Überblick und hat volle Verfügungsgewalt über jeden. Jesus spricht aber vom Hirten, den seine Schafe an der Stimme erkennen, Vertrauen zu ihm haben und deshalb ihm folgen. Ein anderes Bild ist die Pflanze, die im Garten wächst und sich entfaltet.                                                             

Es gibt Redensarten, die Macht über den andern ausdrücken und eine ungute, unchristliche Gebrauchsgeschichte wiederspiegeln:

Denen muss ich noch die Leviten lesen!"                                                                                  

„Er hat es ihnen wieder gesagt!                                                                                                

 „Die werde ich noch ins Gebet nehmen!"                                                                          

„Abkanzeln!"                                                                                                                                  

 „Dann Gnade dir Gott!"  ist eine Drohung mit letzter Konsequenz.                                                   

„Ich meine es dir nur gut" ist ein häufig gebrauchter Ausdruck, um den anderen zurechtzuweisen, weil man „weiß" was für ihn gut ist. In Wirklichkeit ist es eine Form, sich über den anderen zu erheben und ihn zu demütigen. Es ist einer der Gründe, wenn keine rechte Freude in einer kirchlichen Gemeinschaft aufkommen kann.

 Dazu gehört auch  Die herablassende Barmherzigkeit.                                                                                                                                                                                                                                              Die übliche Aufforderung zur Nächstenliebe heißt, den Armen, Hilfsbedürftigen, denen am Rande der Gesellschaft helfen. Konkret sind es Spenden, welche Nächstenliebe ausdrücken. Doch ein Almosen setzt ein Gefälle von sozialer Stellung und Abhängigkeit voraus: Hier der edle Besitzende, dort der Arme, der „Hungerleider," der es zu nichts gebracht hat, der Machtlose. Kritische fordern die Begegnung auf gleicher Höhe in Ebenbürtigkeit. „Ich will kein Mitleid, ich will ernst genommen werden" Es ist eines der Punkte, warum Kirche bei allen Leistungen auf sozialem Gebiet zusehends an Ansehen, an Anziehung und Sympathien verliert

II

Die Ohnmacht der Machtlosen

Bei Kirchenmitgliedern, die aufgrund ihrer Bildung und geistigen Erwachens eigenständig denken, hat sich viel Unmut und Unzufriedenheit angehäuft. Als Bürger einer demokratischen Ordnung liegt es ihnen nicht mehr, gehorsam und demütig von einer Obrigkeit Anweisungen hinzunehmen. „Wir sind Getaufte, wir sind Mitglieder der Kirche, wir leiden an den Missständen und wir möchten daran etwas ändern". So äußern sich viele, schließen sich zusammen und verlangen nach Mitbestimmung. So hat sich vor 25 Jahren die Kirchenvolksbewegung gebildet, in jüngster Zeit ist es die Frauenbewegung Maria2.0. Es geht um die „Gleichberechtigung der Frau, die mit gleicher Würde und mit gleichen Berufungen gesegnet und geliebt ist als Gottes Kind, wie jeder Mann." Verlangt wird der Zugang zu den Weiheämtern, welche Voraussetzung für Mitbestimmung und volle Gleichberechtigung sind.                                                                                                                                                                              „Gefordert wird die Abschaffung bestehender männerbündischer Machtstrukturen", kann man immer wieder hören, ebenso die Verpflichtung zum Zölibat. Man betont Mitverantwortung, dahinter stehen Enttäuschung, Bitterkeit und Zorn. Alle bisherigen Versuche, etwas zu ändern, sind an den bestehenden Machtverhältnissen abgeprallt. Wer immer Forderungen aufstellt, muss seine Ohnmacht einsehen. Der Synodale Weg spiegelt diese Grundstimmung wieder.  In diesem Zusammenhang soll der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann erwähnt sein, der wirksame Wege aufgezeigt hat, wie die Not der Menschen und deren Entfremdung von der Kirche überwunden werden kann. Sein Anliegen wurde nicht verstanden und fand keine Aufnahme in den Gedankengängen der führenden Theologen, der Vordenker und Vor-Schreiber. Es hat den Anschein, als ob  jeder Beitrag, der mit Tiefenpsychologie zu tun hat, keine Chance hat, in einer ernsthaften Diskussion berücksichtigt oder in maßgebende Veröffentlichungen aufgenommen zu werden. Nach den schmerzlichen Auseinandersetzungen ging -so heißt es in einem Kommentar- der Kirchliche Alltag am Konflikt mit Drewermann vorüber. Heute ist es so:  Die Krise der Kirche, zu deren Lösung der Mann aus Paderborn wirksame Ansätze geliefert   hätte, geht am kirchlichen Alltag vorüber.

Die Ohnmacht der Mächtigen

Der Zorn richtet sich gegen die, welche die Vorschriften erlassen und die Entscheidungen treffen. Für Aufbegehrende ist nicht zu verstehen, warum die Verantwortlichen nicht auf ihre Forderungen eingehen. Als Motiv vermutet man den Erhalt der Macht.. Aber können die Oberen wirklich so, wie es sich die Unteren vorstellen?                                                                                                                          Wie mächtig sind die Mächtigen in der Kirche wirklich?  Hans Küng hat in seinen Memoiren darauf hingewiesen, dass bei den Bischöfen eine große Angst vor den Behörden in Rom herrscht, einen falschen Schritt zu tun. Man kann nun wieder zurückgehen und denen oder dem an höchster Stelle den Machtgebrauch oder -Macht-Missbrauch zum Vorwurf machen. Aber selbst der Papst ist nicht frei in seinen Entscheidungen. Um die Einheit zu erhalten muss er Rücksicht nehmen auf die, welche mit den Forderungen aus Deutschland nicht einverstanden sind. Er möchte nicht, dass sich die Gräben zwischen den verschiedenen Richtungen im eigenen Lager und zu anderen Kirchen weiter vertiefen.       Man sollte weniger an Festigung der Macht denken. Eher ist es so, dass die Leitenden gewissermaßen selbst ohnmächtig gegenüber der Tradition sind, gegenüber einem seit Jahrhunderten festgefügten System, weil sie mit ihm innerlich verschmolzen sind. Sie selbst sind Ergebnis, wenn nicht Opfer des Systems. Sie sind in einem Denkrahmen gefangen, den sie selbst als solchen gar nicht wahrnehmen und hinterfragen. So kommt der ganze Bereich der Tiefenpsychologie, welcher von den innersten, verborgenen Motiven des Menschen handelt und deren Besserung ermöglicht, selbst bei den angesehensten Theologen nicht vor. Damit wird ein Instrument ausgeschlagen, das eine nachhaltige Lösung der Krise ermöglichen würde. Und dies von denen, die Maß gebend das geistige Klima im kirchlichen Raum bestimmen! Kaum jemand ist bewusst, dass sie damit die Ohnmacht der Kirche gegenüber den Strömungen der Zeit immer neu  bestätigen.So ist ein wesentliches Auswahlkriterium für ein höheres Amt, dass nur solche Kandidaten in Frage kommen, die sich nie kritisch gegen das System geäußert haben und damit nie Angst machten. Statt von „Machterhalt" sollte man eher von „Systemerhalt" sprechen. Denn wer mit dem System verschmolzen ist, wird durch Kritik daran selbst verunsichert und wehrt entsprechend ab.                                                                                                                     

Nun hat sich aber eine breite Front der Kritik aufgetan von denen, welche die bisherige Gestalt der Kirche in Frage stellen, aber auch von denen, die sich auf die Tradition berufen. Man sollte sich einmal den Druck vorstellen, unter dem heute der Inhaber eines Amtes steht. Es wird verständlicher, wenn von oben kaum Vorschläge kommen, die lösen und befrieden und den Menschen von heute gerecht werden. Stattdessen geben sie nur dem alten System der Verwaltung neue Strukturen. Gemeint ist die Neueinteilung der Pfarreien. Die Sorge ist berechtigt, dass die gewachsenen, alten Pfarreien ihre bergende, Heimat gebende Kraft verlieren, dass dafür die größere unübersichtliche Einheit kein Ersatz ist und damit die Entfremdung von der Kirche geradezu gefördert wird. Ob man je daran gedacht hat, hier eine Meinungsbildung von Betroffenen als ernsthafte Lösungsmöglichkeit zu zulassen? Damit verdichtet sich der Vorwurf, dass man als Mitglied der Kirche zwar gefragt ist, wenn es um Spenden und aktive Hilfeleistungen geht, aber nicht bei wichtigen Entscheidungen. Dies verstärkt die bedrückende Stimmung der Ohnmacht, die sich ausdrückt in dem Satz. „Man kann ja doch nichts machen!" Es bedeutet Resignation auf allen Ebenen und schließlich Auszug in Massen.    Weiter ist zu bedenken:  Wer als innere Struktur, d.h. als Muster des Denkens, nur das herkömmliche Schema kennt und darüber nicht hinauskann, wird den neuen Herausforderungen nicht gerecht. Er kann gut mit Seinesgleichen umgehen, mit denen, die so denken wie er. Aber er ist ohnmächtig gegen die Strömung der Zeit, die nach Selbständigkeit, Autonomie und Mündigkeit vor allem aber Respekt vor der Entscheidung des einzelnen verlangt.  So wird der jährliche Massenschwund von    200 000 Mitgliedern zwar als schmerzvoll bedauert, aber ist man sich wirklich darüber im Klaren, was im Sinne Jesu schiefläuft, dass  die Kraft der frühen Kirche, die Überzeugungskraft der ersten Christen fehlt?                                      Die Ohnmacht der „Mächtigen" könnte man so beschreiben: Sie sind ohnmächtig gegen die Angst vor den Höhergestellten, ohnmächtig gegen die Tradition, ohnmächtig gegen die Emotionen der öffentlichen Meinung und der Strömung der Zeit. Heribert Prantl, Redakteur der Süddeutschen Zeitung sieht in den Äußerungen der Kirchenvorstände eine durchgehende Existenzangst.

Die Macht des Machtlosen

Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass das Christentum der ersten Jahrhunderte ständig zunahm, während die Gesellschaft der damaligen Zeit sicher nicht besser und der Kirche gewogener war als heute. Es gab keine Privilegien, kein Concordat, keine Kirchensteuer, keine Titel, für die man entsprechendes Honorar bekommen kann, dafür gab es strenge Erlasse der Regierung, welche die Christen vor Entscheidungen auf Leben und Tod stellte. Tatsache ist, dass sich das Christentum gegen die Zeitströmung durchsetzte. So schreibt der christliche Schriftsteller Minucius Felix: „Wenn sich ferner unsere Zahl täglich mehrt, so ist das nicht ein Beweis für Verirrungen, sondern ein ruhmvolles Zeugnis. Denn einer schönen Lebensweise bleiben die alten Freunde treu und schließen sich neue an...So haben wir gegenseitige Liebe, weil wir von Hass nichts wissen."[1]

Es lag am Zusammenhalt, an der gegenseitigen Wertschätzung, an der guten Atmosphäre in den christlichen Gemeinden. Dies ist nicht zu denken ohne den Ernst des Glaubens und nicht ohne die spirituelle Tiefe, woraus die Christen ihre Kraft holten. Man wurde Christ in einem Prozess der freien Entscheidung, nicht weil man hineingeboren wurde.  Es war etwas von der Macht zu spüren, die Jesus in seinem Auftreten ausgestrahlt hat, von welcher der Evangelist Markus berichtet:

„Sie staunten über seine Lehre; denn er lehrte, wie einer, der Macht hat, nicht wie die Schriftgelehrten"(Mk,1,32). Andere Übersetzungen sprechen von göttlicher Vollmacht. Sie wirkt nicht deshalb, weil die Hörer wissen, dass er von Gott beauftragt ist. Jesus nimmt den Namen Gottes nicht für sich in Anspruch. Er sagt nicht: „So spricht der Herr!" oder „Wort des lebendigen Gottes!" Er stellt sich nicht als Sohn Gottes vor, um den Dorfbewohnern Achtung und Respekt einzuflößen. Ganz im Gegenteil! Es ist sein innerstes Geheimnis, das zu verraten er den Besessenen strengstens verbietet.

Das Göttliche liegt in der Art, wie Jesus auftritt. Es ist ganz anders, als wenn die Schriftgelehrten reden. Es ist etwas nie Gehörtes, nie Gesehenes, nie Erlebtes. Es ist nur noch ein Staunen!  Es ist eine Stille im Raum, in der man ein Blatt hätte fallen hören. Sie reißen Mund und Ohren auf. Sie hätten ihm stundenlang zuhören können. Jedes Wort schlägt ein. Es wird ihnen anders. Es ist eine Stimmung, in der man kaum noch den Atem hört. Vom heiligen Franziskus heißt es: Es fiel wie Feuer in ihre Herzen, als er zu den Leuten auf dem Marktplatz sprach. Dies dürfen wir noch mehr von Jesus annehmen.                                                                                                                               

Noch dazu ereignet sich eine Szene, die recht rätselhaft klingt. (Mk1,25-27). Ein Mann unterbricht plötzlich Jesus, schreit auf wie von einer fremden Macht besessen und nennt ihn den Heiligen Gottes. Den Leuten wird unheimlich. Jesus bringt ihn zum Schweigen und zeigt seine unbedingte Macht, eine Sicherheit und Überlegenheit gegenüber allem, was in Angst versetzt. Die Leute sind schockiert. Nach dem Gottesdienst stehen sie zusammen,  fragen einander, wer das ist, der da auftritt, und erzählen alles voller Bewunderung  mit leuchtenden Augen weiter, den  Verwandten, den Freunden und Bekannten, den Leuten auf dem Markt, den  Kollegen bei der Arbeit. Der Schriftsteller fasst den gewaltigen Eindruck, den Jesus hinterlässt, in den Worten zusammen: „Eine neue Lehre mit voller Macht!"(Mk1,27). Das Auftreten Jesu ist unverkennbar neu, einmalig und umwerfend; es schlägt ein, man horcht auf - in der ganzen Gegend selbst am Hof des Herodes und in den Stuben der (Schrift-)Gelehrten.

Auf diesem Hintergrund dürfen wir die Macht verstehen, zu der sich Jesus                                                                                      als Auferstandener bekennt „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden" (Mt28,18).  Es ist eine andere Macht gemeint als die, welche auf Befehl und Gehorsam aufgebaut ist, die anderen den eigenen Willen aufdrückt und über deren Schicksal, sogar über Leben und Tod entscheidet. Es ist eine Kraft, die aufwühlt, die Menschen zum Staunen bringt, die von innen, nicht durch Propaganda und Einreden wirkt, die Einkehr und Ergriffenheit auslöst, die nicht bedrückt, sondern aufatmen lässt, die stärker ist als die Einflüsse von außen, als die Strömung der Zeit.

                         Wege zur Macht  

Die laut vorgetragenen Forderungen an die Kirchenleitungen sollen Druck auf die „Machthaber" ausüben.  Sie sollen von ihrer Macht etwas abgeben. Druck erzeugt Gegendruck. Wenn beide Seite bei ihrer Position bleiben, steht am Ende die Spaltung wie so häufig in der Geschichte. Die Vision einer neuen alternativen Kirche kann nicht gelingen, wenn den einen von der anderen- ganz gleich von welcher Seite - ein Konzept aufgedrückt wird, dass sie nicht bejahen. Damit werden Machtstrukturen nicht abgebaut, sondern sie bekommen nur neue Verwalter. In diesem Sinn haben Mehrheitsbeschlüsse in einer Gemeinschaft, in der es um innerste Überzeugungen geht, ihre Grenzen. Eines sollte deutlicher werden: Eine Lösung wird es nicht geben, ohne dass man die Substanz des Christlichen neu in das Blickfeld rückt und alle Beteiligten genauer danach fragen. Denn was ist gewonnen, wenn die, welche nach Gleichberechtigung und nach Positionen und Ämtern rufen, ähnlichen blinden Eifer an den Tag legen, ebenso verständnislos gegenüber anderen Meinungen, ehrgeizig und machtbesessen sind wie die, welche sie kritisieren?  Mit Forderungen allein ist es nicht getan. Um der Vision einer geschwisterlichen Kirche gerecht zu werden, braucht es eine andere Art der Auseinandersetzung, die nicht mehr von Forderung und Abwehr, von Druck und Gegendruck bestimmt ist.  

Die Macht, die Jesus eigen ist, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie keinen Druck ausübt. Ihm geht es nicht um neue Machtverteilung, sondern darum, dass der Kampf um die Macht überhaupt aufhört. Ein wesentlicher Schritt dazu ist, dass die Angst gemindert wird. Dazu kann jeder beitragen, der sich aufmacht, Angst als sein eigenes Problem zu erkennen, sie zu benennen und die Möglichkeiten ausschöpft, dies es heute gibt. Gemeint ist eine andere Dimension des Gesprächs, nämlich dass man nicht mehr um Ziele und Inhalte streitet, sondern über das Gespräch als solches spricht., über Ängste, über Verletzungen, über die innere Stimmung, darüber, wie sich Äußerungen und Verhalten der anderen Seite bei einem auswirken. Als oberste Regel gilt dann:  Nicht mehr Du- sondern Ich-Botschaften! Die Erfahrung lehrt: Spannungen lösen sich, der Druck, sich verteidigen zu müssen, fällt ab, man kann sich eher für einander öffnen.

 Auf dieser Basis arbeitet im Grunde die Psychotherapie. Sie will nicht nur abweichendes Verhalten korrigieren, sondern ein Wachstum zum größeren Umfang der Persönlichkeit ermöglichen, und den/die Betroffene/n befähigen, Emotionen zum Guten zu führen und nicht ihr Opfer zu sein. Damit öffnet sich ein innerer Weg, wo man erst richtig die Problematik in einem selbst zu sehen lernt und wo neue Lebenskeime, neuer Lebensmut und neues Vertrauen wachsen.

 Auf diesem Weg kann die nötige Atmosphäre entstehen, welche die gewohnte Gedankenlosigkeit und Gnadenlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Apathie und bedrückenden Machtverhältnisse überwindet. Auf diese Weise könnte sich die Macht zeigen, die bei Jesus zu spüren war.

 

Macht aus der Machtlosigkeit

Die Quelle dieser Macht ist in Gott, so sagt es unser Glaube. Nur was heißt das? Weiter hilft es, wenn wir von der Erfahrung Gottes sprechen. Sie hat mit dem zu tun, was man Ergriffensein sein, Tiefe und Ernst der Existenz nennt. Hier darf nicht verschwiegen werden, dass die Übung des Zen, die Übung des Sitzens in der Stille,  die anerkannte spirituelle Schriftsteller wie Thomas Merton, Enomya Lasalle, Johannes Kopp als die Bereicherung ihres Glaubens entdeckt haben, ein Ausweg aus der Religionslosigkeit unserer Zeit gesehen werden kann. Es geht hier nicht um einen fremden Glauben, sondern um das Dasein in der absoluten Stille. Entscheidend ist, dass hier alle Aktivitäten abgeschaltet werden, das Reden, die Bewegung, selbst der Fluss der Gedanken. Das Ich ist dabei nur auf Empfang ausgerichtet, es geschieht etwas mit einem. Meister Eckhard spricht vom „sich lassen" und meint wohl auf sich wirken lassen. Es kann ein Wort, eine Situation, eine Begegnung sein.                                                                                                                       Wer immer sich darauf einlässt, begibt sich in diesem Augenblick in die absolute Machtlosigkeit. Er gehört zu denen, die „arm sind im Geiste"(Mt 5,1) und die im Verständnis des zitierten Meisters nichts haben, nichts wissen und nichts wollen.

Dies bedeutet keineswegs absolute Apathie. Die spirituelle Praxis verändert den Übenden. Er wird im Laufe der Jahre anders mit seinen Gewohnheiten und mit seinen Interessen, die durchaus mit Leidenschaft verfolgt werden. Vor allem führt die Stille zu einem friedlichen Miteinander zusammen. Für die, denen das religiöse Empfinden als solches abhandengekommen ist, öffnet sich ein neuer Zugang zur inneren Welt. Es ist die Antwort auf die Frage:                                                                                Wie werden Menschen wieder religiös?

 Für suchende Gläubige ist es die intensivste Vertiefung ihrer Überzeugung. Texte der Hl. Schrift gehen einem neu auf, wer als Verkünder/in tätig ist, gewinnt an geistlicher Strahlkraft und Glaubwürdigkeit. Die eigene Erfahrung überzeugt, nicht indem man auf die Autorität der Kirche setzt.

Damit Gott in dieser Welt erscheint, braucht es den inneren Raum des Erlebens.  Man darf nicht bei den äußeren Aktivitäten stehen bleiben. So hat es Jesus gehalten. Nach dem öffentlichen Auftritt ging er in die Einsamkeit.

Die brennenden Probleme, die Streit und Kampf verursachen, der Verlust des Glaubens sind vor allem dadurch bedingt, dass der Akzent einseitig auf Struktur und Lehre, auf äußere Positionen, auf Verwaltung, auf argumentieren und Recht haben gelegt wird  statt auf spirituelle Tiefe und Authentizität des Persönlichen und die  Suche nach der eigenen Identität. Die scheint zunächst vom eigentlichen Problem abzulenken. Der Vorwurf lautet, man würde egozentrisch um sich selbst kreisen. Den wenigsten, gerade den Leidenschaftlichsten ist kaum bewusst, dass sie in der Auseinandersetzung dem eigenen Schatten begegnen. Der Schatten ist es, warum eine Liebe scheitert, eine gute Atmosphäre nicht aufkommt, Missverständnisse und Zerwürfnisse immer wieder Hoffnungen zunichtemachen. Deshalb kann das Problem von Macht und Ohnmacht nicht gebessert werden, wenn nicht der Schatten der Persönlichkeit d.h. alles Unbewältigte der eigenen Geschichte bearbeitet wird.

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Im Grunde geht es darum, der Wahrheit des eigenen Lebens ins Auge zu schauen, auch dem Streben nach Position und öffentlichem Ansehen. Vor allem sollte man kritisch prüfen, worin man seine Identität begründen will, ob sie aus dem ganz Eigenen erwächst oder ob ein kirchliches Amt ein Ersatz dafür ist. Man spricht dann von geliehener Identität. Die kann sehr brüchig werden. Entscheidend ist, inwieweit eigene Erfahrung, eigenes Denken, eigener Werdegang, eigenes Schicksal hinter den Worten einer (kirchlichen) Person steht.

Als der heilige Franziskus zum ersten Mal auftrat, war er in den Augen der Leute ein Niemand, kein Kleriker, kein Mönch, kein Handwerker, kein Kaufmann, eher ein Verrückter, den man nicht einordnen konnte. Genau dies war seine Stärke. Was aus ihm kam, war sein ganz Eigenes, erworben durch seine innere Geschichte.            Es war echt und hat überzeugt. Noch einmal sei gesagt: die Lösung der Probleme von Macht und Ohnmacht liegt nicht allein in der Änderung äußerer Strukturen. Es geschieht kaum etwas, wenn sich nicht die Menschen wandeln und nicht die Macht Jesu wirken lassen. Die Aufrufe zu mehr Mut, zu mehr Glauben, zu mehr Vertrauen, mit denen viele Predigten und Artikel enden, sind wirkungslos, wenn nicht konkrete Wege begangen werden.

 

Die Macht des heiligen Franziskus

 

Um die Macht Jesu zu verstehen, lohnt es sich, auf eine der bekanntesten Gestalten des Mittelalters zu blicken, auf den heiligen Franziskus von Assisi. Er war es, der mit seinem Verständnis vom Evangelium dem mächtigsten Papst seiner Zeit, Innozenz III gegenübertrat. Gerade hatte dieser geträumt, dass seine Kirche (trotz oder wegen seiner politischen Machtfülle) einstürzt und ein einfacher, unscheinbarer Mann sie davor bewahrt. Als der Papst Franziskus sieht, erkennt er ihn als den Retter im Traum. Franziskus hatte eine ganz andere Macht als der Papst. Sie konnte die einfallende Kirche stützen. 

Wer stützt sie heute?

Es geht um die geistige Macht, welche stärker ist als die Geister der Zeit mit ihren hohen Ansprüchen nach unbeschränkter Freiheit und Lebenssteigerung und mit ihrem aufrichtigen Suchen nach Lösungen. Die Anziehung neuer spiritueller Bewegungen und des Psychomarktes liegt darin, dass sie den Menschen Antworten zu geben versuchen auf die bedrängenden Fragen:

 Wo finde ich einen Ausweg aus meiner verworrenen Lebenssituation, aus den misslungenen Beziehungen, aus Einsamkeit und verödetem Dasein, aus der Angst vor der Zukunft?

 Der sogenannte postmoderne Mensch hat sich von den Bindungen an Traditionen und Autoritäten gelöst. Ihn beeindruckt nicht, was Vertreter der Institution sagen oder einmal gesagt haben, sondern die Begegnung von  Mensch zu Mensch, auch wenn es nur  ein Wort ist, das aus der Echtheit und Tiefe des Herzens kommt.

Die Kirche müsste der Ort sein, wo solches geschieht. Das ist die große Vision.

Dazu tragen alle bei, die eine Atmosphäre schaffen, wo man aufatmen und sich öffnen kann, wo Menschen mit ihrer Geschichte ernst genommen und verstanden werden, wo einem keine kluge Lehren und neue Anstrengungen vorgehalten werden. Titel und Rang als solche greifen nicht, wenn es um die innersten Belange geht, um Sinn und Ausrichtung des Lebens. Die Authentizität der Person kommt auch bei Nichtkirchlichen an.

Persönliche   Ausstrahlung lässt sich nicht herbeireden, wohl aber kann sich jeder der Dynamik einer Entwicklung öffnen. Wir würden uns die Gesinnung und die Kraft des heiligen Franziskus für unsere Tage wünschen. Wir werden ihm aber nur dann ähnlich, wenn jeder seinen ganz eigenen Weg so geht, wie dieser den seinen gegangen ist. 

 

 



[1] Minucius  Felix, Dialog OktaviusXXX,17, in Frühchristliche Apologeten II,BKV 69Array