Die Kirche im Nebel

Nur noch abwärts?

Die Kirche erwacht in den Seelen" war vor hundert Jahren ein von einem anerkannten Theologen geprägtes Wort, als die liturgische Bewegung, der Sinn für einen lebendigen Vollzug der Gottesdienste eine Aufbruchstimmung auslöste.
Die Kirche stirbt in den Seelen" müsste man heute sagen, wenn die Zahl der Kirchenaustritte ein unerhörtes Ausmaß erreicht und allgemeine Ratlosigkeit herrscht. Vor 30 Jahren erschien das Buch
„Der ratlose Mensch und sein Gott" . Der Titel „Die ratlose Kirche und der Mensch"! würde die allgemeine Stimmung von heute eher beschreiben.
Die älteste Institution in der kulturellen Landschaft wurde einst von geistlichen Schriftstellern als Licht in der Dunkelheit der Zeit gerühmt. Heute könnte man eher von einem Nebel sprechen, in der sich die Kirche  mitten in  einer säkularsierten Gesellschaft  befindet. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Suchende an der Kirche als unumstößlichen Leuchtturm und Fels orientierten.                       Der Theologe und Kulturkritiker Norbert Copray stellt schon vor 30 Jahren in einem Beitrag zum Öko-Almanach 1992 fest: Die verfasste christliche Religion, mit anderen Worten die Kirchen als Institutionen verlieren sowohl an Einfluss als auch an Kontur, zugunsten einer von unten kom-menden diffusen Religiosität. Den Menschen gehe es nicht um geoffenbarte, ewig gültige Wahrheiten, sondern um Ant¬worten auf die bedrängenden Fragen ihrer Existenz. Wie kann die Beziehung, d.h. Liebe gelingen? : Wer bin ich? Wozu bin ich da? Wie werden wir heil? Ihre Sehnsucht nach dem ganz Anderen, nach Heil und Heilung sehen sie mehr im spirituellen Erleben erfüllt, wo sich ihnen die Tiefe und Hintergründigkeit des eigenen Selbst auftut, als in dogma¬tischen Lehrformeln erfüllt. So ziehen sie Erfahrungen, die ih¬nen Hoffnung auf Heil und Zukunft ermöglichen, den traditionellen Heilswegen vor. So haben die Veranstaltungen, die fernöstliche spirituelle Wege anbieten, hohen Zulauf , entsprechend lange Wartelisten.

In der neuen Religiosität er¬hofft man sich einen Innenraum der Sicherheit gegenüber den individuellen und gesellschaftlichen Widersprüchen. Den Kir¬chen wirft Copray vor, viel zu lange die Zeichen der Zeit nicht erkannt und es versäumt zu haben, rechtzeitig die religiöse Sehnsucht der Menschen außerhalb der eingefahrenen Denk- und Praxisschablonen aufzugreifen.
Urerfahrung statt  Lehre und Struktur
Was Copray sagt, muss nachdenklich stimmen. Es ist in der Tat so, dass die Antworten auf die Grundbedingungen unseres Da¬seins nicht durch eine fertige Formel ein für alle Mal gegeben werden können, sondern nur durch einen - manchmal mühsa¬men - Erfahrungsweg, welcher die Innenseite der Religion, Re¬ligiosität genannt, vermittelt. Genau das ist es, worauf es den Menschen heute ankommt. So wird für einen großen Teil un¬serer Zeitgenossen die verfasste Religion, sprich Kirche, immer belangloser, weil das Angebot von Religiosität außerhalb, wie es scheint, ihrem Verlangen weit eher entgegenkommt. Der Hinweis auf die einmal verbindliche und endgültig ergangene Offenbarung berührt sie nicht, sondern befremdet sie wie eine exotische Fremdsprache. Sie suchen vielmehr Wege, wo ihnen eigene Offenbarung, d. h. Erfahrung von Heil zuteil wird. „Re-ligiosität wird also als eine Art Heilung von Zukunftskrise, Zu¬kunftsangst und Zukunftsbedrohung gesucht und gestaltet."
Nach Copray müsse Religiosität bei dem anknüpfen, worun¬ter Menschen leiden, nämlich an dem bei vielen Menschen ge¬störten Narzißmus, - gemeint sind ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl, ihr Selbstzweifel, ihre Unsicherheit, Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit. „Religiosität muss also Selbstheilung in Aussicht stellen. Solche Religiosität ist gesucht." Vie¬les spricht dafür, daß sich in unserer Zeit die Frage nach dem Religiösen von einer einseitig philosophisch-akademischen, dogmatisch-theologischen Ebene auf die unmittelbar und radi¬kal existentielle verlagert hat.
Das heißt, die Themen finden nicht deshalb Interesse, weil man für die Weiterbildung etwas tun will oder weil sie in einer Prüfung abgefragt werden, weil man einmal getauft wurde und als Christ auch Pflichten übernommen hat, sondern weil man zutiefst ahnt, daß sie Entscheidendes mit dem eigenen Glück oder Unglück zu tun haben. Die Orte, wo solche Inhalte abge¬handelt werden, sind weniger Hörsäle, Seminarräume oder Kir¬chen, sondern Therapie- und Meditationsräume und viele profane Stätten, wo in öffentlichen Veranstaltungen Neues und Ungewohntes, Leben Bezogenes gesagt und erfahrbar wird.

Neue Aufbrüche

Schon C. G. Jung hat vor hundert Jahren  in den Erschei¬nungen und Umbrüchen seiner Zeit nicht nur geistigen Verfall, sondern mutige Schritte zu Aufbruch und kreativer Neugestal¬tung gesehen.
Für viele Menschen sind  die christlichen Wahrheiten hohl geworden; einem blinden Glauben können sie nicht einfach folgen, ebenso wenig einem einseitigen, leeren Rationalismus. Sie verweigeren sich deshalb allem Vorgegebe¬nen, allen hergebrachten traditionellen Weisungen und Lehrsystemen, weil diese ihrer Lebenssituation nicht mehr gerecht werden. Der moderne Mensch wolle unhistorisch sein, wolle feststellen, was an den Dingen wirklich ist. Heute spricht man vom postmodernen Menschen, bei dem die Aussagen Jungs vor hundert Jahren mehr als voll zutreffen. Das bedeutet: Man hält nichts mehr von dem, was nur deshalb als wertvoll und er¬strebenswert oder als verwerflich und wertlos gilt, weil es immer so war, weil andere sagen, dass es so sei, oder weil man sich auf Autoritäten berufen könne. Der Hinweis auf die Tradition ist schon lange kein Argument mehr, um sein Leben nach ihr auszurichten. Eine Lehrverkündigung, die die Tradition zum alleinigen Maßstab erhebt, hat deshalb keine Chance. Was der Mensch heute will, ist Urerfahrung, d. h. Ersterfahrung - und nicht einfach nur die Übernahme von dem, was andere erlebt haben. Ausgetretene Wege sind ihm zuwider, weil sie ihm nicht das geben, was er braucht.
Existentielle Not - Leidenschaftliche Suche -
Hinter dem unausrottbaren Widerstand gegen hergebrachte und bisherig gültige Wahrheiten steckt jedoch, so dürfen wir Jung verstehen, eine leidenschaftliche Suche nach der Wahr¬heit des eigenen Lebens. Jung spricht von einem mutigen Abenteuer, dem er seine Sympathie nicht versagen könne: „Dieses Wagnis ist kein mutwilliges, sondern ein aus tiefster seelischer Not geborener Versuch, auf Grund einer unpräjudi zierten Urerfahrung die Einheit von Leben und Sinn wieder¬zuentdecken. Die Ängstlichkeit in allen Ehren, aber ein ernsthaftes Wagnis, welches den ganzen Menschen in die Schranken fordert, muß man unterstützen. Bekämpft man es, so versucht man eigentlich, das Beste eines Menschen, seinen Wagemut, sein höchstes Streben, zu unterdrücken; und wenn es gelingen sollte, so hätte man jene unendlich kostbare Erfah¬rung verhindert, welche einzig dem Leben einen Sinn hätte verleihen können."
Die Aussage Jungs kann ich aus Erfahrung mit Kirchen - Nahen und Kirchen - Fernen seit 50 Jahren nur bestätigen. Es fällt auf, dass die leidenschaftliche Suche nach Echtheit und Tiefe, wir dürfen sagen nach Gott, weniger bei denen anzutreffen ist, die für die Kirche und gewiss auch für die Mitmenschen den ganz gewöhnlichen Ei¬fer entwickeln, die in vielen Gremien sitzen, die als Kernge¬meinde gelten, auf die man sich verlassen kann, die selbst nie in ihrem Glauben erschüttert wurden. Wenn in solchen Grup¬pen über Glaubensfragen gesprochen wird, dann eher im Sinne der Richtigkeit, d. h. inwieweit die alten Katechismus-Wahr¬heiten heute noch stimmen. Im Vergleich dazu erlebe ich bei Menschen, die der Kirche kritischer gegenüberstehen, dass de¬ren religiöse Fragen unmittelbar aus dem Leben geboren sind.
Es ist die existentielle Not, die sie ihnen stellt und die von einer intensiven Aufnahmebereitschaft begleitet ist. Die At¬mosphäre bei solchen Gesprächen ist äußerst dicht und leben¬dig, während es sich bei den oben Genannten eher mühsam dahinzieht, fast wie eine Hausaufgabe, die es zu erledigen gilt. Nichts ist mehr berechtigt, als die Aufmerksamkeit auch auf jene Kreise zu lenken, wo solche Suchbewegungen stattfinden.
Der neue Menschen -Typ!
Hier sei noch ein anderer Psychotherapeut angeführt, der für die Seelenheilkunde unserer Zeit große Bedeutung gewonnen hat, Carl Rogers. Er ist Mitbegründer der humanistischen Psy¬chologie, die weniger auf große ideologische Entwürfe setzt, vielmehr eher erlebnisnah, d. h. menschennah und menschen¬freundlich sein will.
Rogers hat im Laufe seiner langjährigen Arbeit mit Encoun¬ter-Gruppen einen Typus von Menschen ausgemacht, der sich von den allgemein geltenden Einstellungsmustern unterschei¬det. Sie kommen aus allen Berufen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich für ein neues, einfacheres Leben entschieden haben; ein Leben, das weniger auf gebaut ist auf äußere Positio¬nen, auf die Herrschaft von Institutionen und Konventionen, sondern auf Echtheit und Ehrlichkeit. Sie sind offen für neue Erfahrungen und bereit, neue Ideen anzunehmen, insofern ihr Leben dadurch sinnvoller und wahrhaftiger wird. Sie haben den Wunsch, authentisch zu sein, d. h. sich selbst und anderen nichts vorzumachen, sondern innerlich zu dem zu stehen, was sie nach außen vertreten, und sich zu dem zu bekennen, was sie im Innersten denken. Sie sind skeptisch in Bezug auf das Monopol von Wissenschaft und Technologie, möchten ganz¬heitlich sein, d. h. jene innere Einheit erlangen, wo Gefühl und Intellekt nicht mehr gespalten sind, ebenso wenig Mensch und Mensch, Individuum und Gruppe. Sie wissen, dass eine neue Nähe zwischen ihnen und ändern möglich ist, und möch¬ten sie erreichen. Sie nehmen gerne Anteil am andern und sind überaus hilfsbereit, wo echte Not herrscht. Sie sind sich bewusst, dass sie sich in einer Entwicklung befinden und ver¬trauen sich diesem Prozess an. Sie halten mehr von einer inneren Autorität, die sie durch Erfahrung gewonnen haben, als von einer äußeren. Die Natur ist für sie nicht etwas, was es zu bekämpfen gilt, sondern sie empfinden eine unmittelbare Verbundenheit mit ihr und sind bereit, sie zu schützen. Mate¬rielle Dinge sind ihnen unwichtig. Sie halten wenig von Geld und Statussymbolen, dagegen haben sie eine große Sehnsucht nach dem Spirituellen.

Die unbekannte Sehnsucht                                                                                                                                                                                                                                                                           „Diese Menschen von morgen sind Suchende. Sie möchten einen Sinn und ein Ziel im Leben finden, die größer sind als das Individuum." Für sie sind auch die alten spirituellen Wege erforschenswert, weil dort jene Werte und Kräfte verbor¬gen sind, die über das Individuum hinausreichen. „Sie möch¬ten ein Leben voll von innerem Frieden führen. Ihre Helden sind spirituelle Menschen - Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Teilhard de Chardin. Manchmal erleben sie in Zustän¬den eines veränderten Bewusstseins die Einheit und Harmonie des Universums." Rogers ist sich bewusst, dass er nur eine kleine Minderheit der Gesamtbevölkerung beschreibt, aber das Entscheidende sei, dass diese Menschen sich in einer Welt des Wandels zu Hause fühlten und fähig sind, den Paradigmen¬wechsel zu vollziehen, d. h. die maßgebenden Denk-, Lebens¬- und Sinnstrukturen für die Zukunft zu liefern. Man mag die Sicht Rogers zu optimistisch einschätzen. Er spricht jedoch von Beobachtungen, und es müsste Christen zu denken geben, dass in dem angeführten Katalog Eigenschaften sind, die als urchristlich gelten dürften.

Wer kann etwas einwenden gegen Echtheit und Wahrhaftig¬keit, gegen Lebendigkeit im Denken, Einfachheit des Lebens¬stils, gegen Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, Geringschät¬zung materieller Werte und Sehnsucht nach dem Spirituellen? Das einzige, womit manche große Schwierigkeiten haben, ist die Ablehnung der Institutionen, also auch der Kirche.
Damit dürfte aber eher jenes Erscheinungsbild von ihr ge¬meint sein, das sich auszeichnet durch starre Vorgegebenhei¬ten, durch undurchschaubare Entscheidungen, durch Ver¬ständnislosigkeit und Härte, nicht aber eine Gemeinschaft von Glaubenden, die engagiert und spürbar die von Carl Rogers an¬geführten Eigenschaften lebt.

Ende oder Chance kirchlicher Seelsorge ?
Emotionaler Notstand, Psychomarkt, esoterische Kreise und vieles andere, was sich außerhalb oder am Rande der Kirchen tut, machen so manchen, der sich seiner Kirche überzeugt verbunden weiß oder sich sogar beruflich zur Verfügung gestellt hat, rat- und mutlos. Was soll er tun, wenn Eheleute auseinandergehen, von denen er sehr viel gehalten hat? Wenn Jugendliche der Firmgruppe sich nach einem halben Jahr vom Religionsunterricht abmelden oder so¬gar aus der Kirche austreten oder sich einer Sekte anschließen? Ohne Zweifel sind die geistigen und emotionalen Erschütte-rungen und Umbrüche eine gewaltige Herausforderung für die gesamte lehrende und leitende Kirche und nicht nur Aufgabe der Pastoral und Religionspädagogik. Es kann ja längst nicht mehr genügen, das Idealbild einer christlichen Ehe und Familie wortreich aufzuzeigen und entspre-chende Normen einzuschärfen.
Die Erfahrung lehrt jedoch, dass edle Leitbilder nur solange tragen, als auch die Emotionen mit ihnen übereinstimmen, und dass kein noch so guter Wille eine erloschene Liebe wiederbele¬ben kann. Ebenso wenig kann pastoraler Eifer allein einen ver¬schütteten Glauben und eine abgebrochene Beziehung zur Kirche wiederherstellen. Die herkömmlichen Mittel, mit de¬nen der Priester aufgrund seiner Weihe ausgestattet ist, wie beispielsweise die Lossprechung in der Beichte, greifen dort nicht mehr, wo die gemeinsame Basis fehlt, nämlich ein Lei¬den an der Sünde und der Glaube an die Vollmacht der Kirche, Sünden zu vergeben. Ungezählte Menschen leiden aber sie fühlen sich nicht schuldig, wohl aber enttäuscht, zerrissen, verlassen, angeschlagen, voller Zorn und Ärger auf den/die Expartner/in, auf Politiker, Kirche und Staat. Hinter manchem Aufschrei gegen Unrecht, Ungerechtigkeit und andere schlimme Übel steckt die eigene innere Leere, Ungeborgenheit und Einsamkeit.
Ich bin mein eigenes Instrument
Wer hier nicht mehr einbringt als zu belehren, anzuklagen und zu ermahnen-ganz gleich auf welcher Seite einer steht- wird hier nichts ausrichten, vielmehr geht es darum, einen gemeinsamen tragen¬den Grund zu finden und zu einer Urerfahrung des Glaubens behutsam hinzuführen. Dies ist aber nur möglich, wenn seelsorglich Tätige das Herz des Menschen erreichen (vgl. Mt 9,1-8), wenn sie einsehen, dass das Unbewusste, d. h. jener nicht un¬mittelbar greif- und lenkbare Bereich menschlichen Erlebens und Denkens, eigenen Gesetzen folgt. Erst wer um diese weiß und sie beachtet, wird die Chance ha¬ben, verstörende, behindernde und schadende Emotionen aufzufangen und heilsame, emotionale und spirituelle Vorgänge anzuregen und zu fördern. Bei allem Wissen und Beachten ist nur dann ein Handeln wirksam, wenn es echt ist, wenn aus dem ganz Eigenen kommt. Die eine Wahrheit müsste sich jeder, jede, der /die Menschen zu tun hat, zutiefst einprägen:
Als Seelsorger/in , als Erzieher/in als Therapeut/in bin ich mein eigenes Instrument! Das bedeutet aber: der wichtigste Schritt, um aus dem allgemeinen Dunkel zu kommen, ist das
Interesse für mich selbst! Erst wenn in mir selbst das rettende Licht aufgeht, wird das Instrument für die Not der Menschen von heute geschärft. Dazu sind die Ansätze der Psychotherapie äußerst hilfreich.
Gerade wegen der überkommenen Vorbehalte und Widerstände ist es unumgänglich, die heute anerkannten und wirksamen Formen der Psychotherapie genauer anzuschauen und ihre Brauchbarkeit für die Seelsorge, noch mehr für das Gelingen des eigenen Lebens zu prüfen.

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