Umkehr zur inneren Sonne
„Als ich aber ..nach Damaskus zog,…sah ich unterwegs, mitten am Tag, o König, vom Himmel her ein Licht, heller als der Glanz der Sonne, das mich und meine Gefährten umstrahlte“ (Apg 26,12).
1. Lichterfahrungen
Leuchtende Augen - Begegnung mit Demenzkranken
Eine Lehrerin für Pflegeberufe machte in ihrer Arbeit mit Demenzkranken ungewohnte, sogar erschütternd schöne spirituelle Erfahrungen. Sie beschreibt jede Einzelheit ihres Vorgehens. Sie betritt den Aufenthaltsraum einer beschützenden Anstalt (sie schreibt nicht eines Altersheimes) und grüßt zunächst allgemein und nimmt dabei mit Einzelnen Kontakt auf (1).
Dann begrüßt sie Herrn S. mit seinem vollständigen Namen und reicht ihm die Hand. Völlig verblüfft darüber, fängt er sofort an zu weinen und sagt: Das gibt es doch nicht. Das kann ich doch gar nicht glauben“. Diese Worte wiederholt er mehrmals.
Sie sagt dann: Gell, Sie sind ganz überrascht, dass zu Ihnen jemand kommt.“
Er : “Ja“ und weint.
Sie fragt: Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Er: „Ja freilich, ja freilich“ und hält dabei ihre Hand ganz fest…………
Sie spricht sanft weiter: „Gell, Sie weinen, weil Sie so bewegt sind und sich freuen“.
Er: „Ja, das ist es“, schaut ihr in die Augen und wird erst einmal ganz still.
„Was sind das für Augen, die mich so anstrahlen, vor langer Zeit hab ich solche Augen gesehen.“
Sie behutsam:“Ja“?
Er: „Was ist das für ein Leuchten, ja so etwas hab ich noch nie gesehen, das Leuchten in diesen Augen; ja das gibt es doch nicht, was ist denn das?“
Er ist wie gebannt.
Plötzlich ist es ganz still am Tisch.
Immer wieder ruft er: „Was ist das für ein Leuchten, ja so etwas hab ich noch nie gesehen.“
Sie fühlt, wie die Liebe durch sie hindurchfließt und sagt ganz erfüllt davon:
„Das ist ein Geheimnis.“
Er: „Ja das ist wahr. Das ist ein Geheimnis.“
Sie: „Das weiß nur einer.“
Er:“ Ja, das weiß nur einer“
Sie: „Der Herrgott.“
Er: „Der weiß es“.
Zärtlich berührt er mit beiden Händen ihre Hand, die er noch seit der Begrüßung hält.
Sie antwortet auf seine Berührung, indem sie sanft ihre zweite Hand auf seine Hände legt. Sie sitzen ganz innig da, er weint immer etwas lauter dabei………
Dazwischen hört man die Bemerkung einer anderen Frau, er soll nicht so weinen…
Sie (Autorin) sagt: „Sie weinen vor Dankbarkeit und Freude.“
Er:“Ja, das ist es.“
Sie sagt ihm, dass sie auch sehr dankbar sei und sich freue, und fragt ihn, ob sie zusammen „Großer Gott wir loben dich“ singen wollten.
Er sagt weinend: “Ja.“
Sie stimmt das Lied an und sie singen: „Großer Gott wir loben dich“ und halten sich gegenseitig an den Händen.
Alle andern am Tisch singen nach den ersten Worten von sich aus mit, viele mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen. Der Aufenthaltsraum ist erfüllt von einer heiligen Stimmung.
Nach dem Singen verabschiedet sie sich von Herrn S., der sie mit einem warmen Blick ansieht und dabei anerkennend sagt: „Das ist ein richtiger bayerischer Händedruck.“
Sie wünscht ihm alles Gute und dankt ihm von Herzen für diese Begegnung.
Die Autorin bemerkt dann, dass sie voller Dankbarkeit, Ehrfurcht und Demut von Herrn S. weg ging, so sehr bewegt, dass sie unmittelbar danach zu Boden sinken wollte, um Gott zu danken.
Die Worte des alten Mannes „Was ist das für ein Leuchten in deinen Augen“ hatten sie zutiefst berührt. Sie fühlte sich innerlich so bewegt, dass sie selbst nicht verstand, was gerade geschehen war. Sie sagt wörtlich:
„Ich war in die Liebe eingetaucht, wie in ein umhüllendes Licht - wir beide waren eingetaucht. Diese göttliche Kraft floss zwischen uns hin und her, das spürte ich deutlich. Ich ließ zu, was da war: meine Sprachlosigkeit und eine tiefe innere Nähe und gleichzeitig die Wahrnehmung, dass ich vor Dankbarkeit und Freude hätte weinen können.
Ich merkte, wie stimmig und stärkend auch für mich selbst das Singen des Liedes „Großer Gott wir loben dich“ war.
In diesem Augenblick ist die Energie zusammengeflossen spürbar durch die Verbundenheit mit allen in diesem Raum. Für mich eine heilige Messe.“
2. Modell der Seele
Das Ich - eine Insel im Ozean des Unbewussten
und das andere Zentrum der Persönlichkeit
In der Begegnung mit Demenzkranken, worunter die eigene Mutter, der eigene Vater, jeder selbst sein kann, ist die Frage nicht mehr zu verdrängen: Was ist der Mensch? Wer bin ich noch, wenn mein Verstand nicht mehr funktioniert. Carl Gustav Jung sieht das denkende und handelnde Ich nur als einen kleinen Teil des seelischen Organismus. Das Bewusstsein kann mit einer Insel im Ozean des Unbewussten verglichen werden (2). Die Beobachtung Jungs anhand seiner psychotherapeutischen Arbeit wird durch den Bericht von Rosmarie Maier bestätigt. Folgende Punkte sind dabei von Wichtigkeit:
2.1. Es gibt ein Zentrum der Persönlichkeit, das tiefer und umfassender ist als das vordergründige Ichbewusstsein. Selbst wenn dieses gestört ist, kann es durch volle persönliche Zuwendung aktiviert werden.
Diese Zuwendung geschieht verbal durch das Aussprechen des vollen Namens, durch Körperkontakt, durch Berührung der Hände und Blick in die Augen.
Das heißt dieses Zentrum ist höchst individuell - es verlangt die volle Aufmerksamkeit allein für diese Person.
2.2. Dieses Zentrum hat eine eigene Dynamik, ist autonom. Beide, der demenzkranke Mann und die Altenpflegerin sind von dieser Kraft ergriffen, sogar vom Weinen überwältigt. Das handelnde Subjekt bei dieser Begegnung ist nicht das Ich mit Verstand und Wille der beiden Personen, sondern eine Instanz außerhalb ihres Bewusstseins. Der Mann weint, er verliert die Fassung, der Frau ist auch zum Weinen zumute, sie hält sich zurück. Dies ist von den beiden nicht gewollt und nicht gemacht, sondern es geschieht ohne deren Zutun.
2.3. Die Dynamik, die aus dem Zentrum hervorgeht, bleibt nicht bei den beiden, sie ergreift alle Anwesenden, sie bestimmt die Atmosphäre im Raum. Alle werden still, hören aufmerksam zu und stimmen in das Lied ein: “Großer Gott, wir loben dich“.
Eine verbale Aufforderung zum Singen ohne diese Begegnung wäre wahrscheinlich erfolglos geblieben. Die strahlenden Gesichter und leuchtenden Augen sprechen von der Dankbarkeit und Freude aller Beteiligten.
Das heißt: dieses Zentrum ist im höchsten Masse individuell und universal zugleich. Es erfasst den ganzen Menschen, Gefühl und Verstand des einzelnen und aller Beteiligten.
Der Demenzkranke reagiert in dieser für ihn so dichten Begegnung mit seinen Äußerungen völlig normal. Das heißt sein Verstand ist wieder hergestellt.
2.4. Dieses Zentrum ist höchst spirituell. Die Begegnung gipfelt, so schreibt die Verfasserin, in der feierlichen Hinwendung zu Gott. Sie singen gemeinsam „Großer Gott wir loben dich.“ Die Dynamik des Zentrums ist die Kraft aus dem Transzendenten. Der Anschluss an dieses Zentrum ist Kontakt mit der Transzendenz.
2.5. Diese Kraft aus dem Transzendenten kann einen Menschen ganz ergreifen und seine Augen, sogar sein ganzes Gesicht zum Leuchten bringen.
2.6. Die beschriebene Instanz nennt C.G.Jung das Selbst, ein anderer Name ist Archetyp der Ganzheit, der vom religiösen Archetyp nicht zu unterscheiden ist. Karl Rahner spricht von der Personmitte des Menschen und in der Hl. Schrift steht das Wort „Herz“.
Herz verbinden wir mit Herzlichkeit, mit Zuwendung aus Freude, mit Ausstrahlung, mit zuvorkommender Spontaneität. Es ist der Sitz der Gefühle, die wir mit dem bloßen guten Vorsatz nicht verändern können.
3. Christus: die innere Sonne
Von Jesus wird ein Ereignis berichtet, wofür leuchtende Augen ein Verstehen eröffnen. Als er mit drei Jüngern auf dem Berg war, „wurde er vor ihnen verwandelt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne“ (Mt17,2). Selbst wenn die kritische Exegese dieses Ereignis in die Zeit nach Ostern verlegt, dann heißt das doch, dass Lichterscheinungen dieser Art bei den frühen Christen üblich waren. Ebenso sind Erfahrungen dieser Art von Mystikern bekannt. Die Begegnung des Gutsbesitzers Motowilow mit dem russischen Einsiedler Serafim von Sarow schildert ein Erlebnis, das der Verklärung Jesu nahe kommt. Warum sollte das, was beim russischen Starzen geschah, nicht bei Jesus möglich gewesen sein?
Hinter allen Lichterfahrungen steht das „Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9). Das Licht, heller als die Sonne (Apg 26, 13), das Paulus sah, dürfen wir als die Spiegelung der inneren Sonne im außen betrachten. Diese ist für ihn Christus selbst. Dafür spricht seine Äußerung: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20). Weil die Erfahrung der inneren Sonne die intensivste und kostbarste seines Lebens wurde, hat er alles aufgegeben und hält alles andere für Mist, um Christus zu gewinnen (Vgl. Phil 3,8). Erinnert sei auch an die Erscheinung am Anfang der Offenbarung des Johannes: „Sein (dessen, der wie ein Mensch aussieht) Aussehen strahlt wie die Sonne in ihrer Kraft.“ (Offb 1,16). Franziskus, der Christus so nahe war, wurde zu einem Gesang auf die Sonne inspiriert. "Gepriesen seist du Herr durch Schwester Sonne". Das Leuchten und der große Glanz erregen seine Freude und Bewunderung, weil er selbst ein Erleuchteter ist. Er selbst wird im Hinblick auf seine Ausstrahlung der Sonne ähnlich. Darauf weisen die Darstellungen hin, in denen Franziskus mit dem "Heiligenschein" umgeben ist.
Vom inneren Erleben her wird Jesus von seinen Jüngern in die Nähe der Sonne gerückt. In den Auferstehungsberichten werden Sonnenaufgang und Erscheinungen in einem Zug erwähnt, ebenso wird Christus in der Überlieferung sehr bald Sonne der Gerechtigkeit genannt.
Auf den verherrlichten Christus treffen alle Aussagen zu, die vom Selbst, dem Archetyp der Ganzheit gemacht werden. Dieser ist der stärkste Antrieb, mit der höchsten Energie. Er ist die Quelle der Ausstrahlung. Genau dies trifft auf Christus zu, der in dieser psychischen Instanz als die innere Sonne gegenwärtig ist.
„Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen (Kol 1,19) und „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen“ (Kol 1,16). Er ist die Mitte des Kosmos, die Mitte der Welt und des einzelnen. Wer wie Paulus und Franziskus in Christus, das heißt an diesem Punkt ist, ist Gott, sich selbst, der Schöpfung und den Menschen zugleich nahe und ist an die Kraft der Mitte angeschlossen. Das Licht Christi durchdringt ihn von innen und strahlt nach außen. „Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne im Reiche ihres Vaters“ (Mt 13,43), sagt Jesus vom zukünftigen Schicksal seiner Jünger.
4. Umkehr ist die Hinwendung zur inneren Sonne, zur Mitte und Quelle allen Geschehens und Seins
4.1 Umkehr als Betroffenheit
Umkehr lässt sich beschreiben als die Wende vom Äußeren zum Inneren, von der Banalität zum Ernsthaften, vom Unbedeutenden zum Wesentlichen, von der Abwehr zur Betroffenheit. Umkehr ist in der säkularisierten Gesellschaft keineswegs unbekannt. Die Zeitungskommentare fordern sie von den Politikern, die Grünen von der Wohlstandsgesellschaft, die Kirchenkritischen von der Leitung der Kirche. Wenn eine Person der Öffentlichkeit eigenes Versagen zugibt und um Vergebung bittet, laufen die Kommentare der Presse meist auf den Vorwurf hinaus, das Schuldbekenntnis sei nicht ehrlich genug. Man verlangt ein Eingeständnis der Schuld ohne Wenn und Aber; eine Betroffenheit müsste spürbar werden. Jeder Versuch der Rechtfertigung wird noch mehr zur Belastung. Dies harte Urteil traf vor Jahren den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes ebenso wie den Leiter einer politischen Sendung, in jüngster Zeit einen Bischof.
Es ist durchaus eine Überlegung wert, ob nicht das säkulare Wort für Umkehr und Buße Betroffen sein heißt; damit ist ein Zustand gemeint, wo wir eine uns sehr unangenehme Tatsache an unser Inneres heranlassen, wo unser bisheriger Denkrahmen, unsere Vorstellungen und unser Wissen über Gut und Böse ins Wanken geraten; wo wir unsere Ratlosigkeit eingestehen. Zugeben und nicht verteidigen ist der Weg, wo die Gefühle und damit die gegensätzlichen Positionen wieder zueinander finden können.
Betroffen sein und an das echte Gefühl herankommen ist der Punkt, wo sich eine innere Wende vollziehen kann, d.h. wo sich eine neue Ausrichtung des Empfindens und Denkens anbahnt. Es liegt auf einer anderen Ebene als die erneute willensmäßige Ausrichtung an der vorgegebenen Norm und hat eine ganz andere existentielle Bedeutsamkeit und Wirkung. Der Vorgang des Betroffenseins beginnt nicht bei dem, was wir tun sollen, sondern bei dem, worunter wir leiden. Der Leidensdruck bringt die stärkste Motivation. Was die Menschen heute quält, sind nicht die Verfehlungen gegenüber Gott und Kirche, sondern Überforderung, Einsamkeit, Angst vor der Zukunft, der Mangel an Anerkennung und Nähe, an lebendigem Kontakt, an Sinnhaftigkeit. Schon vor mehr als 100 Jahren hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard das wirkliche Problem der Menschen nicht Schuld sondern Verzweiflung genannt; damit meint er ein Steckenbleiben in einer verfahrenen Beziehung, das Festsitzen im Lebensprozess, die Hoffnungslosigkeit, welche sich bei den einen in depressiven Zuständen, bei anderen in Zynismus und Häme äußert. Es führt nicht weiter, diesem Lebensgefühl die kirchliche Lehre der Sündhaftigkeit des Menschen entgegenzuhalten oder sogar eine Schuld einzureden. Das Eingestehen des eigenen Anteils an einer unglücklichen Situation, das Durchleuchten des eigenen Schattenbereichs setzt einen Prozess voraus, der den Schutz einer bedingungslosen Annahme braucht.
Und damit sind wir bei der Haltung, die Jesus gegenüber den Verlorenen und Verzweifelten zeigt (Vgl. Lk 7, 36 – 50; 15, 1ff). Die Begegnung mit Jesus bewirkt eine volle Wandlung des einzelnen Menschen. Denken wir an Zachäus, jenen neugierigen Zöllner, den Jesus aus Einsamkeit und Härte seines Herzens erlöst und ebenso an einen seiner Kollegen, Levi, der in seine Nachfolge tritt (Lk 19,1 – 20; Mt 9, 9). Eine echte Umkehr geschieht nur durch Umstellung der Gefühle, Antriebe und Impulse auf neue Inhalte und Ziele. Dies kann der gute Wille allein nicht leisten. Es ist ein Prozess, der einem wider fährt. Er ist nur möglich, wenn jeweils stärkere Affekte am Werk sind. Im Zusammenhang von Umkehr, Buße und Wandlung gewinnt der Satz des Philosophen Spinoza eine Schlüsselposition: “Affekte werden nie durch die Vernunft, sondern nur durch stärkere Affekte aufgehoben” (4).
Jesus löste bei denen, die sich ihm öffneten, Gefühle aus, die stärker waren als die bisherigen der Verlorenheit, Verwirrtheit, des ewigen Ungenügens. Sie erlebten es, ihren Selbstwert wieder erhalten zu haben.
Weil die innere Sonne wie die äußere mit höchster Energie aufgeladen ist, zieht sie das Denken und Fühlen an sich. Sie ist die Instanz, die das Ich ergreift, das heißt, dass etwas mit einem geschieht. Es ist der Punkt, von dem die tiefste Bedeutung und Wichtigkeit ausgeht. Paulus spricht davon, dass er „von Christus Jesus ergriffen wurde“ (Phil 3,12).
Für Jesus ist die innere Sonne der Vater. “Niemand kann zu mir kommen, wenn ihn der Vater… nicht zieht.“ (Joh 6,44). Vom heiligen Franziskus wird berichtet: „Nachdem ihn einmal die machtvolle innere Süße durchströmt hatte, lockte sie ihn weiter und weiter und verließ ihn sein ganzes Leben nicht mehr“ (5).
Personen, die mit dieser Energie aufgeladen sind, wirken anziehend, erregen Aufmerksamkeit und stiften Gemeinschaft, die dichtere Atmosphäre und die tiefere Existenz. Sie sprechen besonders solche an, die auf der Suche nach Halt und Ausrichtung sind; denn diese gehen dorthin, wo sie zu spüren ist. Dies lässt sich von der Ausbreitung der neuen franziskanischen Bewegung im 13. Jahrhundert sagen.
4.2 Von der Halbheit zur Ganzheit
Der moderne Mensch lebt vorzüglich aus dem Kopf, das Herz kommt zu kurz. Der Intellekt wird hoch trainiert, die Gefühle bleiben im Schatten, haben ihr blindes Eigenleben, verwirrend und enttäuschend, und führen zu häufig in die Sackgasse. Das Erleben von tieferen Gefühlen und Sinninhalten, was die Dauer einer Beziehung ausmacht, ist immer mehr Menschen verschlossen. Man könnte sagen: Die meisten leben nur die Hälfte des möglichen Umfangs ihrer Persönlichkeit oder nur einen Teil der möglichen Lebensqualität oder noch weniger.
Wie die äußere Sonne steht die innere für die Ganzheit der Persönlichkeit, des sozialen Umfelds und der Schöpfung. „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute“ (Mt 5, 45). Ganzheit bedeutet, dass der Schatten, die dunklen, ungeklärten Persönlichkeitsanteile erhellt und deren Kraft an die Persönlichkeit angeschlossen sind. Die innere Sonne hat die Intention und die Kraft, die Antriebe, Gefühle, Motivationen von innen her, nicht durch Willensanstrengung zu ordnen, zur Ganzheit auszurichten.
Wir können nur so Gott und die, welche um uns sind, aus ganzem Herzen lieben. Wer seinen Schatten bewältigt, wird ihn nicht mehr auf Außenstehende projizieren. Er kann mit Menschen aus anderen politischen, weltanschaulichen und religiösen Richtungen Kontakt aufnehmen und zu einer authentischen Kommunikation, zu einem lebendigen, bereichernden, anregenden Austausch kommen. Die Mystiker der verschiedenen Religionen verstehen sich sehr bald.
Weil die innere Sonne zugleich den höchsten, zur Ganzheit führenden Impuls enthält, bedeutet Umkehr - so verstanden - Wandlung von der Erstarrung zur Lebendigkeit, von der Anpassung zur eigenen Entfaltung, von der Routine zur Kreativität.
Sonne ist Licht und Wärme, sie bringt den inneren Frühling: Wachstum, Aufblühen und Reifung des einzelnen steht im Vordergrund nicht die bloße Anpassung an die allgemeine Norm.
Ganzheit bedeutet Offenheit und Weite des Denkens statt Blindheit und Beschränktheit, ebenso Zulassung und verantwortungsvoller Umgang mit den Emotionen.
Es geht um Bewusstheit, das heißt, dass man weiß, was man denkt, was man sagt, was man tut. Die innere Sonne bringt das Licht, um anstehende Probleme zu lösen, die tiefere Einsicht in die Hintergründe, die Zusammenhänge und die Folgen, in das, was für einen selbst und für andere gut und richtig ist.
Nicht jeder Eifer im religiösen wie im politischen Bereich ist erleuchtet. Die schlimmen Dinge der Geschichte geschahen meist aus gutem, allerdings blindem Glauben. Dies gilt insofern zu bedenken, weil im Raum der Kirche eher die Eifrigen als die Kritischen willkommen sind.
5.3 Von der Rolle zur Authentizität
Unter Rolle versteht man die Erwartungen, die an einen Beruf, an eine bestimmte Position in der Öffentlichkeit, an einen Amtsträger oder auch in der Familie geknüpft sind. Wer Umkehr ernst nimmt, lässt sich auf die Frage Wer bin ich? ein und ist nicht damit zufrieden, die Forderungen der andern zu erfüllen und einem Klischee zu entsprechen. Im Mittelpunkt des Strebens steht das recht Sein und nicht das Recht Haben.
Die beschriebene Mitte, das Selbst ist der Punkt der Authentizität, der Selbstkongruenz, der Echtheit. Man erreicht ihn, indem man nicht vor sich selbst davon läuft, sich den Belastungen, Dunkelheiten wie den Ansprüchen und Möglichkeiten der unbewussten Seele stellt. Das Streben nach der Wahrheit der eigenen Existenz ist angeboren, es gilt, dieses Streben zu erspüren, es zuzulassen und ihm zu folgen. Es führt zu dem Zustand, wo jeder ganz er/sie selbst ist. Dies wird als die große Freiheit erlebt. „Ich darf ganz ich selbst sein“ - ist die große Verheißung. Wer authentisch ist, um den baut sich eine Atmosphäre auf, wo Vertrauen herrscht und wo sich echte Gemeinschaft bilden kann.
Umkehr ist nur glaubwürdig, wenn sie sich nicht in hehre Vorsätze und Zukunftshoffnungen verliert, sondern im Hier und Jetzt, im Gespräch, im Umgang miteinander Betroffenheit auslöst. Die Authentizität oder Echtheit eines Menschen, ganz gleich in welcher Position, hängt davon ab, ob das Gesagte in seiner Erscheinung zum Ausdruck kommt, ob der Inhalt mit der Art, wie es gesagt wird, übereinstimmt, ob die ganze Persönlichkeit dahintersteht. Nur wer selbst von der absoluten Liebe Gottes ergriffen, wird auch das Evangelium überzeugend verkünden. Es kommt nicht auf rhetorische Kunststücke an. Ergriffenheit überträgt sich von selbst. So vollzieht sich Umkehr als die Wende von der Theorie und fernen Zukunft zum unmittelbaren Erleben im Hier und Jetzt.
6. Taufe: Eintauchen in die Atmosphäre Christi
Die Umkehr der frühen Christen fand in der Taufe ihren äußeren Ausdruck. Äußerlich war sie ein volles Eintauchen in das Wasser, innerlich, dem Erleben nach, ein Eintauchen in den Geist und in die Atmosphäre Christi. Das Ergebnis war ein völlig neuer Mensch mit neuen Motivationen, Interessen, Zukunftshoffnungen, mit der Gestimmtheit und Fähigkeit, gut zu sein und anderen Gutes zu tun. So dürfen wir die Aussagen „Von neuem geboren“ (Joh 3,3); „aus Wasser und Geist geboren“ (Joh 3,5) verstehen. Dahinter steht eine reale Erfahrung.
Psychologisch bedeutet sie den Anschluss an den Archetyp des Zentrums, an die innere Sonne. Damit wird der Rahmen des Denkens, Erlebens und Handelns verändert, der Horizont dessen, was einem wichtig und wertvoll ist.
Unbewusste Strebungen, spontane Einfälle und Handlungen, werden von selbst auf das Gute ausgerichtet.
Paulus nennt die neue Einstellung eine Frucht des Geistes (Vgl. Gal 5,22). Das heißt sie ist auf dem fruchtbaren Boden des Seelengrundes durch Wärme der inneren Sonne gewachsen und nicht durch mühsame Anstrengung errungen. Im Einzelnen zählt der Apostel folgende Früchte auf:
Als erstes ist es die Liebe. Dabei müssen wir nicht sofort an Liebestaten denken, an großzügige Spenden und anderes, sondern an das, was im ganz gewöhnlichen Leben mit Liebe verbunden ist: gegenseitige Anziehung, Harmonie im Fühlen und Denken, Vertrauen, in dem man sich einander öffnet.
Als zweites wird die Freude angeführt. Es ist das Empfinden: Ich bin mit Energie aufgeladen, ich darf ganz ich selbst sein. Ich kann auch dem andern die Freiheit geben, ganz er/sie selbst zu sein.
Als dritte Frucht gilt der Friede. Es ist ein Zustand der Erfüllung, wo die Wünsche sterben und die Emotionen zur Ruhe kommen. Der bloße Verzicht, wenn die Wünsche mit Gewalt zurückgehalten werden, ist eine Anspannung, aber noch nicht der Friede. Verzicht ist dazu da, damit neue Energien fließen.
Damit in Zusammenhang steht die Geduld. Schnelles Aufbrausen und Ausbrüche sind durch innere Angespanntheit bedingt. Wer in der Tiefe verankert und gelöst ist, lässt sich nicht leicht aus der Ruhe bringen.
Ihnen folgen Freundlichkeit und Güte. Gemeint ist die spontane Zuwendung, die nicht gemacht ist, die sich in den andern einfühlt und ihn versteht.
Schließlich kommt noch die Treue. Es ist die Verlässlichkeit, die letzte Sicherheit gibt. Wer an die innere Sonne angeschlossen ist, kreist auch in seinen Überlegungen wie die Erde um die Sonne. Er kann zu seinen Entscheidungen stehen.
Die Milde ist bereits in der Güte enthalten. Sie versucht, den andern zu verstehen, das heißt seine innere (emotionale) Logik nach zu vollziehen, damit Nähe auf - und Emotionen abzubauen.
Als letztes nennt Paulus die Enthaltsamkeit. Wichtig ist dabei, dass es dabei nie um Verkümmerung und Verarmung geht, sondern um eine Ordnung, welche die innere Sonne bewirkt. Die Leidenschaften verlieren ihren Anspruch des haben Wollens und ihren zerstörenden Charakter. Damit wird echte Begegnung in Respekt vor dem andern möglich.
6. Erleuchtung - ein Schlüsselwort
"Denn der Gott, der befahl, dass aus der Finsternis Licht aufstrahle, ließ auch in unseren Herzen ein Licht erstrahlen, dass es leuchte zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Christi" (2 Kor 4,6).
Im Brief an die Epheser ist ein altchristliches Tauflied überliefert, das heißt: "Steh auf, der du schläfst, und Christus wird dich erleuchten" (Eph 5, 14).
Der Theologe des zweiten Jahrhunderts Justinus spricht in seiner Verteidigungsschrift von der Erleuchtung (griechisch photismos).
"Das Bad aber heißt Erleuchtung, weil jene, die das erfahren, im Geist erleuchtet werden“ (6). Das griechische Wort ist photismos. Die Täuflinge heißen photizomenoi, die zu Erleuchtenden.
Als erstes dürfen wir wieder an die leuchtenden Augen denken, die in der Begegnung mit dem Demenzkranken eine so große Rolle spielten, und an alle anderen leuchtenden Augen, die von einem großen Glück künden.
Erleuchtung bedeutet, dass das innere Licht, das Christus selbst ist, den ganzen Menschen erfasst und verwandelt. Das kleine Ich - Gehäuse wird aufgebrochen, der Schwerpunkt des Denkens, Fühlens und Wollens verlagert sich in den Seelengrund, der vom absoluten Sein berührt und gehalten wird. Dieser Vorgang wird als umfassende Einheit erlebt. Personen, die eine solche Erfahrung hatten, sagen: Es ist ein Eingetaucht - Werden in die absolute Liebe, es ist Nähe und Freiheit zugleich. Jede Angst ist geschwunden.
Der Jesuitenpater und Zenmeister Enomiya Lasalle beschreibt Erleuchtete als Menschen, in denen sich unerschütterliche Ruhe, Sicherheit, Furchtlosigkeit und Dankbarkeit mit sprühender Vitalität verbindet. Erleuchtung befreit aus den emotionalen Verwicklungen, auch aus der Belastung einer unglücklichen Kindheit. Leidenschaften, Begierden, Zorn, Neid, Eifersucht, Stolz lösen sich auf und falsche Hemmungen fallen ab. Nach Johannes vom Kreuz werden die Seelenkräfte in Gott umgewandelt, deshalb sind die spontanen Regungen der Seelenkräfte schon auf Gott bezogen.
Bei Graf Dürckheim ist Erleuchtung gleichbedeutend mit „durch sein“.
Kennzeichen sind: Keine Angst mehr vor dem Tod, Sinn im Unsinn und universale Liebe.
Diese Wirkungen finden wir ebenso in den Schriften des Neuen Testaments. Es sind die Stellen, die von der absoluten Fülle, von der bedingungslosen Liebe und von der Überwindung des Todes durch Auferstehung
Christi reden. Wir sollten die bekannten Worte vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, für die einer alles verkauft und daran gibt (Mt 13,44 ff), vom Sieg über den Tod (1 Kor15,55) von der Liebe, welche die Erfüllung des Gesetztes (Röm 13,10), das Größte ist (1Kor 1313) und niemals aufhört (1Kor 13,8) neu auf uns wirken lassen.
7. Schluss
Unsere Seele ist der Sonne ähnlich. Sie hat etwas von ihrer Leuchtkraft. Die Quelle der Energie und Kraft tragen wir in uns selbst. Es kommt nur darauf an, sie zu entdecken. Unser Glaube sagt uns ja, dass Christus in unseren Herzen wohnt. Es gilt, den Grund von fremden Überlagerungen frei zu legen und sich der inneren Sonne zu öffnen. Dann haben wir auch die Strahlen für die kalten und dunklen Tage.
Anmerkungen
1.Rosmarie Maier: Ich will dich doch erreichen
Begegnungen mit demenzkranken Menschen ermöglichen, München 2009, S.8o
2.C.g.Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Olten, GW 1973,92
3.Selawry Alla, Das Immerwährende Herzensgebet, Bern 1976,226 ff
4. zitiert bei: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh, 1994, S201
5. Thomas von Celano in Otto Karrer, Franz von Assisi, Legenden und Laude,
Zürich 1986, S86
6. Justin, Apol. I 61, in : Bibliothek der Kirchenväter, Frühchristliche Apologeten, Kempten,1913,76
Der Vortrag wurde gehalten
Auf der Tagung "Er ist die rechte Freudensonn“
4/5.12.2010 der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Unter dem Titel:
„Heller als die Sonne“ (Apg 26,13)
Solare Symbolik von Umkehr, Taufe und Erleuchtung
im Christentum