Jesus - tiefenpsychologisch
1. Verwirrungen um die Tiefenpsychologie
Mit dem Wort „tiefenpsychologisch" verbindet sich in theologischen Kreisen viel Skepsis, Unsicherheit, Zurückhaltung wenn nicht Ablehnung, vor allem aber Verwirrung. Im Mittelpunkt steht der Name Eugen Drewermann. Als er vor mehr als 30 Jahren mit seiner tiefenpsychologischen Schriftauslegung an die Öffentlichkeit trat, weckte er ein gewaltiges Interesse sogar beim nichtkirchlichen Publikum. Mit seinem Ausscheiden aus dem kirchlichen Lehrbetrieb scheint auch der von ihm vertretene Ansatz eines neuen Zugangs zur Hl. Schrift, zur Person Jesu und zum Glauben der Vergessenheit anheimzufallen. Es entstand der Eindruck, daß die Tiefenpsychologie auf diesem -Gebiet doch nicht brauchbar sogar ein Irrweg sei. Von dem, was Drewermann vermitteln wollte, ist meist nur die Lehre von den Archetypen angekommen, welche hinter den als symbolisch zu bezeichnenden Berichten über die Auferstehung Jesu stünden und daß natürlich eine solche Auffassung die Zeugnisse der Jünger entwerte, so Rudolf Schnackenburg (1).
Doch Eugen Drewermann vertritt nicht die ganze Tiefenpsychologie, in seinem Grunddenken verfolgt er die Linie Sigmund Freuds, Ansätze C. G. Jungs wie die der Archetypen gebraucht er in seinem Sinne. Selbst wenn man für Eugen Drewermann Sympathien hat, muß man zugestehen, daß ihm eine harmonische Verbindung von Tiefenpsychologie und Glaube nicht gelungen ist. Der Grund darf in der erwähnten Fixierung auf Freud, welcher die Welt des Religiösen ausschloß, vermutet werden. Hingegen sind für Jung die religiösen Erscheinungen eine Fundgrube bei der Erforschung der unbewußten Seele. Er nimmt sie als solche ernst und sieht in den religiösen Fragen seiner Patienten den Ausdruck der geistig - transzendenten Seite des Unbewußten.
Nicht reduzieren - sondern amplifizieren
Damit ist auch einiges gesagt über die Brauchbarkeit der Tiefenpsychologie Jungs für die Seelsorge. Wie ist es aber mit den Personen, die wir als Heilige bezeichnen, mit Jesus selbst? Die Befürchtung ist, daß die Wissenschaft von der Seele - ganz gleich welcher Richtung - den Menschen jeweils in ein Schema preßt und das eigentliche unsagbare und unverstehbare Geheimnis entwertet. Der Zweifel ist berechtigt bei einer sogenannten reduktiven Einstellung, d.h. bei einem sogenannten wissenschaftlichen Erklärungsversuch, welche die außerordentlichen Phänomene auf einige bekannte Ursachen zurückführt. Ihr Kennzeichen ist das „es ist nichts als". Um ein Beispiel zu nennen: „Die Vorstellung von Gott ist nichts als die Projektion des Vaters" (Sigmund Freud)! Jung wendet sich entschieden gegen diese Auffassung, weil sie den wahren Schöpfungen des Geistes nicht gerecht wird. In seinem Kommentar zum Tibetanischen Totenbuch macht er auf den Unterschied zwischen dem Charakter einer Dissertation und dem eines heiligen Textes aufmerksam. Ein Wissenschaftlicher sollte nicht vergessen, daß seine objektivierende Betrachtung die emotionalen Werte eines Textes möglicherweise in unverzeihlichem Ausmaß verletzt. „Der Psychologe, der einen heiligen Text behandelt, sollte sich zum mindesten bewußt sein, daß dieser Stoff einen unschätzbaren religiösen und philosophischen Wert repräsentiert, der nicht durch profane Hände entweiht werden sollte" (2). Er will den Text nicht durch plumpe Kritik zergliedern , sondern dessen symbolische Sprache amplifizieren, d.h. durch schon bekannte Parallelen erweitern. Damit verliert Unverständliches von seiner Fremdheit und wir können eher damit umgehen. Was Jung über die Behandlung des Tibetanischen Totenbuches sagt, warum sollten wir diese Haltung nicht auch einnehmen, wenn wir die Texte der christlichen Überlieferung, die Hl. Schrift vor uns haben.
Tiefenpsychologische Schriftauslegung - so verstanden - will eben nicht Begrifflichkeiten über die Ursprungszeugnisse stülpen, diese nicht entwerten und banalisieren, sondern sie dem Verstehen und Erleben nahebringen. Wie in der Therapie und im seelsorglichen Gespräch geht es um Fühlung, welche der Zuhörer bzw. der Leser mit der Seele des Verfassers des hl. Textes aufnimmt. Fühlung bedeutet, daß sich der Erlebnisgrund des einen sich auf den des anderen einschwingt. Voraussetzung ist allerdings eine Ähnlichkeit und zumindest eine partielle Gleichheit des Rahmens, in dem man denkt, fühlt und von dem man inspiriert wird. Ziel muß sein, den emotionalen und wir dürfen hinzufügen den spirituellen Gehalt der Hl. Schrift im Hier und Jetzt Wachzurufen.
Träume und Bilder: Momentaufnahmen des Inneren
Voraussetzung für die Besserung und Heilung eines Menschen sind Begegnung, Verstehen Und Annehmen. Der Ansatz der Tiefenpsychologie ist insofern hilfreich, als er durch die Traumarbeit auch die noch nicht bewußten Faktoren und Aspekte des Erlebens und Denkens berücksichtigt. Träume sind Momentaufnahmen des Unbewußten und ihre Deutung ein Hineinleuchten in die noch dunklen Innenräume. Ähnliches kann man auch von selbstgemalten Bildern und Phantasiegeschichten sagen.
Wenden wir das Gesagte auf die Auslegung der Hl. Schrift an, heißt das, daß gerade jene Texte, die von der Historisch - kritischen Methode als legendär oder als mythologisch bezeichnet werden, das reale Erleben des Erzählers zum Inhalt haben. Es geht um eine Wirklichkeit, welche den Denk- und Erfahrungsrahmen des normalen und gewöhnlichen Menschen von damals und heute sprengt und deshalb nicht mit festabgegrenzten Begriffen einzuordnen, sondern nur in Bildern angemessen auszudrücken ist.
Die Tiefenpsychologie fordert eine Aufwertung der Symbole und symbolischen Aussagen, weil sie die existentielle Bedeutsamkeit vermitteln und einen ganzheitlichen Wandlungsprozeß auslösen. Statt mit einem reduktiven „Nichts als" den Wert der heiligen Texte zu zerstören, ist die Einstellung, welche um numinose Erfahrungen weiß und sie ernst nimmt, davon überzeugt, daß es immer um ein „Mehr als" das Wahrgenommene und Gesagte geht.
Erkenntnis ist Begegnung
Angewandt auf das Thema „Jesus - tiefenpsychologisch" heißt dies, daß eine tiefenpsychologische Betrachtung der Gestalt Jesu in erster Linie Begegnung ist. Wie für Jung Psychotherapie ein Heilsystem ist, das sich in der Auseinandersetzung und im vertrauensvollen Zwiegespräch entfaltet, und wie sich das Innere eines Menschen nur unter „bedingungsloser Wertschätzung" (Carl Rogers) und „vorurteilsfreier Objektivität" (Jung) öffnet, so geht nur unter diesen Voraussetzungen die Wirklichkeit Jesu auf. Inhalt einer tiefenpsychologischen Betrachtung ist der Raum des Emotionalen, welcher zwar an historische Fakten gebunden ist, aber nicht mit diesen in Konkurrenz treten kann. Dazu gehört auch, daß der Fluß der Gefühle, Antriebe, Impulse und Reaktionen seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, mit einer losen Gültigkeit - was Jung mit dem vielzitierten Begriff der Archetypen meint. Archetypen sind typische Situationen, Geburt, Hochzeit, Tod.und viele andere bedeutende Ereignisse , die uns im Leben begegnen.
2. Das Besondere an Jesus
Es herrscht heute allgemeine Übereinstimmung, daß im Mittelpunkt des öffentlichen Wirkens Jesu die Herrschaft Gottes steht.. Nun steht sofort die Frage vor uns: Was ist damit gemeint? Es wäre zu vordergründig, würde man sofort an das große kosmische Ereignis denken, wie es in den apokalyptischen Reden aufscheint. Nach W. G. Kümmel sind in Jesu Wort und Tat die Kräfte des kommenden Äons schon wirksam. R. Schnackenburg spricht von real - dynamischer Anwesenheit, die jetzt nur vorläufig ist und erst in der Zukunft vollendet wird.
Deshalb entspricht es sowohl den Evangelien wie der alten kirchlichen Lehre, wenn gesagt wird: das Reich Gottes ist unmittelbar mit der Persönlichkeit Gottes verbunden. Jesus verkündet nicht nur die Anwesenheit Gottes, er ist auch das, was er verkündet. Sonst wäre seine Botschaft nicht glaubwürdig.
Eines kann man schon sagen: Das Reich Gottes ist weder eine rein jenseitige, noch eine nur äußere Größe - auch wenn es äußere Zeichen dafür gibt - sondern primär eine innere, welche tiefenpsychologisch relevant ist.
Zudem bedarf der Eintritt in das Reich Gottes der Umkehr, ein ganz realer Vorgang, der in der Tiefe der Seele stattfindet. Deshalb wäre es falsch zu meinen, „innerlich" bedeute unwirklich! Liebe und Haß sind die allerinnersten aber auch allerwirksamsten Gegebenheiten! Die Tiefenpsychologie Jungs kann durchaus einiges über einen Menschen sagen, in dem die Herrschaft Gottes angebrochen ist.
Jung bejaht im Gegensatz zu Freud eine bewußtseinstranszendente Beziehungsmöglichkeit der Seele mit Gott und sieht sie im mächtigsten, umfassendsten anordnenden und eigentätig wirkenden psychodynamischen Faktor, dem Archetyp des Selbst verwirklicht, welcher vom Archetyp des Gottesbildes nicht zu unterscheiden sei. Jung kommt es darauf an zu betonen, daß der Boden des Unbewußten nicht wie bei Freud biologischer und triebhafter, sondern geistiger, sogar göttlicher Natur ist. Hinter der Triebdynamik, die Freud entdeckte, steht noch eine mächtigere Geistesdynamik! Jung beruft sich auf die christliche und außerchristliche Tradition, auf einen Meister Eckehart, der vom Seelenfünklein spricht, auf Taulers Seelengrund und andere Mystiker, welche vom Gott im Menschen sprechen, schließlich auf das Wort von Paulus im Galaterbrief „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir" (Gal 2, 23). Das Selbst als psychische Erscheinung ist aber nicht Gott selbst, sondern kann als Gefäß für die Gnade Gottes bezeichnet werden.
Wenn also von einem Menschen gesagt wird, daß in ihm Gott gegenwärtig ist, dann ist der Archetyp des Selbst aktiviert. Er ist primär an seinem numinosen d.h. überwältigenden Charakter zu erkennen. Er ist zugleich der Archetyp der Ganzheit, welcher die Gegensätze umschließt und ihnen ihren zerstörerischen Charakter nimmt. Das Selbst ist der Punkt in der Entwicklung der Persönlichkeit - Individuation genannt - wo der Mensch Gott, sich selbst, den anderen Menschen und den anderen Geschöpfen zugleich nahe ist. Mit Recht könnte man von diesem Punkt als von der Mitte der Welt sprechen. Der Sonnengesang des hl. Franziskus drückt wie kaum eine dichterische Schöpfung diesen Zustand aus.
Jesus - der Mensch in der Mitte der Welt
Fast von selbst ergibt sich, daß Jesus selbst - wie er uns in den Evangelien überliefert wird - an diesem Punkt steht. Da ist zunächst die Erscheinung des Numinosen. Es hat etwas zu tun mit erschrecken, mit erschüttert sein; es ist der Eindruck des Unfaßbaren, d.h. das kleine Ich kann die gewaltige Dynamik des Geschehens nicht aufnehmen.
Ein solches Erlebnis ist jenes Ereignis, welches als Verklärung Jesu bei Matthäus, Markus und Lukas geschildert wird.
„Da wurde er vor ihnen verwandelt, und sein Antlitz leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht" (Mt 17, 2). Die Tiefenpsychologie Jungs hat hier „keine Schwierigkeit, eine solche Erscheinung ganz wörtlich zu nehmen. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier nicht die Offenbarung einer dogmatischen Wahrheit, sondern der Erlebnischarakter des berichteten Ereignisses; es läßt sich beschreiben als der Durchbruch der übergeordneten Ganzheit oder des ganz Anderen, welches vom Bewußtsein numinos als Tremendum und Fascinosum erlebt wird", so Jung (Bd 11, 675).
Der bei Zen - Praktizierenden bekannte Jesuitenpater Enomya Lasalle berichtet von Satori - Erfahrungen von Zen - Übenden und vergleicht sie mit den Erleuchtungserlebnissen großer christlicher Mystiker. Er findet auffallende Parallelen zwischen den einzelnen Erscheinungen verschiedener Traditionen.
Das Wort „Erleuchtung" erhält seinen realen Inhalt zurück. Wir brauchen uns nicht scheuen, die Verklärung Jesu in diesen Rahmen zu stellen, ohne ihr etwas von ihrer Einzigartigkeit und Größe zu nehmen. In diesem Sinne geschieht die schon erwähnte Amplifizierung.
Erleuchtung kann nach der Darstellung Lasalles und seiner angeführten Mystiker beschrieben werden als ein Einswerden des kleinen Ich mit dem Seelengrund, als ein Freiwerden von bedrängenden Emotionen, widersprüchlichen Impulsen, als ein Zustand von tiefster Ruhe und sprühender Vitalität; als ein Einblick in die tiefsten Geheimnisse des Daseins. Jung sagt, daß eine(r), der (dem) dieses Erlebnis zuteil wird, nicht nur anderes, sondern auch anders sieht.
Lasalle führt zudem christliche Mystiker an, deren Erlebnis mit Lichterscheinungen verbunden war, so bei Ignatius von Loyola und Benedikt von Nursia. Auf dem Berg Athos gibt es Mönche, die das Tabor - Licht ausstrahlten (Lasalle, 382/369). Allerdings könnten es nur Menschen sehen, denen die Gnade Gottes dafür zuteil werde.
Erwähnt sei auch die Begegnung des großen russischen Starzen Seraphim von Sarow mit dem Gutsbesitzer und Richter Nikolai Motowilow, wo Einblick in die Zustände Erleuchteter gegeben wird. Hier ist auch vom Leuchten der Sonne im Antlitz eines Menschen die Rede (Alla Selawry, 226). Aus dem Bericht geht deutlich hervor, daß das Wahrnehmen des erleuchteten Zustandes des anderen die eigene Erleuchtung voraussetzt.
Wenn aus den verschiedensten Religionen unabhängig voneinander außerordentliche Phänomene dieser Art überliefert werden, wie es Lasalle nachweist, vor allem aber wenn die Verfassung dieser ein höchstes menschliches und spirituelles Niveau aufweist, dann würde man sich die Sache zu leicht machen, hier von Halluzinationen oder anderen psychotischen Zuständen zu sprechen.
Was kann man eigentlich einwenden, wenn man sagt: Die Anwesenheit Gottes in einem Menschen ist wesentlich in seiner Ausstrahlung zu erkennen! Dies wäre eine erste Antwort auf die Frage: Was wir uns unter Reich Gottes, das Jesus verkündete, vorstellen sollen.
Das Wesen Gottes bricht in ihm durch, von dem die Jünger fasziniert sind (Mt 17, 4) und zugleich erschrecken (Mt 17, 6).