Umgang mit Kirchen - Ferne

Kirchen -  Ferne: das tägliche Brot

Vor mehr als 20 Jahren wurde in manchen Städten der Bundesrepublik  die Aktion "Neu anfangen" durchgeführt. Es wurden über Telefon alle Bewohner der Stadt zum Gespräch eingeladen. Man wollte ganz bewusst auf diese Weise die Kirchen- Fernen erreichen. Heute spricht niemand mehr davon.

Es braucht aber gar keine große Aktion mit entsprechendem Aufwand. Für alle, die im seelsorglichen Bereich und in der Schule tätig sind, ist Kirchenferne eigentlich das tägliche Brot. Man kann Taufen erleben, bei denen  der assistierende Mesner als einziger das Glaubensbekenntnis mitspricht. Ähnliches können wir bei Trauungen und Totenmessen erleben. Wie schwer sich die Verantwortlichen bei Erstkommunion und Firmvorbereitung tun, bräuchte gar nicht erwähnt zu werden. Auf Kirchenferne stoßen wir als Seelsorger/innen auf Schritt und Tritt. Alles dreht sich deshalb um die Frage: Wie kann sie überbrückt werden? Ebenso müssen wir uns fragen lassen: inwieweit wird sie von uns selbst erzeugt, ohne dass wir es wollen? Eine Lösung ergibt sich nur, wenn wir den konkreten,  einzelnen Menschen mit seiner Eigenart und seiner Geschichte vor uns ernst nehmen; denn seitdem Gott in Jesus Mensch wurde, ist Gott im Konkreten, nicht im Abstrakten.           

Was verlangt Jesus von uns? 

Bei aller Ratlosigkeit beim Thema "Kirchen Ferne" ist es wichtig, uns nach dem Willen Jesu zu erkundigen. Da drängt sich ein Wort aus der Bergpredigt auf: "Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner das gleiche? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes: Tun nicht auch die Heiden das gleiche? Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Matthäus 5, 46- 48 ). Für uns heißt das: Nicht nur die Frommen, die Aktiven, die Treuen und Anhänglichen verdienen unsere Achtung und Wertschätzung, genauso auch die, die einem im Religionsunterricht widersprechen, die man nie im Sonntagsgottesdienst sieht, die kirchenkritisch und kirchenfeindlich eingestellt sind, die andere Vorstellungen haben von Ehe, Liebe, Sexualität, von Religion, von Kirche und ihren Sakramenten. In der Exegese ist allgemein anerkannt, dass Jesus so etwas wie eine grenzüberschreitende Einstellung besaß. Jesus will nicht alte Fronten verhärten, indem er die einen gegen die anderen abschließt. Er speist mit Zöllnern und Sündern (Matthäus 9,10; 11,19; Lukas 15,1,2), er ist  aber auch bei einem Pharisäer zu Gast, wo er sich die Nähe und Liebeserweise der Sünderin gefallen lässt (Lukas 7,36 - 49). Die Erzählung von der Syro-Phönizierin (Markus 7,24 - 30) weist darauf hin, dass Jesus selbst die Grenzen seiner Sendung überschritt, wenn es um die Not eines Menschen geht und der entsprechende Glaube vorhanden ist.

"Werft die Perlen nicht den Schweinen vor!“ (Mt 7,6)                                                         

Es ließe sich noch vieles über die Haltung Jesu (Matthäus 7,6) anführen. Aber zugleich steigt die Frage auf: Haben wir es in der Seelsorge mit einer echten Not zu tun, wenn wir auf Kirchenferne stoßen? Oder haben wir nicht eher den Eindruck, dass wir mit unserem Angebot und unseren Mühen eigentlich missbraucht werden? Bei Anlässen wie Taufe, Erstkommunion, Firmung usw. bleibt bei allem guten Willen von unserer Seite eine Riesenkluft zwischen dem, was uns wertvoll ist und was wir zu vermitteln versuchen, und der tatsächlichen Überzeugung der "Betreuten". Im Grunde wollen die andern "nur" eine Familienfeier, wo wir den Anlass und den Rahmen dazu hergeben; von dem, was die Dinge wirklich bedeuten, sind sie nach wie vor weit entfernt.                                      

Wir finden in der Bergpredigt auch die Warnung: "Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht vor die Schweine, damit sie nicht diese zertreten unter ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen." (Matthäus 7,6) In der frühen Kirche wurde sehr darauf geachtet, wer zur Teilnahme an den heiligen Mysterien würdig war. Nach den damaligen Maßstäben müsste heute der Mehrheit der Anwärter der Empfang der Sakramente verweigert werden. Hier stehen sich zwei durchaus begründete, aber sich ausschließende Auffassungen über den Umgang mit Kirchenfernen gegenüber. Es bleibt ein großes Unbehagen zurück. 

Fakten und Gefühle - Begegnung von Mensch zu Mensch 

Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Inhalts - und Beziehungsebene aus der Kommunikationspsychologie. Nicht nur die Inhalte sind es, auf die es ankommt sondern die Art, wie wir mit den Menschen in Beziehung treten, ist für unsere seelsorgliche Arbeit und für die Erfüllung des Gebotes Jesu wichtig. Es lässt sich leicht nachweisen, dass das Wirken Jesu wesentlich auf der Beziehungsebene, weniger auf der der Inhalte lag. Um konkret zu werden: Jesus hat die Syro-Phönizierin angenommen, wie sie war. Eigentlich hätte sie Jüdin sein, d.h. an Jahwe als den einzigen Gott glauben müssen. Jesus hat die äußere Bedingung, welche wir dem Inhaltsaspekt einer menschlichen Kommunikation zurechnen, fallen lassen und dem absoluten Vertrauen und hartnäckigen Drängen der Frau nachgegeben. Die Erzählung ist ein gutes Beispiel einer Begegnung von Mensch zu Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft, Überzeugung und Eigenart. Für uns ist wichtig, dass die Erfüllung des Gebotes Jesu, der bedingungslosen Nächstenliebe, auf der Beziehungsebene liegt. Hier ist manches von dem möglich, was nie gelingt, wenn wir an die Inhalte, d.h. äußere Gegebenheiten und Meinungen fixiert sind. Es geht um die Wahrnehmung und Respektierung von Gefühlen, was nicht an religiöse oder weltanschauliche Fronten gebunden ist. Das bedeutet seelische Not, Angst, Einsamkeit, Trauer, Verlassenheit von Menschen oder auch deren Lebenshoffnung und Zuversicht sind die Ebene, auf der wir auch Kirchenfernen nahe kommen und damit die Kluft überwinden. Dies jedoch nur, wenn es absichtslos geschieht, d.h. dass nicht der Gedanke eines seelsorglichen Erfolgs dahinter steht, sondern der bloße Respekt vor dem Schicksal, der Eigenart und dem Mysterium eines Menschen.

In der Psychotherapie von Carl Rogers ist von bedingungsloser positiver Wertschätzung aller Erlebnisinhalte eines Klienten die Rede. Der Therapeut muss dem Klienten nicht in allem Recht geben, aber muss die Bedeutung wahrnehmen, die ein Erlebnis oder eine Überzeugung für dessen Leben hat und die damit verbundenen Emotionen achten. Ernstnehmen der Gefühle bedeutet aber Achtung und Wertschätzung eines Menschen. Dies ist die Form der Nächstenliebe, die wir auch einem Andersdenkenden entgegenbringen können und die in den Worten Jesu von uns verlangt wird, nämlich nicht "nur die zu lieben, die uns lieben." (Matthäus 5,4 - 6).

Von der Psychotherapie, die zur Seelsorge des modernen Menschen geworden ist, können wir die Offenheit für alle lernen. In einem gewissen Sinn hat es der Therapeut leichter. Seine Einstellung ist ganz auf den Erlebnisbereich des Klienten abgehoben, er braucht auf Normen oder Glaubensinhalte nicht zu schauen, sondern ihn interessiert nur der konkrete Mensch, der vor ihm sitzt. Der Seelsorger steht jedoch unter Druck z. B. der Vorbereitung auf die Erstkommunion und kann sich von der Zeit her oft gar nicht des Langen und Breiten auf Gefühle einlassen. Zumindest meint er es.

Die Lösung lieg auf der Beziehungsebene

Es scheint wie die Quadratur des Kreises, Inhalts - und Beziehungsebene miteinander geglückt zu verbinden. Zu dem oben Gesagten gibt es genug Einwände: Soll das alles sein von meinem Verkündigungsauftrag, wenn ich die Gefühle anderer respektiere? Wo bleibt die Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus?

Nun ist die Respektierung Andersdenkender keine Kleinigkeit. Es setzt ein hohes Maß an geistiger Wachheit, existentieller Aufmerksamkeit und menschlicher Größe voraus. Für diese Form der Nächstenliebe müssen wir uns erst mühsam durch Selbsterfahrung, d.h. durch Selbsterkenntnis rüsten. Es ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, bis wir soweit sind, dass wir das von Jesus Verlangte auch können, nämlich “vollkommen zu sein wie der himmlische Vater vollkommen ist" (Matthäus 5,48). Zum andern ist eine gelungene Beziehung einer kirchlichen Person zu einem oder einer Außenstehenden meist auch der Anfang eines Prozesses. Mag auch noch nicht der Glaube an Gott und die Kirche erwacht sein, zumindest ist der Glaube an einen Menschen geweckt. Echtes Verstehen ruft Vertrauen hervor und das ist es doch, was Kirchenferne überwindet.

Gott in der Tiefe des Seins

Nicht zuletzt aber ist über die Anwesenheit Gottes neu nachzudenken. Nach allem, was wir in den Evangelien über Jesus gehört haben, ist die Nähe Gottes wesentlich auf der Beziehungsebene zu finden, erst sekundär auf der Ebene der expliziten Worte und Erklärungen. Um auf das angeführte Beispiel der Begegnung Jesu mit der Syro-Phönizierin zurückzukommen. Das Wort "Gott" oder "Vater", wie ihn Jesus nannte, fällt nicht. Und doch ist er in diesem Geschehen zum Greifen anwesend. Wir müssen uns frei machen von der Vorstellung, dass Gott eine Größe außerhalb des Menschen sei.

Die Spur Gottes und der Weg zu Gott hat immer etwas zu tun mit Ergriffensein, Berührt werden sogar Erschüttert sein. Gott ist in der Tiefe des Seins, d.h. in der Tiefe des Herzens zu finden. Die Erfahrung Gottes ist das Gegenteil von Routinierheit, Verdinglichung und Versachlichung des Religiösen und damit von Verflachung und Verödung des Daseins.

Die Mystiker des Mittelalters sprechen vom “Seelenfünklein” (Meister Eckehard) vom “Seelengrund" (Johannes Tauler) und von der inneren Burg (Teresa von Avila) und meinen damit die Anwesenheit Gottes im Herzen des Menschen. Ganz auf dieser Linie liegt der evangelische Theologe Paul Tillich, der das Wort “Gott” als das grundlegende Symbol für das, was uns unbedingt angeht, bezeichnet (1).

Karl Rahner spricht davon, dass das Geheimnis Gottes zuinnerst mit dem Geheimnis des Menschen verbunden ist (2). Wir dürfen gewiss sein, dass wir in jedem Gespräch und in jeder Begegnung, wo wir einen anderen Menschen in der Tiefe berühren, etwas vom Geheimnis Gottes in ihm wachrufen, selbst wenn dieses Wort nicht ausgesprochen wird.
Andererseits gewinnt explizites religiöses Tun wie die Feier eines Ritus dann seine wirkende Kraft, wenn sie so etwas wie Ergriffenheit auslöst; selbst wenn es sich “nur" um eine Familienfeier handelt. Die Feier der Geburt eines Kindes kann ganz tief die Herzen aufbrechen, auch wenn die dogmatischen Aussagen nicht verstanden werden. Wenn es wahr ist, dass die Nähe Gottes - um die geht es schließlich bei unserem Verkündigungsauftrag - auf der Ebene des Betroffen seins liegt, dann wird manches seelsorgliches Tun andere Akzente erhalten. Zunächst ist dem Missverständnis vorzubeugen, das religiöses Erleben mit oberflächlichem religiösen Happening gleichsetzt. Gemeint ist vielmehr jene Dimension von Einzel - und Gruppengesprächen, von Vorträgen und Predigten und von Gottesdiensten, die uns nachdenklich stimmt, die uns schweigen lässt, die uns innerlich erfüllt und gut tut. Eine Atmosphäre, wo Sinn dicht erfahren wird, bleibt auch auf Außenstehende nicht ohne Wirkung.

Aus dem Herzen gesprochen - oder über die Köpfe hinweg

Was wir heute mit Tiefe des Seins und der Seele meinen, dafür gebraucht die Hl. Schrift das Wort "Herz", um die Nähe oder Ferne eines Menschen zu Gott auszudrücken. Die Klage des Jesaja über eine veräußerlichte Religiosität nimmt Jesus auf: "Dieses Volk ehrt mich nur mit den Lippen, ihr Herz aber ist weit von mir" (Matthäus 15,8, Jesaja 29,13) Das Herz ist der Punkt, an dem sich das Schicksal eines Menschen, die Nähe zu Gott, zu den Menschen und zur Kirche und das Gelingen unserer seelsorglichen Arbeit entscheidet. Die Frage an uns lautet: sprechen wir den Menschen aus dem Herzen oder reden wir über die Köpfe hinweg? Tatsache ist, dass theologisches Reden in der Öffentlichkeit nicht mehr verstanden wird.

Grundbegriffe wie Sünde, Vergebung, Gnade, Erlösung, Heil usw. greifen nicht mehr. Wer sie unreflektiert gebraucht, verliert sofort die Aufmerksamkeit. Es wäre zu wenig, sie durch neue Ausdrücke zu ersetzen. Auch theologische Neubildungen wie etwa Befreiung statt Erlösung sind sehr schnell abgenützt. Alles hängt davon ab, ob beim Verkünder hinter den Worten eine Realität steht; ob sie mit eigenem Erleben gefüllt sind; ob eine (r) weiß, was er/sie sagt, ob er/sie den Menschen aus dem Herzen spricht. Nur wer selbst Gottesferne kennengelernt hat, wer selbst durch die Nacht gegangen ist, dessen Worte von Gnade und Erlösung gewinnen Kraft. Er findet auch die Sprache, um das Gemeinte auszudrücken. Abstoßend wird es, wenn von etwas gesprochen wird, was sich nie ereignet hat, weder im Leben des Predigers noch in dem der Zuhörer, was sogar noch Anlass zum Jubel und zu einem entsagungsreichen Leben sein soll. Hier wird Kirchenferne produziert. Was Jesus von uns will, ist, dass wir wie er einfach und schlicht etwas von der Spur  Gottes im Leben der Zuhörer erzählen. Das geht nur, wenn wir sie bei uns selbst entdeckt haben.

Nicht jeder ist gleich zu behandeln -  Formen der Kirchen Ferne

Kirchen - Ferne hat unterschiedliche Ursachen. Menschen sind durch ihre Lebensgeschichte geprägt und damit auch in ihrer Einstellung zur Kirche. Es gibt die Kritisch - Aggressiven, die Gleichgültigen und die Suchenden, wenn wir es mit Menschen außerhalb der Kirche zu tun haben.

Die Kritisch - Aggressiven

Kritisch aggressiv gegen die Kirche zu sein, gehört heute sozusagen zum guten Ton, besonders bei Schülern und Intellektuellen. Angriffspunkte sind als erstes die Hierarchie, die offizielle Sexualmoral, die Fakten der Kirchengeschichte, wie Hexenverfolgung, Inquisition und Kreuzzüge, die wirkliche oder vermeintliche Macht des Vatikans, das Paktieren mit dem Faschismus. Ein Gespräch gelingt erst, wenn die emotionale Stoßrichtung aufgefangen werden kann.                                                                                                                                               Die Kritisch - Aggressiven kommen sehr häufig aus einem kirchennahen Umfeld und sind dabei, sich aus einem einengenden Gottes - und Kirchenbild zu befreien. Das eigene geistige und emotionale Erwachen steht meist in totaler Konfrontation mit der vorgegebenen Tradition. Als Vertreter der Kirche Jesu verfehle ich sicher meinen Auftrag, wenn ich auf einen affektgeladenen Einwand mit derselben Wucht zurückschieße, etwa indem ich den Fragesteller abwerte oder lächerlich mache. Im Innersten will nämlich jeder, der gegen die Autorität anrennt, von dieser mit seiner neu erwachten Überzeugung anerkannt werden. Sobald ich eine kritische Frage ernstnehme, zeige ich, dass ich auch den Menschen, der sie vorbringt, achte. Diese Achtung ist von uns verlangt und kann die Basis zu einem fruchtbaren Gespräch und zu einer guten Beziehung werden. Mein geistiges Unterscheidungsvermögen als denkender Mensch muss soweit gehen, dass ich den berechtigten Kern eines Vorwurfes, selbst wenn er mit Zorn vorgetragen wird, erkenne, sogar noch deutlicher formuliere und zeige, dass ich ihn mir zum eigenen Anliegen mache.

Zu beachten ist dabei aber, dass ich nicht selbst in antikirchliche Stimmung mit einschwenke oder sogar die Zuhörer einer Predigt oder eine Schulklasse als Forum benütze, um eigene, unbewältigte Affekte abzureagieren. Ich kann aber durchklingen lassen, dass ich selbst unter den Fakten der Kirche, sowohl der Schrecken der Vergangenheit wie den Ungereimtheiten der Gegenwart leide, trotzdem aber zu dieser Kirche stehe, meine Wurzeln in ihr habe. Schwieriger wird es, wenn das kritisch-aggressive Potential so stark ist, dass gar keine persönliche Begegnung mehr möglich ist. Wenn aus den unmöglichsten Verdrehungen und verzerrten Darstellungen ein Kirchenbild erstellt wird, das uns keinen Raum zum Leben lässt, dann muss ich mich  auch schützen und mit klaren festbegründeten Argumenten reagieren.
Ein volles Ja zur Kirche, trotz der dunklen Schatten kostet jedoch einen langen und mühsamen Weg der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte und mit der Institution Kirche.

Die Gleichgültigen

"Eure Fragen interessieren mich nicht und eure Antworten weiß ich schon". Dieser Satz einer jungen Frau bei einem öffentlichen Vortrag eines Theologen drückt die Stimmungslage einer breiten Bevölkerung aus. Das Religiöse interessiert nicht; es ist irgendwie überflüssig geworden. Vor allem wird das theologische und liturgische Reden als Fremdsprache empfunden. Es sind Worte ohne Inhalt.
Wenn wir über die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber Glaube und Kirche klagen, müssen wir uns auch fragen lassen: wie gleichgültig sind uns die Menschen, deren Fern sein wir bedauern? Was wissen wir von ihrer Verunsicherung, von ihrer Einsamkeit, von ihrer Schwierigkeit, mit dem Leben zurechtzukommen? Wir müssen uns fragen lassen: Geht es uns wirklich um den konkreten Menschen oder um die Erfolgsstatistik, um den Nachweis, der Glaubenslehre zum Sieg verholfen zu haben?

Man denke jetzt einmal an die Vorbereitung zur Erstkommunion und Firmung. Ziel dieser sehr mühevollen Arbeit sollte sein, die jungen Menschen in das Glaubensgeschehen einzuführen. Ein Vorschlag wäre, darauf zu achten, welches Schicksal sich hinter jedem Kind verbirgt, aus welchen Verhältnissen es kommt, ob nicht die Mutter (als alleinerziehende) und der Vater ganz gewaltige Probleme mit sich herumschleppt, solche, die niemand ausspricht, die aber das Umfeld eines Kindes vergiften und das Religiöse gar nicht aufkommen lassen. Das Religiöse gehört zum allerintimsten Bereich; Spannungen und unausgetragene Konflikte verschließen die Seele voreinander und vor Gott.

Wo ein(e) Seelsorger/in die Sensibilität und die psychische Kraft hat, beim Treffen der Eltern deren ganz realen Probleme einfühlend, verstehend und trotzdem deutlich anzusprechen, dort tut sich ein weites Feld des Kontaktes mit Außenstehenden auf. Vor allem auch, wenn man durchblicken lässt, welche Not eine alleinerziehende Mutter außerhalb und auch innerhalb einer Ehe hat, darf man gewiss sein, dass die Nachfrage nach einem persönlichen Gespräch nicht ausbleibt.

Deshalb sind Erstkommunion - und Firmgruppen nicht nur unter dem Aspekt der Glaubensunterweisung, sondern zunächst auch unter Hinblick der emotionalen Fürsorge zu sehen: dass Kinder in der Pfarrgemeinde ein emotionales Zuhause finden; das würde bedeuten, dass solche Gruppen auch über den Tag der Erstkommunion bzw. der Firmung hinaus bestehen.

Immer dann, wenn bei Seelsorgern/innen das lebendige Interesse am Schicksal des Einzelnen, an Hoffnung und Enttäuschung, an Leid und Trauer erwacht ist, wird die Schranke der Gleichgültigkeit von unserer Seite her durchbrochen. Trotzdem ist hier noch kein Allheilmittel gefunden. Es gibt Menschen, die so weit von sich selbst weg sind, dass sie auch gegenüber ihrer eigenen Problematik taub sind. Sie können so gut verdrängen und so gut vor sich selbst davonlaufen, dass trotz besten Willens und hoher Sensibilität von unserer Seite kein Kontakt zustande kommt; es müsste denn sein, sie werden durch Schicksalsschläge schwer erschüttert und mit sich selbst konfrontiert. Wenn die eigene Existenz bedroht ist und wo die Abwehrsysteme nicht mehr greifen, ist sicher der Punkt gekommen, wo durch einfühlendes und geschicktes Vorgehen sich etwas öffnen kann.

Deshalb ist die Krankenseelsorge innerhalb und außerhalb des Krankenhauses und die seelsorgliche Lebenskrisenbegleitung von großer Bedeutung. Hier sind Wendepunkte im Leben eines Menschen möglich, die man zum Beispiel in der herkömmlichen Bußpraxis gewöhnlich nicht antrifft. Wer ein wenig die Augen und das Herz offen hat für die Not der Menschen, wird sie auch im pfarrlichen Alltag entdecken: die Tragik eines Todesfalls, das Drama einer Scheidung, ein psychischer Einbruch in ein ganz normales Leben. Menschen in solchen Situationen sind äußerst dankbar für Aufmerksamkeit und Verstehen. Eine Krise birgt die Kraft, ein Leben von Grund auf zu ändern.                                                                                                               

Die größte Gefahr des/der heutigen Seelsorgers/in ist die Überforderung und Routine. Der routinierte Vollzug von Liturgie und Unterweisung verhindert echte persönliche Begegnung. Wenn gesagt wurde, dass die Anwesenheit Gottes in der persönlichen Betroffenheit liegt, dann vertreiben wir durch einen falsch verstandenen Eifer oder durch einen Zwang Gott aus unserer Arbeit. Dies ist sicher einer der Gründe, warum Priester und kirchliche Mitarbeiter, nach einem halben Leben intensivsten Einsatzes entmutigt und enttäuscht aufgeben oder resigniert und freudlos weitermachen. Die Gleichgültigkeit so vieler an Religion und Kirche, die uns fast verzweifeln lässt, beginnt nämlich bei der Gleichgültigkeit uns selbst gegenüber.

In der Wachheit gegenüber dem eigenen Schicksal liegt dagegen der Schlüssel, um die fast unüberwindliche Distanz zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft zu überwinden. Wer an seiner eigenen Geschichte lebendig geworden ist, erregt bei immer mehr Menschen Aufmerksamkeit und gewinnt an Bedeutung. Es klingt paradox: wie wichtig ich mir selbst bin, so wichtig werde ich andern.

Die Suchenden

Es fällt auf, dass es heute massenhafte religiöse Aufbrüche gibt - außerhalb der Kirche. Kirchenferne heißt deshalb nicht Religionslosigkeit. Nicht zu leugnen ist, dass viele, die sich in verschiedensten religiösen Gruppierungen engagieren, sogar aus der Kirche kommen. Sie haben nicht das gefunden, was sie gesucht hatten. Der kirchliche Betrieb war ihnen zu anonym, der Ablauf der Liturgie zu steril, die Predigten zu moralisierend und schablonenhaft, die Atmosphäre zu wenig dicht.

Es ist nicht so, dass Menschen nur aus Oberflächlichkeit und Leichtsinn die Kirche meiden, sondern weil ihr Anspruch an religiöse Tiefe und kritische gedankliche Durchdringung der Probleme, die sie mit dem Leben haben, höher ist. Gute Gründe sprechen dafür, dass es nicht der richtige Weg ist, für die Kirche als solche zu werben; erfolgreicher, vernünftiger und dem Willen Jesu gemäßer ist es, den Suchenden eine Artwort anzubieten, mit der sie leben können.

Freiheit, Zeit, Stille

Der Umgang mit Kirchenfernen ist wesentlich mühevoller als der mit dem gewohnten Kirchenvolk, aber auch anregender. Wesentliche Punkte, die es zu beachten gilt, seien noch einmal kurz zusammengefasst:

Einmal ist es die Achtung vor den Gefühlen, Überzeugungen und Entscheidungen eines Menschen, gleich wo er steht. Damit verbunden ist die Freiheit, die wir ihm persönlich zugestehen; damit aber auch der Respekt vor dem Ausdruck seiner religiösen Einstellung, der im Augenblick zu ihm passt.

Wir können z.B. nicht von Leuten, denen unsere Liturgie fremd ist, ein volles Mitsingen und Mitbeten verlangen. Wir sollten uns bewusst sein, dass ein Prozess Zeit braucht und dass Gott sich mit den Menschen Zeit lässt. Eine bewusste, wohltuende Stille wirkt mehr als ein geschäftiges Tun und Hinhören mehr als Hinreden. Angebote einer erfüllten Stille und Meditation als eigene Veranstaltung werden gerne angenommen.

Die Bedürfnisse, Anfragen und Meinungen Außenstehender können, wenn wir uns auf sie einlassen, zu Anstößen werden, die uns innerlich in Bewegung bringen. Sie sind sogar Garant für eine lebendige Kirche, die ihrer eigenen Wahrheit näher kommt.


Anmerkungen

1) Tillich, Ges. Werke Bd. VIII, S. 142
2) Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. IV, 150