Tore zum Sinn

Wege aus der Sinnkrise


„Es ist alles so sinnlos geworden!“ „Es hat keinen Wert mehr!“ „Ich weiß nicht mehr weiter.“ „Ich weiß nicht mehr was ich tun soll.“
Ein Mann um die sechzig im Krankenhaus. Er muss an der Hüfte operiert werden. Verdacht auf Knochenkrebs. Er ist sehr niedergeschlagen. Er sieht in seinem Leben keine Perspektive mehr. Er ist im Vorruhestand. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Kinder haben sie keine. Er weiß nicht mehr wofür und weshalb er weiterleben soll.
Eine Frau um die vierzig, verheiratet, eine Tochter mit 16. Sie haben ein Busunternehmen. Ihr Mann ist ständig unterwegs, sie sehen sich selten. Sie hat sich in einen anderen Mann verliebt, aber möchte ihre Ehe nicht zerstören. Sie ist dann noch in der Politik engagiert. Aber das Ganze macht ihr keine Freude mehr. Sie hat weder Lust an der Arbeit, in der sie sich im Betrieb ihres Mannes einsetzt, noch an irgendetwas anderem. Sie möchte am liebsten in ein Kloster für einige Zeit, um Abstand zu gewinnen. Aber das geht nicht wegen der Überlastung, die sie ihrem Mann nicht zumuten will. Sie weiß nicht was sie tun soll. Es ist bei allem Wohlstand alles so sinnlos!
Eine Frau um die 30. Sie ist Angestellte in einem Büro. Der Umgang mit Daten im PC füllt sie nicht aus. Sie kommt sich in ihrer Freizeit so leer vor, hat keine Lust und keine Einfälle, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Sie sagt: Alles ist so sinnlos!
Eine Frau, 45, hat ihren Sohn verloren. Er wurde bei einer Wanderung durch Südamerika ermordet. Jede Lebensfreude ist von ihr gewichen. Sie muss immer nur an ihren Sohn denken. Der Schmerz scheint nicht aufzuhören. Wie kann es weitergehen?
Es gibt Sinnleere, d.h. Freudlosigkeit, Lustlosigkeit an allem aus Störung der Beziehung, dass man nicht mehr verstanden wird und nicht mehr versteht, dass der Sinn dessen, was ich sagen möchte nicht mehr zum anderen rüberkommt, dass da eine Mauer dazwischen ist.
Es gibt einen Zustand, der bei allen äußeren Gegebenheiten, Arbeit und Wohlstand, bei allen moralischen Freiheiten eine innere Leere hinterlässt.
Es gibt Schicksalsschläge und Leid, die einem an der Sinnhaftigkeit des Daseins, an der Güte Gottes zweifeln oder sogar verzweifeln lassen.
Es gibt Menschen, und sie werden immer mehr, die in den Angeboten der christlichen Religion nicht mehr den Sinn, d.h. das letzte, tragende Fundament, finden, das sie für ihr Leben bräuchten. Für sie haben die christlichen Wahrheiten schon längst ihre Autorität verloren. „Warum soll ich mich durch den Tod Jesu erlöst fühlen?“ kann man hören. „In der Kirche finde ich keine Antwort auf meine Fragen, eher schon in der Übung der Zen-Meditation, oder bei den Indianern.“
Für einen ganz großen Teil der Bevölkerung ist die Frage nach dem Sinn einfach nicht akut, schon gar nicht nach einem höheren. Sie können diesen gut verdrängen durch ständige Ablenkung von sich selbst durch immer neue Reize, die sie von sich selbst wegziehen. Im Augenblick alles haben wollen, den vollen Genuss ohne Hemmung, ganz gleich was hernach geschieht,  ist die Einstellung, mit der die Medien Werbung betreiben. „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“(1 Ko 15,32) ist das Kennzeichen der so genannten Spaßgesellschaft. Keineswegs ist aber diese Gesellschaft zufriedener oder sogar glücklicher. Die psychischen Probleme mehren sich, das zusammenleben wird immer komplizierter, das Vertrauen in Menschen zerbricht.
Am offensichtlichsten wird dies in den Warnungen vor Aids. Was eigentlich Hingabe der Liebe sein sollte, wurde zur Todesgefahr. Der andere/die andere kann mir den Tod bringen! Die Angst ist Begleiter beim intimsten Akt zweier Menschen. Die Frage ist, ob das eine echte zwischenmenschliche Begegnung genannt werden kann, ob tiefere Gefühle zum Zug kommen, ob darin eine Erfüllung geschieht.
Nicht die Warnung ist verkehrt, sondern die Voraussetzung, die diese nötig macht. Es ist ein Misstrauen, das den Kern der Persönlichkeit verschließt. Das bedeutet, dass die Einsamkeit nicht überwunden wird.

1. Was ist Sinn?

Solange Sinn vorhanden ist, spricht man gewöhnlich nicht davon. Sinn ist wie ein stiller Begleiter des Lebens, der immer wie selbstverständlich da ist. Wer ein sinnerfülltes Leben hat, weiß instinktiv Antwort auf die Fragen: Warum lebe ich? Warum tue ich dieses und jenes? Warum mühe ich mich ab? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wohin gehöre ich? Wer bin ich?
Hier in sich selbst Antworten zu wissen ist ein tiefes, existentielles Spüren um letzte Zusammenhänge, eine innere Gewissheit, dass das, was ich tue und wie ich bin, richtig und sinnvoll ist. Dies heißt Lebensbejahung, Halt, Geborgenheit und Würde.
Ein ungewöhnliches, aber recht anschauliches Beispiel von Sinnerfahrung und der damit verbundenen Einstellung liefert C.G. Jung, wenn er von der Begegnung mit dem alten Indianer Ochwä Biano (Bergsee) berichtet. Er sah ihn und einige andere alte Männer völlig unbeweglich auf Dach eins Hauses stehen. Auf die Frage, was er denn da tue, antwortete dieser, er helfe der Sonne , dem Vater des Stammes über den Himmel zu gehen.  Das tue er nicht nur für sich und seine Landsleute, sondern für die ganze Welt. Das Bewusstsein, die wichtigste Aufgabe dieser Welt zu erfüllen, verleiht ihm unvergleichbare Würde. In einem Kommentar dazu bemerkt Jung, dass die Europäer trotz unseres vielen Wissens  im Vergleich zur Sinnerfahrung des Indianers arme Menschen seien.
Sinn kann nicht willentlich hervorgebracht werden und deshalb nicht Ergebnis eines guten Vorsatzes, von Denken und Wollen, Planen und Machen sein, sondern ereignet sich im Schwung und in der Ausdauer bei der Arbeit, im Einfallsreichtum in der Freizeit, in der Dichte, Intensität und im Reichtum eines Gesprächs. Sinn wird greifbar, wenn menschliche Beziehungen stimmen und erfüllt sind, wenn man einander versteht und sich nahe ist. Sinn kann sich zeigen in der Atmosphäre eines Hauses, eines Raumes, einer Kirche, eines Klosters, einer liturgischen Handlung und im Gebet. Ebenso können Landschaften Sinn vermitteln. Es gibt „Orte der Kraft“. Ich denke jetzt an Umbrien, die Heimat des hl. Franziskus und an Galiläa, die Heimat Jesu, an die Wüste. Sinn ist vorhanden, wenn Blumen und Blätter leuchten, wenn ich mich beim Einschlafen auf den nächsten und beim Erwachen auf den angebrochenen Tag freue.
Der Sinn als Lebensbegleiter braucht ein symbolisches Leben. Es gibt Handlungen, die rein äußerlich nichts erbringen, keinen Zweck verfolgen, aber doch einen tiefen Sinn in sich tragen. Denken wir an die Indianer auf dem Dach; im Grunde ist jede symbolische Handlung, jeder Ritus, insofern er für uns Geltung hat - zum Beispiel das Kreuzzeichen - ein Träger von Sinn. Es geht um den verborgenen, transzendenten Sinngrund, von dem die innere Einheit, das gegenseitige Verstehen, die Freude aneinander und am Leben als solchem ausgeht. Er wird durch das religiöse Tun und das symbolische Leben, vor allem durch das Gebet aktiviert.
Sinnerfahrung hat etwas zu tun mit der Nähe zu meinem innersten Kern, der mit dem Zentrum der Welt eins wird. Wer Sinn hat, hat Beziehung zum Ursprung. Alles Ursprüngliche, alles, was noch nicht verfälscht und verdeckt ist von dem, was Menschen planen und machen, hilft zum Sinn.
Man kann beim Sinn eine transzendente und eine immanente, eine unbewusst fundamentale und eine bewusst mentale, eine emotionale und eine kognitive Seite unterscheiden. Im Hinblick auf seine fundamentale Seite ist Sinn eine Kraft, die betroffen macht und innerlich ergreift. Er ist gestaltlose Erlebnisqualität, die jede Gestalt annehmen kann. Er liegt in der Tiefe des Seins, bildet das Fundament menschlicher Existenz und bedeutet Gewissheit, emotionale Sicherheit und Beruhigung der Angst. Für den Glaubenden ist es die Verbindung mit Gott.
Weil Gott in der Tiefe des Seins anwesend ist und wirkt, ist die Dimension menschlicher Erfahrung, die in diese Tiefe reicht, von äußerster Wichtigkeit. Sie kann umschrieben werden mit echt sein, betroffen sein, innere Einheit und durchzieht nicht nur das religiöse Leben, sondern kann in jeder menschlichen Begegnung, im Gefühl und im Tun spürbar sein. Sie macht die Wirklichkeit und Wirksamkeit, die Intensität und Dauer des menschlichen Daseins aus. Man spricht von oberflächlichen und tiefen Gefühlen, von flachen Gesprächen und Beziehungen, um deren ernsthaften und weniger ernsthaften Charakter zu bezeichnen. Wo immer ich mich jedoch von einer Situation zutiefst betreffen lasse, bin ich auf dem Weg zum letzten Sinn, zu Gott.
Andererseits vertreibe ich Menschen und Gott aus meiner Mitte, solange ich selbst blockiert bin, solange ich die eigene und die Problematik der anderen, durch Fixierung an bestimmte Vorstellungen nicht zulasse oder aus Angst eine Begegnung in tieferen Schichten verhindere.

Sinnlosigkeit – Sinnleere ist Herausforderung:

Wir müssen eine Antwort finden auf die Grundbedingungen unseres Daseins, d.h. auf Gegebenheiten, die wir nicht verändern können, die Menschen um uns, meine Geschichte, meine Ahnen, meine Familie, die Krankheit, als Mann, als Frau zu leben, die Krankheit, die mir zustößt, das Älter werden, der Verlust geliebter Menschen, der eigene Tod.
Es gibt eine Antwort auf diese Herausforderung und die heißt Wachstum der Persönlichkeit aus dem Seinsgrund, Individuation, in christlicher Sprache: Mein Glaube kann daran wachsen, sich vertiefen.
Es geht nicht, ohne dass man mit tieferen Schichten in Kontakt kommt! Sinn kann einem nicht einfach so von außen zugesagt oder angeraten werden. Sondern Sinn ist Ergebnis eines Prozesses, der einen voll und ganz herausfordert, den Schlaf raubt, den Appetit nimmt, von der Lust an der Arbeit, von den Menschen, die einem nahe stehen, wegreißt – bis wir wieder neu zu Menschen hin finden.

2. Aspekte vom Sinn

Sinn hat einen existentiellen Aspekt im Sinne der Konfrontation mit sich selbst, mit der Situation in der man lebt.
Sinn hat einen emotionalen Anteil, einen Gefühlsaspekt.  
Gefühle müssen zum Fließen kommen, wenn die Sinnkrise überwunden werden soll. Ich denke an eine Frau, die verzweifelt den Ausspruch tat: An manchen Menschen geht die Gnade Gottes vorüber. Damit wollte sie sagen: Ich gehöre zu denen, die die Gnade Gottes nicht erreicht hat. Mein Leben ist so düster, meine Lage so aussichtslos, dass ich keinen Sinn mehr sehe, dass ich an der Güte Gottes zweifle. Das Nächstliegende war zunächst einmal, sie von ihrem Leid erzählen zu lassen. Mit dem Reden kamen dann auch die Tränen und mit ihnen auch tiefere Gefühle. So schmerzlich das Ganze war, es wurde wieder etwas in ihr lebendig. Gerade durch das Gespräch, das mit ihrem Mann nicht mehr möglich war. Was sie brauchte: ernst genommen werden, einen Raum des Verstehens, wo sich ihre Gefühle von selbst erholen.
Zum Gelingen von Sinn gehört deshalb Zugang zu den Gefühlen. Konkret heißt das, dass man sich Zeit nimmt füreinander, dass man achtsam miteinander umgeht, bei sich selbst Gefühle nicht einfach überspringt, sondern eigenes Unbehagen und das des/der anderen wahrnimmt. Gefühle brauchen Zeit und Raum. Die ständige Überforderung und Überarbeitung führt zur Verödung des Zusammenlebens. Oft zerbricht eine Ehe gerade nach den gemeinsamen Anstrengungen des Hausbaus.

Sinn hat einen kognitiven oder Vernunftsaspekt.
Das bedeutet, dass ich Gefühle und Erlebnisse auch in das Ganze meines Lebens einordnen kann. Ich muss auch wissen, was ich tue, z.B. ob es Sinn hat, ein Verhältnis anzufangen und sich auf ein unlösbares Dreiecksverhältnis einzulassen. Meistens sind die Gefühle und Ereignisse schneller als man denkt.
Sehr häufig sind es sogar sonst sehr vernünftige Menschen, denen so etwas passiert und die nun viel zu überlegen und denken haben, wie sie das Ganze wieder auf die Reihe kriegen.
Scheidungsgeschichten sind meistens sehr schmerzvoll, es kann aber auch sein, dass man daran reift, dass man tiefer in seine eigene Existenz kommt und zu den Gefühlen, die bisher blockiert waren! Es kann aber auch sein, dass man gar nichts daraus lernt.
Zum kognitiven Aspekt gehört auch die geistige Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte. Dazu gehört nicht nur das Gespräch, wo uns neue Einsichten über Zusammenhänge über unsere Herkunft, darüber, wie wir sind, aufgehen. Hilfreich ist auch die Literatur über aktuelle Probleme. Ich denke an den Erfolg von P. Anselm Grün. Er hatte vor 30 Jahren mit einem Titel „Lebensmitte als geistliche Aufgabe“ in kurzer Zeit eine Auflagenzahl von 100 000 erreicht. Wir leben nicht nur aus dem Emotionalen, wir brauchen auch einen geistigen Rahmen, in dem wir das Erlebte einordnen.

Sinn hat einen Handlungscharakter.
Gerade wenn die Arbeit keine Lust mehr macht, muss ich mich fragen: Welche Aufgabe würde mich ausfüllen? Viele wechseln zu einem Pflegeberuf über, zum Umgang mit Menschen, weil ihnen die Luft des Büros zu trocken ist!
Franziskus umarmte den Aussätzigen und dies wurde für ihn zum Wandlungserlebnis. “Was mir bitter schien, wurde für mich zur Süßigkeit des Geistes und des Leibes verwandelt“. (1)  Dann ging er zu den Aussätzigen und befahl allen Brüdern, die sich ihm anschlossen, dasselbe zu tun.

Sinn hat einen transzendentalen Aspekt - Sinn in der Leere
Es geht um ein geistiges Erleben aus der Tiefe der Seele. Der Weg dazu ist Absichtslosigkeit oder Zweckfreiheit in der Übung der bewussten Stille und der religiösen Handlungen, besonders das Lob Gottes.
Die Sinnlosigkeit, unter der viele Menschen leiden, zeigt sich in einem Zustand innerer Leere, verbunden mit Unbehagen, Langeweile und Unruhe. Man sucht Ablenkung, um der Leere zu entkommen. Weil wir durch die Art unseres westlichen Bewusstseins auf äußere Dinge fixiert sind, erwarten wir von dort die Lösung unseres Problems. Östliche Weisheit sieht die Situation von der Gegenseite: Gerade die Leere ist der Sinn und macht den Wert des Lebens aus. Bei Laotse heißt es:
„Dreißig Speichen treffen die Nabe.
Die Leere dazwischen macht das Rad. 
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
die Leere darinnen macht das Gefäß.
 Fenster und Türen bricht man in Mauern,
 die Leere damitten macht die Behausung. 
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
 Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus“. (2)

Nun ist die Leere, die Laotse meint, nicht die, die ein Mensch als innere Hohlheit und Sinnlosigkeit empfindet. Beiden ist gemeinsam, dass es sich um einen Bewusstseinszustand handelt, in dem der ununterbrochene Fluss der Gedanken, des Planens und Tuns zum Stillstand kommt und vor allem die dauernde Anstrengung, etwas erreichen zu wollen, aufhört. Der westliche Mensch fällt dabei in ein Loch von Verzweiflung, der östliche Weise hingegen sieht darin eine Quelle von Kraft und fundamentalem Sinn. Mit den Augen Laotses betrachtet, birgt eine Krise, eine Depression oder Krankheit, eine offensichtliche Lebensminderung also, die Chance, zu einem tieferen Sinngehalt vorzustoßen und dem Leben eine neue Richtung zu geben.
Ich darf mir sagen: Wenn ich schon in den Umständen nichts ändern kann, so kann mich doch niemand daran hindern, mich selbst zu verändern!
Wichtig ist: in Kontakt kommen mit sich selbst. Eigene Betroffenheit zulassen – nicht ständig davonlaufen vor sich selbst durch Aktivität und Ablenkung oder Gedankenflucht.
Unser Weg dazu geht zunächst über die Bewusstwerdung der Konfliktspannung im beratenden bzw. psychotherapeutischen Gespräch. Der östliche Weg führt in und durch die Stille. Stille meint hier nicht nur Schweigen, sondern Absichtslosigkeit. Das bedeutet: Ich lasse mich auf ein Geschehen ein, mit dem ich nichts bezwecken möchte. Rein vom Äußeren her gesehen, erscheint und ist dies nutzlos: Wem nützt es, wenn ich mich eine halbe Stunde lang in unbequemer Sitzhaltung nur auf ein Wort konzentriere? Davon wird doch kein Hungernder satt und kein Unterdrückter befreit.
Absichtslosigkeit steht dem Zweckdenken diametral entgegen. Die Haltung des gewohnten „um zu ...“, des „damit ...“ hat wesentlich zur Sinnentleerung unserer westlichen Industriegesellschaft beigetragen. Sie übersieht, dass die Wesen in sich einen Wert darstellen und nicht einen Zweck für andere zu erfüllen haben. Erst wenn sich jedes Wesen entfalten darf, kann es auch anderen dienen. Sobald ich mich aus dem Drang, immer etwas erreichen zu wollen, löse, kann mein wahres Wesen zum Zug kommen und der unterdrückte Sinn erwachen. Deshalb hat Absichtslosigkeit sehr viel mit der Einstellung zu tun: sein und sein lassen, geschehen und leben lassen, ich muss nicht einen Zweck für andere erfüllen; ich darf ihnen helfen, über den Himmel zu gehen!
Das Chaos eines krisengeschüttelten Lebens ordnet sich dann von innen her. Es gibt eine Sinn und Ordnung stiftende Instanz, den Sinngrund, der selbsttätig wirkt.
Dieses Wissen finden wir ausgedrückt in den Worten Laotses: „Ist Nichthandeln, geschieht die große Ordnung.“ „Wesentliches Tun erfordert Nicht - Tun.“ Das Nicht -Tun, das von ständigem zweckrationalem Handeln ausgesparter Raum ist, darf nicht mit dem oberflächlichen Nichts - Tun verwechselt werden. Das wahre Nicht - Tun erfordert höchste Konzentration und Aufmerksamkeit. Es ist zweckfrei, aber keines falls wirkungslos. Die Dinge, die in Unordnung geraten sind, ordnen sich von der Wurzel her; man tut „Wesentliches“.
Dies alles bedeutet: Antwort auf die Frage nach dem Sinn kommt nicht aus dem kleinen Ich, sondern von der Seite, die als Nichts oder als Leere erscheint. Die Leere wird zur Fülle. Für uns klingt diese Art von Sinnerfahrung zunächst fremd. Jedoch auf unlösbare Rätsel im eigenen und im Leben anderer stoßen wir immer wieder. Die Lösung geschieht durchaus nach der Art des Koans: Indem wir dem Konflikt nicht ausweichen und uns mit äußeren Lösungen nicht zufrieden geben, wird ein Druck auf tiefere Schichten unseres Unbewussten ausgeübt, die allmählich nachgeben und aufgehen, d.h. in unserer Wesensmitte wird eine Kraft lebendig, die tröstet und befreit. Wenn ich nach langem Ringen im Gebet, in der Meditation und im Gespräch bis zu dem Punkt komme, wo ich sagen kann: Jetzt lasse ich es geschehen!, bin ich vom Ich in das Selbst gekommen, von der Peripherie ins Zentrum meiner Persönlichkeit.
Durch tägliches Meditieren verändern sich im Laufe der Jahre die Bedürfnisse; man lernst sehr gut zu unterscheiden zwischen dem, was nur äußerlich berührt, und dem, was innerlich bereichert. Durch die Praxis des Sitzens entsteht eine neue Art dazu sein. Alte ausgehöhlte Lebensvollzüge, ob in persönlichen Beziehungen, im Beruf oder im Urlaub verlieren sich; man stellt höhere Ansprüche an sich selbst, leidet aber nicht darunter, sondern trifft Entscheidungen, die ihnen gerecht werden. Es ist nicht falsch zu sagen: Das, was die Übung des Sitzens einbringt, verändert die Lebenskultur.
Durch das Gebet der Stille werden Texte der Hl. Schrift und der Liturgie wieder mit Inhalt gefüllt und unmittelbar verstanden. Jene Schichten der Seele werden geöffnet, aus denen heraus diese Worte und Abläufe einst gebildet wurden.
Zeiten der Stille, des Nicht-Tuns, die ich bewusst wegen ihrer Absichtslosigkeit vollziehe und pflege, werden zu Räumen der Kraft gegen die Verödung und Verflachung des Daseins. Dies kann jeder bestätigen, der schon einmal an Kontemplationskursen teilgenommen hat und weiter übt. Was dann vor allem auffällt und an Intensität zunimmt, sind die absolute Stille und die ungeahnte Kraft der Bewegungslosigkeit während der Übung.
Damit gewinnt auch das Zeiterleben eine ganz neue, ungekannte Qualität: Sie ist erfüllt. Nach dieser Erfahrung weiß man mehr um den Wert der Zeit im religiösen Leben, z.B. wie wichtig Pausen sind, um Texte wirken zu lassen, wie notwendig die Stille vor dem Gottesdienst ist. In der Tradition des Christentums wird die Absichtslosigkeit weniger in der absoluten Stille gepflegt, als vielmehr im Lobpreis Gottes. Gott loben und preisen erscheint dem heutigen Menschen jedoch weithin sinnlos, weil es keinem (guten) Zweck diene. Das Missverständnis besteht in der Vorstellung, dass Gott unser Lob bräuchte. In Wirklichkeit geht es um den Menschen: um einen Freiraum, wo er um seiner selbst willen da ist, einfach deshalb, weil es ihm Freude macht. Mit „Selbst“ ist dabei jener verborgene Kern in uns gemeint, wo wir Gott berühren.
In der bewusst vollzogenen Anbetung erwacht nach christlicher Lehre der Mensch zu seinem wahren Wesen, der Sinngrund wird spürbar. Man denke daran, wie sehr liturgische Gesänge ergreifen und innerlich bewegen können. Gandhi sprach vom Gebet als dem Atem der Seele.
Damit ist auch gesagt, dass ohne Gebet die Seele erstickt; es kommt dem gleich, was als Sinnleere und Verödung des Daseins beklagt wird! „Der Mensch braucht ein symbolisches Leben“ ist die Erkenntnis des Psychiaters C.G.Jung im Umgang mit Menschen, die aus der Bahn geworfen wurden.

Sinn finden heißt in Kontakt kommen mit der Erlebnisseite unserer Persönlichkeit mit dem, was uns innerlich anzieht, bewegt, und unserem Leben Lebendigkeit und Ordnung verleiht; mit dem Grund, auf dem unsere Existenz ruht.



1)  Das  Testament des Heiligen Franziskus,in Eßer K und Hardik L. Die Schriften des Hl. Franziskus von Assisi, Werl,1972 S 94.
2)  Laotse, Tao-Te-King. Das Buch vom Weltgesetz und seinem Wirken, Weilheim 1977, 19