"Die Kirche, meine Mutter und mein Kreuz"

Mit Marcel Légaut aus der Krise

Teil 1: ASPEKTE DER KRISE

1.Persönlichkeit und Anliegen M, Légauts (1900 - 1990)

Das Thema „Kirche“ ist in letzter Zeit arg in die Schlagzeilen geraten allerdings in äußerst negativer Weise. Den leitenden Stellen ist bewusst, dass es darum geht, Vertrauen zurückzugewinnen. Nun ist aber die Krise nicht neu. Bereits vor 40 Jahren hat der französische Schriftsteller Marcel Légaut auf die anstehenden Probleme hingewiesen und eine neue Begründung des Glaubens nicht nur gefordert sondern zuallererst selbst gelebt. Seine Lebensgeschichte kann helfen, jenes sinnerfüllte Verhältnis zur Kirche zu finden, das zwischen kritikloser, unreflektierter Bejahung einerseits und verbitterter Ablehnung andererseits liegt. Er möchte nicht eine unterschwellige, antikirchliche Stimmung anheizen.

Dem Titel „Die Kirche, meine Mutter und mein Kreuz“ liegt die französische Originalausgabe „Wandlung der Kirche und persönliche Umkehr“ (1) zugrunde. Damit ist schon vorweggenommen, dass ein echter Neubeginn nicht ohne die ganz persönliche Betroffenheit und Wandlung möglich ist. Wer die Schuld nur bei den Obrigkeiten sucht, lenkt von der eigenen Verantwortung ab. In dem vom Übersetzer gewählten Titel sind die enttäuschenden und verbitternden Erfahrungen vieler untergebracht aber auch das Ja zu einer Gemeinschaft, von der man die Grundlagen des eigenen  Glaubens erhalten hat. Es bleibt die Aufgabe jedes einzelnen, beides in ein fruchtbares Spannungsverhältnis zu bringen, kritisches Denken und Lebensechtheit mit Treue zur Kirche zu verbinden. Gerade darin liegt das Wachstum des Glaubens und des Menschen. Er sieht es als seine Pflicht an, "zum Leben der Kirche beizutragen, selbst wenn man durch sie und für sie leiden muss. Das ist wiederum die Voraussetzung für geistliches Wachstum" (2). Seine Mühe gilt dem reifen Glauben und einem geläuterten, vertieften Menschsein in einer lebendigen Kirche.

Dieser Mann, der erst im Alter von etwa 70 Jahren berühmt wurde, hat eine ganz eigenwillige Lebensgeschichte. Das auffälligste daran ist, dass er mit 40 Jahren seinen Lehrstuhl als Mathematikprofessor aufgab, einen verlassenen Bauernhof in der Provence kaufte und sich die kommenden 20 Jahre den Äckern und Wiesen, den Kühen und Schafen widmete.
Der Grund für diesen von außen unverständlichen Berufswechsel, war seine Treue zu seinem Menschsein. Als er 1940 vom französischen Militär entlassen wurde, war ihm klar geworden, dass die rein intellektuelle Tätigkeit als Sohn der Großstadt Paris einen ganz wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit verkümmern lies. Dieses Stück fehlender Lebensechtheit, so war ihm aufgegangen, konnte er nur durch manuelle Tätigkeit in Naturverbundenheit zurückgewinnen. Nie wollte er daraus eine Bewegung oder Heilsbotschaft des einfachen Lebens machen. Für Légaut war dieser Schritt einzig aus Treue zu seiner eigenen Entwicklung notwendig geworden. Der Werdegang Légauts und sein Verhältnis zur Kirche lassen sich aber nicht ohne seine spirituelle und intellektuelle Prägung begreifen. Um 1900 geboren, kam Légaut nach dem 1. Weltkrieg als Student in Paris in Kreise, die sehr stark vom religiösen und intellektuellen Aufbruch bestimmt waren. Der Einfluss der so genannten “Modernisten” war damals bei den Intellektuellen Frankreichs sehr stark und wurde von der kirchlichen Obrigkeit mit höchst unchristlichen Mitteln bekämpft. Ihr bedeutendster Kopf war Alfred Loisy, der 1907 exkommuniziert wurde. Dieser geistigen Richtung  ging es um die Verbindung der modernen Geschichtswissenschaft mit dem Glauben. Damals wurden alle Versuche von der Kirchenleitung rundweg abgelehnt und als glaubensgefährdend verworfen. Heute sind fast alle Thesen der Modernisten selbstverständliche Grundlagen der Theologie. Was für Légaut wichtig wurde, war der spirituelle Ernst, die intellektuelle Redlichkeit und die Verantwortung dem Menschsein gegenüber. Es waren Grundhaltungen, die in jenen vom Modernismus zumindest beeinflussten Kreisen spürbar waren. Worunter Légaut lange Jahre litt, war die Verkennung, Verketzerung, Bespitzelung und Verfolgung dieser ehrlich ringenden und denkenden und aus Verantwortung handelnden Theologen durch die kirchliche Behörde. Dass damals zum Schaden der Kirche vielen weitsichtigen Männern großes Unrecht geschah, konnte Légaut nicht so leicht vergessen. Litt er doch selbst bis zum 2. Vatikanischen Konzil darunter, dass er das, was ihn innerlich bewegte, nicht offen und frei im Raum der Kirche aussprechen und schreiben konnte. Jedoch sind die seit dem Konzil veröffentlichten Schriften Légauts frei von Verbitterung und Ressentiment; sie sind vielmehr erfüllt von einem klaren Blick für das Wesentliche und befähigen zu lebendiger Hoffnung. Sein Werk "Die Kirche, meine Mutter und mein Kreuz" möchte nicht alte Rechnungen aufmachen, sondern für jeden, der hellhörig und wachsam die Krise des Glaubens und der Kirche mit verfolgt und mitleidet, zu einer wertvollen Anregung werden.

2.Das Ausmaß der Krise

2.1. "Die augenblickliche Krise gleicht nicht den Krisen der Kirche in den vergangenen Jahrhunderten" (3).

Sehr häufig wird der Ernst der kirchlichen Situation mit dem Hinweis abgetan, dass die Kirche bisher noch alle Krisen siegreich überwunden habe und daraus gestärkt hervorgegangen sei. Man führt die Reformation und Säkularisation an oder die christologischen Streitigkeiten der ersten christlichen Jahrhunderte. Légaut sieht deutlich, dass es heute nicht um Fragen der Disziplin in der Kirche, der Verweltlichung des Klerus oder um Auseinandersetzung im Glaubensbereich geht. Vielmehr "wird der Glaubensakt als solcher in Frage gestellt”. Immer mehr Menschen richten sich darauf ein, ohne Religion zu leben, zumindest die entscheidendsten Lebensfragen ohne Rücksicht auf die Kirche und ihre verkündeten Gebote zu lösen. Dies zeigt sich ganz offensichtlich in der Diskrepanz zwischen kirchlicher Vorstellung von Sexualität und der in der Gesellschaft wirklich gelebten. In den letzten 50 Jahren ist ein wesentlicher Wandel eingetreten bezüglich der Auffassung von Ehe ohne Trauschein, Ehescheidung, ehelicher Treue, Abtreibung. Die so genannte sozial ethische Indikation, die einen Schwangerschaftsabbruch aus äußerster sozialer Notlage rechtfertigen sollte, lässt eine sehr weite Auslegung zu, sodass praktisch über Leben und Tod des Ungeborenen frei verfügt werden kann. Man kann  von einer sexuellen Welt weithin ohne kirchliche Grundsätze sprechen. Voreheliche Enthaltsamkeit, früher einmal ein wesentlicher Aspekt kirchlicher Moral ist kein Thema mehr. Man kann nicht zu Unrecht sagen, dass die Kirche fast allen Einfluss auf die Gestaltung der existentiell wichtigen Fragen wie des Intimlebens verloren hat.

Die bislang von der Kirche beanspruchte göttliche Autorität in Glaubens - und Sittenfragen ist beim größten Teil der Getauften einfach illusorisch geworden. Der Zusammenhang von Taufe, christlicher Erziehung in der christlichen Tradition und damit auch Anerkennen der kirchlichen Autorität besteht zum größten Teil nicht mehr. Mit dem Ablösungsprozess der Jugendlichen aus der Familie ging die Loslösung von der Kirche Hand in Hand. Das so genannte christliche Elternhaus oder die christliche Schule gibt es nur noch in winzigen Ausmaßen. Sie sind schon längst keine Garantie mehr für den Glauben der jungen Generation. Es ist nicht zu leugnen, dass die Emanzipationsbewegung, der es um den Abbau bisheriger einengender sozialer Normen geht, weitgehendst auch in den Räumen mit starker kirchlicher Tradition Fuß gefasst hat. Zu nennen ist noch der totale Einbruch im Priester und Ordensnachwuchs und die Überalterung des Priester und Ordensstandes; dies bringt es mit sich, dass die noch tätigen Seelsorger die Probleme der Zeit immer weniger sehen und meistern können. Dazu kommt der Zulauf zu den Jugendsekten, der rapide Anstieg der Ehescheidungen (fast jede 3. Ehe wird geschieden) und damit auch der Kinder aus geschiedenen Ehen, die damit wieder umso weniger günstige Voraussetzung für das Gelingen der eigenen Ehe mitbringen.

2.2. Die bisherigen Methoden, Krisen zu bewältigen erweisen sich als nicht mehr durchführbar oder als wirkungslos.

In den Glaubensstreitigkeiten früherer Jahrhunderte, besonders seit der Reformation, versuchte man die Krise dadurch zu bewältigen, dass man durch ein allgemeines Konzil oder durch Entscheidungen der kirchlichen Behörde die alte Lehre wieder klar herausstellte und die Gegner ausschloss. Damit hatten sich zwar große Teile des Kirchenvolkes abgespalten, bzw. waren "abgefallen", aber das Kirchenvolk in seiner Substanz war geblieben; jetzt konnte wieder Ruhe einkehren. Um die noch verbliebene Herde vor dem Abfall zu schützen, wurden Informationssperren eingerichtet, d.h. es wurde Katholiken verboten, glaubensfeindliche Bücher oder Schriften zu lesen. Da die Autorität der Kirche noch ungebrochen war, konnte durch Anmahnungen von oben die Disziplin und Glaubensfestigkeit aufrechterhalten werden. Durch entsprechende Ausbildung der Priester war die Überlieferung der bisherigen Lehre gesichert. Abgesehen davon, dass diese Methoden das Problem nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben haben, greifen diese heute nicht mehr.

Ebenso ist eine Einschärfung kirchlicher Moralvorschriften ohne jede Resonanz. Die es angeht, haben dafür höchstens ein Lächeln übrig. Nicht weniger sind Informationssperren illusorisch. Im Grunde war die Wirkung kirchlicher Krisenbewältigung an der Anerkennung der kirchlichen Autorität gehangen. Da diese aber den abhängigen, kindlich Glaubenden voraussetzt, dieser aber immer seltener wird, ist die Kirche der Krise mit den bisherigen Methoden nicht gewachsen. Selbst so alt bewährte Methoden der Erneuerung des einzelnen wie die Beichte, der häufige Sakramentenempfang, Volksmissionen, Einkehrtage, Exerzitien, können die Krise nicht meistern. Sie können dem einzelnen durchaus Hilfen zur persönlichen Lebensbewältigung geben, aber im Hinblick auf die Situation der Kirche in der modernen Zeit  sind sie unbedeutend. Sie sind stumpf geworden, weil sie einerseits Anerkennung der kirchlichen Autorität voraussetzen, andererseits bei den noch "Praktizierenden" die eigentlichen Probleme ausklammern.

Psychologisch gesehen befinden sich die meisten - zumindest was die westlichen Industriestaaten betrifft - nicht mehr im Zustand der Abhängigkeit (Dependenz) von der Autorität, sondern der Gegenabhängigkeit (Contradependenz) und Unabhängigkeit (Independenz).

Das heutige kirchliche Angebot zur Lebensbewältigung wird nur von denen wahrgenommen, die noch innerlich von der Autorität abhängig sind und noch treu zu ihr halten. Diese werden immer weniger. So steht heute die Kirche den Entwicklungen der Gesellschaft ziemlich hilflos gegenüber und muss zusehen, wie die Zukunft von völlig irrationalen Faktoren, aber nicht vom Geist des Evangeliums gestaltet wird. Légaut sieht auch im politischen und sozialen Engagement keine Alternativen. Nicht, dass er die Notwendigkeit, sich für eine gerechtere soziale Ordnung einzusetzen, leugnen oder eine reine  Innerlichkeit befürworten würde, aber er sieht in karitativen, politischen und sozialen Aktionen als ausschließliche Lösung nur eine Verschiebung des Problems. Zu erwähnen bleibt noch, dass der Kirche in Frankreich die politischen und wirtschaftlichen Mittel (keine Kirchensteuer) total entzogen sind und infolge des Wegfalls dieser Stützen die Krise offen zutage tritt. In der Bundesrepublik  war die Welle der Entchristlichung durch eine gut funktionierende, mit kräftigen finanziellen Mitteln ausgestattete Organisation noch verdeckt. Häufig konnte man hören: "Die Kirche hat schon größere Krisen bewältigt." Diese Auffassung bagatellisiert. Es ist sicher wahr, dass der Kirche die Unüberwindbarkeit verheißen ist aber als ganzer. Das schließt nicht aus, dass es in Teilkirchen zu Katastrophen kommen kann wie das in der Geschichte schon häufig der Fall war. So ist in einigen Ländern ein einstmals blühendes Christentum völlig ausgerottet worden. Wer denkt heute noch daran, dass die heutige Türkei und ganz Nordafrika einmal christlich waren und sogar die Weltkirche entscheidend beeinflussten? Ebenso ging in der Reformation ein halber Kontinent der katholischen Kirche verloren. Für das Fortbestehen der Kirche in Deutschland haben wir überhaupt keine göttliche Garantie!

3. Die Ursachen der Krise

"Hauptgrund dieser Krise ist die mangelnde Spiritualität der Kirche (4)."

Légaut weist weit die verbreitete Auffassung von den Ursachen der Krise zurück, welche im ungläubigen, kirchenfeindlichen Zeitgeist und in einer entsprechenden Politik den Hauptgrund für die ungünstige Entwicklung sieht. Auch lässt er die Erleichterung der Lebensbedingungen, das Konsumdenken und die damit verbundene oberflächliche Bedürfnisbefriedigung nicht unerwähnt. Er geht aber nicht mit denen konform, die in einer wirtschaftlichen Not eine Chance für die Religion sehen; denn der Druck des bloßen Überlebens habe zwar zu einer unwillkürlichen, aber doch nur oberflächlichen Religion geführt. Als weitere Gründe könnten noch die mit der Verstädterung gegebenen sozialen Verschiebungen und der damit verbundene Wegfall der sozialen Kontrolle angeführt werden. Nach Légaut sind aber die Veränderungen der Lebensbedingungen nicht die eigentlichen Gründe für den Niedergang.

Den wesentlichen Kern des Problems sieht er im offiziellen, von der kirchlichen Autorität abverlangten Glauben selbst. Diese forderte und fordert mit Einschränkung immer noch als Glaubensakt das bloße gehorsame Hinnehmen einer Doktrin als ganzer und das Einhalten von Vorschriften. Man kann dagegen einwenden, dass sich in den letzten Jahren seit dem Konzil viel geändert hat, dass theologische Reflexionen über den Glauben schon längst nicht mehr diese Position einnehmen. Aber der praktisch gelebte Glaube der noch Kirchentreuen ist von dieser Einstellung geprägt. Légaut wirft dem kirchlichen Lehramt vor, dass die innerseelische Bildung des einzelnen vernachlässigt und menschliche Tiefe und Reifung außer Acht gelassen werden. Durch die Einschärfung der alten Lehre und Vorschriften, die als unwandelbare göttliche Wahrheiten gelten, wurde zwar die Weitergabe garantiert, aber die Offenbarungsinhalte blieben den allermeisten Katholiken im Grunde tote Wahrheiten, die weder existentiell angeeignet, noch zur Lebenshilfe wurden. Glauben wurde mehr als fast blinder Gehorsamsakt gegenüber der kirchlichem Autorität verstanden denn als schrittweise inneres Wachsen auf Gott hin und Erhöhung der eigenen Menschlichkeit. Dies nennt Légaut mangelnde Spiritualität.

Im neuen Lexikon für Theologie und Kirche steht unter Spiritualität: „Spiritualität als lebendige Wirklichkeit geht der theologischen Reflexion voraus. Glaube ist existenzieller Lebensvollzug des ganzen Menschen mit Leib und Seele. Er lebt nicht aus sich selbst, sondern aus den Impulsen des Heiligen Geistes.“ (5)

Wer kann mit dieser Aussage etwas anfangen, wenn man die tatsächliche gelebte Frömmigkeit der Kirchenmitglieder etwas genauer anschaut?  Wer kann schon sagen, dass er aus den Impulsen des Heiligen Geistes lebt? Überzeugende Christen und Gemeinschaften, bei denen sich Menschen in ihrer existentiellen Not, in ihren Vereinsamung, der Sackgasse ihres Lebens, in ihrem spirituellen Suchen aufgehoben fühlen, sind eher die Ausnahme.

Man kann oft in einem bitteren Ton hören: Wenn das die Impulse des Heiligen Geistes sein sollen, was an den Sonntagen in den Kirchen gesagt wird, dann kann ich ruhig auf diesen Geist verzichten. Légaut beklagt die Diskrepanz zwischen Glaubensinhalten und Glaubensvollzug, zwischen Verstand und religiösem Praktizieren bei den meisten Katholiken. Die intellektuelle Redlichkeit gebiete es, dass der Glaube auch vom Verstand durchdrungen werde. Allzu lange habe die kirchliche Autorität die Auseinandersetzung mit dem modernen Wissenschaften aufgeschoben, so dass die Gläubigen auf die sie drängenden religiösen Fragen und Auseinandersetzungen nicht vorbereitet seien. Mit Glauben meint er den konkreten Vollzug des Glaubens, die Art, wie tatsächlich der Glaube einen Menschen prägt. Die Frage drängt sich auf: Inwieweit unterscheidet sich unser Kirchenvolk, das noch treu zur kirchlichen Obrigkeit  hält, von den Leuten, die Jesus in Nazareth und Kapharnaum angetroffen hat und die ihn trotz der Wunder nicht verstanden haben. Dasselbe müssten sich alle lehrenden Theologen fragen, wenn die Kritik Jesu an den Schriftgelehrten, den Theologen der damaligen Zeit, verlesen wird.

Der ehemalige Mathematikprofessor bedauert schmerzlich den Wirklichkeitsverlust der kirchlichen Lehre und Ausbildung. Man beschäftigt sich mit Fragen, die nicht gestellt werden und die tatsächlich vorhandenen kommen nicht vor. Große Mühe wird darauf verwendet, um die Normen einer christlichen Sexualmoral zu begründen. Aber die davon Betroffenen stellen schon längst nicht mehr die Frage: was hat uns die Kirche auf diesem Gebiet zu sagen und welche Argumente hat sie dafür, sondern: Welche Hilfen bekommen wir, damit eine Partnerschaft gelingt?                  Jesus hat nicht durch Ermahnung, sondern durch Begegnung Menschen zum Guten verändert. Er hat nicht nur hohe Ideale verkündet, er hat die Menschen auch befähigt, sie zu erreichen. Ein sehr anschauliches Beispiel dazu ist der Zöllner Zachäus, der durch die erfahrene Güte Jesu sein Geld und seinen Geiz lassen kann. Mangelnde Spiritualität wird nicht durch herkömmliche Frömmigkeitsübungen aufgewogen.

"Diese (spirituelle) Mittelmäßigkeit wurde nämlich unterstützt und verschleiert durch religiöse Praktiken, die sakral überhöht wurden" (Légaut, Kirche, 15). 

Légaut sieht deutlich, dass bestimmte Gebots  und Andachtsübungen nur der Beruhigung dienen und den eigentlichen geistlichen Vollzug des Glaubens, nämlich die Ausrichtung des ganzen Menschen auf Gott hin, eher hindern als fördern.
Seine Kritik an der traditionellen Art des Glaubens lässt sich am Beispiel der Sakramentenspendung veranschaulichen. Die Wirkung der Sakramente, die ursprünglich real erfahren wurde, wurde selbst zum Glaubensgegenstand. In den Ursprüngen des Christentums war die Taufe der Ausdruck dafür, dass ein Mensch ganz und gar in die Atmosphäre Christi eingetaucht wurde und er dies tatsächlich auch so erlebt hat. Das bedeutete, er wurde ein anderer Mensch mit anderen Wertvorstellungen, anderen Motiven, anderen Interessen, anderem Lebensgefühl. Er war tatsächlich ein neuer Mensch geworden. Er war „geboren aus Wasser und Geist“ (Joh 3,5).

Wenn es heute in der Liturgie heißt, dass wir durch die (Kinder)Taufe wiedergeboren sind aus Wasser und Geist, kann sich niemand etwas vorstellen; es wird keine Erfahrung angesprochen. Der fehlende Bezug zum Leben wird vor allem in der Firmung schmerzlich bewusst. Diese ist gedacht als Vollendung der Taufgnade, als Sakrament des mündigen, erwachsenen Christen. Wer aber kann von "Erwachsensein", von Reife bei elf und zwölf jährigen Kindern sprechen, die z.T. vor der Pubertät und zum Teil mitten im Umbruch stehen? Es ist sehr schwierig für diese Kinder und Jugendlichen, dieses Sakrament in ihr Leben einzubauen, außer man deutet es entsprechend um. Nicht selten treten sie  nach der Firmung aus dem Religionsunterricht aus und oft sogar aus der Kirche.
Ebenso ließe sich die Kritik an der Beichtpraxis weiterführen. Was die Kirche so unglaubwürdig macht, ist die Diskrepanz zwischen dem, was verbal verkündet  und dem, was real erfahren wird. Was bedeutet das schon, wenn einem jungen Menschen gesagt wird: „du bist erlöst und befreit“ und er muss erleben, dass sich seine Eltern ständig streiten und sich trennen.

Heute ist es fast zur Regel geworden, dass der junge Mensch, von der Kirche getauft, feierlich zur Eucharistie zugelassen, und schließlich durch die Firmung zum mündigen Christen erklärt, in seinem eigensten inneren Glaubensvollzug nach der "ganzen Prozedur" nicht einmal im Stadium eines Katechumenen steht. Es ist nicht seine Schuld, wenn ihm der innere Zugang zu den wesentlichen Vollzügen des Christseins fehlt. Wen könnte es eigentlich wundern, wenn er das ihm von außen übergestülpte Gewand ablegt, um sein Eigenstes zu entdecken. Wenn umgekehrt vom gläubigen Kirchenvolk bisher diese Praxis kritiklos hingenommen wurde, so haben doch die Sakramente bei weitem nicht jene Wirkung erreicht, die sie nach den theologischen Traktaten eigentlich hätten haben müssen. Was herauskam, war eine spirituelle Mittelmäßigkeit (6).

Die in der Kirche übliche Aszese appelliert an den guten  Willen, freilich ohne eine überzeugende Motivierung zu liefern. Es wird zwar häufig an das Getauft sein erinnert und daraus die entsprechenden Forderungen abgeleitet. Aber die entscheidende Voraussetzung fehlt: Das Erleben der Wirkung der Taufe, d.h. Erfahrung der Tiefe, Ordnung und Ausrichtung der Antriebe, Gefühle und Motivationen auf Christus hin. Ein Glaubensvollzug der aus bloßer Willensanstrengung oder guten Gewohnheiten besteht, kann nicht jene Ausstrahlung und Lebendigkeit erreichen, die für das Bestehen des Christen in einer heidnischen Welt notwendig wären. Der traditionellen Frömmigkeit fehlt die innere Kraft, die religiösen Worten, Verlautbarungen, Veranstaltungen (z.B. Sonntagsmesse) eine innere Anziehung und Ergriffenheit verleiht.

4.Die Schwierigkeiten, die einer Bewältigung der Krise im Wege stehen

"Solange die Kirche nicht davon überzeugt ist, dass sie sich im christlichen Geist erneuern muss.., solange ihre Auffassung von Treue ihr verbietet, wenigstens im Prinzip die Möglichkeit einer Neuorientierung ins Auge zu fassen, solange sie es nicht versteht, dem christlichen Volk jene Spiritualität zu geben, die ihm den Weg zu diesem "Neu Aufbruch" öffnet, solange wird die Kirche unfähig bleiben, die Zukunft vorzubereiten." (7)

Légaut stellt jene Auffassung von Treue und Unwandelbarkeit in Frage, die geschichtlich Gewordenes um jeden Preis festhalten will, „die sich an dem orientiert, was die Kirche einmal war und nicht daran, was Jesus wollte." (8)

Damit die Kirche in einer inzwischen heidnisch gewordenen Welt bestehen und sie gestalten kann, muss sie ihr geschichtlich gewordenes Gewand abstreifen und zum Ursprung, der bei Jesus selbst ist, zurückkehren. Was die Neuorientierung so schwierig macht, ist die noch weit verbreitete Überzeugung, dass das von der Amtskirche vorgelegte Christentum, die Strukturen und Ordnungen, z.B. die Art der Amtsausübung, der Sakramentenspendung, der Gesetze, der Auslegung der Dogmen, des Glaubensvollzugs schon göttlicher Natur sei, d.h. im Sinne des Stifters und man deshalb keinerlei Anlass habe, den historischen Charakter zu überdenken. Andererseits wären mit einer bloßen Änderung der Gesetze, z. B. durch Mitbestimmung bei der Wahl des Bischofs, Aufhebung des Zölibats die Probleme noch nicht gelöst.

Die Kirche müsste "dem Volk jene Spiritualität geben, die ihm den Weg zu diesem Neuaufbruch öffnet". Das heißt eine Lockerung der Gesetze hilft nicht, wenn nicht das Leben von unten und von innen her geweckt wird. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, sich an den Ursprüngen des Christentums und im Sinne des Stifters zu orientieren. Das bedeutet, jene spirituelle Tiefe und Ausstrahlung wieder zu gewinnen, welche die Ausbreitung des Christentums gegen die Widerstände der damaligen Zeit ermöglicht hat. Entscheidend sind Hilfen zur Erschließung von religiöser und menschlicher Vitalität. Die bloße Verkündigung auf der kognitiven Ebene, Anmahnungen von oben oder auch einige Veränderungen in der Organisation können nicht jene fundamentale Neuorientierung leisten, die notwendig wäre, denn "dieser Neubeginn wird in der Tat eine außergewöhnliche geistige Vitalität erfordern" (9). Die Kirche müsse sich gläubiger und klarer ihrer das Menschliche transzendierenden Dimension bewusst werden, die sich von der Transzendenz ihres Herrn herleitet. Sie müsse sich distanzieren können von Traditionen, von Verflechtungen in Parteien, gesellschaftlichen Schichten oder Klassen, in Volkstum und Kulturen, ohne deren Eigenwert und Eigenständigkeit gering zu schätzen. Zugleich heißt das, jene Kraft auszustrahlen, die Völker und Rassen, Schichten und Klassen miteinander im Geiste Jesu verbindet. Deshalb gibt Légaut weder den Traditionalisten noch dem bloßen Widerstand eine Chance, den notwendigen Wandel der Kirche herbeizuführen. Denn sowohl das sture Festhalten am Alten  als auch der emotional geladene Protest lassen den Geist Jesu vermissen.

Die daraus resultierenden Aktivitäten sind mehr durch soziologische Zwänge, als durch die schöpferische Kraft des Glaubens ausgelöst. Von der Amtskirche verlangt er, dass sie Initiativen von unten fördert, dass ihre Neuerungen nicht vom politischen oder sozialen Druck diktiert sein dürfen, sondern aus dem Geist Jesu und aus einer neuen Begegnung mit den Menschen kommen. Sie müsse bereit sein, auch den Ursprung ihrer Machtausübung kritisch zu überdenken. Der Kern der Aussagen Légauts gipfelt in der Entdeckung und Erfahrung des Geistes Jesu, was für ihn zugleich die Tiefe und Vollendung des Menschseins ausmacht. Dafür sind in der Kirche noch kaum Wege entwickelt.

Hinzukommt noch, dass die gewohnte Art des Kirchenvolkes, den Glauben zu leben, diesem Aufbruch diametral entgegensteht. Denn durch die Autoritätsgläubigkeit delegiert der normale Christ  auch die Verantwortung nach oben. Das bedeutet, dass er sich von der Krise gar nicht betreffen lässt und deshalb auch nicht die Notwendigkeit seiner persönlichen Umkehr einsieht. Weil er in der Begegnung mit der Kirche als Persönlichkeit, als eigenständig denkender Mensch z.B. im Religionsunterricht nicht ernst genommen wurde, fühlt er sich auch für die Gesamtheit der Kirche nicht verantwortlich. Sehr häufig wurde von der Amtskirche eine Mentalität des Kirchenvolkes gepflegt, die nach Légaut so lautet:

"Die Kirche als göttliche Institution mit Unfehlbarkeit ausgestattet, in Vollkommenheit regiert, wird schon zu gegebener Zeit und in rechter Weise die Fehler und Missgriffe abstellen, die übrigens von dem üblen Zeitgeist mit sichtlichem Vergnügen aufgebauscht werden" (10).

5. Perspektiven der Erneuerung

5.1. „Der Wandel der Kirche ist möglich; denn die Christen verfügen über einen reichen Schatz ungenutzter Spiritualität“ (11).

Légaut traut den einfachen Gläubigen viel mehr zu, als es in der traditionellen Kirche der Fall ist. Es geht nicht darum, mit neuen Forderungen an sie heranzutreten, sondern ihnen in der Entfaltung ihres geistigen und spirituellen Lebens Hilfen zu geben. Zu Recht sieht er im Kirchenvolk so viel brachliegenden guten Willen, der in die rechte Richtung gelenkt werden müsste.

"In der menschlichen Tiefe ihrer Mitglieder und in ihrer Treue besitzt die Kirche die Mittel, sich zu wandeln und ihr Geschick und ihre Sendung wieder in die Hand zu nehmen" (12). Er traut der Kirche eine Art "Selbstschöpfung" zu, die aber über die Wiedergeburt des einzelnen erfolgen muss. Allerdings ist "ohne Umkehr der Christen der Wandel der Kirche nicht möglich" (13).

Was diese so schwierig macht, ist die mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit, die Art und das Ausmaß der persönlichen Wandlung. Unter Umkehr wurde bisher die Korrektur eines Verhaltens verstanden, das von der traditionellen Norm abweicht. Es handelte sich immer um eine Einordnung in das alte Denk und Normensystem. Diesem Zweck diente die häufige Beichte, der Sakramentenempfang, die sogenannte geistliche Erneuerung, wie Exerzitien und Volksmission. Die Umkehr, die Légaut für notwendig erachtet, muss aber den bisherigen Denkrahmen sprengen. Erst diese Öffnung des Denkens und Erlebens ermöglicht eine Annäherung an den Geist Jesu.

Umkehr ist deshalb mehr als Besserung des moralischen Lebenswandels, sie meint vielmehr, die ganze Glaubensexistenz neu überdenken, Kritik und Zweifel an der Kirche zulassen und erst in dieser Nacktheit und Ungesichertheit (Nullpunkterfahrung) den Glauben in seiner Tiefe erfahren. Im Grunde heißt das, dass jeder erwachsene Christ, auch wenn er noch so in die Kirche integriert ist, gerade deshalb sich nach einem tieferen Glaubensverständnis auf die Suche machen müsste, dies aber nicht als Verpflichtung, sondern als Chance für mehr Lebensechtheit und menschliche Reife.
Jede Maßnahme von oben, die nicht getragen ist von der breiten Mehrheit des Kirchenvolkes, wird in ihrem gut gemeinten Sinn nicht verstanden und noch mehr zur Entfremdung zwischen Autorität und Volk beitragen oder schließlich zu einem Schisma führen. Es geht um ein organisches Wachsen, das in der Basis seine Wurzeln hat, aber von oben angeregt, gefördert und integriert wird.

Eine so erneuerte Kirche wird allen Menschen offen sein und die Zukunft der Welt entscheidend mitgestalten. Die bisherige Zugehörigkeit zur Kirche setzt praktisch das Hineingeboren werden sowohl physisch als auch geistig voraus. Der normale Durchschnittschrist hat sich eigentlich nie frei für die Kirche entschieden. Andererseits ist für einen Außenstehenden eine Entscheidung für die Kirche sehr schwierig. Er steht vor einer Situation, als müsse er sich als erwachsener Mensch in eine fremde Familie einfügen. Die neue Kirche, wie Légaut sie sieht, wird sich von überholten Vorstellungen und Gewohnheiten der Vergangenheit lossagen und eine solche Freiheit und Offenheit ausstrahlen, dass sie einem Außenstehenden als Förderung und Erhöhung seines Menschseins erscheint und nicht mehr wie bisher als Einengung. Sie wird die tiefsten Bedürfnisse des heutigen Menschen ansprechen und deren Anwalt sein. Die neuen Christen werden Katalysatoren des gesellschaftlichen Prozesses zu mehr Menschlichkeit sein, die Kirche als Ganzes Ferment und Sauerteig der Welt.


Teil 2: DIE FRAGE NACH GOTT

Das zentrale Problem der kirchlichen Erneuerung liegt nach Marcel Légaut im Bereich der Spiritualität. Der lebendige oder sterile Glaubensvollzug entscheidet über die Zukunft der Kirche und der Menschheit. Die Kirche wird dann wieder attraktiv sein, wenn die eigentlichsten, innersten Bedürfnisse des Menschen in ihr aufgehoben sind. Aber was sind die Bedürfnisse des Menschen? Gibt es so etwas wie religiöses Urverlangen, das den Menschen im Innersten ergreift? Überraschend stellt sich jeder Generation die Frage nach Gott neu.

1. Inwieweit erscheint die Kirche dem modernen Menschen in dieser Frage kompetent?

Ein kirchlich denkender Mensch muss allein schon die Frage nach der Kompetenz d.h. der Zuständigkeit der Kirche auf dem Gebiet des Religiösen als Herausforderung empfinden.                                                                                  

Man könnte es noch hinnehmen, dass die Kirche auf dem Gebiet des sexuellen Verhaltens, der sozialen Fragen oder der Seelenführung nicht mehr zeitgemäß ist; dass sie aber in ihrem religiösen Führungsanspruch selbst in Frage gestellt wird, diesem anscheinend nicht genügt, erscheint ungeheuerlich. Versteht sich doch die Kirche als die vom göttlichen Stifter beauftragte Verkünderin der geoffenbarten Heilswahrheit.

Vor 40 Jahren konnte man noch darauf verweisen, dass der sogenannte moderne Mensch sich doch nur in Randgruppen aufhalte, während die breite Mehrheit des Kirchenvolkes treu zur Kirche halte. Das Angebot der Sakramentenspendung werde immer noch ungebrochen in Anspruch genommen. Ebenso konnte man im Hinblick auf den sonntäglichen Messbesuch noch nicht von einer Katastrophe sprechen. Inzwischen ist dies schon alles eingetreten. Man muss jedoch den Begriff des "modernen" Menschen etwas genauer betrachten, um die von ihm ausgehende Anfrage an die Kirche zu verstehen. Nun gibt es tatsächlich große Unterschiede, wie Menschen denken und erleben, wie sie Erfahrenes einschätzen und einordnen. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren weite Bevölkerungskreise, besonders auf dem Land, vor den Einflüssen des neuzeitlichen Denkens abgeschirmt. Mit Einschränkung könnte man sagen, dass in vielen Gegenden der Mensch seiner Mentalität nach eher im Mittelalter stand als in der Neuzeit. Gemeint sind folgende Eigenschaften:

Abhängigkeit von den Autoritäten, geschlossenes Weltbild. Das heißt auf jede Frage wird von der Autorität eine Antwort gegeben, ohne dass dem Einzelnen das Aushalten einer Frage angelastet würde und ohne dass der einzelne selbst über die Lebensproblematik nachdenken müsste. Dieses Weltbild  ist beim modernen Menschen zerbrochen. Er ist aus dem Paradies der Kindheit vertrieben. Für ihn gibt es keine Autorität mehr, die ihm sagt, was recht und was unrecht ist. Für ihn gibt es keine Beichte mehr, die ihn von der Sündenangst befreien könnte; für ihn existiert ja auch keine Sünde mehr, wohl aber "unbegründete" Angst, Einsamkeit, Verzweiflung, die Unfähigkeit, aus den Sackgassen seines Lebens herauszukommen. Dem modernen Menschen kann die Konfrontation mit seiner eigenen Lebensproblematik nicht abgenommen werden. Das heißt: für ihn stellt sich die Frage nach Gott anders und verlangt eine andere Antwort als für den Menschen mit geschlossenem Weltbild. Der "moderne" Mensch ist heute keine Randerscheinung mehr. Er repräsentiert inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung. Dass die religiöse Frage ein allgemein drängendes Problem ist, darüber können leere Kirchenbänke nicht hinwegtäuschen. Da ist die Anfrage der Psychotherapie an die Kirchen; vor Jahrzehnten schon hat Carl Gustav Jung mangelnde Religiosität für seelische Erkrankungen gesehen. Dafür bekommt er heute aus den Reihen der Psychotherapeuten durchaus Zustimmung, wenn auch nicht von allen. Zugleich aber wird bedauert, dass die Kirchen dem modernen Menschen die religiöse Kraft nicht vermitteln können. Im Mittelpunkt der heutigen Auseinandersetzung um die religiöse Frage stehen die sogenannten neureligiösen Bewegungen. Man kann von einem religiösen Aufbruch außerhalb der Kirchen sprechen.

Das Anwachsen der fernöstlichen, durchaus ernsthaften Meditationspraktiken widerlegt die These, dass die Entchristlichung oder Säkularisierung ein Ende der Religion als solche bedeute, d.h. als ob sich für den modernen Menschen die Frage nach Gott nicht mehr stelle. Der Züricher Soziologe Gerhard Schmidtchen bezeichnet die "Religion als eine anthropologische und damit gesellschaftliche Konstante". "Die Formen wandeln sich, aber die religiöse Problematik bleibt. „Die Menschen könnten zwar "ihr religiöses Bewusstsein ändern", das Religiöse auch verdrängen, aber nicht "aus der fundamentalen religiösen Problematik ihrer Existenz auswandern" (14).

Die grundsätzliche Entscheidung des modernen Menschen für die Religion könnte zunächst mit großer Erleichterung aufgenommen werden. Aber seine Entscheidung gegen die Kirche stellt eine in diesem Ausmaß noch nie gekannte Anfrage an die Kirche dar. Es müsste jeden für die Kirche verantwortlich Fühlenden erschüttern, wenn Gerhard Schmidtchen aufgrund der angeführten Tatsachen zu dem Ergebnis kommt, dass die Kirchen ihre orientierende und integrierende Kraft verloren haben  und nicht fähig sind, die religiöse Problematik des modernen Menschen zu lösen. Nach M. Mildenberger signalisiert die religiöse Revolte die Tatsache, dass "Religion mindestens teilweise aus dem überkommenen und institutionalisierten Gesamtsystem ausgewandert ist. Und zwar ist sie ausgewandert, weil es dort keinen Platz mehr für sie gibt. Man könnte auch sagen, sie ist verdrängt worden" (15). Schwer lässt sich die Behauptung widerlegen: Die Frage nach Gott wird vom modernen Menschen gestellt, aber von der Kirche bekommt er nicht die ihm entsprechende Antwort, so dass er auch keine mehr erwartet.

2. Die Frage nach Gott als die  Suche nach dem transzendierenden Erleben

Worin besteht nun die religiöse Problematik des heutigen Menschen? Zu welchen Situationen und unter welchen existentiellen Fragen ist die Frage nach Gott offen oder verborgen enthalten?

Sehr häufig kann man hören: Es ist die Suche nach Sinn, nach einem sinnvollen, bergenden Ganzen, in das man seine Arbeit, seine Not und Hoffnung einordnen kann. Der psychologische Ort solchen Fragens ist eine Grenz - und Krisensituation. Sie ist bei Jugendlichen gegeben, wenn sie in der Zeit der Neuorientierung und Identitätssuche auszubrechen versuchen aus den "betonierten Einbahnstraßen" einer Leistungs - und Konsumgesellschaft. Genauer gesehen ist es der nicht mehr aufzuhaltende Druck der Ansprüche von Seiten der Schule, der Eltern und der eigenen inneren Welt. In ausweglosen, lähmenden Konfliktsituationen, die in allen Lebenskrisen auftreten, bedrängt die Menschen die meist unausgesprochene Frage: Wie lässt sich mein ganz Eigenes mit dem, was die Umwelt von mir fordert, auf einen Nenner bringen? Wie lässt sich mein Wunsch nach Glück mit dem Gesetz, mit der  Rücksicht und Verantwortung den Allernächsten gegenüber, mit dem eigenen und fremden Leid vereinbaren? Wie lassen sich die dunklen Seiten des Lebens, Einsamkeit, Krankheit, Alter, Tod annehmen?

Kennzeichnend für diese Fragen ist, dass jeder Versuch, sie mit dem bloßen Intellekt und mit den Kategorien des bisherigen Denkrahmens zu beantworten, scheitern muss. Die Lösung liegt in einem Erleben, das stärker ist als die unlösbar scheinenden Gegensätze. Menschen mit tiefen religiösen Erfahrungen sagen, sie seien zuinnerst so betroffen und erschüttert, so beglückt und berührt gewesen, dass der bisherige Konflikt bedeutungslos wurde.

Man kann auf die Heiligen, die frühen Christen und auf Jesus selbst verweisen. Darin besteht das frei und froh Machende der Gestalt Jesu. Man denke an die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (Joh 8,1 - 11). Hier scheint es nur die beiden Alternativen zu geben: Befolgung oder Missachtung des Gesetzes. Jesus weiß eine dritte, welche die ersten beiden nicht einfach umgeht, sie aber unbedeutend macht. Auf derselben Linie liegt die Geschichte vom Zöllner Zachäus (Lk 19,1 - 10) und der Sünderin (Lk 7,36 - 50).

Das umwerfend Neue der transzendierenden Erfahrung wird im Neuen Testament mit Wiedergeburt (Tit 3,5), "Neue Schöpfung" (2 Kor,5,17), "Neuheit des Lebens" (Röm 6,4), "ewiges Leben" (Joh 6,59), "Kindschaft Gottes" (Röm 8,16), ausgedrückt.

Paulus beschreibt die innere Zerrissenheit des Menschen ohne Christus im Römerbrief (Röm. 7,1 - 25). Im ausweglosen Konflikt zwischen dem, was man eigentlich sein möchte und dem, was man ist, kann nur der Geist Christi die befreiende Erfahrung bringen.

Marcel Légaut spricht von „geistiger Vertiefung“, von "Jüngerschaft" und echtem Glauben, statt einer bloßen ideologischen Gläubigkeit. Unter dieser versteht er das bloße willentliche Festhalten von Glaubensformeln, ohne je sie verstanden und sich angeeignet zu haben, ohne im Herzen je davon berührt zu sein.
Das Wirken Jesu besteht nach Légaut  wesentlich in der Eröffnung der Transzendenz, besonders bei den Armen und Ausgestoßenen. Sie fällt nach ihm zusammen mit echter menschlicher Größe: "Jesus hatte Sinn für die Transzendenz des Menschen angesichts der täglichen Ereignisse, des Leidens und sogar des Todes" (16). Man kann die Frage nach dem Sitz im Leben der Gottesfrage so beantworten: Die Frage nach Gott ist im Suchen nach einer neuen Seins - und Erlebensweise vorhanden. An der Art, wie eine Religion beziehungsweise ihr Vertreter auf diese Frage eingeht, den Suchenden ernst nimmt und zu verstehen versucht, zeigt sich, ob sie lebendig ist oder nicht.
Ob eine Religion lebendig ist oder nicht, entscheidet darüber, ob sie diese Frage zu beantworten vermag.

3. Das Angebot der Kirche und dessen Ablehnung

"Die Kirche will nicht wahrhaben, dass die Menschen nicht einverstanden sind mit dem, was sie ihnen anbietet und noch weniger, wie sie es tut." (17).

Das Angebot der Kirche auf die Frage des Menschen nach Gott besteht in der Verkündigung der "geoffenbarten" Wahrheiten und im Vollzug des Glaubenslebens in der Liturgie und in den Sakramenten. Die Kritik Légauts trifft die Art der Vermittlung und der Annahme des Glaubens. Die Glaubensinhalte werden global als Lehrgebäude den Menschen angeboten, ohne dass der einzelne Christ um das innere Verständnis und die Zustimmung ringen müsste. So ist die Grundhaltung des normalen Christen nicht von einer persönlichen inneren Beziehung zu Jesus geprägt; in den seltensten Fällen sieht er in seiner Nachfolge und in der Schicksalsgemeinschaft mit ihm seine zugedachte Lebenserfüllung. Das wesentlichste Motiv seiner Zustimmung ist nicht ein innerer Aufbruch, und ein Ergriffensein vom Transzendenten oder wie Légaut es ausdrückt  eine "innere Bewegung", sondern ein Bedürfnis nach Sicherheit; so ist die emotionale Grundentscheidung für Glauben und Kirche fast nur eine Funktion des Milieus, in dem man aufwächst, und der Bezugspersonen, von denen man als Kind abhängig ist. Eine persönliche Entscheidung steht beim Durchschnittschristen aus. Zu dieser wird er auch gar nicht durch entsprechende Hilfen hingeführt, sie wird im kirchlichen Leben immer bereits vorausgesetzt. Légaut nennt diese Art von Glauben "ideologische Bindung".

Genauer betrachtet bedeutet dies, dass man sich mit einer bloß äußeren Zustimmung zu den Wahrheiten begnügt, ohne ihren inneren Wert erfahren zu haben und ohne daraus leben zu können. Sie bleiben für ihn "Wahrheiten an sich", "metaphysische" Wirklichkeiten, die keinen Bezug zum konkreten Leben haben. In der Gottesfrage heißt das: der verkündete und in der Wirklichkeit des Alltags geglaubte Gott ist fast nur ein Gott des Jenseits. Er steht außerhalb dieser Welt, regiert sie mit Weisheit und Güte, bestraft die Sünden oder verzeiht sie. Das Eigentliche liegt im "Jenseits" d.h. nach dem Tod. Dort wird alles einmal zu einem guten Ende gebracht, von dort her wird die Motivation für das Erfüllen und Einhalten der Gebote genommen. "Himmel" oder "Hölle" waren einmal die entscheidendsten Trümpfe, die Prediger bei der Ermahnung  der Zuhörer ausspielten. So hängt für einen großen Teil der Christen Annahme oder Ablehnung des Glaubens von der Frage ab, "ob es etwas nach dem Tod gibt oder nicht".

Der moderne Mensch kann mit einer Jenseitsreligion nichts anfangen. Er möchte wissen, wie er im Hier und Jetzt sein Leben bewältigen kann. Er kann sich nicht mit einem Gott anfreunden, der dem Menschen von außen Gesetze vorschreibt oder Lehren zum blinden Annehmen vorlegt. Das Angebot der Kirche wird dann wieder angenommen, wenn es den Verkündigern gelingt, zu zeigen, wie Gott in dieser Welt wirkt, wie Glaubenswahrheiten in das konkrete Leben eingebaut werden können und damit helfen, das Leben zu meistern.
Immer noch wird in der Kirche die Beziehungsebene zugunsten der Inhalte vernachlässigt. Gemeint ist damit jene emotionale Basis, die unausgesprochen Leitung und Volk verbindet. Solange diese als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden konnte, solange die Beziehungen stimmten, konnte die kirchliche Praxis aufrechterhalten werden. Wenn aber der gemeinsame, tragende Grund, der im Wesentlichen in der Zustimmung zur Tradition und kirchlichen Lehrautorität bestand, fehlt, verhallen alle theologisch noch so gut begründeten wie rhetorisch gelungenen Aussagen über Gott. Kirchliche Verkündigung müsste diesen gemeinsamen Grund wiederfinden.

Die Antwort auf die Frage nach Gott ist zu allererst auf der Ebene des Existentiellen zu suchen. Kirche wird dann lebendig, wenn es gelingt, Gefühle anzusprechen, ein Betroffen - und Erschüttert sein auszulösen und so Wertvorstellungen und Verhalten zu verändern.

Der Mangel des kirchlichen Angebots besteht einerseits in einer rein intellektualisierten Redeweise; es wird mit Begriffen operiert, die ohne Aussagekraft sind. Um theologischen Argumenten zu folgen, muss der Zuhörer oder Leser schon im Vorneherein die volle, emotionale  Zustimmung gegeben haben. Ebenso findet das Angebot  der Liturgie, der Sakramente und  der verschiedenen Frömmigkeitsformen beim modernen Menschen keine Anschlussstelle mehr. Er findet nicht das, was er im Innersten sucht: eine Befreiung aus Isoliertheit und Einsamkeit, jene transzendierende Erfahrung, die ihn aus den bedrückenden Konflikten befreien könnte. Es müsste Hilfen geben, die seinem Zweifel, seiner Verunsicherung, seiner Orientierungslosigkeit entsprechen.

4. Die eigentliche Antwort: Gott ist in der Tiefe des Seins

Wo ist nun Gott, wenn er nicht nur ein Gott des Jenseits, sondern in dieser Welt da ist und wirkt?

Es gibt eine Dimension der menschlichen Erfahrung, die mit Bedeutsamkeit, Ernst, Betroffen sein, Echtheit umschrieben werden kann. Diese Dimension durchzieht nicht nur das religiöse Erleben, sondern kann in jeder menschlichen Begegnung, in jedem Tun, in jedem Gefühl spürbar sein. Sie macht die Tiefe, die Wirklichkeit, Intensität, Dauer, Wirksamkeit und den Wert des menschlichen Daseins aus. Man spricht von tiefen oder oberflächlichen Gesprächen, um deren ernsthaften oder weniger ernsthaften Charakter zu bezeichnen. In dieser Dimension der menschlichen Existenz ist die Anwesenheit Gottes in dieser Welt zu suchen!

Für Légaut ist Gott „Anruf, der aus der Tiefe des Menschseins steigt“. Nur im Durchgang durch sich selbst erreicht der Gläubige Gott (18).

Alle seine Meditationen und Überlegungen laufen auf die Aussage hinaus: Gott ist in der Tiefe der eigenen Existenz.
Man kann über Gott nicht wie über einen Gegenstand „objektiv“ reden, vielmehr ist immer das eigene Betroffen sein mit dabei. Damit nähert er sich der Auffassung des evangelischen Theologen Paul Tillich, der Gott als das Symbol für das, "was mich unbedingt angeht" bezeichnet. Es geht also darum, dass unser ganzer Lebensvollzug für diese Tiefendimension offen wird. Nur dann können wir Gott entdecken und etwas Vernünftiges darüber sagen.
Wie bei keinem anderen Menschen war das bei Jesus der Fall. Diese Offenheit Jesu für die Transzendenz kommt in den Worten zum Ausdruck:

"Mein Vater wirkt bis zu dieser Stunde, und so wirke auch ich." (Joh 5,16) "Wer mich sieht, sieht den Vater." "Die Worte, die ich euch sage, rede ich nicht aus mir, der Vater, der in mir wohnt, er ist selber am Werke." (Joh 14,9 10)

Légaut meint, damit dass wir von Kindheit an Jesus als Sohn Gottes bekennen, sind wir Gott noch nicht näher gekommen, haben wir uns noch nicht auf den Weg zum Vater gemacht. Wir projizieren unsere eigenen, sehr kleinen Überzeugungen und Vorstellungen von Gott in Jesus hinein, anstatt dass wir an seiner auf Ewigkeit angelegten Menschlichkeit den einzig wahren und möglichen Zugang zu Gott erkennen. Konkret heißt das: die Begegnung mit Gott geht einher mit der Verwandlung und Erhöhung unseres Menschseins. 
"Gott steht am Ende meines Weges zu meiner Menschlichkeit " (19).

In der Kirche war und ist immer noch eine unausgesprochene Einstellung verbreitet, die den Gläubigen das Wagnis des Menschseins mit allen Höhen und Tiefen nicht zutrauen will. Dabei ist dieses Wagnis die einzige Möglichkeit, um zur eigenen Echtheit und angelegten Wahrheit und damit zum "Vater" zu finden. In diesem inneren Weg besteht im Wesentlichen das, was Légaut mit "zum Jünger Jesu werden" ausdrückt. Die Hinführung des modernen Menschen zu Gott kann nur darin bestehen, dass man ihm seine eigene, von Glück und Unglück, von Erfüllung und Leere gemachte Erfahrung zutraut und ihn darin begleitet. Er muss seine Erlösung selbst erleiden.

5. Die Kirche als Stätte der Gottesbegegnung

Spontane religiöse Aufbrüche machen keineswegs die Kirche als Institution überflüssig. Légaut empfiehlt den neuen spirituellen Gruppen Gehorsam gegenüber der Amtskirche, weil damit einerseits die Gefahr der Sektiererei vermieden wird, andererseits erst durch das “In der Kirche bleiben” ein Einfluss auf die Gesamtkirche möglich ist. Es gilt die schmale Gradwanderung zwischen spontanen Aufbrüchen, Erleben und eigenen Einsichten und den verhärteten Strukturen der Institution auf sich zu nehmen. Gerade hierin muss sich die transzendierende Kraft der religiösen Erfahrung beweisen.

Wer in einer Art Urerfahrung Gott begegnet und ihn immer wieder zu begegnen versucht, braucht den schützenden Raum der Kirche. Dogmen und Sakramente sind für ihn keine leeren Hülsen mehr, sondern Hilfen, um die Intensität und Wucht der Erfahrung, sein Hingerissen sein, in Worte zu fassen, zu verarbeiten und immer wieder zu "erinnern". Wenn Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sich treffen, sich trotz ihres Andersseins annehmen können, macht dies die Dynamik spiritueller Gruppen aus. Kirche von unten als lebendige Zelle,  eingeordnet in die Kirche von oben als vorgegebener Institution, könnte zur Stätte werden, wo glaubwürdig von Gott geredet und seine Nähe spürbar wird, wo man Gott begegnen kann.


Teil 3: "UNTERWEGS ZU EINER NEUEN FRÖMMIGKEIT"

Das Wort "Frömmigkeit" ist in Verruf geraten; damit verbinden sich Vorstellungen von Weltflucht, Lebensuntüchtigkeit und unreifen, naiven Einstellungen. Eher wird das Wort "Spiritualität angenommen. Gemeint ist damit der konkrete Glaubensvollzug. "Unterwegs zu sein zu einer neuen Frömmigkeit" bedeutet diesen konkreten Glaubensvollzug neu überdenken und ausrichten. Als Maßstab für eine neue Frömmigkeit sieht Marcel Légaut den Geist Jesu und die Lebenswirklichkeit des modernen Menschen. Auf diesem Hintergrund muss man sich fragen: Welche Eigenschaften muss eine neue Frömmigkeit aufweisen, damit sie diesem Maßstab entspricht?

1. Anforderungen an eine neue Frömmigkeit

1.1. Einheit von menschlicher Reifung und Gottesbegegnung

Légaut meint, dass aus "einem Christen mit Glaubensanschauungen ein Jünger des Glaubens" werden soll (20).
Ein Christ mit Glaubensanschauungen hält alle Glaubenswahrheiten als geoffenbarte Wahrheiten fest; aber sie sind für ihn im Grunde tote Wahrheiten, er lebt nicht aus ihnen; er hat sich für eine Wahrheit auch nie frei entschieden, nachdem ihm ihr innerer Sinn aufgegangen wäre. Nehmen wir  das Dogma von der Menschwerdung Gottes: wie viele Christen haben begriffen, dass Gott in uns selbst Mensch werden möchte und dass wir göttlich werden dürfen. Das bedeutet, dass es uns aufgetragen ist, über uns selbst hinauszuwachsen zum größeren Umfang der Persönlichkeit. In der Psychologie spricht man von Selbstaktualisierung, Selbstverwirklichung und Selbstwerdung.

Das Anliegen Légauts geht immer wieder dahin, klar zu machen, dass die geoffenbarten Wahrheiten nicht um ihrer selbst willen gegeben sind, um einen Gehorsamsakt einzufordern, sondern "Wegmarken", die zu Gott hinführen. Seine tiefen Gebete drücken immer wieder die Überzeugung aus: Gott ist da, wo ich ganz ich selbst bin.

Ein Glaube, der nur als Gehorsamsakt und Unterwerfung unter eine Autorität verstanden wird, verhindert diese Selbstwerdung und verstellt damit auch den Zugang zu Gott. Selbstverwirklichung heißt nicht schrankenlose Freiheit oder egoistisches Sich ausleben. Es geht vielmehr darum, jene Sensibilität für die innere Stimme des  Reifungsgewissens zu entdecken, welche zur eigenen, angelegten Ganzheit führt. Légaut spricht vom „Anruf", vom Suchen und sich auf den Weg machen, von den "inneren Forderungen, die nicht aus dem Milieu kommen".

Solange die Forderungen der Autoritäten den Menschen gefangen halten, wird menschliche Reifung und damit auch die Entdeckung Gottes in einem selbst verhindert. Echte Frömmigkeit hat deshalb immer etwas zu tun mit Befreiung von inneren und äußeren Zwängen und ist ein Stück Lebensbewältigung. Das bedeutet: Frömmigkeit darf nicht infantile Flucht in eine heile Welt sein, um jenes Stück Sicherheit zu haben, das der Alltag verweigert, sondern heißt: sich den Realitäten stellen und an ihnen sich wandeln. Légaut sieht die Grenzerfahrungen und Konfrontationen mit sich selbst als wichtigste Stationen auf dem Weg zu Gott und zur eigenen inneren Größe. Die rechte Glaubenseinstellung sieht Sinneinbrüche, Enttäuschungen, Widerstände nicht als Katastrophe, sondern als Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Durch die Begegnung mit der "Seinsohnmacht" vollzieht der Mensch den Glauben an sich selbst. Glaube an sich selbst bedeutet: Vertrauen auf das innewohnende Gestaltungsprinzip und die Gestaltungskräfte.

"Der Glaube an sich führt zu einem Gottesglauben, bei dem die göttliche Transzendenz begriffen wird als intimes Innewohnen Gottes im Menschen." (21)

Glaube an Gott im Sinne Légauts ist die andere Seite des Glaubens an sich. Dessen Kennzeichen ist, dass er die herkömmliche menschliche Vorstellung von Gott hinter sich lässt. Wer so seinen Glauben versteht, bejaht Gott als den, der in der Tiefe des Herzens als der ganz Andere und als die Fülle des Seins da ist. Er ist angeschlossen an die Kraft des Ursprungs und erfährt im Gebet und in der Meditation eine Energie, die ihn immer neu belebt. So war es bei Jesus, als er am Abend auf den Berg ging und am Morgen mit Kraft aufgeladen zurückkam (Vgl. Lk 6,17 - 19). Wer wie Jesus so eingetaucht ist in die Kraft, wird von selbst zum "Ferment". Er wird ohne äußere Machtmittel in menschlichen Begegnungen, Gesprächen und Veröffentlichungen oder auch schon durch sein bloßes Dasein Einfluss nehmen.

1.2 Verbindung von geistiger Weite und religiöser Vitalität

Légaut spricht von intellektueller Redlichkeit und meint damit die Verarbeitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der geistigen Strömungen unserer Zeit. Légaut ist einer der wenigen christlichen Denker, bei denen geistige Weite und religiöse Vitalität eine geglückte Verbindung finden.

Geistige Weite ergibt sich aus dem Auftrag Jesu in der Bergpredigt zur Nächstenliebe. Es bedeutet, den Menschen aus anderen, nicht nur aus den eigenen weltanschaulichen, politischen und religiösen Lagern gerecht zu werden und mit ihnen echte Beziehungen aufzunehmen. Gemeint ist das  Wort Jesu: “Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben" (Mt 5,46). Das Überschreiten des eigenen Lagers ist das eigentlich Christliche und nicht jene Haltung, die nur die eigene Seite bejaht. Dazu bedarf es der geistigen Weite. Es gibt viele religiöse Eiferer, die aber wegen geistiger Enge mehr abstoßen als anziehen. Auf sie passt gut der Satz aus dem Römerbrief: "Sie haben Eifer für Gott, aber keinen erleuchteten” (Vgl. Röm. 10,2). Andererseits  fehlt es im Bereich der Theologie nicht an kritisch Denkenden, die durchaus den geistigen Anschluss haben, aber denen die religiöse Vitalität und Überzeugungskraft fehlt. Eine reine "Kopftheologie" kann nicht das bringen, was die Menschen heute suchen: Mit der geistigen Orientierung auch die emotionale Sicherheit. Echte Frömmigkeit muss sich sowohl am Ergriffensein vom Transzendenten als auch an dessen geistiger Verarbeitung messen lassen.

1.3 Emotionale und geistige Einstiegsmöglichkeiten für den modernen Menschen

Bei dieser Forderung steht die Authentizität oder Echtheit an erster Stelle. Diese besteht darin, dass der äußere Ausdruck mit der inneren Erfahrung übereinstimmt. Die in der Kirche üblichen Frömmigkeitsformen sind zum Teil mit einem magischen Sakramentenverständnis und einer kindlicher Abhängigkeit von der Autorität verbunden. Sie sind dem emanzipierten, kritischen Menschen unzugänglich. Sie können nicht das ausdrücken, was ihn innerlich bewegt, und wo er innerlich steht. Für ihn würde deren Annahme ein Rückschritt in seiner inneren Entwicklung bedeuten (Regression), er müsste sozusagen wieder in die Kinderschuhe schlüpfen. Zudem haben sich zwischen ihm und dem kirchlichen Leben viele emotionale Barrieren aufgebaut, meist negative Affekte, ohne deren Aufarbeitung kein religiöses Leben möglich ist.

Eine neue Frömmigkeit müsste deshalb diese Barrieren abbauen und zugleich emotionale Weiterentwicklung als befreiende Erfahrung ermöglichen. Allzu wenig wird die emotionale Seite der Verkündigung beachtet. Bislang (in der Kirchengeschichte seit der Germanenmissionierung) wurde und wird immer noch das soziale und kulturelle Gefälle für die Weitergabe des Glaubens ausgenützt. Kulturell weniger entwickelte Völker, damals die Germanen, heute die Afrikaner, übernehmen mit der Kultur auch die Religion. In den sogenannten christlichen Ländern wird den Kindern mit der Einführung in das kulturelle und soziale Leben auch der Glaube vermittelt. Der "moderne Heide" wird von dieser Art von Glaubensverkündigung nicht mehr angesprochen.

Man muss deshalb fragen, worin der Erfolg Jesu und der Apostel, der ersten Missionare des Christentums lag.  Wie konnten sie Menschen der damaligen Zeit, Juden und Heiden erreichen?
Es war das existenzielle Gefälle, die befreiende und beglückende Dichte des Erlebens, die von Jesus und den Aposteln ausging. Der Leidensdruck wurde gemildert und eine neue Art dazu sein stellte sich wie von selbst ein. Die Verkünder verbreiteten eine Atmosphäre, die einfach gut tat, wo Lasten abfielen, Nähe und Vertrauen geweckt wurden.                                                                 
"Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch Ruhe verschaffen" (Mt 11,28). So müsste es heute wieder werden. Überall dort, wo dies geschieht, gewinnt Kirche an Bedeutung.

1.4 Aufbau einer lebendigen Gemeinschaft, die getragen ist vom gemeinsamen Glauben an Jesus

Eine neue Frömmigkeit sollte etwas von der Gegenwart Gottes in der Welt ausstrahlen; es müssten Menschen sein, die mitten in dieser Welt, in der Gegenwart stehen, aber ganz und gar von der Nähe Gottes durchdrungen sind. Es wären solche, die auf der Suche nach ihrer Identität Jesus entdecken und ihn in seinem Menschsein wie in seinem ganz anderen Wesen verstehen lernen. Sie wären fähig, jene transzendierende Erfahrung, die sie selbst erleben, anderen zu vermitteln. Sie könnten die bedrückenden Konfliktsituationen lösen. Sie werden sich trotz Verschiedenheit von Alter, Herkunft und Bildungsstand nahe kommen. Die gemeinsame Erfahrung der Tiefe verbindet sie. Auf diese Weise entstehen wie in früheren Zeiten neue Gemeinschaften. Sie können zu Zellen der Erneuerung werden.

2. Konkrete Möglichkeiten, die zum Glauben hinführen

Viele gute Ideen scheitern daran, dass kein konkreter Weg zu ihrer Verwirklichung angeboten wird. Légaut selbst spricht wenig davon. Er sieht mehr die große Linie. Konkrete Möglichkeiten, um zum Glauben hinzuführen, bieten sich jedoch in reichem Maße an, einmal auf dem Gebiet der Psychologie, zum anderen auf dem Gebiet der Meditation. Es sind Einstiegsmöglichkeiten, weil sie das Innere eines Menschen aufschließen, ganz gleich, was einer glaubt, auf welcher Seite einer steht. Sie haben den Vorteil, dass sie nicht den vollen Glauben in der althergebrachten Form schon voraussetzen. Es kann jeder daran teilnehmen, der an einer konstruktiven Lösung seiner eigenen Lebensproblematik und der seiner Umgebung interessiert ist.

2.1 Selbsterfahrung als reflektierter Lebensvollzug

"Selbsterfahrung" ist das neue Wort für den alten Begriff "Selbsterkenntnis". Inzwischen wird die Psychologie für den Schlüssel der Selbsterkenntnis gehalten. Viele hoffen, dass die Lektüre psychologischer Werke Aufschluss über innere Vorgänge geben und Lösung der Konflikte bringen könnte. Aber wie theologisches Wissen den Zugang zu Gott, so kann auch psychologisches Wissen den Zugang zu sich selbst versperren. Bei der "Selbsterfahrung" geht es um ein inneres Erwachen, um ein Aufgehen von Wahrheiten, um Gewinnen von Einsichten über sich selbst, über die Beziehungen zu anderen, um seine Situation im Hier und Jetzt und nicht um allgemeine Wahrheiten. Légaut sieht das sehr deutlich, wenn er sagt, dass die objektive Betrachtungsweise über Phänomene den Weg zu sich selbst verhindert.

"Jenseits aller seiner Kenntnisse hinsichtlich des menschlichen Phänomens muss der Mensch sich in seiner wesenhaften Einsamkeit mit sich selbst konfrontieren, wenn er seine Natur und die Bedeutung der Frage, die ihm seine eigene Wirklichkeit auferlegt, wirklich entdecken will" (22).

Was damit gemeint ist, kann am besten die Bekehrungsgeschichte des heiligen Ignatius von Loyola aufzeigen. Auf seinem Krankenlager las er zum Zeitvertreib irgendwelche Ritterromane und auch die Geschichten von Heiligen und das Leben Jesu. Der entscheidende Schritt geschah, als er merkte, dass ihm nach der Lektüre der seichten Literatur genauso langweilig war, dass ihn aber die Freude und Erfüllung, der „Trost“ aus den religiösen Büchern nachher weiter begleiteten. So kam er zur Erkenntnis, dass man seine Stimmung, seine Gefühlswelt und Motivation beeinflussen kann. Dieses Entdecken der inneren Vorgänge ist der Punkt, an dem sich ein ganzes Leben verändert.

Seminare zur Selbsterfahrung sind ein gute Gelegenheit zur Konfrontation mit sich selbst. In einer geschützten Situation ist es erlaubt, Rückmeldung zu geben, Gefühle und innere Betroffenheit auszudrücken. Das Zulassen und Äußern von Gefühlen macht diese Gruppen so attraktiv. Die Sensibilisierung für Beziehungen sind wesentliche Lernziele. Im Grunde geht es darum, dafür hellhörig zu werden, was in einem selbst und in anderen vorgeht und es angemessen mitzuteilen. Dies führt zur Klärung von Beziehungen, welche Konflikte löst oder von vornherein ausschließt.
Diese Art von Selbsterfahrung ist nicht auf Gruppen beschränkt, sondern wird in einem anderen Rahmen zwischen Therapeut und Klient und zwischen Seelsorger und Hilfesuchenden praktiziert. Der ideale Fall ist dann gegeben, wenn sich die in den Gruppen praktizierte Einstellung ins normale Leben überträgt, d.h. wenn das ganze Leben bewusster gelebt wird. Wichtig wäre, dass immer mehr Menschen fähig würden, über Beziehungen zu reden und sie zu ordnen, aus guten und unangenehmen Erfahrungen zu lernen und immer mehr Gespür dafür zu bekommen, was für die eigene Selbstwerdung das Richtige ist. Sie könnten damit nach und nach ihr eigenes Leben in die Hand nehmen, innere Prozesse steuern und so immer mehr das Leben selbst zu leben, anstatt "gelebt" zu werden. Die Psychotherapeutin Johanna Herzog Dürck spricht von "existentieller Aufmerksamkeit" (23). Man könnte diese Haltung auch "reflektierten Lebensvollzug" nennen. Die innere Wachheit für das Wesentliche spricht Jesus an, wenn er sagt, dass Dirnen und Sünder eher in das Reich Gottes kommen als die Satten und Klugen (Mt 21,31). Auf derselben Linie liegt die Geschichte vom betrügerischen Verwalter, den Jesus wegen seiner klugen Voraussicht lobt (Lk 16,8) Die Einstellung "Ich weiß, was ich tue" (Vgl. Lk 16,4) ist ein wichtiger Schritt zum Glauben an Jesus.

2. Meditation

Die Meditation ist der andere Pol einer bewussten Einübung in ein tieferes Menschsein. Während Selbsterfahrung in Gruppen der mitmenschlichen Kontaktpflege dient, ist Meditation nur auf die Konfrontation mit den Tiefenschichten der Seele ausgerichtet und kann somit unmittelbar die religiöse Erfahrung eröffnen. Mittelbar wird immer dann das Leben auf Transzendenz transparent, wenn negative Gefühle wie Ängste, Schuldgefühle, Enttäuschungen, Depressionen abgebaut und Vertrauen, Freude, Mut, Risikobereitschaft, Hingabefähigkeit, Festlichkeit und Herzlichkeit gefördert werden. Meditation kann ebenso wie gute Gespräche diese positiven Transzendenzkräfte fördern. Dies geschieht durch Gefühlsentlastung, d.h. in einer Atmosphäre, die frei ist von Zeit - und Leistungsdruck, kann sich der Meditierende in die Leere einlassen und damit verlieren bedrückende Gefühle an Bedeutung und Wirkung. Es wird eine Haltung eingeübt, die man mit wacher Entspannung bezeichnen kann. Diese Art von Meditation ist sehr stark körperbezogen. Sie wird mit dem Einspüren des eigenen Körpers eingeleitet. Die dadurch erschlossene physiologische Tiefensensibilität geht einher mit der seelischen Tiefenerfahrung. Zudem ist sie fast gegenstandslos. Dabei werden nicht religiöse Themen oder Bilder zum Ausgangspunkt der Meditation gemacht, sondern das Wahrnehmen des Leibes, der Stille oder auch der Unruhe und der inneren Dunkelheit.

Für viele Menschen sind religiöse Bilder, Symbole und Begriffe mit so vielen negativen Affekten wie Langeweile und Ängsten besetzt, dass damit sofort innere Prozesse blockiert werden. Der Weg des modernen Menschen zu Gott geht über die Stille und Dunkelheit. Schon Bonaventura erwähnt, dass es zwei Wege zu Gott gibt: den einen, der klar ist und hell, also über Bilder und Vorstellungen und den anderen, der über die Dunkelheit geht. Für den modernen Menschen ist der zweite der gangbarere, weil er ihn befreit von Reizüberflutungen, von Überforderungen im Beruf und im Privatleben und von negativen Gefühlen einer falsch verstandenen christlichen Erziehung. Gerade in der erfüllten Stille geschieht jener Regenerationsprozeß, in dem der Mensch sein Eigenstes entdeckt.

2.3 Eigentlicher Glaubensvollzug

1. Gebet

Légaut unterscheidet zwischen "Gebete aufsagen" und beten; Gebete sprechen kann zu einer Beschäftigung werden, die den Menschen vom Innersten ablenkt. Das echte Gebet ist nur dann möglich, wenn man ganz bei sich selbst ist. Das Gebet hat nicht den Sinn, dass Gott informiert wird, vielmehr geht es um eine Verarbeitung der inneren Situation. Es soll das innere Wachstum gefördert werden. Es liegt auf der Ebene der eigenen Bestimmung und des eigenen Auftrags.

Bei Légaut fällt "bei Gott sein und ganz bei sich sein" zusammen. Ein Gebet müsse nach ihm das aussagen, was ich von Gott erfahre, und was ich von ihm erhoffe und zugleich das, was ich im Eigentlichsten sein möchte und von mir erfahre (24). Falsche Gebetshaltungen und Auffassungen machen vielen das Beten unmöglich. Da sind zu nennen: Gebet als Leistung, als Vorschrift, oder als Beschäftigung. Légaut versteht Beten anders: beten heißt nach ihm: ganz bei sich sein, weil dort Gott ist, Kontakt aufnehmen mit dem Grund seines Seins, mit dem Unbewussten, mit der Ganzheit seiner Person. Gebet hat etwas zu tun mit der eigenen inneren Wandlung, mit dem Wachstum der Seele, mit einem "Mehr an Sein", mit einer Verwirklichung der inneren Bestimmung oder Sendung. Damit wird zugleich die Verbindung zu Gott lebendig. Der Weg zu Gott und der Weg zu seinem eigensten, inneren Kern gehen Hand in Hand.

2. Sakramente

Légaut sieht in den Sakramenten Geschenk und Anruf Gottes, welche durch eine Glaubensgemeinschaft und deren Amtsträger vermittelt werden sollen. Damit die Sakramente ihren ursprünglichen Sinn wieder erhalten, ist ein innerer lebendiger Vollzug sowohl von Seiten der Gemeinschaft und der Amtsträger als auch eine von Seiten des Empfängers notwendig. Verhängnisvoll für das Verständnis der Sakramente wurde nach Légaut die Auffassung, die zwar nicht offiziell gelehrt, wohl aber den praktischen Vollzug bestimmte, dass die Sakramente auch ohne die innere Bereitschaft des Empfangenden wirken. Der Empfang der Sakramente, nennen wir Taufe, Firmung, Kommunion, müsse auch innerlich verarbeitet werden. Das würde bedeuten, dass die "Spendung der Sakramente in einem Alter geschehen müsse, in dem das geistliche Leben soweit entwickelt ist, dass dieser Empfang und dieses Verständnis, diese Pflege und diese Antwort auch menschlich möglich wird" (25).

An der äußeren Praxis der Sakramentenspendung lässt sich zunächst nicht viel  ändern, wohl aber an der spirituellen Verarbeitung. So steht die eigentliche Wirkung der Tauf -  und Firmgnade bei den meisten Christen noch aus. Denn die in der Heiligen Schrift beschriebenen Wirkungen sind Erfahrungen von Erwachsenen nach oft langen und schmerzlichen inneren Prozessen der Suche und der Neufindung. Ein wichtiger Schritt wäre schon getan, wenn den Gläubigen deutlich gemacht würde, dass die reale Erfahrung der Taufgnade noch geschehen könnte, und dass alles darauf ankäme, dem einmal erwachten Anruf zu folgen.

Eine zentrale Stellung nimmt die Feier der Eucharistie ein. Sie müsste wieder zur "Erinnerung" Jesu werden; die Feier müsste in den Feiernden den inneren Bezug zu Jesus und damit auch ihre eigene innere Entwicklung, ihren Werdegang, die Gegenwart Jesu in seiner Menschlichkeit wachrufen.

"Dies zu seinem Gedächtnis tun" setzt voraus, dass man Jesus bereits auf eine erste Weise kennt (d.h. einen ähnlichen Weg bereits hinter sich hat wie er), dass man ihn empfangen hat, dass man in intimer Übereinstimmung mit ihm lebt ..(26).

Eucharistiefeier wird dann wieder lebendig, wenn unter den Teilnehmern etwas spürbar wird von der Suche und auf dem Wegsein jedes einzelnen, auch wenn sie von Enttäuschungen, Nöten und Sorgen begleitet sind. Diese gemeinsame Erfahrung verbindet. Bei der Erneuerung der Sakramente geht es, kurz zusammengefasst, darum, jenen Erfahrungshorizont wieder zu erreichen, unter dem sie entstanden sind. Dies würde ihnen wieder die ursprüngliche Aktualität und Dichte verleihen.

3. Aufbau einer christlichen Gemeinschaft

Gruppen im christlichen Geist können nicht von oben geplant und mit entsprechenden Hilfsmitteln "durchgeführt" werden. Sie entstehen dann, wenn gemeinsame Not und gemeinsames Anliegen, Suche nach Identität und Klarheit im Leben und vor allem nach einem vertieften Glaubensverständnis Menschen zusammenführen. Ziel der Gruppe und eigene Bedürfnisse müssen sich daher decken, das macht die Lebendigkeit einer Gruppe aus. Es bedarf eines Leiters, der die Initiative ergreifen und die innersten Anliegen aussprechen hilft. Eine Gemeinschaft kann allerdings nicht "aufgebaut" werden, sondern muss wachsen. Sie wird es umso eher, je engagierter die Gruppenmitglieder sich einbringen, je mehr die Gefühle, Überzeugungen, Nöte und Interessen der einzelnen beachtet und respektiert werden. Was den christlichen Charakter einer solchen Gruppe ausmacht, ist die gemeinsame Grundüberzeugung des Glaubens an Christus bzw. des Ergriffenseins von ihm. Eine solche Gemeinschaft wird frei sein von jeglichem Leistungsdruck, "nach außen" wirken zu müssen; vielmehr werden die eigene Echtheit, der Respekt im Umgang miteinander und das gegenseitige Vertrauen auch dann in einer Welt noch ankommen, wo die sogenannte christliche Verkündigung ihre Anziehung verloren hat.

Anmerkungen

1) Légaut Marcel,  Mutation de l`eglise et conversion personelle,   Editions Aubier Montaigne, Paris 1975
2) Ders., Christ aus Leidenschaft Freiburg 1973, 17
3) Légaut, die Kirche, meine Mutter und mein Kreuz, Freiburg 1975, 13
4) Ders. Die Kirche,14
5) Berhard Fraling, in Lexikon für Theologie und Kirche Freiburg 2000, Art. Spiritualität, systematisch-theologisch      
6) Légaut, Die Kirche 15).     
7) Ebenda , 29         
8) Ebenda, 29
9) Ebenda 27
10) Ebd, 16
11) Ebd 77 
12) Ebd. 78
13) Ebd .76                                                                                                               
14) Zit. nach Mildenberger Michael, Die religiöse Revolte, Frankfurt 1979, 283  
15) Ebd. 283
16) Légaut, Christ aus Leidenschaft, Freiburg 1978,S. 86
17) Ders. Kirche S. 44    
18) Ders. Worte der Erfahrung, Freiburg 1975, 97, 90
19) L, Christ aus Leidenschaft, 38    
20) Légaut, Kirche, 166 f
21) Ebd. 33
22) Légaut, Meine Erfahrung mit dem Menschen, Freiburg 1979,155
23) Herzog -Dürck Johanna , Menschsein als Wagnis, Stuttgart 1960
24) Vgl. Légaut, prières d'homme, Paris 1978
25) Légaut, Kirche, S.262)
26) Légaut, Meine Erfahrung mit dem Glauben, Freiburg,1979, 301


Literatur
1. Fortmann Han: Der Weg zum Selbst, Christliche Existenz zwischen Joga und Revolution, Düsseldorf 1971
2. Heimler Adolf: Selbsterfahrung und Glaube, München 1976
3. Herzog -Dürck Johanna , Menschsein als Wagnis, Stuttgart 1960
4. Jung C. G.: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, Olten 1971
5. Légaut Marcel: Die Kirche, meine Mutter und mein Kreuz, Freiburg 1975
6. ders. Meine Erfahrung mit dem Menschen, Freiburg 1979
7. ders. Meine Erfahrung mit dem Glauben, Freiburg 1979
8. ders. Christ aus Leidenschaft, Freiburg 1978
9. ders. Worte der Erfahrung, Freiburg 1975
10.Mildenberger  Michael,  Die religiöse Revolte, Frankfurt 1979 
11.Robinson John A.T.: Gott ist anders, München 1964