15. Sonntag im Jahreskreis C
Liturgische Texte: www.erzabtei-beuron/schott
1.Lesung Dtn 30, 10 - 14
2.Lesung Kol 1, 15 - 20
Evangelium Lk 10, 25 - 37
Wer ist mein Nächster?
+ Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas
In jener Zeit
25 wollte ein Gesetzeslehrer Jesus auf die Probe stellen. Er fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
26 Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?
27 Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.
28 Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben.
29 Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.
31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.
32 Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.
33 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,
34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
35 Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?
37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!
Die Geschichte, die Brücken baut
Die Erzählung vom barmherzigen Samariter hat buchstäblich Geschichte gemacht. Seine Tat gilt als Urbild der christlichen Nächstenliebe. Sie hat das Bild des Christentums wesentlich geprägt bis herein in unsere Zeit. Die moderne Versorgung der Unfallopfer und Kranken, die uns heute selbstverständlich ist, hat ihre Wurzeln in der christlichen Tradition der Barmherzigkeit. Selbst wenn die Zeit vorbei ist, in der Scharen von jungen Frauen in einem Orden ihr Leben den Leidenden widmeten, spürt man in manchem Krankenhaus heute noch den Geist der „Barmherzigen Schwestern“ oder einer anderen religiösen Gemeinschaft. In Ländern der Dritten Welt sind überall dort, wo christliche Kirchen sind, auch Krankenstationen anzutreffen. Eigentlich dürften wir als Christen stolz sein, dass das Gebot Jesu ein solches Echo fand. Man kann von einer wahren Erfolgsgeschichte sprechen.
Aber da ist noch die andere Seite, die uns zur rechten Zeit um die Ohren geschlagen wird! Es geht um Gewalt, um entsetzliches Unrecht, um Grausamkeiten in der Geschichte des Christentums. Was Christen einander und Andersgläubigen angetan haben im Kampf um Macht, Prestige oder um das bloße Überleben, lässt uns sehr demütig werden und macht uns sehr zurückhaltend im Urteil, wer die Besseren sind. Wir müssen zugeben: Die Kriege in Europa wurden von Völkern ausgetragen, die sich offiziell christlich nannten, wo sogar der Name Gott für den eigenen, vermeintlich berechtigten Sieg stand. Dazu sei eine Episode aus der Zeit des Kulturkampfes in den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts eingeflochten. Der preußische Kultusminister wollte alle Orden aufheben, auch die „Barmherzigen Schwestern“. Da erhob der Kriegsminister Protest mit der Begründung, er könne dann keinen Krieg mehr führen. Er brauche sie unbedingt zur Pflege der Verwundeten. Diese Tatsachen sollten Anlass sein, darüber nachzudenken, inwieweit wir die Geschichte vom barmherzigen Samariter voll und ganz verstanden haben.
Die gute Tat an Bedürftigen und Leidenden macht allem Anschein nach noch nicht die ganze Botschaft Jesu aus. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob man nicht bei der Auslegung der Geschichte eine wichtige Seite übersehen hat. Das Gleichnis will die Antwort auf die Frage sein: „Wer ist mein Nächster?”(Lk 10,29) Nach der breiten Schilderung des Überfalls ist es wie selbstverständlich der Ausgeplünderte, welcher der Hilfe bedarf. Mit der Fürsorge des Samariters für den Verletzten könnte also die Geschichte zu Ende sein.
Die Frage, die noch anschließt, lautet aber wörtlich: „Wer von den dreien (Priester, Levit, Samariter) ist dem zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen war?” (Lukas 10,36). Oder mit anderen Worten: „Wen soll der Überfallene, nicht der Vorbeiziehende als seinen Nächsten lieben?”
Jesus fragt nicht, wer dem Priester, dem Levit, dem Samariter zum Nächsten geworden ist oder wen jeder von den dreien als seinen Nächsten hätte erkennen müssen. Die Frage wird umgedreht und auf eine andere Ebene verlagert. Die Herausforderung: „Wer ist mein Nächster?” wird durch die Erzählung so beantwortet: Es ist ein wildfremder Mensch aus einem verhassten Volk! Auch er kann gut sein, uns nahe kommen und unsere Achtung verdienen. Die Erzählung will den Wert eines Menschen, der dem eigenen Volk und Glauben fern steht, herausstellen.
Für diese Auffassung spricht ferner, dass Jesus, der die Geschichte wahrscheinlich erfunden hat, absichtlich einen Samariter als Vollbringer der edlen Tat wählt. Man kann sogar sagen, die Hauptrichtung der Erzählung geht dahin, bei der Frage nach dem Nächsten die Zäune um das eigene Volk niederzureißen und den Menschen jenseits davon einer guten Tat für fähig zu halten. Der Nächste ist also nicht nur der Leidende, sondern noch mehr der, welcher auf der anderen Seite steht - ob die nun Volk, Religion, politische Partei der soziale Gruppierung heißt.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter meint heute mehr als spontane Hilfeleistung am Unfallort - dafür gibt es das Rote Kreuz, die Malteser und andere - es geht vielmehr um das Zuschütten der Gräben zwischen den durch Herkunft, Religion oder Politik Getrennten, darum, dass sich Menschen aus entgegengesetzten Richtungen nahe kommen. „Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was tut ihr da Besonderes? (Vgl. Mt 5,46).
Indem Jesus die Geschichte erzählt, bricht er eine vorherrschende Stimmung auf. Er hat für die verhassten Samariter um Sympathie geworben. Die Gewissensfrage lautet deshalb nicht nur, ob wir am Unfallort angehalten haben. Darüber braucht man nicht mehr zu diskutieren. Sie heißt vielmehr: Welche Geschichten erzählen wir von den andern, von all den Personen, die wir nicht leiden können, die uns vermeintlich oder in Wirklichkeit Unrecht getan haben; von all denen, die wir gar nicht kennen aber wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion und Herkunft von vornherein schon von unserer Sympathie und von unserem gerechten Urteil ausschließen?
Die Nachricht von einer guten Tat kann unsere Meinung ändern. Eine Ordensschwester, die sich den Obdachlosen widmet, berichtet, dass ihr ein begüterter türkischer Geschäftsmann während des Ramadans 500 € für ihre Arbeit gegeben habe. Dies sei sein Beitrag für die Armen, den ihm sein Glaube als Moslem auferlege. Bei jedem, der dies liest, wird der Moslem und mit ihm seine Religion in der Achtung steigen.
Um noch einmal auf den Kern und die Mitte des Gesetzes zurückzukommen: Gott und den andern mit ganzem Herzen zu lieben ist insofern schwer, weil wir unsere Gefühle nicht unmittelbar in die gewollte, gute Richtung lenken können. Wir können nicht willentlich für jemand Sympathien aufbringen oder Antipathien ablegen. Anstatt Wohlwollen und Zuneigung zu spüren, werden wir die tiefverwurzelte Ablehnung selbst mit besten Vorsätzen nicht los. Eine Geschichte wie die erzählte kann dabei hilfreich sein, weil sie den Sitz unserer Gefühle trifft. Indem sie uns mit hinein nimmt in ein dramatisches Geschehen, in den Überfall, in die Not des Opfers, in das Handeln des edlen Mannes, regt sie unsere guten Seiten an, unser Mitgefühl, unseren Edelmut, unsere Großzügigkeit. Sie kann Empfinden und sogar unser grundsätzliches Denken umkehren. Sie kann uns dahin führen, den großen Auftrag erst einmal zu verstehen und vielleicht sogar ein Stück zu erfüllen.