Leseprobe:

Dogmen verstehen
Das menschliche Gewand des Dogmas


INHALT
I. Dogma - das Unwort des Christentums?
Dogma - das Gefängnis des Geistes
Freiheit - das Dogma der Moderne, das hohe Gut der Mündigkeit
Die Rückseite der Freiheit
Mit und ohne Dogma leben - der Wert der letzten Gewissheit
Zurück zum Glauben von früher?

II. Dogma im Ursprung
Jesus - der Meister ohne Dogmen
Dogma - was gefällt oder ein hoheitlicher Beschluss
Das oberste Dogma - der Beschluss von der Liebe Gottes
Jesus - selbst zum Dogma geworden
Dogma und die Dynamik des Aufbruchs

III. Das Feuer aus dem Brunnen holen 
Der göttliche Ursprung oder die Tiefe des Brunnens
Von der Erfahrung zur Lehre
Der „inkarnatorische Charakter“ - das menschliche Gewand des Dogmas
Aus der Seele gesprochen
Die Sicht der Tiefenpsychologie 
Gott und die Seele                                 
Empfehlungen - Ehrfurcht und Wertschätzung (U2)
Paradoxien - ein hohes Gut
Dogma - eine spirituelle und geistige Heimat

IV. Das Dogma von der Taufe
Der Traum vom neuen Menschen
Der neue Mensch heute
Die Vision
Ein neuer Weg zum Religiösen
Erleuchtung – ein Schlüssel zum neuen Menschen
Franziskus - ein neuer Mensch
Die nötigen Schritte

V. Das Dogma von Christus, von Mensch und Gott in einem -
unvermischt und ungetrennt

Ein belangloses Thema?
Vermischung und Verwechslung
Reinigung des Gottesbildes
Trennung und Unterscheidung - Gewinn und Verlust

VI. Das Dogma von der Trinität - das Drama der Bewusstseinsentwicklung
Der Vater - wie man als Kind denkt
Der Sohn - das kritische Denken, der Aufstand gegen die Tradition
Der Heilige Geist - Versöhnung in den Wurzeln
Die Entwicklungsdynamik des Geistes - von der Tradition in die Zukunft

VII. Das Dogma vom Kreuz - lebensfeindlich oder lebensfroh?
Das Zeichen, das Freude verhindert?
Erfahrungen mit dem Kreuz
Erlösung durch den Tod Jesu?
Kann Leiden erlösen?
Kann eigenes Leiden anderen zugute kommen?
Das Kreuz - der archimedische Punkt oder die Mitte der Welt
Unser Leben wird durchkreuzt
Das Sterbekreuz vor der Hinrichtung
Schluss

Dogma - das Unwort des Christentums?

Das Wort „Dogma“ bzw. „dogmatisch“ hat einen schlechten Ruf. Es wird gebraucht, um einen Menschen und seine Meinung als erstarrt, intolerant, stur oder eng zu bezeichnen. Es klingt nach etwas, das die Freiheit und Vernünftigkeit des Denkens einschränkt. Dogmen waren Anlass für blutige Auseinandersetzungen unter Christen. Der Streit darüber ist bis heute noch nicht zu Ende. Dogma ist ein Wort, das im außerkirchlichen Bereich nur im entwertenden Sinn gebraucht wird. Es könnte in die Reihe der Unwörter der letzten Jahre aufgenommen werden. Manche sagen: Es ist der Begriff, gegen den die geistige Entwicklung der Neuzeit unter dem Namen der Aufklärung und des Humanismus angekämpft und sich durchgesetzt hat.

Das Thema des Dogmas bewegt immer dann die Öffentlichkeit, wenn es zu Zusammenstößen zwischen einzelnen Theologen und dem kirchlichen Lehramt kommt. Es gibt Namen, die Emotionen hervorrufen, wie Leonardo Boff, Hans Küng, Willigis Jäger, Eugen Drewermann. Wer immer aus dem kirchlichen Bereich von höchster Stelle angemahnt, gemaßregelt oder verurteilt wird, darf mit der Sympathie eines breiten Publikums rechnen.

Die Grundüberzeugung unserer Zeit ist das Recht auf freies Denken und freie Meinungsäußerung, selbst wenn die Fragen, um die es geht, nicht bekannt sind bzw. erst gar nicht verstanden werden. Seit Immanuel Kant (1704-1804) steht die Überwindung der Unmündigkeit des Denkens an erster Stelle der Wertehierarchie. Das mündige Individuum, der einzelne Mensch, der seinen Verstand auf seine Weise ohne Druck und Beeinflussung anderer gebraucht, hat Vorrang vor dem Kollektiv, vor der Gemeinschaft und vor jeder Autorität, selbst wenn sie sich als göttlich begründet sieht. Ein vorgegebener Rahmen des Denkens, der nicht in Frage gestellt werden darf, wird als Einengung empfunden, eine Lehrautorität, der man sich unterwerfen soll, als Bevormundung.

Dogma - das Gefängnis des Geistes 
Der liberale Theologe des 19. Jahrhunderts David Friedrich Strauss (1808-1874) sagt über das Glaubensbekenntnis, das der Hl. Athanasius im 4. Jahrhundert zur Verteidigung der Gottheit Christi verfasst hat: „Fürwahr, wer das Symbolum Quicumque - so beginnt der lateinische Text eines Glaubensbekenntnisses aus dem fünften Jahrhundert - beschworen hatte, der hatte den Gesetzen des menschlichen Denkens abgeschworen.“ Einer seiner Zeitgenossen, der berühmte Arzt Rudolf Virchow (1821-1902), sieht im Dogma ebenfalls den Feind des freien Geistes: „Jeder Fortschritt, den eine Kirche in dem Aufbau ihrer Dogmen macht, führt zu einer ... Bändigung des freien Geistes; jedes neue Dogma ... verengt den Kreis des freien Denkens ... Die Naturwissenschaft umgekehrt befreit mit jedem Schritte ihrer Entwicklung ... Sie gestattet ... dem Einzelnen in vollem Maße wahr zu sein.“
……………………………………………………………………………………………….. Dogma erscheint in den Augen einer kritischen Öffentlichkeit als das Hindernis, um sich ernsthaft mit der Kirche auseinander zu setzen oder sich sogar ihr anzunähern. Die Schwierigkeit, mit dem Dogma zurechtzukommen, lautet für die meisten folgendermaßen: „Soll ich als mündiger Mensch, der seinen Verstand gebrauchen kann, gegen meine Überzeugung etwas annehmen, was ich nicht einsehen und nicht bejahen kann, und noch dazu von einer Autorität, die sich in vielerlei Hinsicht als unglaubwürdig erwiesen hat.

Die Aufklärer vor zweihundert Jahren sagten: Die Freiheit entspricht dem Wesen des Menschen, der mit der Fähigkeit zu denken begabt ist. Der konkrete Anspruch auf diese Freiheit wäre aber nicht aufgetaucht, stünde nicht dahinter der Prozess der so genannten Individualisierung, der in Europa schon vorher begonnen hatte, aber erst in den letzten  Jahrzehnten auf die ganze Bevölkerung durchgeschlagen hat. Es ist die fortlaufende, immer stärker werdende Entfaltung des Individuums. Die Folge davon ist, dass es mehr Lebensraum, mehr Rechte, mehr eigene Entscheidungen für sich in Anspruch nimmt. Es ist eine Einstellung, in der nicht mehr das Kollektiv, eine Institution, eine Gemeinschaft oder die Nation maßgebend ist, sondern der Einzelne. Das Denken vollzieht sich auf dem je eigenen Horizont des Einzelnen.

Vor diesem Hintergrund bildete sich eine Frontstellung, die kurz gefasst ungefähr so lautet: Hier die Freiheit des erwachenden, eigenständigen Denkens. Dort eine Institution, die den Geist unterdrückt und die Entfaltung des Einzelnen behindert. Konkret heißt das: In den Augen von Außenstehenden und Kritischen aus den eigenen Reihen hält die Kirche an unverständlichen Dogmen fest und kann sich nur durch entsprechende Reglementierung gegen die Entwicklung der Zeit behaupten. Es erweckt den Anschein, als ob das Christentum, wie es die Kirche darstellt, nur etwas für Unkritische und Unmündige sei. Man denke an die Kirchenaustritte, die zwar inzwischen etwas zurückgehen, aber im letzten Jahrzehnt pro Jahr die Zahl einer Großstadt erreicht hatten, an den Mangel an Priester- und Ordensnachwuchs, an die Schließung von Klöstern, von theologischen Fakultäten und anderen kirchlichen Einrichtungen.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ brachte einen Beitrag mit dem Titel: „Der Glanz des Papstes und das Elend der Kirchen“. Darin wird darauf hingewiesen, dass spektakuläre Veranstaltungen die Verluste der Kirche nicht wettmachen. Eine Wende könnte es dann geben, wenn es gelänge, in den schon laufenden Prozess der geistigen Entwicklung einzugreifen und ihn weiterzuführen, den Glauben mit Mündigkeit des Geistes, Individualisierung mit Solidarität und Gemeinschaft, Freiheit mit Bindung und Nähe  harmonisch zu verbinden.
   
Die Rückseite der Freiheit (U2)
Die in der westlichen Welt errungene Freiheit des Einzelnen ist ohne Zweifel ein hohes Gut, gerade im Hinblick auf die Würde des Menschen. Man denke an die Menschenrechte, welche Ergebnis dieses Prozesses sind und heute weltweit eingefordert werden dürfen. Aber die Befreiung von Bevormundung durch Autoritäten, sprich Staat und Kirche, wurde zur Freiheit von festen Grundsätzen und Werten, von verlässlichen Vereinbarungen. Die Menschen heute leiden nicht mehr an dogmatischer Reglementierung, sie bewegen eher die Fragen: Wo finde ich Vertrauen und Gewissheit, einen Raum des Aufatmens gegen Angst und Überforderung, eine geistige und emotionale Heimat gegenüber der Verlorenheit und Anonymität einer globalisierten Welt? Wie wird der weite Raum der Freiheit ausgefüllt? Man erwartet neue geistige Entwürfe. Aber woher sollen sie kommen? Andere sehen in der Rückkehr zur Tradition, wieder andere im Aufbruch zu neuen spirituellen Erfahrungen eine Alternative.

Die Rückseite der Freiheit ist im Grunde Orientierungslosigkeit bis in den innersten Bereich. Man klagt über Verunsicherung im wirtschaftlichen Bereich, konkret über den möglichen Verlust der Arbeitsplätze, welchen ohne Zweifel die Freiheit der Marktwirtschaft mit sich bringt. In Festtagsreden wird der Verlust der Werte angeprangert. Weniger wird bedauert, dass die Länder, die von der europäischen Geistesgeschichte bestimmt sind,  ihre religiösen Wurzeln und damit ihre Verankerung im Absoluten verloren haben. Die Würde des Menschen ist oberste Norm des Grundgesetzes, aber womit soll sie begründet werden, wenn keine absolute Instanz anerkannt wird? Die Mehrheitsbeschlüsse eines Parlaments können den Begriff je nach öffentlicher Stimmung verschieden interpretieren. Dies geschieht offenkundig bei der Diskussion über Beginn und Ende des menschlichen Lebens.
Der bekannte Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) sieht in der Säkularisierung, d.h. in der Loslösung des europäischen Denkens von aller religiösen Bindung im Vergleich zu den anderen Kulturen einen Sonderweg und stellt diese Entwicklung in Frage. Wem kann man noch vertrauen, wenn es keine allgemein verbindlichen Normen mehr gibt? Wenn sich die Menschen und die von ihnen geschaffenen Verhältnisse immer mehr als unzuverlässig erweisen?

Zu denken ist an das unlösbar erscheinende Problem der so genannten demografischen Entwicklung. Weil es immer weniger junge und immer mehr ältere und alte Menschen in unserem Land gibt, wird eine gesicherte Versorgung in den späteren Lebensjahren immer schwieriger. Und dann: Wie ist das mit der Gewissheit im Leben miteinander, in einer Partnerschaft auf Dauer, auf Lebenszeit? Man muss ohnmächtig zusehen, wie Ehen und Familien zerbrechen und die nächste Generation so etwas wie Verlässlichkeit nicht mehr erfährt. Junge Leute scheuen sich, einander ein Versprechen auf Lebenszeit zu geben, weil sie das Vertrauen zueinander nicht aufbringen können. Das Fehlen einer festen, tragfähigen Beziehung verhindert wiederum, dass sich Frauen für ein Kind entscheiden.

Ein augenscheinlicher Hinweis, wie weit die Verunsicherung den intimsten Raum erfasst hat, ist die vom Bundesgesundheitsministerium durchgeführte öffentliche Werbung für Kondome. Es wird offenbar allen Vorübergehenden gesagt, dass Sexualität höchst gefährlich ist, dass der Partner, die Partnerin einen anstecken, das heißt tödlich verletzen kann, dass diese Art von Liebe nichts mit Vertrauen zu tun hat. Ohne Zweifel ist die Suche nach endgültigen, tragenden Verlässlichkeiten  ein zentrales Problem unserer Tage. Hinter dem Drang zu neuen spirituellen Wegen gerade aus fremden Religionen steht die Frage nach dem, was wahr und  wertvoll ist, wofür es sich lohnt, sich einzusetzen und Zeit, Mühe und Geld zu opfern. Sie verdient es, ernst genommen zu werden.

Zurück zum Glauben von früher?
Bei dem Gesagten könnte man zu dem Schluss kommen, es sei doch besser, wieder zum Glauben von früher zurückzukehren. Es gibt eine Strömung in der Kirche, die sich die Einheit und Geschlossenheit vor dem Konzil herbeiwünscht und darin die Lösung der gegenwärtigen Krise sieht. Man müsse ganz einfach die Autorität des obersten Lehramtes als von Gott eingesetzt anerkennen und sich ihren Anweisungen fügen. Diese Auffassung stößt nicht nur bei Kirchenkritischen, sondern ebenso bei wohlwollenden und besorgten Mitgliedern auf Widerstand. Die inzwischen eingetretene Entwicklung kann man nicht mehr zurückdrehen. Es ist eine andere Generation herangewachsen, und selbst die meisten von denen, die noch im alten Stil erzogen wurden, haben sich in ihrer Einstellung gewandelt. Autoritäten als solche werden in Frage gestellt. Man prüft ihre fachliche und personale Kompetenz. Man fordert  Ebenbürtigkeit und verweigert Unterordnung. Der so genannte postmoderne Mensch lehnt  Traditionen und überlieferte Meinungen ab. Er möchte wissen, was an den Dingen ist, welchen Wert sie für sein Leben haben. „Was bringt es mir?“, kann man hören. Die Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit in der Meinungsbildung, im Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse und des eigenen Lebensraumes hat auch vor dem kirchlichen Bereich nicht Halt gemacht.

Eine Verkündigung, welche die seelische Grundstruktur nicht beachtet, und sei sie dogmatisch noch so korrekt, läuft bei kritischen Menschen ins Leere; sie erreicht nur solche, die auf Grund ihrer Geschichte emotional schon auf derselben Seite sind. Solange Glaube nur als die Übernahme von Lehrsätzen aufgrund einer Autorität erscheint, tut sich für den selbstständig gewordenen Menschen eine unüberwindbare Kluft auf. Es ist ihm, als müsse er sich verkrümmen, um gedanklich in ein Gebäude einzusteigen, dem er schon längst entwachsen ist.

Anders wird es, wenn aufgezeigt werden kann, dass Glaubenssätze das tiefste Sehnen eines Menschen nicht behindern, sondern ihm entsprechen; dass sie nichts von dem, was man in seiner Lebensgeschichte als wertvoll, gut und richtig entdeckt hat, entwerten, sondern bestätigen und weiterführen, sogar Erfüllung und letzten Sinn menschlichen Daseins erkennen lassen. Konkret heißt das: Es geht um einen Weg, die überlieferten Dogmen für den heutigen Menschen so zu erschließen, dass Gewissheit, Vertrauen und Nähe, Harmonie und Übereinstimmung gewonnen werden, aber berechtigte Eigenständigkeit im Denken und Handeln, Ebenbürtigkeit und Gleichheit im Umgang miteinander nicht verloren gehen.  Gesucht wird ein Weg, Gewissheit durch unmittelbare überzeugende Erfahrung und innere Evidenz zu gewinnen, ohne sich fremden, dominierenden Autoritäten unterwerfen zu müssen.

II. Dogma im Ursprung (U1)

Jesus - der Meister ohne Dogmen (U2)

--------------------------------------------------------------------------------------------------------In der Tat war es auch so, dass Jesus von den Menschen, die zu ihm kamen, nicht verlangt hat, Lehrsätze anzuerkennen, kein Bekenntnis zum dreifaltigen Gott, nicht einmal das Bekenntnis zu ihm als dem Sohn Gottes. Über sich selbst hat Jesus sehr wenig gesagt. Er hat sogar denen, die ihn als Sohn Gottes erkannt haben, sowohl dem bösen Dämon (Mk 1,24-25) als seinen Jüngern (Mt 16,20) strengstens verboten, darüber zu reden. Seine Botschaft war eigentlich „nur“, dass das Reich Gottes nahe ist. Er forderte seine Zeitgenossen auf, dafür ihr Herz zu entdecken und es diesem unerwarteten Glück zu öffnen. Sie sollten sich abwenden von Geiz und Habgier, von Rücksichtslosigkeit und Gewalt, von dem Irrglauben an äußeren Ruhm und äußere Erfolge. Den Inhalt seines kurzen Lebens sieht einer seiner Jünger in der Geste ausgedrückt, bei welcher der Meister vor jedem seiner Schüler niederkniet und ihm die Füße wäscht. Es ist, als wollte er sagen: „Jeder von euch ist mir eine Kostbarkeit. Der Respekt vor der Würde eines jeden ist mir höchstes Gebot. So sollt ihr es auch miteinander halten.“ (vgl. Joh 13,1-15)

Bei Jesus verbindet sich mit dem Glauben nicht das Aufzählen und Aushandeln von Lehrinhalten, sondern ein Raum des Aufatmens, der Geborgenheit und der bedingungslosen Zuversicht. Beim historischen Jesus ist Glaube wesentlich Beziehung und Atmosphäre, Prozess und Wandlung, nicht das Festhalten von fixierten Sätzen. Für den Mann aus Nazareth steht das ganz persönliche Vertrauen im Vordergrund. Jesus lobt den Glauben gerade der Hilfesuchenden, die hartnäckig an ihrer Bitte festhalten und sogar aufdringlich werden. Denken wir an die heidnische Frau, die selbst mit den Bröcklein, die für die Hunde abfallen, zufrieden ist (Mk 7,24-30), an den blinden Bartimäus, der trotz der Leute, die ihn zum Schweigen ermahnen, noch lauter schreit (Lk 18,35-43).

Hier könnte man bereits einen Weg sehen, um aus den Sackgassen des Streits der Lehrmeinungen, der Disziplinierung, der Verletzungen und des aggressiven Aufbegehrens herauszukommen. Bei allen Auseinandersetzungen sollte nach dem Willen Jesu die Atmosphäre des Vertrauens, der gegenseitigen Achtung, des Respekts vor der Überzeugung des andern oberste Norm sein.

Dogma - was gefällt oder ein hoheitlicher Beschluss (U2)
Gehen wir auf die griechische Wurzel des Wortes „Dogma“ zurück, so stoßen wir auf eine Spur, die uns einen neuen Zugang zu dem umstrittenen Begriff erschließen und etwas von den Vorbehalten und Belastungen nehmen könnte. Im Sprachraum der griechischen Antike  bezeichnete er zum einen eine Meinung oder philosophische Lehre, zum andern einen Befehl, Beschluss oder Erlass. Dahinter steht das Tätigkeitswort dokeo, das heißt: ich gefalle. Dogma bedeutet dann wörtlich „Was gefällt. Was als richtig erscheint“. Wir können die Bedeutung noch erweitern und sagen: Was mich anspricht, was mich anregt, was mir Freude macht. Das hat zugleich mit Übereinstimmung, Gleichklang, Harmonie und Vertrauen zu tun.        
Wir finden dieses Wort zum ersten Mal im Markusevangelium bei der Taufe Jesu. Es heißt dort: „Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete und der  Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden (eudokäsa).“ (Mk 1,10-11) Gehen wir einmal davon aus, dass es sich hier um mehr als eine erbauliche Ausschmückung der Anfänge des öffentlichen Wirkens Jesu handelt, dann dürfen wir eine intensive existenzielle Erfahrung vermuten, die dem Leben Jesu die entscheidende Wende gegeben hat. Sie liegt in den beiden Sätzen: „(Da) sah er, daß der Himmel sich öffnete.“ (Mk, 1,10) und: “An dir habe ich Gefallen gefunden.“ (Mk 1,11)

Denken wir einmal an eine vergleichbare allgemein-menschliche Erfahrung, dann stößt unsere Fantasie auf das Erlebnis zweier Menschen, die einander in der Tiefe und Schönheit ihrer Seele entdeckt haben. Nichts kann in diesem Augenblick ergreifender und beglückender sein als die Gewissheit, dass man auf dem Grund der eigenen Seele und zugleich auf dem des anderen angekommen ist. Es ist als ob der Himmel sich öffnete. Das Wort: „Du gefällst mir“ ist so etwas wie eine Offenbarung, das Eingeständnis eines inneren Bewegt-Seins, welches gewöhnlich mit den drei Worten: „Ich liebe dich“ ausgedrückt wird, aber besser umschrieben werden könnte mit den Sätzen: „Du bist für mich kostbar! Du bist für mich der wichtigste Mensch! Ich freue mich, dass es dich gibt.“ Was von der Taufe Jesu berichtet wird, war keine Begegnung mit einem Menschen, obwohl es sicher sehr viele davon gegeben hat. Es war mehr, als sich je zwischen zwei Personen ereignen kann. Mit Recht kann man Ähnliches aus der religiösen Erfahrung anderer Menschen heranzuziehen.

Eine Episode aus dem Leben des Hl. Franziskus bietet sich an. In der „Dreigefährtenlegende“ wird erzählt, Franziskus sei in einer Nacht nach einer ausgiebigen Feier mit seinen Freunden auf dem Heimweg gewesen. Plötzlich sei er hinter den anderen zurückgeblieben. Es sei plötzlich still um ihn geworden; er sei in tiefes Nachdenken versunken. Als Erklärung wird angegeben: “Denn plötzlich hatte ihn der Herr berührt. Und eine solche Süße erfüllte sein Herz, dass er weder reden noch sich bewegen konnte. Nur jene Süße fühlte er und konnte nichts anderes wahrnehmen. Und so sehr war er dem Empfinden der Sinne entrückt, dass er sich nicht von der Stelle hätte bewegen können, auch wenn man ihn in Stücke geschnitten hätte.“ Das Wort Süße - italienisch dolcezza - löst im deutschen Sprachgebrauch nicht jene Gefühle und Vorstellungen aus, die es im Italienischen hat. Es ist zunächst an jenes Glück zu denken, von dem zwei Menschen hingerissen sind, bei denen die Liebe wie ein Feuer ausgebrochen ist. Eine Frau erzählte, dass sie und ihr Mann nach dem Hochzeitstag vor Glück geweint hätten. Bei Franziskus ist es ähnlich und doch ganz anders. Als seine Freunde ihn fragen, ob er wohl an eine Frau gedacht habe, sagt er: „Ja, an eine Frau. Aber sie ist edler, reicher und schöner, als ihr jemals eine gesehen habt.“ Es ist eine Ebene des Erlebens, die nicht von einem Menschen ausgeht und auch nicht an einen Menschen gebunden, jedoch tausendmal stärker ist. An anderen Stellen ist je nach Übersetzung von „Seligkeit“ und „unermesslichem Frieden“, „von hoher, unsagbarer Freude und wundersamem Licht“, von der „Fröhlichkeit des Geistes“, von einem „inneren Jubel“ und einem „inneren Erglühen“, von einem „kostbarem Schatz“ die Rede, wenn von der seelischen Befindlichkeit des Heiligen berichtet wird. Darin bestand die tiefste Motivation, die ihn zu einer Lebensweise trieb, die schon damals die Menschen als hart, rau und unzumutbar empfanden. Es heißt, die Süße zog und drängte ihn immer weiter. Mit anderen Worten: Er konnte dieses Erlebnis nie mehr vergessen, er fand seine höchste Erfüllung darin, diese Urerfahrung immer wieder wachzurufen und alles zu tun, um sie immer neu zu entfachen und zu steigern. Mit Recht darf man sagen, dass sich für Franziskus in jener Nacht der Himmel geöffnet und dass ihn, wie Jesus, das Wort erreicht hat: „An dir habe ich Gefallen gefunden.“ Er hat wie Jesus die Liebeserklärung Gottes vernommen.

Das oberste Dogma - der Beschluss von der Liebe Gottes (U2)
Nehmen wir nun das Wort „Dogma“ in seiner wörtlichen Bedeutung als „Beschluss“, “Erlass“, „was als richtig erscheint“, dann dürfen wir eher an das „Öffnen des Himmels“, an die „dolcezza“ des heiligen Franziskus, an seinen Jubel und an sein inneres Erglühen denken als an erstarrte Meinungen, verhärtete Positionen, verkrustete Strukturen. Dogma ist dann die feste und unabänderliche Absicht Gottes, dass er zu jedem und zu jeder das Wort sagt: “Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, an dir habe ich Gefallen gefunden (eudokäsa).“ (Mk 1,11) Es ist der Kern der Botschaft, die Jesus verkündet und die er seinen Jüngern aufgetragen hat. Es ist das oberste christliche Dogma. Inhalt und Worterklärung fallen zusammen. Dogma ist von seinem Ursprung her kein Druckmittel, kein Verbot des Denkens, sondern höchste Bestätigung, Bejahung, Freude, weiteste Freiheit. So war es in den Anfängen des Christentums. Die wichtigsten Zeugnisse sind die Briefe des Apostels Paulus. In ihnen, besonders in seinem Schreiben an die Galater, trifft man auf ein sehr heftiges Ringen um die Freiheit vom jüdischen Gesetz.

Ein anderes Dokument ist die Apostelgeschichte. Hier ist bereits von Dogmen die Rede. Es sind die veröffentlichten Beschlüsse des so genannten Apostelkonzils. Es war die Streitfrage, ob die Heiden, die zum Glauben an Christus kommen, das jüdische Gesetz annehmen und damit Juden werden müssen (vgl. Apostelgeschichte 15,1-35). Die Versammlung der Apostel sprach sich dagegen aus. Hier erscheint das Wort dokei (es gefällt) als Ausdruck für einen gefundenen Konsens. „Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen...“ (Apg 15,28), und man gab die Beschlüsse (dogmata) als schriftliche Dokumente Paulus und Silas und einigen anderen  mit. Damit lösten sie in den neuen christlichen Gemeinden helle Freude aus. "Die Brüder lasen ihn (den Brief) und freuten sich über die Ermunterung.“ (Apg 15,31) Die Abgesandten wurden nach einiger Zeit wieder in Frieden entlassen (Apg 15,33). Nach der Apostelgeschichte konnte der Streit um die Orientierung in den Anfängen des Christentums auf friedliche Weise beigelegt werden. Die “Dogmen“ der Apostel waren Entlastung und Grund zur Freude und Zuversicht. Sie waren allerdings nicht von der Art, wie sie später formuliert wurden. Sie waren eine Antwort auf eine aktuelle Frage, die sich später in dieser Weise nicht mehr stellte.