Der Kirche laufen die Scharen davon 

vom Abseits in die Mitte

 


Einst liefen Scharen von Nah und Fern zu Jesus, sodass sie ihn fast erdrückten (Mk 1,45;3,7-8). Seinem mystischen Leib, der Kirche laufen sie in Scharen davon! Wen immer, ob in der Leitung, in der Lehre, oder als ein besorgtes Kirchenmitglied diese Tatsache aufwühlt und den Schlaf raubt, könnte dies sogar ein Schritt zur Lösung sein. Denn gerade im existentiellen Betroffensein geschieht eine Wende der eigenen Einstellung und der Rede von Gott. Die Unruhe und die Sorge könnten neues Interesse und Lebendigkeit wecken. Man muss sich die Frage gefallen lassen: Was läuft schief in der Art, wie der Glaube gelehrt, verkündet, verwaltet und gelebt wird? Dazu noch bei dem Riesenaufwand an Personal, Organisation und Geld! Es gilt, die Lücken unserer Identität, unseren Schatten zu erkennen und den im kirchlichen Binnenraum nicht gelebten Wahrheiten zum Leben zu verhelfen, zunächst in uns selbst. An vorderster Stelle steht die Bedeutung des Emotionalen. Es hat eine Eigendynamik, die schlecht zu fassen ist. Auf dieser Ebene fallen die Entscheidungen über die Schicksale des einzelnen wie auch im großen Rahmen der Politik mehr als man meint. Es waren die Emotionen, mit welchen ein ungebildeter Mann im Land der Dichter und Denker die Massen gewinnen konnte. Es sind die Gefühle, welche die Liebe gelingen oder scheitern lassen und damit die Zukunft der nächsten Generation bestimmen. Klares, Logisches Denken kann Emotionen eine heilsame Richtung weisen, aber nur, wenn sie schon innerstes Eigentum sind. Die Verwirrung im Leben so vieler und im öffentlichen Bereich hat ihren Grund darin, dass man Emotionen ausgeliefert ist, die einen in die Irre führen. Was einmal durch religiöse Einstellung, Sitte, Brauchtum und soziale Kontrolle geregelt, hat eine blinde Dynamik erhalten, welche die errungene Qualität von Menschlichkeit zu zerstören droht. Weil die äußeren, Ordnung gebenden Instanzen ausfallen, ist der einzelne mehr als jemals zuvor darauf verwiesen, sich um sein Schicksal selbst zu sorgen. Umso bedeutsamer sind die Entdeckungen und Methoden, welche die Psychologie zu bieten hat. Sie liefert den Anstoß, die Wirkung und Einstellung zur Vitalität zu überprüfen, d. h. zu Aggression und der Sexualität. Inwieweit gelingt es, die Dynamik die¬ser urmenschlichen Kräfte in ihrem Wert anzuerkennen und in die rechten Wege zu leiten? Feste Normen sind ein sicheres Gehäuse im Zusammenleben, aber sie garantieren noch nicht das Gelingen der Liebe.

Die vermisste Lebendigkeit

Ein bloßes Verbot ist noch keine Lösung, verhindert die Lebendigkeit, die Reifung der Persönlichkeit und nimmt auch dem Glauben sei¬nen natürlichen, lebendigen Grund. Wertschätzung eines Menschen geht nur über die Wertschätzung seiner Gefühle, mitzugehen bei dem, was für ihn wichtig ist. Es macht aber einen Unterschied, ob der Therapeut, Seelsorger, kirchlicher Verkündiger an dem Punkt angeschlossen ist, der stärker ist als die Emotionen. ob er einen Erlebnisraum öffnet, in dem die vitalen Kräfte zu schöpferischer Energie gewandelt sind. Wer in diesem Sinn aggressive und sexuelle Impulse nicht auslebt, hat nicht das Empfinden, dass ihm etwas fehlt, sondern eher, dass er von einer Dichte und Fülle getragen ist. Darum sind die Wege beachtenswert, welche die Kraft des Spirituellen erschließen und den Zugang zur Transzendenz ermöglichen, selbst wenn sie aus einer anderen Kultur stammen. An dieser Ddie Religion sprich Kirche wird dann nicht mehr bedeutungslos am Rand stehen, sondern in die Mitte treten, wenn das „grundlegende Symbol, das uns unbedingt angeht", das Bedeutendste unmittelbar zu spüren ist. Dazu müsste der Wert des Emotionalen und damit der Psychologie erkannt und praktiziert werden. Wer „bedingungslose Wertschätzung" einem Menschen in aller Ehrlichkeit erweist, erhält sie selbst zurück. Er wird in dessen Werterahmen die Mitte einnehmen. Dies ist insofern relevant, ob die Beziehung zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk, zwischen Seelsorgern und Gläubigen, Mitgliedern untereinander, zwischen „Reformern" und „Traditionalisten" gelingt oder scheitert. Tatsache ist, dass sowohl die Leitenden als ein großer Teil des Kirchenvolkes auf dieser Ebene verunsichert sind und viele zu irrationalen Entscheidungen, sei es in ex¬tremen Formen der Frömmigkeit oder kirchenpolitischer Positionen oder zum Verlassen neigen.

Die spirituelle Qualität 

Das Angebot des Heils müsste ein vertrauensvolles und angstfreies Klima enthalten, ebenso eine spirituelle Tiefe, die nicht hinter anderen spirituellen Angeboten zurücksteht. Das bedeutet, dass bei Gesprächen, Vorschlägen, Forderungen, Konflikten, Lehrmeinungen, der Beziehungsebene d.h. der affektiven Seite, den Gefühlen voll gerecht wird. Sie spielen die entscheidende Rolle mehr als die kontrovers vorgetragenen Streitpunkte. Es ist nicht im Sinne des Evangeliums, dass eine Seite als Sieger hervorgeht, die andere als Verlierer. Wie bei einer Ehe sollte die Regel gelten: Wenn einer verliert, verlieren beide. Nur mühsam wächst die Einsicht, dass sich Affekte nicht direkt durch Argumente verändern lassen, sondern durch einen Prozess mit tieferer Betroffenheit, mit neuen Einsichten und stärkeren Emotionen, die sich am ehesten in einer nicht-direktiven Weise durch einfühlendes Verstehen einstellen. Schon der Philosoph Spinoza hat erkannt, dass Gefühle nicht durch die Vernunft, sondern durch stärkere Gefühle verändert werden. Wegen der Bedeutung des emotionalen Bereichs müsste die Erlebenswirklichkeit der theologischen Aussagen neu entdeckt werden. Es sei nochmals Romano Guardini erwähnt, der davon ausgeht, dass hinter einem Dogma ursprünglich eine Erfahrung stand.

Was bedeutet die Taufe?

Die Aussagen über die Taufe darf man als Erlebnisprotokolle der Erwachsenentaufe sehen, welche in den ersten drei Jahrhunderten üblich war. Die Wirkung „wiedergeboren aus Wasser und Geist" war unmittelbar mit bewussten Entscheidungs -und Wandlungsprozessen verbunden. Dies ist bei Augustinus in den Bekenntnissen, in denen er seine Lebensgeschichte darstellt, gut nachzulesen. Durch die Kindertaufe wird die Aussage zum bloßen Gegenstand des Glaubens. Die innere religiöse Ausrichtung wird der Erziehung überlassen. Der junge Mensch soll in den Glauben und in das Leben der Kirche hineinwachsen wie in das soziale und politische Umfeld. Dies ist heute im großen Umfang in Frage gestellt einmal, weil ganz andere Faktoren auf den Heranwachsenden Einfluss nehmen, zum andern, weil das Erwachen zum eigenen Denken und die Selbstreflexion ein naives, unbeschwertes Dabeisein verhindert und deshalb eine ganz eigene Entscheidung erfordert. Von kirchlicher Seite müsste deshalb eine Entscheidungshilfe geleistet werden, in welcher der konkrete Mensch mit seiner oft so belastenden Lebensgeschichte, mit seiner Welt des Empfindens und Denkens, seinen (nicht vorhandenen) Möglichkeiten und Sackgassen ernst genommen und ihm die Freiheit der Entscheidung nicht abgenommen wird. Es ist heilende Begegnung von Menschen zu Mensch, nichts als praktizierte, erfahrene, zutiefst empfundene Nächstenliebe, die genauso von einem Vertreter Christi gefordert ist. Dies kann man nicht mit gutem Willen und Eifer allein. Wertschätzung ist nur dann echt, wenn sie ganz aus dem Innersten kommt. Es ist jener Bereich der Persönlichkeit, der in der Heiligen Schrift das „Herz" genannt wird, der nicht unmittelbar vom Willen beherrscht wird, aber eigentätig wirkt. Dazu bedarf es einer inneren Entwicklung, eines Wachstums zum größeren Umfang der Persönlichkeit. Es geht nicht ohne die Konfrontation mit sich selbst, mit dem, was einen zuinnerst lenkt und beeinflusst, mit seinem Schatten.

 

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