Leseprobe

Die Kraft des Mysteriums
Neues Leben aus alten Geheimnissen



I.An welche Mythen glauben wir?
                                                             
Geschichten, die das Leben verändern.                                                         
Um dreißig Jahre jünger oder die „Quelle der Jugend“
Der Siegeszug der Mythen                                                                           
Christus nur ein Mythos?                                                                             
Der Kampf gegen Wortgespenster                                                              

II.Was sind Mythen?

Mehr als Fiktionen                                                                                         
Die Heimat der Seele                                                                                     
Kein Zurück zum blinden Mythos                                                                
                                                                                                                            
III.Mythen: die Seelenlandschaft der Bibel
                                               

Das Geheimnis des Anfangs
Der verbotene Zugriff                                                                                     
Die großen Bilder der Zukunft                                                                       
Der Mythos, der nicht untergeht                                                                    
Die Früchte, die uns leben lassen                                                                  

IV. Vom Mythos zum Mysterium- die Wahrheit der Mystik                               

Geschichten der Wandlung- die eigentlichen Wunder                                     
Das Mysterium und die reine Lehre                                                                  
Die unglaublichste Geschichte: Die Auferstehung Jesu                                                                                       
Die Ostererzählungen-ein Widerspruch in sich                                               

V. Christus- nicht Mythos, sondern Mysterium                                                  

Anmerkungen                                                                                                       





Der Siegeszug der Mythen

Ob wir wollen oder nicht, bei aller Aufklärung und rationaler Lebenskultur können wir den Bereich der „Mythen“ nicht mehr übergehen. Es ist nicht nur die Esoterik, welche die Mythen wieder zu Wort kommen lässt, es geschieht auch in Fußballstadien, in Kongresshallen und Fernsehstudios, wo auf anscheinend nicht erklärbare Weise Millionen zu Begeisterungsstürmen hingerissen werden. Hier ist der Mythos des Helden am Werk (erleichtert stellen wir fest, zumeist auf unblutige und weniger grausame Art). Doch spricht man von Angriff und Verteidigung, vom Schießen und Treffen, von Sieg und Niederlage, von Trophäen – eine Sprache, die ursprünglich das Kriegsgeschehen wiedergab und die noch etwas von der Aufregung, Spannung und Bedeutung eines Kampfes anklingen lässt. Die Mannschaften und die einzelnen Helden werden nach der Zahl der geschossenen Tore eingeschätzt wie ehedem nach der Zahl der erschlagenen Feinde und der eingenommenen Städte. Auch heute noch „heftet man sich die Siege an die Fahnen“. Ein Held kam zu Ansehen. Kriegsruhm bedeutete einstmals mehr als das Leben. Damit verbunden war Macht: Er konnte damit rechnen, fortan eine wichtige Position im Stamm oder im Reich einzunehmen. Heute sind es Verträge mit Werbefirmen. Der Erfolg einer einmal erreichten Spitzenposition in der Öffentlichkeit drückt sich in Millionen aus. Was zwischen Stars und Publikum – ganz gleich in welcher Branche – abläuft, gehört einer Ebene an, die außerhalb der Vernunft liegt, die aber zu manchen Zeiten eine ganze Stadt, ein Land, sogar die halbe Welt in Atem hält.

Die Frage: „Wer ist der erste? „ Wer ist der beste?“ macht deutlich, welche Kraft der Mythos des Helden auch heute noch besitzt und mit welcher Gewalt er Menschen in seinen Bann zieht.
In den Rahmen gehört auch Harry Potter, die erfolgreichste Figur kindlicher Fantasie unserer Zeit. Es ist der Mythos vom jugendlichen Helden, manche sagen sogar vom göttlichen Kind, der die Auflagenzahlen in die Höhe treibt und die Kinos füllt.
Ebenso erfolgreich ist „Der Herr der Ringe“, eine Geschichte, in der ein fast aussichtsloser Kampf der Guten gegen die bösen Mächte dargestellt wird. Bemerkenswert ist, dass die „Feuerdrachen“ nicht besiegt werden. Im Hinblick auf die letzten 60 Jahre, seitdem die Erzählung existiert, ein wahres Wort! Die Brandherde der Erde konnten seit dem Ende des 2. Weltkrieges nie ganz gelöscht werden und die tödliche Bedrohung ist bis heute unheimliche Realität. Selbst wenn  Erzeugnisse der Medien und des Buchmarktes  unpolitisch sind,  lassen sie erkennen, von welchen Motiven Menschen heute bewegt werden.

In einer Esoterikzeitschrift ist neben verschiedenen Themen von „Himmel und Hölle“, von „Visionen“, vom „Licht der Liebe“, vom „Weltuntergang“, von „Tod“ und „Jenseits“ zu lesen. Die Werbung greift gerne auf religiöses Vokabular zurück, nicht ohne Erfolg; die häufige Verwendung der Worte wie „Paradies“, „Himmel“, „Hölle“, „Teufel“, „Kloster“ spricht für sich.
Die genannten Begriffe haben die Eigenschaft, Emotionen, Verheißung und Hoffnung, vielleicht auch etwas wie Gruseln oder Schauder zu wecken oder zumindest neugierig zu machen und zum Kaufen, Lesen oder Anschauen zu locken.
Es wird eine psychische Kraft angesprochen, die eigentätig wirkt. Greifen wir noch einmal eine der hervorstechendsten Titel heraus, in denen wir in aller Deutlichkeit einen Mythos der Zeit erkennen.
In einer Ausgabe von „Esotera“ ist vom „Weg des Kriegers“ die Rede. Dabei geht es um Übungen, die eine spirituelle Welt im Sinne der indianischen Schamanen eröffnen sollen.
Zu welchen Mühen und Anstrengungen im religiösen Bereich der Mythos des Weges Menschen unserer Tage anregen kann, zeigt das Wiederaufleben der Fußwallfahrten. Im Jahr 1999 gab es mehr als einhundertfünfzigtausend Fußpilger nach Santiago  (2).
Zugleich ist es fast schon Mode geworden, Flugreisen nach Indien, Nepal und Japan zu buchen, um dort in einem Ashram oder Zen – Kloster mit ursprünglichem religiösem Leben in Kontakt zu kommen.

Das Thema des Todes übt ebenfalls eine gewaltige Anziehung aus. Es gibt inzwischen schon reiche Literatur über Nahtoderlebnisse. „Einmal Hölle und zurück“ heißt ein Artikel in einer esoterischen Zeitschrift. „In Todesnähe: Jeder erlebt das Sterben anders“ ist ebenfalls auf dem Umschlag zu lesen. „Sterbeforschung“, „Sterbebegleitung, „Sterbehilfe“ sind Themen, die durchaus ernsthaft diskutiert werden.
Nebenbei seien Versuche erwähnt, die an die Nähe des Todes heranführen wie „Bungeespringen“ oder verschiedene andere Formen extremer sportlicher Herausforderung. Der bekannte, inzwischen verstorbene  indische Guru Shri Rajneesh Baghwan, Osho genannt, soll durch eine Art Nahtoderfahrung zu seinen extremen Bewusstseinszuständen gelangt sein und damit zur außerordentlichen Kraft, Menschen anzuziehen. In der Tat hat das Erlebnis des nahen Todes viele Menschen verändert.
Ein zentraler Punkt für alle, die sich auf transzendentale Erfahrung einlassen, ist die Erleuchtung. Darunter wird verschiedenes verstanden. Es muss nicht immer mit Lichterscheinungen zu tun haben. Das Eigentliche ist, dass der Schwerpunkt des Erkennens, Denkens und Erlebens nicht mehr im gewohnten, alltäglichen Rahmen liegt, sondern in einem Raum außerhalb. Ein „Interview mit einem Erleuchteten“ wird auf der Titelseite von „Esotera“ angekündigt (3). Man liest ein Gespräch mit einem jungen, spirituellen Lehrer, der nach dem Zustand des klinischen Todes „Satsang" die höchste Stufe der Erkenntnis erlangt hat. Dies wird ihm als derzeit einzigem Deutschen von anerkannten buddhistischen Meistern bestätigt. Der Artikel zeigt den Stellenwert dieses Themas in spirituellen Kreisen.

Eine weitere Vorstellung, welche Menschen heute in Beschlag nimmt, ist die Idee der Reinkarnation oder Wiedergeburt. Es sollen etwa 23% der Bevölkerung Europas davon überzeugt sein, in dieser Welt schon einmal gelebt zu haben und nach dem Tod wieder eine irdische Existenz zu erlangen. Während für die Menschen Asiens Wiedergeburt ein Fluch ist, sehen die Anhänger der Reinkarnation im Westen in ihr die Chance eines besseren Lebens nach dem Tod. Nach hinduistischer Auffassung ist es Ziel aller Wiedergeburten, den Kreislauf des Samsara zu durchbrechen und die Befreiung aus dem Gesetz des Karma zu erlangen.

„Befreiung“ ist ebenfalls ein Stichwort, das als Mythos große Verbreitung fand mehr im politischen als im spirituellen Bereich.  Die Theologie der Befreiung hat in Südamerika große Hoffnung geweckt und ebenso in Europa viele junge Menschen angesprochen. Im Bereich der östlichen Befreiungswege sind es allerdings nicht politische Inhalte, sondern die Frage, wie das Ich aus seinen Abhängigkeiten, die es in der Isolierung festhalten, befreit werden kann.

Ein ganz wesentliches Thema esoterischer Bewegung ist der Ruf nach Heilung. Eine einzige Ausgabe der genannten esoterischen Zeitschrift bringt dazu mehr als zwölf Anzeigen, einmal, wo man selbst Heilung findet, zum andern, wo man sich zum Heiler  ausbilden lassen kann. Darunter fallen Begriffe wie “Geistheiler“, “Heilkraft der Hände“, „Rückführungstherapie“, „Heilen durch  den Geist“, “Heilen mit Humor“ und vieles andere für Außenstehende Ungewohnte.

Christus nur ein Mythos?

Während auf dem Feld der neuen, außerkirchlichen, spirituellen Aufbrüche und der alternativen Gesundheitspraktiken eine Blütezeit der Mythen angebrochen zu sein scheint, geht im Raum der Kirche die Angst vor den Mythen um. Man befürchtet, auf Grund der historischen Forschung könne die ganze Geschichte von Jesus nichts anderes sein als eine besondere Form der Mythologie des Altertums.
In einem Gespräch mit einem modernen Bibelwissenschaftler stellt der „Spiegel“ die Behauptung auf, dass Christus nur eine „Kunstfigur“ in der Bibel und im Glauben der Christen eben nur ein Mythos sei. Die Antwort des Professors klingt sehr gewunden. Die Vertreter des Nachrichtenmagazins kommen mit der Absicht, zentrale Bibelberichte über Jesus zu verifizieren oder zu falsifizieren. Dem historisch-kritischen Urteil des Exegeten fallen die Jungfrauengeburt, neben vielen Reden Jesu die Einsetzung des Abendmahls, die Osterberichte und die Himmelfahrt Jesu zum Opfer.

Gerd Lüdemann, Professor für „Frühchristliche Studien“ in Marburg, spricht von einem großen Betrug, welche die ersten Christen und die spätere Kirche an Jesus verübt hätten. Die Evangelisten hätten ihm Worte in den Mund gelegt, die er nie gesagt, ihm monströse Wundertaten angedichtet, die er nie vollbracht hat, und ihn zum Weltenrichter erhoben, der er nie sein wollte. Die Person Jesu sei durch die Übermalungen des Neuen Testaments bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Dies sei geschehen aus der Sicht einer vorgeblichen Auferstehung, die nie stattgefunden habe. Damit greift Lüdemann auf frühere Forscher wie Rudolf Bultmann und andere zurück, die sagen, der Kern des historischen Jesus sei von altertümlicher Mythologie überlagert. Darauf nun eine Religion aufzubauen und sogar Einfluss in der Öffentlichkeit geltend zu machen und Macht auszuüben, so folgert mit Lüdemann auch Rudolf Augstein, der verstorbene  Herausgeber des „Spiegel“, sei ein absoluter Verstoß gegen die intellektuelle Redlichkeit und die Würde des Denkens.

Die skeptischen Leser fühlen sich in ihrer Ablehnung des Christentums bestätigt. Auf die Behauptung von einigen Leuten vor 2000 Jahren könne man ja schließlich keine Überzeugung aufbauen. Das widerspricht einfach jeder Vernunft.
Müssen wir an Mythen glauben? Fragen sich kirchentreue Christen verunsichert, entsetzt bis empört. Denn seit ihrer Kindheit haben sie gehört, dass die Erzählungen von Jesus auf Tatsachen beruhen, während Mythen doch Produkte der Fantasie seien, eben unwahre Geschichten, die sich auf keine Realität stützen könnten und deshalb auch keinerlei Bedeutung hätten. Man denkt an die griechische Mythologie, an die so häufig anstößigen Geschichten von den Göttern, die voll Hass und Neid aufeinander Intrigen spinnen, die ihr Liebesleben ohne moralische Hemmung pflegen und bei alledem die Geschicke der Menschen je nach Laune lenken. Jesus in die Nähe der Mythen zu rücken ist deshalb für die meisten unerträglich. Die wenigsten können die Ergebnisse der sogenannten historisch-kritischen Forschung annehmen, welche die Geschichtlichkeit vieler Erzählungen von Jesus bestreitet; denn es werden Grundüberzeugungen, die in der unerforschten und unzugänglichen Tiefe der Seele wurzeln, in Frage gestellt.
Gewiss, wir haben uns daran gewöhnt, die Schöpfungsgeschichte, die Erschaffung des Menschen, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies unter dem Aspekt der Mythologie zu betrachten. Wir werden damit den Naturwissenschaften gerecht. Aber wie ist es mit der Auferstehung Jesu, seiner zentralen Stellung als Retter und Erlöser, als Sohn Gottes? Kritische Bibelwissenschaftler sagen, man dürfe die Erzählungen vom leeren Grab, von den Erscheinungen Jesu vor seinen Jüngern, von seiner Himmelfahrt nicht als historische Berichte betrachten. Sie seien zu verschieden und ließen sich nicht harmonisieren. Der Satz „er ist dem Simon / Petrus erschienen“ (Lk 24, 34) sei die älteste historisch gesicherte Überlieferung. (4)  Was sonst über die Ereignisse unmittelbar nach dem Tod Jesu in den neutestamentlichen Schriften gesagt wird, gehöre in den Bereich des Glaubens und nicht in den der historischen Fakten, oder wie Religionsforscher sagen, in den der Mythologie. Der Eindruck bleibt bestehen, dass die historische Forschung einen Graben aufreißt, den sie mit ihren Methoden nicht überbrücken kann, vor allem, dass  unserem Glauben das Fundament entzogen wird.

Weil man im Bereich der Mythologie sehr unsicheren Boden betritt, sucht man Gewissheit durch die Erforschung des historischen Jesus, d.h. der Ereignisse aus der Zeit vor seinem Tod. Man möchte Abstand nehmen von den Überhöhungen und Idealisierungen, die das geschichtliche Bild Jesu nach seinem Tod überdeckt haben und die als mythologisch gelten. Vielen wäre ein schlichter Rabbi, der mit Gott gerungen hat, lieber als ein zum Sohn Gottes erhobener Übermensch, wie sie meinen.
Wegen der Verpflichtung auf geschichtliche Grundlagen versucht man, ältere Quellen als die Evangelien zu erschließen. Die bedeutendste davon ist die sogenannte Q-Quelle, ein Evangelium vor den Evangelien. Man hofft, dort die ursprünglichen Aussagen Jesu und seine Gestalt ohne Überlagerungen aus späterer Zeit zu finden. Damit könnte die Frage, die häufig von kritischen und von der Kirche enttäuschten Menschen gestellt wird, beantwortet werden, nämlich: Was wollte Jesus eigentlich?

Auf diesem Hintergrund ist das Gespräch von Professor Paul Hoffmann mit der Wochenzeitung „Publik – Forum“ zu verstehen. Er meint, der Rückgriff auf die frühe Jesus -Tradition könne den wirklichen Jesus von dem Ballast befreien, der ihm und uns durch mythische Deutung und durch dogmatische Spekulation aufgebürdet wurde. Die Hoheitstitel von Jesus als dem Christus, dem erhöhten Herrn und dem von Gott gesandten Messias, dem Sohne Gottes, wesensgleich mit dem Vater seien ein Mythos und als solcher eine Zumutung für den Menschen unserer Zeit. „Er braucht keine Lehre von der Trinität, von der Hypostatischen Union (Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott), sondern einen Gott, der ihm zur Seite steht und von dem er lernen kann, in Freundlichkeit mit seinen Mitmenschen umzugehen“, so der Bibelwissenschaftler aus Bamberg wörtlich. „In der Verkündigung Jesu geht es um eine Wahrheit, die sich jedem Menschen vermitteln lässt und die ihm hilft, in dieser Welt in Würde zu leben.“ (5) Professor Hoffmann glaubt, den Schlüssel zum besseren, eigentlichen Jesus-Verständnis gefunden zu haben. Nach seiner Meinung sind die radikalen Aussagen der Seligpreisungen der Armen, der Feindesliebe, des Gewalt- und Rechtsverzichts die eigentlich bedeutsamen, ohne dass das Dogma eine Rolle spielt. Von kritischen Christen wie von Außenstehenden bekommt er dafür lauten Beifall. In weltanschaulichen Diskussionen dürfte es kein schlimmeres Unwort als „Dogma“ und „dogmatisch“ geben. Endlich einer, der es wagt, den Unmut und das Unverständnis über kirchliche Lehre und unnötige Lasten beim Namen zu nennen, kann man hören. Ein menschliches, ein praktisches Christentum, das für die Versöhnung aller Menschen eintritt und sich ohne Vorbehalt für die Armen einsetzt, ohne den Aufwand an Ideologie, ohne Streitereien um Rechtgläubigkeit – einen solchen Glauben könnte man eher bejahen, ist die Meinung vieler.

Es fällt auf, dass Mythos und Dogma gleichgesetzt und gleichermaßen als unbedeutend, sogar belastend abgelehnt werden. Dabei hat man sich seit Jahrhunderten bemüht, Dogmen, verstanden als Lehraussagen, von Mythen als unwahren Geschichten abzugrenzen.
Man muss zugeben, dass es der kirchlichen Verkündigung bisher nicht gelungen ist, die Notwendigkeit und den Inhalt der grundlegenden Lehraussage einer distanzierten, aber nicht unbedingt feindlichen Öffentlichkeit einsichtig zu machen. Es scheint, als ob die Kirche in ihren Verlautbarungen eine fremde Sprache spreche.
Eigentlich ist es die Barriere des Nicht-Verstehens, welche Ratlosigkeit, Unmut und zornige Ablehnung erzeugt. Bei den öffentlichen Diskussionen über Religion, Kirche, Christentum und Jesus tritt die beschriebene Stimmung offen zutage.

Der Kampf gegen Wortgespenster

Das Bemühen, dem Menschen unserer Zeit den Glauben verständlich zu machen und ihn von der Zumutung eines mythischen Weltbildes zu befreien, ist unter dem Stichwort „Entmythologisierung“ bekannt geworden. Ihr bedeutendster Vertreter Rudolf Bultmann betrachtet es als unumgängliche Aufgabe der Verkündigung, die Glaubensaussagen von den Vorstellungen eines mythischen Weltbildes zu reinigen. Er macht sich zum Fürsprecher eines Bewusstseins, das durch das naturwissenschaftlich-technische Denken geprägt ist. Bultmann lässt nur gelten, was rational einsehbar ist. Seine Aussagen von 1941 dazu sind den Theologie-Studierenden seitdem ziemlich vertraut: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht“ (6).  Heute sechzig Jahre nach Erscheinen dieses Artikels hat sich sein Programm ziemlich erfüllt. Man ist in der Entmythologisierung ein schönes Stück weitergekommen; es gibt kaum einen ernsthaften Vertreter der Bibelauslegung, der noch am Glauben an Dämonen und Teufel, an die wunderbare Speisung der Fünftausend (Mk 6, 30-44), an den Wandel Jesu auf dem See (Mk 6, 45-52), an die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2, 1-11) und andere Wunder wörtlich festhält. Gar nicht zu reden von der Geburt Jesu aus der Jungfrau, von den Ostergeschichten, von seiner Himmelfahrt. Man ist der Meinung, nun dem historischen Kern der Person Jesu näher gekommen zu sein.

Aber wurde dadurch den Menschen unserer Zeit auch die Botschaft Jesu näher gebracht? Daran darf man ernsthaft zweifeln. In keiner Epoche der Geschichte vollzog sich auf breiter Basis eine solche Distanzierung von  Kirche und Christentum wie in den letzten 60 Jahren, nie zuvor war die Kritik an christlichen Werten so grundlegend und waren die Austritte so zahlreich. Aber noch mehr fällt ins Gewicht, dass in derselben Zeit das Reich der Mythen einen gewaltigen Einzug in das geistige Leben gehalten hat. Zu denken ist an die nationalsozialistische Ideologie, welche sich auf altgermanische Mythologie stützte und die Seelen der idealistisch gesinnten jungen Menschen vereinnahmte. Wenn heute Titel einer Zeitschrift wie „Einmal Hölle und zurück“, „Wegweiser zum Paradies“, „Gefährten aus der Anderswelt“  Interesse wecken, wenn sich junge Menschen ganz offen zu Satanskulten bekennen, wenn in fast jeder größeren Stadt regelmäßig Esoterik-Tage stattfinden, kann man den Schluss ziehen, dass hier eine Leerstelle in den Seelen der Menschen besteht. Es gibt ein ungestilltes Verlangen nach dem Geheimnisvollen, nach Vorstellungen und Kräfte, welche einen der Langeweile, der Verödung des Zusammenlebens und der Arbeitswelt, der Sinnleere und Einsamkeit entreißen. Die „Mythen“ der christlichen Religion füllten einmal diese Leerstelle aus, aber sie tun es heute anscheinend nicht mehr.
Im Hinblick auf dieses Ergebnis könnte man nach einem Wort von C. G. Jung sagen: Wir haben Wortgespenster entmythologisiert, nicht aber die psychischen Tatsachen.
Nichts ist deshalb mehr gefordert als sich um ein tieferes und umfassenderes Verständnis der Mythen zu bemühen.

II. Was sind Mythen? Nur Fiktionen?

Ursprünglich sind Mythen Geschichten von der Herkunft und Taten der Götter, von der Entstehung der Welt und der Menschen, von deren Schicksal und vom Weltende. Weil niemand mehr an Götter glaubt, dürften eigentlich – so müsste man meinen –die Mythen erledigt sein. In Wirklichkeit haben sie im modernen Lebensgefühl neue Aktualität und Bedeutung erhalten. Es gibt – wie das Beispiel von der Quelle der Jugend beweist – Geschichten, wo Orte, Geschehnisse, Namen, Wesen eine geheimnisvoller Anziehungskraft haben. Heute sind es nicht mehr Götter, welche die Geschicke lenken, es sind unsichtbare und unbegreifbare Mächte, denen man sich anvertraut oder hingibt und von denen man sich führen lässt.