Die Beichte, das verlorene Sakrament

 

I

Mehr als die Beichte

Gedanken zur Umkehr

Rückblick  eines Beichtvaters

Nachdem ich als Kapuziner seit fast 50 Jahren Beichte höre und seit 40 Jahren die hilfreichen Möglichkeiten der Psychologie und der neuen spirituellen Wege entdeckt habe, erlaube ich mir, über Beichte, Buße und Umkehr zu schreiben. Meine Absicht ist nicht, irgendwelche dogmatischen Aussagen in Frage zu stellen, sondern die ganz konkreten Erfahrungen eines Beichtvaters und der Betroffenen von heute darzustellen.

Beginnen wir mit der Zeit vor 50 Jahren. Die Beichte war begehrt, weil sie von Schuldgefühlen wie vom Schutt des Alltags befreite und die Erlaubnis zur heiligen Kommunion erbrachte. An den hohen Festtagen - Weihnachten und Ostern - standen in der Klosterkirche Schlangen an den Beichtstühlen, an einem 10 bis 15 Personen und dies oft mehr als eine Stunde oder noch länger. Das Bekenntnis der allermeisten war in der Form des einmal gelernten Beichtspiegels. Was sich dahinter an echter Schuld oder Not verbarg, konnte man als Beichtpriester nicht einmal ahnen. Es musste schnell gehen, um nicht die  Wartenden allzu sehr zu belasten. So kam es, dass auf die formelhafte Anklage nur ein allgemeiner Zuspruch und die Formel der Lossprechung folgten. Doch gingen die Beichtenden mit dem Gefühl weg, ihre Pflicht erfüllt zu haben und das Fest im rechten Sinn begehen zu können. Wenn bei weniger Andrang tiefer gehende Probleme z. B. Gefährdung der Ehe, Selbstmorddrohung oder -Versuch offen gelegt wurden, war man als nur theologisch Gebildeter überfordert.

Im Laufe der nächsten Jahrzehnte hat sich ein erheblicher Wandel in der Einschätzung und Praxis der Beichte vollzogen. Es wandelte sich das Verständnis von Schuld erheblich vor allem, was das sechste Gebot anbelangt. Selbst am Karfreitag, an dem vor 25 Jahren Leute dichtgedrängt anstanden, kamen Bußwillige nur sporadisch. Die Vorstellung, sich die Erlaubnis zur Kommunion zu holen, ist weggefallen. Doch nehmen auch heute Personen weite Anfahrten für eine Beichte auf sich. Ob sie immer erleichtert und erfüllt weggehen, kann man nicht nachprüfen. Doch es gibt sie. Manche klagen, dass sie schon seit Jahren dasselbe beichten  und noch von denselben Ängsten gequält werden.

Ich kann nur von einem großen Geschenk des Himmels sprechen, dass ich mir im Laufe von 40 Jahren durch Bearbeitung der eigenen Lebensgeschichte die Kompetenz zu einer heilenden Seelsorge aneignen konnte. Dies bedeutet: Hilfe in äußerster Verzweiflung, nachhaltige Veränderung, Eröffnung von authentischen, ergreifenden religiösen Erfahrungen und Lebensperspektiven, Neubegründung des Glaubens und Zugang für alle, welcher weniger von Schuld, als vom Leid getrieben sind. Dabei spielt keine Rolle, wie gläubig sie sind, ob aus der Kirche ausgetreten oder gar nicht zu den Sakramenten zugelassen. Im Folgenden soll nun eine Frau zu Wort kommen, mit der ich die neue Art von Seelsorge praktizieren konnte.

Die kleine Buße und meine große Umkehr

„In Demut und Reue“ habe ich mein Leben lang meine Sünden bekannt, im Beichtstuhl oder in einem Beichtgespräch, das letzte Mal 2005. Der Segen des Priesters erleichterte mich kurzfristig, aber grundsätzlich hatte sich in mir und in meinem Leben nichts verändert. Zunehmend empfand ich darüber ohnmächtige Verzweiflung. Meine Freude am Leben erstarb. Es trieb mich um, dass ich keinen Halt mehr in meinem Glauben fand, den Gottesdienst und den Empfang der Kommunion für mich als nichtssagend erlebte. Das, was mir in meinem Leben als ganz sicher schien, Gott, der Ich-bin-da, mein Glauben an Ihn, wurde belanglos. Stumm erlebte ich mich in einsamen Kirchen vor dem Kreuz, bis eines Tages die Erinnerung an die Schriftstelle von der  Begegnung Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen aufstieg; es traf mich wie ein Blitz: was wäre, wenn ich heute Jesus am Brunnen begegnen würde? Was würde sich in meinem Leben ändern? Diese Frage entfachte meine Sehnsucht nach dieser heilenden, erlösenden Begegnung mit Christus, nach Daheimsein, nach Geliebt sein, nach dem Mehr des Lebens.

Ich suchte nach Jemandem, der nur ansatzweise diese meine Frage, meine Suche, meine Not verstehen könnte. Fündig wurde ich bei einem Priester, dessen Texte mich ungemein ansprachen. Bei ihm meldete ich mich für ein Beichtgespräch an; nach meinem Bekenntnis sprach er von Umkehr als Prozess, als Weg; er sprach vom Reichtum der Stille, vom Religiösen, das über den Leib geht, von Erlösung der Gefühle. Am wichtigsten wurde mir: Gott ist innen, tief in mir, mir näher als ich mir selbst bin.

Über viele Jahre holten wir gemeinsam mein Lebensleid in den Blick. Woche für Woche brachte ich meine Träume ins Gespräch ein. Ich lernte, meine Traumszenen und -Gestalten in Bezug zu meinem Alltag und den Menschen, die mit mir lebten, zu setzen. Was sich in den  Träumen zeigte, hatte mit meinen wirklichen, aber nicht wahrgenommenen Gefühlen zu tun. Ich erlebte mich als eine große aufgerissene Wunde, je tiefer ich mir selbst begegnete. Mit meiner Wahrheit in Kontakt zu kommen rief Ströme von Tränen hervor; sie lösten mein Leid und zeigten eine Spur auf hin zu meiner eigenen Tiefe.

Äußerst hilfreich wurde mir die Körperarbeit und das Sitzen in der Stille, dabei den Namen Christus Jesus innerlich zu wiederholen, ihn zu atmen. Die ganz langsamen, aber äußerst achtsam durchgeführten Übungen ließen in mir eine spürbare innere Lebendigkeit erwachen. Mich wieder zu spüren, meinen Leib im Atem, wurde mir zur Kraftquelle, weiter zu gehen. Vom ersten Moment an empfand ich das Sitzen in der Stille wie Gebet: nichts müssen, nichts sollen, nichts wollen, nur Dasein dürfen, hineingenommen sein in eine wohltuende Atmosphäre, die sich immer mehr verdichtete, nahezu durchsichtig auf das ganz Andere hin. Ein Freiraum, im eigenen Nichtstun Gott handeln zu lassen, wie er es für richtig hält. Es überraschte mich, wie sich so nach und nach die Texte der heiligen Schrift, der Psalmen neu öffneten: ich fand meine eigene Not, mein Suchen, Ringen und meine Einsamkeit in den dargestellten Menschen und Situationen wieder. Mein Alltag hingegen wurde zur Zerreißprobe: Auf der einen Seite meine spirituelle Sehnsucht, auf der anderen Seite konkretes Scheitern; beides schien nie zusammen zu gehen. Mir wurde klar, dass mein eingeschlagener Weg meinen vollkommenen, unbedingten Einsatz fordern wird.

Auf einem langen Pilgerweg wurde ich gelassener, fand zu meinem eigenen Geh- und Lebensrhythmus. Freude, Lebensfreude kehrte wieder ein. Das Gehen - „ bis es geht“ -  wurde für mich zum Lehrmeister, langsam, Schritt für Schritt. Ich nahm die Bäume, das Licht, den Gesang der Vögel wie zum ersten Mal wahr, ein Glück, das sich in meinem innersten Herzen zaghaft regte. Was ich im Außen hörte und erlebte, hatte eine Resonanz tief in meinem Inneren. Bei allen Schwierigkeiten  wuchs mir  eine Kraft zu. Dieses Geschenk nahm ich auch im Alltag wahr: Gefühle des Ungenügens, der Wut, der Ohnmacht und des sich Verteidigen müssen verschwanden. Für meinen inneren Weg blieben Austausch und Gespräche über meine Träume wichtig, das Sitzen in der Stille lebensnotwendig, eine Zeit für mich, dem nachzugehen, was mein Leben zu nähren begann. Ich erlebte, wie sich mein Leben neu gestaltete, von innen her. Es öffnete sich in mir ein Raum und zugleich eine Weite nach außen. In mir strömte eine Kraft, die nicht ich bin, die mich aber ausmacht und die mich befriedet und nach außen wirkt. Jede Angst war verflogen. Mir wurde bewusst, dass Christus uns ein neues Herz schenken will, das Ihm gehört.  

Die Probleme in meinem Alltag werden nicht weniger, aber sie überrollen mich nicht mehr; oftmals lösen sie sich in einem langen Traumprozess zunächst schmerzvoll, dann in einem beglückenden Seelenbild. Diese ganz andere Seite hat mit Liebe zu tun, die uns in den schwersten Stunden geradezu überströmt und befähigt, anderen in Liebe zu begegnen“.

Hätte die Frau im Jahre 215 statt 2015 gelebt, hätte sie jetzt die Taufe empfangen. Was sie beschrieben hat, ist der Weg, der die frühen Christen zur Taufe und in das Erlebnisfeld des Evangeliums führte. Es war die Buße der ersten Jahrhunderte. Sie wird in unseren Tagen wieder aktuell als eine echte Alternative für jene, die ein schweres Leid bedrückt, die einen hohen Anspruch an Glaubensvertiefung und menschlicher Reife, aber zur herkömmlichen Beichte keinen Zugang haben. Die Erfahrung, angenommen und verstanden zu werden und in der Tiefe der Seele vom Heiligen berührt zu sein,  kehrt die  Gefühlsrichtungen um, was der gute Vorsatz einer Beichte nicht vermag. Nur so findet das Wort Umkehr“ seine wahre Bedeutung. Es geht um eine Wandlung der Persönlichkeit, die nicht ohne Wirkung auf die nächste Umgebung bleibt. Dahinter steht eine Kraft, welche wie in der Frühzeit des Christentums stärker ist als die Strömungen der Zeit. Man kann sie nicht  entdecken, ohne einen Blick ins eigene Innere zu werfen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Theologisch gesehen geht es um die Entfaltung der einmal empfangenen Taufgnade, die im praktischen Leben der allermeisten keine Wirkung zeigt. In diesem Sinn kann man von einem verlorenen Sakrament sprechen. Dieses wieder zu gewinnen und dazu Wege aufzuzeigen, ist das Anliegen der folgenden Beiträge.                                                                                     

 

II

Energie und Dynamik

Umkehr zum Evangelium

Umkehr zum Evangelium wird gewöhnlich verstanden als das Bemühen, dessen hohe Ideale der Nächstenliebe, der Armut und der Kreuzesnachfolge zu erfüllen. Weil man sich überfordert fühlt, hinterlassen die entsprechenden Schriftstellen meist nur ein schlechtes Gewissen. Damit ist die ganze Umkehr schon am Ende. Erzählungen im Evangelium zu diesem Thema können uns weiterhelfen. Lukas berichtet dazu von zwei Personen. Bekannt ist jene Frau, „die in der Stadt als Sünderin lebte (Lk 7, 27). Sie erscheint beim Gastmahl des Pharisäers, wo Jesus weilt, tritt hinter ihn und weint, sodass ihre Tränen auf seine Füße fallen. Sie salbt und küsst diese unaufhörlich. In ihr ist nur noch Freude, Dankbarkeit, eine Liebe, die keine Rücksicht auf die ablehnenden Blicke der Anwesenden nimmt. Sie gilt als die Büßerin, die ihre Sünden beweint. Eher ist anzunehmen: Sie weint vor Glück. Der geschilderten Szene ging wahrscheinlich ein Gespräch oder auch nur ein Blickkontakt mit Jesus voraus, der sie im Tiefsten der Seele getroffen hat. Eine andere Geschichte ist die vom Zöllner Zachäus. Um Jesus, den berühmten Meister zu sehen, war er auf einen Baum gestiegen. Als er seinen Namen Zachäus (Lk 19,5) hört, geht für ihn eine Welt auf. In ihm wird eine Freude wach, die er bisher nie gekannt hatte. Jesus trifft  den Grund seiner Seele, den Sitz der Gefühle, der Interessen und allen Strebens. In ihm dreht sich alles um. Er, der im Ort Verachtete, weiß sich beachtet und wert geschätzt. Dies ist so wunderbar, dass ihm sein Geld nichts mehr bedeutet. So kann er mit Leichtigkeit die Hälfte seines Vermögens verschenken und die Betrügereien gut machen.

Jesus hat die Menschen befähigt, anders zu werden. Von ihm geht eine Kraft aus, die Menschen anzieht, heilt und wandelt. Sie ist  das große Geschenk, das Jesus den Jüngern vor seiner Himmelfahrt verheißt. Als diese ihn fragen, ob er das Königtum für Israel aufrichten wird, sagt Er: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt“. (Apg 1,8). Statt des Königtums erhalten die Jünger die Kraft, seine Zeugen zu sein. Diese ist mehr als ein Königreich. Sie ist die Fähigkeit, Menschen im Grunde ihres Herzens zu wandeln und damit die Welt zu verändern. So geschieht es an Pfingsten, als Petrus  verkündet: Gott hat Jesus auferweckt und als den Herrn und Messias erwiesen. Es ist sein Geist, der im Augenblick wirkt (Apg 2,14 - 41). Hinter seinen Worten steht seine Geschichte mit Jesus, sein Bekenntnis, sein Treueschwur, sein Verrat, der schreckliche Tod seines Meisters  und  seine Umkehr, die Erfahrung, dass er lebt, anders, intensiver als bisher, unbeschreiblich. Seine Worte greifen, weil er selbst ergriffen ist. Die Zuhörer trifft es mitten ins Herz (Apg 2,37). Sie werden zutiefst erschüttert, zur Umkehr bewegt und  lassen sich taufen zur Vergebung der Sünden. Sie werden eingetaucht in die Atmosphäre des Auferstandenen. Die Folge davon ist: „Alle, die zum Glauben fanden, hielten zusammen und hatten alles gemeinsam. ... Die Gesamtheit der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“... Der Herr aber mehrte von Tag zu Tag die Zahl derer, die zum Heile fanden“ (Apg  2,44; 47 u. 4,32).

Umkehr im Sinne des Evangeliums ist demnach als erstes Erfahrung, ein Prozess, der mit einem geschieht, nicht Ergebnis guter Vorsätze. Es ist die Eigentätigkeit der ganz anderen Seite in uns, der unbewussten Seele, vom Geist bewirkt. Dies ist mit Gnade gemeint. Die hohen Ziele ergeben sich wie von selbst. Vergebung der Sünden ist Wandlung des Herzens, damit der Gefühle, die wir mit Vernunft und Willen im besten Fall beherrschen, aber nicht verändern können. Das bedeutet: Es ist einem so zumute wie der Frau, die Jesus die Füße küsst, wie dem Zachäus, der sein Vermögen verschenkt, wie den ersten Christen, bei denen alles anders wurde, deren Zusammensein  von der Kraft. des Geistes geprägt ist, von der Begegnung in der Tiefe, von gegenseitiger Achtung und  Anziehung in Freiheit und spontaner Freude. Im Griechischen, in der Sprache des Neuen Testaments heißt das Wirken des Geistes energeia, die Kraft dynamis. Es ist nichts anderes als Energie und Dynamik, ein Kraftfeld, in welches jeder eintaucht, der wie die ersten Christen umkehrt. Dies ist der große Schatz und der Anspruch, an dem sich als erstes die praktizierte Einrichtung der Beichte aber auch anderes Reden und Tun im Raum der Kirche messen lassen muss. Wäre dem so, würde der Herr auch in unseren Tagen die Zahl der Gläubigen mehren, anstatt dass sie in Scharen davonlaufen.

 

III

Die Beichte auf dem Prüfstand

Form und Rahmen der Umkehr, wie sie von der Kirche angeboten und angeordnet wird, ist die Beichte, das Sakrament der Buße. Sie ist heute in Frage gestellt. Die entscheidende Frage lautet: Kann sie dem Maßstab des Ursprungs genügen? Dazu einige Erfahrungen.

Leicht wie ein Engel

Leicht wie ein Engel schlüpfte ich aus dem Beichtstuhl“, erinnert sich eine Frau, als sie von ihrer Kindheit erzählte. Vor mir taucht  auch das Bild eines pensionierten Oberstudiendirektors auf, der mit höchster Ergriffenheit nach abgelegter Beichte zur hl. Kommunion schritt. Es war ein heiliges Geschehen. Hier dürfen wir auch an den Pfarrer von Ars denken, zu dessen Beichtstuhl  Massen strömten, für die aufgeklärten Geister des 19.Jahrhunderts in Frankreich ein Rätsel und ein Ärgernis! Wer dort beichtete, fand einen tiefen Frieden. Es wurde einem leicht ums Herz wie noch nie. Es war das Heilige an diesem Mann, das Menschen von weither anzog und wandelte. Ohne Zweifel war hier der Heilige Geist spürbar, seine Energie und Dynamik. Nicht zu vergessen ist die Beichte im Leben der heiligen Teresa von Avila und vieler anderer großer Gestalten. Die Heilige brauchte den Austausch über die Vorgänge ihrer Seele. Der Beichtstuhl eines Klosters war der Ort der Anonymität und Intimität zugleich, wo Geheimnisse geoffenbart wurden in der Gewissheit, dass sie wie in ein Grab gesagt waren. Das Geschilderte ist aber bis auf einige Reste Vergangenheit. Die Frau, die einst wie ein Engel den Beichtstuhl verließ, hatte gerade wie andere ihres Alters ihre katholische Vergangenheit abgelegt.

Das Sakrament, das theologisch so hoch bewertet wird, ist in der Praxis im Hinblick auf die Gesamtheit der Getauften so viel wie bedeutungslos geworden. Es wäre aussichtslos, jemand mit dem Sündenkatalog zu konfrontieren. Die Auffassungen darüber  gehen weit auseiander. Die Autorität der Kirche, welche Normen verkündet und Vergebung gewährt, ist bei den meisten so viel wie  verschwunden. Die Lossprechung, einst unabdingbarer Zugang zum Heiligen, sagt ihnen nichts mehr. Man hat deshalb auch kein schlechtes Gewissen, noch weniger das Bedürfnis, es zu reinigen. Und doch lebt es sich nicht so frei. Um es salopp zu sagen: Sie haben keine Sünden, aber Probleme! Am offensichtlichsten wird es, wenn fast die Hälfte der Ehen zerbricht und mit ihnen die Familien. Es sind menschliche  Katastrophen, Tragödien mit Verzweiflung und Wunden. Man hat oft den Eindruck: die Menschen sind ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert.

Es gibt sie doch, die Sünde, nicht wie im gelernten Beichtspiegel, sondern als autonome Macht, die Paulus (Röm 6-7) beschreibt, bei der aber das herkömmliche Bußsystem der Kirche nicht mehr greift. Dafür gibt es psychologische Beratungsstellen und  ungezählte Angebote, die sich mit der verbreiteten Not und Suche befassen. Man spricht von einem Psychomarkt. Das Bedürfnis nach Aussprache ist hoch, sogar nach Bekenntnis der Sünden, weil das Geheimnis isoliert. Dem kommt die Website  www. beichthaus.com. entgegen, wo man anonym Sünden offen legen kann und sogar über Vergebung abgestimmt wird.  

Die Substanz des Sakraments

Ist damit die  Beichte überflüssig geworden? Eines muss festgehalten werden: die Substanz des Sakraments ist das Heilige. Dazu gibt es keine Konkurrenz. Es ist der Schatz im Acker, die kostbare Perle (Mt 13 44,45), um derentwillen man alles aufgibt. Es ist die Erfahrung von Kostbarkeit, eines unschätzbaren Wertes, der frei macht von Verwicklungen und Abhängigkeiten, von dem Bereich, um den sich Psychologen mühen, von Sinnleere und Vereinsamung, nicht zuletzt von der Angst vor dem Tod. Es ist die Macht, die  eigentätig wirkt als der „Geist, der weht, wo er will“ (Joh 3,8), der gar nicht an eine kirchliche Vollmacht gebunden ist. Wer das Heilige vertritt, muss aber dafür durchlässig, selbst ein Ergriffener sein, damit sich ein Raum der Ergriffenheit für alle Beteiligten auftut. Dazu braucht es Zeit, Einstimmung, ohne Ängste, Druck, Ablenkung und Störung. Alles Schablonen-und Zwanghafte nimmt  dem Sakrament die Würde und die Wirkung. Unter diesem Aspekt haben Beichtgespräch und Versöhnungsabende eine Chance. Für alle, die sich auch heute noch in der Beichte um Besserung bemühen, heißt das: Den Schwerpunkt darauf zu verlegen, sich dem Heiligen zu öffnen. Die Veränderung wird sich von selbst einstellen.

 

IV

Mut zum Verdrängten

Der Schatten des Guten

Was soll ich denn beichten?!“ kann man hören, wenn die Rede auf dieses Thema kommt. Man verweigert aber mit diesem Satz im Grunde nur eine Engführung der Umkehr. Sie ist mehr, als das Gewissen nach absichtlich begangenen Verfehlungen abzufragen. Es geht um den Bereich dessen, was mit „Macht der Sünde“ (Vgl. Röm 6-7) gemeint ist. Wenn er ausgeklammert ist, wird bei einem Bekenntnis nur die Oberfläche berührt. Es ist jener Raum in der Tiefe unserer Seele, wo die Gefühle, Motive, Interessen ihren Sitz haben, und welcher  über Glück oder Katastrophen unseres Lebens bestimmt, ob eine Liebe gelingt oder scheitert. Allein schon die Wahl des Partners, in den man sich verliebt, ist nicht Sache des Willens und kluger Überlegungen. Es ist so etwas wie eine zweite Persönlichkeit, die in unser Leben hineinregiert, ob wir es wahrnehmen oder nicht. Bei allen Entscheidungen ist diese Instanz wesentlich beteiligt. Sie entspricht dem, was in der Heiligen Schrift mit „Herz“ bezeichnet wird. Mit den Worten Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz ist weit von mir“ (Mt 15,8) klagt Jesus über die verdorrte Religiosität seiner Zeitgenossen. Das  reine, aufrichtige Herz, welches Gott schauen darf (Mt 5,8) kann als das Grundanliegen der Propheten und Jesu gesehen werden. In der Tiefenpsychologie spricht man vom „Unbewussten“, speziell vom „Schatten“. In seinen Bereich fällt alles, woran wir nicht denken, worüber  wir nicht reden, was peinlich berührt, was unter der Oberfläche bleibt. Er ist der Teil unserer Persönlichkeit, wohin das Licht unseres Bewusstseins nicht gelangt. Die Folge davon ist das nicht reflektierte, naive Denken und Handeln. Die Worte Jesu „Sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) sind ein treffendes Kriterium, mit dem man menschliches, gerade frommes  Verhalten ernsthaft prüfen müsste. Nur so kann vermieden werden, dass Lieblosigkeit, Demütigung, Verachtung und  Unrecht im guten Glauben und bester Absicht  geschehen, ein Vorwurf, den man in der Kirche nicht übergehen sollte. Dies gehört wesentlich zur Umkehr.

Entstehung des Schattens

In den Bußanleitungen spricht man von den Haupt- oder Wurzelsünden wie Stolz, Neid, Unkeuschheit und andere. Gemeint sind Einstellungen, die hoch emotional aufgeladen sind und zu Tatsünden verleiten. Weil Gefühle aber nicht mit  Willensanstrengung, sondern nur durch stärkere Gefühle überwunden werden, scheitern die meisten guten Vorsätze. Selbst wenn sie mit eisernem Willen durchgehalten werden, ist damit das Ziel nicht erreicht. Denn der Schatten ist nicht gleichbedeutend mit unseren Verfehlungen. Was wir ablehnen und verwerfen, ist nicht ein für allemal aus der Welt geschafft, vielmehr arbeitet und rumort es in uns weiter, bricht dann meist zu unrechter Zeit durch. Dies kann ein unrechtes Wort zu ungelegener Zeit sein, ein plötzlicher, ungewollter Zornesausbruch oder ein Handeln, das einem im Nachhinein selbst ein Rätsel ist. 

Beherrschung ist nicht Wandlung. Der Schatten ist sogar hinter den edlen Idealen der Selbstbeherrschung, des Einsatzes für andere, der vollen Enthaltsamkeit zu suchen. Die willentliche Beherrschung der spontanen Impulse kann man vergleichen mit dem Vorgang, wenn ein Wasserlauf abgesperrt wird. Das Wasser ist nicht verschwunden, es staut sich. So sammelt sich hinter einer Barriere von Disziplinierung und Gedankensystemen Energie, das, was leben möchte. Religiöse Menschen  wirken oft angespannt, als sei die Lebensfreude abgeschnitten. Eine absichtlich gezeigte Freundlichkeit wird als aufgesetzt empfunden.

Der Schatten wird am ehesten offenbar, wenn etwas nicht mehr „funktioniert“, ob in einer Beziehung, einer Ehe, einer religiösen Gemeinschaft oder in der Kirche. Nichts ist heute nötiger, als nach dem Schatten der Kirche zu schauen. Der Rückgang liegt offen vor uns. Tatsache ist: Sie hat den Strömungen unserer Zeit und damit der Macht der Sünde nicht das Entsprechende entgegenzusetzen im Unterschied zum frühen Christentum. Dieses war stärker als das Heidentum und hatte die Kraft, Menschen von Grund auf zu wandeln. Heute versucht das die Tiefenpsychologie. Es würde sich lohnen, deren Entdeckungen anzuwenden. Die wichtigste davon ist: Das Religiöse ist der stärkste Antrieb! Würde er zugelassen, wäre auch der moderne Atheismus überwindbar. Es sind Schätze im Keller. Das Christentum ist nicht überholt, aber seine Kraft liegt im Schatten.

 

V

Halt an! Wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir! (Angelus Silesius)

Womit beginnen?

Es gilt die alte Regel: Beginne bei dir selbst!  Dies versteht man gewöhnlich so, als müsse man als erstes Fehler bei sich suchen und neue Lasten auf sich nehmen. Damit hört es bei den meisten wieder auf. Schauen wir, wie die Umkehr der Heiligen war. Hier können wir von Ignatius von Loyola einiges übernehmen. Er ist der Begründer der Exerzitien, in denen er seine Erfahrungen verarbeitet hat. Die Geschichte seiner Umkehr beginnt mit seiner Verwundung. Er wird aus dem normalen Leben als Offizier herausgerissen und muss auf dem Schloss seine Heilung abwarten. Um die Langeweile zu vertreiben, liest er Ritterromane und Bücher von Heiligen und vom Leben Jesu. Ihm fällt auf, dass ihm nach der seichten, weltlichen Lektüre genauso fad ist wie vorher, während ihn die Beschäftigung mit den Heiligen auch nachher noch längere Zeit froh und zufrieden sein lässt. Er fängt an, ernsthaft darüber nachzudenken. Indem er auf seine Gefühle achtet, sie reflektiert, unterscheidet und die Guten auswählt, verändert sich seine Stimmung, seine Gesinnung und er selbst von Grund auf. Erst dann geht ihm auf, wie verkehrt sein früheres Leben war, und er will dafür Buße tun. Es beginnt ein Prozess, der ihn immer weiter treibt. Er hat den Schlüssel zu einem neuen Leben gefunden.

Wahrnehmen, was ist!

Umkehr beginnt nicht damit, dass wir uns mit Gewalt klein machen, sondern indem wir aus dem Alltagstrott und den Gedankenketten aussteigen und wahrnehmen, was in uns tatsächlich vorgeht und nicht, was vorgehen sollte! Wer nicht von sich aus anhält, dem wird es früher oder später auferlegt. Es kann eine Krankheit, eine Behinderung oder das Alter sein, welches einen Stillstand im äußeren Bereich erzwingt. Ohne die Ablenkung von außen steigt das in einem auf, was bisher im Untergrund war und in der Lebensgeschichte nicht bewältigt ist. Der entscheidende Fortschritt ergibt sich dann, wenn wir den eigenen Gefühlen gegenüber wach sind und unterscheiden zwischen dem, was uns nach unten oder nach oben zieht.

Was zieht mich hinab?

Es können Ängste sein, es kann die Sinnleere sein, die man bisher überdeckt hat, sehr häufig sind es Ärger und Zorn, die einen quälen. Da taucht die ganze Umgebung auf, die einen stört, die Kirche, die Vorgesetzten, der Ex-Mann, die Ex-frau  Man weiß genau, was sie alles falsch gemacht haben und fühlt sich in seiner Ablehnung bestätigt. Dabei merkt man nicht, dass man sich selbst ausblendet, ganz und gar beim andern ist, aus seiner Verbitterung nicht herauskommt. Hier hilft die klare Unterscheidung: Was ist mein Bereich und was ist Sache der andern?

Um das Eigene zu finden, hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, sich mit seinen Träumen zu befassen, sie aufzuschreiben, deren Bilder auf sich wirken zu lassen und sie, wenn möglich, mit einer kompetenten Person zu besprechen. Wir bekommen einen Blick in die Werkstatt der Seele. Als Grundregel gilt: Die Figuren sind ein Teil von mir selbst. Wie immer sie aussehen, abstoßend oder anziehend, ich muss mir eingestehen: Das bin ich auch! Dies macht demütig und auch hoffnungsvoll. Träume bearbeiten heißt, Spannungen lösen, sich selbst und andere verstehen, gütig mit sich selbst und mit den andern umgehen lernen, der Seele behilflich sein, eine Wandlung herbeizuführen.

Was zieht mich hinan?

Statt an einem Sündenkatalog fixiert zu sein, ist es hilfreicher, sich zu fragen: Was bringt mich weiter? Was bereichert mich?  In uns ist eine Instanz - der göttliche Funke,  unser wahres Wesen - welche Impulse sendet, die uns anziehen und zum Guten lenken. Wenn wir uns von ihnen ergreifen lassen, kehrt in uns Friede ein. Daraus entwickelt sich ein Gespür für das Wesentliche und Authentische, für das, was uns zutiefst berührt und nach oben zieht. Dem entsprechend treffen wir auch die Wahl, was wir unserer Seele eingeben, ob es sich um Freizeitgestaltung oder religiöses Tun handelt, um Literatur, Musik, Umgang mit Fernsehen und Internet. Wenn wir mit der Veränderung bei uns selbst beginnen und diese Aufgabe meistern, öffnen sich die Türen zu den andern wie von selbst.

 

VI

Im Glanz der neuen Wege

Es gibt verschieden Wege der Umkehr. Einer ist, dass man sich von Zeit zu Zeit dem eigenen Schuldbewusstsein aussetzt und das Bußsakrament empfängt. Nicht wenige aber streben eine tiefgreifende Veränderung an, lassen sich auf einen Prozess der Wandlung ein. Aus langjähriger Tätigkeit als therapeutischer Seelsorger kann ich feststellen, dass durch verstehendes Gespräch, durch Bearbeitung von Träumen, durch Stille-Meditation wesentliche Veränderungen erreicht wurden, gerade in jenem Bereich, aus dem sich die Betroffenen selbst nicht befreien können. Gemeint sind die  Verwicklungen, Sackgassen, Zustände der Ohnmacht und Verzweiflung. Es werden Aspekte offenbar und bearbeitet, die dem/r Hilfesuchenden bisher verborgen waren. Die tiefgreifende Umkehr, die Wende der Gefühle ereignet sich, wenn die betroffene Person auf den zugrundeliegenden Schmerz stößt und ihn - meist unter Tränen - aussprechen kann. Sie fühlt sich erleichtert und befreit und kann auch die Dinge anders sehen, das Verhältnis zum Lebenspartner oder zum Vorgesetzten. In der Sprache der herkömmlichen Bußpraxis kann dies Gewissenserforschung, Reue und Schritte zur Besserung in einem genannt werden.

Dies hat Auswirkung auf die einzelnen Felder des Verhaltens, die wir Gebote nennen. Als erstes gilt es, sich dem Leben mit Gott“ (1.bis 3. Gebot) zuzuwenden. Entscheidend ist hier die Wahrheit: Gott ist in der Tiefe meiner selbst, dort, wo ich zutiefst berührt bin. Um dahin zukommen, muss man bereit sein, sein Inneres wahr- und ernst zu nehmen. Eine Frau, die aus der Kirche ausgetreten war, kam zu mir, weil sie ihre Träume verstehen wollte. Daraus wurden Gespräche, die in wohltuender Ergriffenheit endeten und ihr den Sinn für das Heilige erschlossen. Genauso hilfreich war für sie die Einführung in die Meditation. Wenn wir uns in die Stille einstimmen, den Atem spüren, unsere volle Aufmerksamkeit nach innen wenden, verändert sich die Art unseres Gebets und unseres Redens. Wir beten konzentrierter, „andächtiger“. Wir achten auf jeden Beitrag. Wenn wir über Gott sprechen, dann mit Zurückhaltung. Der Wert des Religiösen und des Gesprächs geht einem auf. Begriffe, die bisher hohl und leer waren, werden verstanden. Wer mit seiner Tiefe verbunden ist, bei dem ist Gott auch im Alltag gegenwärtig.

Das 4. Gebot  kann als das Verhältnis der Generationen zueinander umschrieben werden: die Bindung von Eltern und Kinder aneinander, die Zuwendung und die Loslösung. Dies ist mit nicht wenigen Sorgen und Ängsten verbunden. Die Zeit für die Kinder wird für Berufstätige immer schwieriger. Guter Wille und Pflichterfüllung allein tun es nicht. Entscheidend ist die Freude bei dem, was man für und mit den Kindern tut. Sie ergibt sich nur aus dem Zugang zu den eigenen Gefühlen. Viele  Eltern plagt die Sorge um die großen Kinder, die in Bezug auf den Glauben und ihre Lebensführung eigene Wege einschlagen. Jedoch die Angst um die Kinder ist immer auch die eigene! Sie wird geringer, je mehr man zur eigenen Reife, zur Dichte und Fülle des Lebens gelangt. Dann kann man den Kindern die Freiheit der eigenen Entscheidung lassen.

Beim 5. Gebot geht es um mehr, als um Streit zu vermeiden und Gutes zu tun. Wir sollen einander auch gut tun. Man kann auch in Gleichgültigkeit und Kälte erstarren. Die Gruppen, mit denen ich seit Jahren arbeite, sind geprägt von gegenseitigem Verstehen und lebendigem Austausch. Man freut sich auf das Zusammensein.

Aller Sinn des 6.Gebotes ist das Gelingen der  Liebe. Deren Dauer und Umfang hängen von der Tiefe und Echtheit der Gefühle ab. Damit verbunden ist die richtige Wahl des Partners, die freie Bestimmung über Nähe und Distanz, über Hingabe und Verweigerung.

Das 7.Gebot betrifft das Verhältnis zum Eigentum. Menschen, die den Wert der Seele entdeckt haben, wenden für den  inneren Fortschritt Zeit und Geld auf. Der innere Reichtum bedeutet ihnen mehr als der äußere Besitz.

Das 8.Gebot meint mehr, als nicht zu lügen. Es gibt die Wahrheit, die ich sage und die Wahrheit, die ich bin. Es geht um Authentizität, um Echtheit, darum, dass Aussage, äußere Erscheinung und innere Überzeugung übereinstimmen.

Die neu entdeckten Möglichkeiten der spirituellen und ganzheitlichen Reifung heben das Bußsakrament nicht auf, sondern geben Anlass, dessen Sinn neu zu überdenken und  tiefer zu erfassen. Es sind konkrete Wege, um der Umkehr, die das Evangelium will, näher zu kommen.