Esoterik - die vergessene Herausforderung
a.Die neue Welt der alten Geheimnisse
"Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört! Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel. Wir sind so klug! Und dennoch spukt's in Tegel." (1)
Der Text aus Goethes Faust I, an die sich tummelnden Geister, Hexen, Fantasiefiguren auf dem Blocksberg gerichtet, drückt wohl am besten die Ratlosigkeit, Verlegenheit und Ohnmacht derjenigen aus, denen rationales, logisches Denken, wissenschaftliche Sauberkeit und intellektuelle Redlichkeit einiges bedeuten. Wer hätte noch vor dreißig Jahren, als man allem Vorwissenschaftlichen, Unaufgeklärten den gnadenlosen Kampf angesagt hatte, geglaubt, daß auf breiter Ebene alle Erscheinungen und Auswüchse eines als überwunden geltenden Weltbildes zurückkehren. Da findet man in angesehenen Zeitschriften Kleinanzeigen von Magiern/innen, welche 100% stärkste Magie, Energieübertragung, Partnerzusammenführung und -Trennung versprechen. Ebenso kann man sich durch Kartenlegen, Astrologie und Zukunftsprognosen Lebensberatung und Hilfe holen. Selbst den Schutzengel kann man über Telefon erreichen. Es gibt noch viele andere Beispiele aus der Szene, die heute Esoterik genannt wird. Um nur eines anzuführen:
Eine Frau um die fünfzig berichtet: Sie könne ihre Einsamkeit nicht mehr aushalten. Wenn sie allein ist, habe sie maßlose Ängste, oft panische Zustände; sie könne nicht mehr schlafen. Sie habe sich bei einer Schamanin einer Zeremonie unterzogen. Diese sei schwitzend auf ihr gekniet und habe, wie sie sagte, "das Schwein aus der Leber vertrieben". Daraufhin habe sich ihr Zustand gebessert. Ihre Freundin erzählte allerdings, die Frau habe als Angestellte einer Dienststelle der Stadt völlig überzogene Aufträge erteilt, um ein Stadtfest zu organisieren. Hubschrauber sollten einfliegen, um Botschaften aus anderen Ländern zu bringen. Es wurde offenkundig, daß die Person an einer Psychose litt. Worauf sie in eine Klinik kam
Wie leicht doch manche Menschen dem Aberglauben zum Opfer fallen - so werden viele auf Anhieb sagen.
Was ist Esoterik?
Der Begriff "Esoterik" erweckt bei den Interessierten das Gefühl von etwas Geheimnisvollem, von etwas, das einen der Langeweile und Öde des Alltags entreißen kann; das Faszination ausübt und einen "in den Bann schlagen kann" Uralte Namen wie heiliger Gral, Kabbala (eine jüdische Geheimlehre), Alchemie, Rosenkreutzer tauchen plötzlich wieder auf.
Wegen der verwirrenden Fülle von Literatur, von Angeboten auf dem Gebiet der Selbsterfahrung, Therapie und Lebenshilfe tut man sich schwer, eine genauere Definition von Esoterik zu finden. Sie fällt nach dem Standpunkt des Betrachters aus, - je nachdem, ob er dem streng rationalen Weltbild verpflichtet ist oder ob er selbst die Sicht der Esoterik übernommen hat.
Zunächst zur Herkunft des Wortes. Es kommt vom griechischen "eso" - innen im Gegensatz zu "exo" - außen. Esoterik bedeutet also: dem Innen zugewandt, dem inneren Erleben, der Innenseite des Daseins und dem Innenkreis einer Gruppe zugewandt, während exoterisch dem Äußeren verpflichtet ist, d.h. einer Einstellung, welche die Dinge nur von außen sieht. Dies ist auch der Standpunkt der modernen Wissenschaft, welche esoterische Erzeugnisse und Vorgehensweisen unter dem Aspekt der Rationalität betrachtet und die Frage stellt, ob die Ergebnisse einer Voraussage oder einer Behandlung oder die Aussagen über Vorgänge in der Welt nach objektiven Maßstäben nachgewiesen werden können. Bei Esoterik handelt es sich aus dieser Sicht um ein Sonderwissen, das durch "höhere Erkenntnis, Intention, Meditation" gewonnen wird, aber den Kriterien der Rationalität nicht standhält (2).
Laut New-Age Wörterbuch kann "Esoterik weder gelehrt noch gelernt, sondern allein erlebt und gelebt werden. Deshalb verbindet jede esoterische Tradition neben den auch Nicht-Initiierten zugänglichen Schriften eine Reihe von Übungen, Prüfungen und Lebensweisen, Meditation und Riten, die gerade im rechten Handeln den Gehalt des esoterischen Systems erfahrbar und verstehbar machen" (3). Richtiger ist es deshalb zu sagen: es geht um eine Innenerfahrung des Daseins, deren Niederschlag und Anleitung, um Zugang zu den Geheimnissen des Lebens. In diesem Sinn ist Esoterik keine genau abgegrenzte Lehre, eher eine Hinführung zu neuen, ungewohnten Erfahrungen. Man sucht Antworten auf Lebensfragen.
Esoterik kann nur verstehen, wer sich auf eine Innenschau der Wirklichkeit, der eigenen Existenz und des Kosmos einläßt. Es geht nicht ohne eigene Beteiligung.
Der Besucher einer Buchhandlung findet unter der Abteilung Esoterik einerseits viele Titel, die schon von weitem den Verdacht des Unseriösen auslösen - etwa leicht praktizierbare Anleitungen zur Magie. Andererseits sind es durchaus ernstzunehmende Darstellungen von nichtchristlichen Religionen und philosophischen Denkweisen außerhalb der geistigen Welt Europas wie der Hochkulturen Asiens und der Naturvölker Amerikas und Afrikas. Die Veröffentlichungen über europäische Esoterik reichen von der Gnosis des Altertums, über mittelalterliche Alchemie, Rosenkreutzertum, Freimaurer, bis zur Theosophie und Anthroposophie der Neuzeit. Jung spricht von den Unterströmungen der christlichen Tradition. Sie waren der Gegenpol zur offiziellen kirchlichen Lehre und als solche konnten sie im Mittelalter nur geheim weitergegeben werden. Gerade das Verbot weckt die Neugier und wird gern zum Mythos hochstilisiert. Man kann auf die im Streit mit den Essener geschürte Meinung treffen, daß die eigentliche Lehre Jesu - was er wirklich sagte - von der Kirche bis heute unterdrückt worden und erst durch die Quumran - Funde ans Licht gekommen sei.
Das Wort Gnosis ist ein Schlüssel für viele Erscheinungen unserer Zeit besonders für solche, mit denen sich die Leitung der Kirche schwer tut.
"Gnosis" wird gewöhnlich mit "Erkenntnis" übersetzt, eher trifft "Erfahrung" zu. Im Altertum war es eine philosophisch-religiöse Bewegung, deren Wurzeln auf Plato zurückgehen. Sie griff auch in den christlichen Raum über und wurde von den christlichen Theologen - den Kirchenvätern - heftig bekämpft. Es gab zwar auch eine christliche Gnosis, deren Hauptsitz in der Hafenstadt Alexandria in Ägypten war. Der umstrittene Punkt war, daß die Anhänger der Gnosis ihre eigene Erfahrung über die Offenbarung der Hl. Schrift stellten. Auf unsere Zeit übertragen heißt das: Vieles von dem, was sich an esoterischer Literatur findet, könnte man als "Gnosis" bezeichnen. Die eigene Erfahrung ist alles. Was in der Hl. Schrift steht, kümmert niemand.
Mit der Schulbildung wächst das Interesse für Esoterik
Wenn wir aus der Perspektive des modernen wissenschaftlichen Denkens die verschiedenen Erscheinungen sehen, einordnen und bewerten, fällt das Urteil nach diesen Kriterien durchwegs negativ aus; das bedeutet: es ist soviel wie nichts zu halten von Heilmethoden archaischer Kulturen, von Medizinmännern, von Reiki, Kinesiologie, Rebirthing, Reinkarnationstherapie und vielen anderen; genau so wenig von Zukunftsprognosen durch Tarot oder Astrologie. Noch geringer sind die Künste der Magier/innen einzuschätzen, die vorgeben, durch bestimmte Riten Einfluß auf das Schicksal, auf Menschen und Natur ausüben zu können.
Nach den Maßstäben der empirischen Wissenschaften, die einen exakten Wirkungsnachweis einfordern, ist der ganze esoterische Aufwand somit nichts als Fiktion. Wer sich darauf einläßt, verstößt gegen die intellektuelle Redlichkeit. Man meint die einzig richtige Antwort auf die seltsamen und verwirrenden Erscheinungen der sogenannten Postmoderne könne deshalb nur Aufklärung sein nämlich: mit aller Entschiedenheit und Eindeutigkeit die Öffentlichkeit auf die Unhaltbarkeit der Theorien wie auf die Wirkungslosigkeit esoterischer Praktiken hinzuweisen.
Aber wird man damit der geistigen Bewegung, die in jüngster Zeit die Buchhandlungen und das Denken Ungezählter überschwemmt, gerecht und kann man sie auf diese Weise aufhalten?
Wenn wir alle Entwürfe für Lebenshilfe, für Heilung und religiöse Praxis, die nicht in den aufgeklärten, rationalen Rahmen der modernen Wissenschaft und der herkömmlichen Theologie passen, einfach als Aberglaube bezeichnen, entziehen wir uns der Mühe der ernsthaften Auseinandersetzung. Wir müssen dann allerdings damit rechnen, auf diese Weise jeglichen Einfluß auf Menschen zu verlieren, denen Ansätze aus der Esoterik einiges für ihr Leben bedeuten.
Das Interesse hierfür und der zunehmende Einfluß dieser neuen Weltsicht und Lebensimpulse darf in der modernen Industriegesellschaft nicht unterschätzt werden. Das fast beängstigende Anwachsen der Literatur auf diesem Gebiet zeugt davon. Während kirchlich orientierte Verlage um das Überleben ringen oder schon längst schließen mußten, erleben Verlage und Läden mit esoterischem Angebot einen gewaltigen Aufschwung. Selbst traditionell ausgerichtete Buchhandlungen bieten eine Fülle von Titeln an: über Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, Naturreligionen, indianische Kulte, Weisheiten und Weissagungen, über Astrologie, Magie und alternative Heilmethoden und ungewohnte Anregungen zur Gesundheit, Lebenshilfe und Selbstverwirklichung.
Wird die Theologie ausgehebelt?
Auf dem Buchmarkt scheint die Esoterik den theologischen Bereich überflügelt zu haben. Man schätzt, daß es ungefähr ebenso viele an Esoterik-Interessierte gibt, wie in den Kirchen noch praktizieren. Vom Bildungsstand her sind es nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, Unbedarfte, denen es möglicherweise an der Fähigkeit zu kritischem Denken fehlt. Nach Untersuchungen des Züricher Soziologen Gerhard Schmidtchen verhält es sich eher umgekehrt: Mit dem Grad der Schulbildung wächst das Interesse für Psychomarkt und Esoterik (4).
Hier tut sich eine widersprüchliche Situation auf, die alle ratlos macht, welche dem rationalen, logischen Denken und dem streng wissenschaftlichen Weltbild verpflichtet sind. Während man aus intellektueller Redlichkeit die Bibel zu entmythologisieren versucht und sie von Wundern, Engeln und Teufeln reinigt, sitzen die "aufgeklärten" Gymnasiasten, Studenten oder Leute aus akademischen Berufen - für die man es eigentlich tut - beim Tischchenrücken zusammen, befragen das I-Ging, pendeln die Speisen nach Verträglichkeit aus, interessieren sich für das Tibetanische Totenbuch, für indianische Selbsterfahrung nach Carlos Castaneda, für Zen- und Yogakurse, für Qui-Gong und Tai-Tschi und andere Arten der östlichen Selbsterfahrung. In manchen Kreisen ist es schon selbstverständlich, nach Indien, Nepal, Thailand und Japan zu fahren, um Religion in Reinkultur zu erleben und sogar die Erleuchtung zu erlangen. In Indien soll es etwa 2 - 3 Millionen Europäer geben, die auf der Suche nach spirituellen Wegen der Faszination einer fremden Kultur erlegen sind. Am bekanntesten ist die Gruppe um den inzwischen verstorbenen indischen Guru Rajneesh Chandra Mohan, von seinen Anhängern Bhagwan Shree Rajneesh, zuletzt Osho genannt. Er lockte in den Siebziger- und Achtzigerjahren gerade akademisch Gebildete zu seinem Ashram nach Poona in Indien. Tatsächlich haben mehr als 50% der Sanyasin, wie sich seine Jünger nennen, einen Hochschulabschluß oder zumindest Abitur. Hier muß die Frage erlaubt sein: Was ist los mit unserem Bildungssystem, wenn junge Leute und Erwachsene in der Lebensmitte nach 20 bzw. 25 Jahren der Schulung im kritischen Denken sich einer völlig irrationalen Reglementierung und Ritualisierung bis zur Aufgabe ihrer Identität ausliefern? Welches Grundbedürfnis, welche Sehnsucht und welche Werte wurden bisher übergangen und ausgeklammert? Gerhard Schmidtchen gibt dafür folgende Erklärung: Mit der höheren Bildung wird auch höhere existentielle Unsicherheit erworben. Das erwachte eigene Denken stellt Autoritäten wie Kirche und Staat, nicht zuletzt die gesamte Tradition mit ihren verpflichtenden Vorgegebenheiten und Ansprüchen in Frage. Damit schwinden moralische Gewißheiten, z.B. Glaubenssysteme, die zwar einschränken, aber auch Halt und Richtung geben. In der Seele des jungen Menschen entsteht eine Leerstelle, die mit Nicht - Rationalem, mit außergewöhnlichem und tieferem Erleben, mit Wert-Orientierung, mit Religiösem gefüllt werden will. Der Schüler muß immer mehr Dinge lernen, die zu ihm selbst in keiner Beziehung stehen. Es führt dazu, daß er sich gar nicht mehr spürt und zu seiner eigenen Wahrheit und zu seinem Wesen keinen Zugang hat. Mit Recht darf man von einer Verengung des Bewußtseins sprechen, wenn Intuition, Inspiration, Gefühle, Ergriffensein vom Transzendenten unbekannt sind. Die Beschränkung der Bildungskultur auf Willen und logisches Denken läßt das Leben veröden und nimmt ihm den tragenden Sinn.
Wer sich im Bereich Esoterik engagiert, bei dem/der darf man eine existentielle Not und Suche vermuten. Im Grunde braucht jeder etwas, das größer ist als er/sie selbst. Wer nicht mehr in die Tradition, die diese Funktion bisher hatte, eingebettet ist, wer entweder durch Entwicklung oder eine Krise den Anschluß verloren oder ihn nie gefunden hat, fühlt sich wehrlos und wie nackt unbekannten Kräften ausgeliefert. In der Zeit der Achtundsechziger Jahre sah man diese in den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, schob ihnen die Schuld am eigenen Unglück zu und sagte ihnen den unerbittlichen Kampf an. Heute spricht man in der Esoterik-Szene von kosmischen Kräften, von guten und bösen Geistern, Engeln und Dämonen.
Eine streng wissenschaftliche Sicht, welche Mächte und Gewalten in das Reich der Fantasie verweist, geht am eigentlichen Problem vorbei. Die Frage, ob das, was in esoterischen Zirkeln gehandelt wird, einer wissenschaftlichen Prüfung standhält, hilft nur bedingt. Es steht vielmehr die Tatsache im Mittelpunkt, daß sich der moderne Mensch im Grunde seiner Existenz Verunsicherungen ausgesetzt fühlt, die ihm die Wissenschaft nicht abnehmen kann. Oft ist es tatsächlich bloß Einbildung, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen läßt. Aber selbst reine Fiktionen können gewaltige Wirkungen auslösen. Was ist zum Beispiel, wenn ein Mensch von der Vorstellung gequält wird, er habe Krebs, obwohl alle Untersuchungen dagegen sprechen? Im Mittelalter hätte man sich als "verhext" gesehen. Man mag die Auffassung von Hexen und Dämonen weit von sich weisen und alle einsichtigen Argumente dagegen anführen, damit ist noch lange nicht die quälende Vorstellung beseitigt, es könnte doch sein.
Damit soll gesagt sein, daß man klar unterscheiden muß zwischen dem Inhalt einer Vorstellung und der inneren Verfassung eines Menschen. Noch so logische Argumente können einen krankhaften seelischen Zustand nicht verändern. Das bedeutet aber, daß es so etwas wie die Dynamik der unbewußten Seele gibt, welche eigenmächtig anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht.
So hat man mit großem Aufwand nachzuweisen versucht, daß die Vorstellung vom Teufel keine Grundlage in der Bibel hat. Aber es ist eine Illusion zu glauben, damit hätte man den Menschen auch die Angst genommen. Selbst wenn sie nicht mehr "Teufel" heißt, ist sie nicht geringer geworden. Sie hat andere Namen: Atombombe, Atomenergie, ökologische Katastrophe; vor allem ist es die Wissenschaft als solche, die zu fürchten ist; es ist gar nicht auszudenken, was geschieht, wenn alle Möglichkeiten, das Genom des Menschen zu verändern, ausgeschöpft werden und die Verfügung darüber in Hände gewissenloser Machthaber gelangt. Die Angst ist für viele ein ständiger Begleiter, welcher eine echte und tiefe Beziehung und menschliches Glück verhindert.
Nach wie vor ist der Mensch damit konfrontiert, daß fremde Mächte in sein Leben eingreifen und wesentlich sein Schicksal mitbestimmen ganz gleich, ob sie Dämonen oder Schutzgeister, Archetypen oder die Dynamik des Unbewußten genannt werden. "Der Mensch ist nicht Herr in seinem eigenen Haus" war eine große Entdeckung Freuds - eigentlich nur Bestätigung dessen, was die Naturvölker und das "finstere" Mittelalter immer schon wußten. Die bloße Leugnung einer außersinnlichen Wirklichkeit bzw. alles "Jenseitigen" durch die sogenannte Aufklärung hebt die Wirksamkeit irrationaler Mächte nicht auf.
Wer sich im Kreis der Esoterik bewegt und deren Faszination erlegen ist, wird vom Urteil der modernen Wissenschaft nicht berührt. Er tritt zum Gegenangriff an und sagt: Euer Denken kommt aus einem Weltbild, das nur die Außenseite der Wirklichkeit umfaßt. Die Innenseite hingegen, damit ist die Beziehung der Menschen zu sich selbst, zueinander und zur Schöpfung, d.h. ihre Erlebniswelt gemeint, bleibt bei aller Aufklärung im Dunkeln. Noch nie haben die Menschen so viel Wissen über die Natur angehäuft und noch nie hatten sie so viele Machtmittel in ihren Händen, aber den existentiellen Fragen, wie denen nach dauerhaftem Glück, nach Erfüllung und Sinn des Lebens, nach Bewältigung des Leids, nach einer friedvollen Zukunft auf der Erde stehen sie ratlos gegenüber.
Weil bei diesen Fragen, die in Lebenskrisen oft bedrohliche Ausmaße annehmen, die rationale Bildungsstruktur versagt, ebenso eine rational verstandene Theologie, suchen Menschen in ihrer Verzweiflung nach Ansätzen, die außerhalb des Herkömmlichen liegen, ganz gleich aus welchem Kulturkreis diese kommen.
Unterströmung und Hauptströmung
Es wurde schon gesagt, daß die Geistesgeschichte des Westens durchaus auch eine Innenseite kennt, die nach den Worten Jungs als Unterströmung, als eine nicht allgemeingültig anerkannte Richtung die geistige Entwicklung Europas in den letzten 2000 Jahren begleitete. Die Hauptströmung war seit dem ausgehenden Altertum zweifellos das Christentum und seine offizielle Lehre. Die Kirche sah es nicht als ihre Aufgabe, die Menschen zur eigenen religiösen Erfahrung hinzuführen, sondern zum Glauben an die Offenbarung Gottes und zum Einhalten der Gebote. Mit dem Erwachen des Geistes im 12. und 13. Jahrhundert ergab sich die rationale Durchdringung der "geoffenbarten Wahrheiten". Der Akzent wurde im Laufe der nächsten Jahrhunderte immer mehr auf streng logisches Denken und den Willen gesetzt. Die Entwicklung entfaltete schließlich eine Eigendynamik, in deren Verlauf kirchliches Lehramt und christliche Offenbarung ihre Bedeutung verloren. Das Ergebnis ist das Lebensgefühl des modernen Menschen, der stolz ist auf eigenständiges Denken, auf strenge Wissenschaftlichkeit, auf kritische Distanz gegenüber überlieferten Werten und religiösen Vorstellungen. Die immer breitere Ausprägung der Individualität führte zur Sensibilisierung für die Rechte des einzelnen und zur Formulierung der Menschenrechte. Sie sind ohne Zweifel das positive Ergebnis dieser Entwicklung und werden deshalb auch in außereuropäischen Ländern eingefordert. Im Bild gesprochen befindet sich die Menschheit auf ihrem Marsch durch die Jahrtausende auf dem Gipfel eines Berges.
Es wird aber immer offenkundiger, daß dieser Aufstieg mit großen Verlusten erkauft ist. Die Ausformung der Individualität, der Zuwachs an Freiheit für den einzelnen in einem nie gekannten Ausmaß ist zugleich mit unerträglicher Einsamkeit erkauft. Um im Bild zu bleiben: es ist fast so, als ob jeder für sich auf einem Gipfel stünde - unerreichbar für jeden anderen. Man kann auf die Dauer auf der Spitze eines Berges nicht leben. Der Vorrat an Wasser und Nahrung ist begrenzt; es wird einem die Luft zu dünn. Um konkret zu werden: den Menschen, die heute den Standard an intellektueller Bildung, an beruflichem Erfolg, an Leistung und Karriere erreicht haben, geht allmählich die Luft aus. Sie kommen mit ihren Gefühlen nicht mehr zurecht. Sie können nichts mehr empfinden für die, mit denen sie leben, für den/die Lebensgefährten/in, noch weniger können sie den Kindern die nötige Nähe und Aufmerksamkeit geben. Oft fehlt die Kraft zu allem. Sie fühlen sich von ihrer Arbeit überfordert. So ist die Zahl der Frührentner ständig im Wachsen. Was solche Menschen bräuchten, ist dies: einmal vom Gipfel der Anstrengung, der überhöhten Ziele, der Einseitigkeit der Beanspruchung durch Intellekt und Arbeitsdisziplin herabsteigen, sich niederlassen und ausruhen.
Auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß der Markt für die vielfältigsten Formen der Selbsterfahrung gerade aus nichteuropäischen Kulturen blüht, ob sie nun Joga, Tantra, Ayurveda oder Zen heißen. Sie sind deshalb so beliebt, weil sie die Einseitigkeit einer rein rationalen Einstellung, vor allem die Eintönigkeit der Arbeitswelt durchbrechen, vom angestrengten Machen zum Zulassen und Geschehenlassen hinführen, von der gespreizten Distanz zur unkomplizierten Nähe (Jeder wird sofort mit "Du" angesprochen).
In den Esoterik-Zeitschriften kann man lesen, daß vielen eine neue Welt aufging, als sie an solchen Kursen teilnahmen.; daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Lebenskraft und Lebensfreude gespürt hätten. In einem gewissen Sinn kann man das Angebot im Bereich der Esoterik als eine Art Gegenkultur zur modernen, europäisch geprägten Zivilisation sehen. Es herrschen andere Akzente und Wertvorstellungen.
Wichtige Kennzeichen sind wahrnehmen, was ist im Hier und Jetzt, und nicht ferne Ziele anstreben; ein anderer Umgang mit der Zeit - sich Zeit gönnen - anstatt gehetzt schon auf das nächste Ereignis starren; der bewußte Genuß dessen, was das Leben zu bieten hat von Essen und Trinken bis zur Sexualität. Eingeschlossen ist damit die Entdeckung und Annahme des Leibes in seiner Bedeutung für das gesamte Lebensgefühl auch für das Geistige und Religiöse. Man fürchtet bzw. vermutet, daß man eine Körpererfahrung für ein religiöses Erlebnis hält. Dazu gab es sogar eine kirchliche Verlautbarung von höchster Stelle. In Wirklichkeit sind etwa Joga und Zen durchaus Möglichkeiten, das Religiöse als solches bei ausgebrannten, erstarrten Menschen zu wecken.
Sogar in der Wirtschaft hat man die Bedeutung erkannt, die andere Seite des Menschen zu beachten und zu pflegen. Es gibt Angebote für Manager zu Themen wie Spiritualität und Sinnfindung, die zwar nicht unter dem Stichwort Esoterik laufen, aber doch dem drängenden Bedürfnis nach Tiefenerfahrung des Daseins und nach erfülltem Leben entsprechen. Wenn dabei erschreckend hohe Preise gezahlt werden (600 bis 1000 DM pro Tag), sagt es zwar nicht unbedingt etwas über die tatsächliche Qualität der Veranstaltung, wohl aber etwas über den Stellenwert in einer Welt, wo alles nach Zahlen - sprich nach der Höhe des Preises eingeschätzt wird.
Aus der Sicht der Tiefenpsychologie ist die Faszination der Esoterik und vor allem, was ihr zugerechnet wird, dadurch bedingt, daß im Laufe der Bewußtseinsentwicklung des europäischen Menschen vom Altertum über das Mittelalter in die Neuzeit der Bereich des Erlebens, der Gefühle und der religiösen Erfahrung allmählich ins Unbewußte abgedrängt wurde. Ausdruck dafür sind Rechtsprechung und Arbeitsdisziplin. Bei ihnen dürfen Gefühle keine Rolle spielen. Aber auf ihnen beruhen Rechtsstaat und Wohlstand. Was aber lang abgeschnürt und abgespalten wurde, gewinnt eine umso stärkere Dynamik. Das ist die bittere Lebensgeschichte vieler.
Jung überträgt seine Beobachtungen an einzelnen auf das Leben der Völker und kultureller Traditionen. Nicht nur der einzelne, ganze Nationen haben ein Unbewußtes, welches das alles enthält, was im Laufe der Geschichte der Verdrängung anheimfiel, aber auch das, was an schöpferischen und zerstörerischen Kräften vorhanden ist. In uns selbst ist der archaische Mensch, also der, welcher nach den Gesetzen der Esoterik "funktioniert". Ihm zu begegnen und ihn mit dem modernen Menschen zu versöhnen, sah Jung als Aufgabe seiner therapeutischen Tätigkeit.
Wie immer man die Dinge sehen mag, man sollte die gewaltige Kraft, die in den esoterischen bzw. fernöstlichen Ansätzen der Selbsterfahrung steckt, beachten. Sie entspricht genau dem Bedürfnis des einzelnen in der zweiten Lebenshälfte nach Vertiefung; das bedeutet sich der Innenseite des Lebens zuzuwenden, dem, was bisher vernachlässigt und beiseite geschoben wurde: den noch schlummernden Ressourcen der eigenen unbewußten Seele, dem Drang nach innerer Einheit und Geschlossenheit, vor allem nach Erfahrung der Transzendenz. Der Reifungsweg zum größeren Umfang, sogar zur Ganzheit der Persönlichkeit verlangt, daß das Unbewußte sich öffnet und daß man mit dessen noch blinder Dynamik in Kontakt kommt bzw. sich davon anstecken läßt. Der nächste Schritt ist aber, daß wir in Worte fassen, was in uns und mit uns geschieht. Erst das Aussprechen befreit und schafft Nähe in Bewußtheit und ohne neuen Zwang. Das bloße Eintauchen in den neuen, faszinierenden Erlebnisstrom führt zu neuen Abhängigkeiten.
Die Aufgabe besteht darin, die Kraft des Unbewußten mit dem Licht des Bewußtseins zu verbinden. Wir dürfen den erworbenen Stand des Denkens, der Unterscheidungsfähigkeit, der Freiheit und Selbstständigkeit nicht verlieren.
Mit den Worten des alten Indianers würde es in abgewandelter Form so lauten: "Mit dem Herzen denken" (Don Juan) - hinzuzufügen ist: "Aber den Kopf nicht verlieren".
Zaunpfähle gegen die Überschwemmung?
Die Beiträge in verschiedenen theologischen Zeitschriften zum Thema Esoterik laufen meist darauf hinaus, aufzuzeigen, wie widersprüchlich und gegen jede rational verantwortete Einsicht die Denkansätze der neuen Weltanschauungen sind. Solche Veröffentlichungen erreichen aber nur die Leser, welche ohnehin auf derselben Seite stehen. Sie greifen nicht bei jenen, welche auf der emotionalen und spirituellen Ebene, Lösungen für ihre Probleme suchen. Um ein Bild zu gebrauchen: Pfosten und Zäune können Grenzen aufzeigen und Menschen und Tieren den Zutritt zu einem Grundstück verwehren, nicht aber dem eindringenden Wasser. Wenn man mit gutbegründeten Analysen und in sich stimmigen Argumenten gegen die neuen Strömungen vorgeht, so mögen das klar sichtbare Pfosten und Zäune sein, aber die Überschwemmung aus dem Reich des Irrationalen wird man damit nicht aufhalten.
Die bisherige Reaktion von kirchlicher und theologischer Seite hat offensichtlich auf das weitere Ausufern der Esoterik-Szene kaum Einfluß. In den Diözesen wurde die Stelle eines Sektenbeauftragten geschaffen, der gewiß gute Hinweise auf manche Scharlatanerie gibt und vielleicht sogar den/die eine/n oder die/den andere/n aus den Fängen von Verführern befreit hat. Die noch so gut geleistete Arbeit eines einzelnen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Interesse für Innenerfahrung, für neue spirituelle Wege außerhalb der Kirche eine nicht mehr zu überhörende Anfrage an die Art zu glauben und zu lehren in der gesamten Kirche ist. Die Versuchung ist groß, das Problem an einen einzelnen zu delegieren und es damit als erledigt zu betrachten.
Eines sollte deutlich werden: Argumentatives Vorgehen gegen Esoterik-Engagierte ist in den meisten Fällen von vornherein zum Scheitern verurteilt - einfach weil die gemeinsame Plattform fehlt. Es liegen verschiedene Denkmodelle vor. Gründe, die uns einleuchten, überzeugen noch lange nicht die andere Seite. Man redet aneinander vorbei.
Ein Weg zueinander wird nur dann möglich, wenn man, wie schon erwähnt, die Motivation für Esoterik ernst nimmt.
Es läßt sich nicht leugnen: Den Menschen, welche sich für esoterische Wege interessieren, brennen Lebensfragen unter den Nägeln, auf die sie im Raum von Theologie und Kirche keine Antwort finden. Anstatt sich auf inhaltliche Auseinandersetzungen zu stürzen und sich daran festzubeißen, ist es fruchtbarer, das Suchen der Interessierten als solches und die Faszination ernst zu nehmen und zum Thema zu machen. Anstatt fremde Lebensentwürfe und Zugänge zur Wirklichkeit zu widerlegen, sollten wir erst einmal fragen: Was bewegt Menschen, die bei ungewohnten Zugängen zur Wirklichkeit Zuflucht suchen? Damit öffnen wir uns für das Gespräch mit der nichtkirchlichen und nichtchristlichen Szene und sind auf dem Weg, die gewaltige Herausforderung des modernen Zeitgeistes anzunehmen. Es geschieht dann etwas auf der anderen Seite, wenn in uns selbst etwas geschieht.
Die vergessene Herausforderung
Die Schlachten um geistige Orientierung, d.h. um das, was in der Zukunft gedacht und als richtig eingeschätzt wird, werden im Hinblick auf Esoterik nicht auf der intellektuellen sondern auf der existentiellen Ebene entschieden. Es ist ein Gefälle der Gefühle und des ganzheitlichen Betroffenseins, nicht das nüchterne emotionsfreie Abwägen, welches Menschen zum Beitritt einer Sekte oder zur Annahme (für Außenstehende) absurder Theorien bewegt. Die Verunsicherten und Krisengeschüttelten suchen jeweils ein stärkeres Erleben, das sie der Last von Einsamkeit und Sinnlehre entreißt.
Bei Vertretern der neuen Religionen oder von Gruppen mit pseudoreligiösem Anspruch fällt ein Dauerlächeln auf ihren Gesichtern auf. Ehemalige Mitglieder berichten, daß sie mit äußerster Zuvorkommenheit empfangen und ihnen als Neulinge die Aufmerksamkeit und Zuwendung aller geschenkt wurde. Dazu kam meist ein ständiges Aufgewühltwerden in euphorischen Zuständen, mit Klatschen und Jubelrufen - und durchaus intensive religiöse Erfahrungen - ein Bereich, der dem größeren Teil der jungen Menschen unbekannt ist und der gerade deshalb seine Faszination ausübt. Neuheitserlebnisse auf diesem Gebiet können sehr tief gehen und eine ganze Persönlichkeit verändern.
Die Ratlosigkeit und die allgemeine Lähmung innerhalb des traditionellen Christentums im Hinblick auf die stärkste Konkurrenz seit Jahrhunderten mag darin ihren Grund haben, daß theologische Ausbildung an den emotionalen und existentiellen Bedürfnissen der Menschen von heute so ziemlich vorbeigeht. Die Wahrheit, die Jesus vertreten hat, war jedoch keine abstrakte Lehre, sondern höchst personal - sie war sogar er selbst (Joh 16, 6). Der gewaltige Aufstieg irrationaler weltanschaulicher Bewegungen macht den Mangel an spiritueller Erfahrung und personaler Überzeugungskraft im Raum der Großkirchen offenbar. Allein die Tatsache, daß auf dem Ladentisch der renommiertesten Buchhandlung einer Stadt nicht theologisch-kirchliche, sondern esoterische, religionspsychologische und buddhistische Zeitschriften aufliegen, welche religiöse Themen sehr geschickt und anregend darstellen, müßte aufhorchen lassen. Hier kann man als unvoreingenommener Leser sogar Appetit auf Religion bekommen. Allerdings ist von Christentum kaum die Rede und wenn, dann ablehnend oder in einer Form, die den Rahmen der christlichen Tradition weit sprengt. Es finden sich dort Beispiele von leidenschaftlicher Gottsuche wie jene eines österreichischen Lehrers und Therapeuten, der mit letzter Konsequenz es wissen wollte, ob Gott existiert (5). Solche Berichte, gekonnt aufgemacht, faszinieren und sprechen ein Publikum an, welches der herkömmlichen Christenheit äußerst distanziert gegenübersteht. Es müßte nachdenklich stimmen, daß dieselbe Buchhandlung den Namen eines Verlages trägt, in dem Meßbücher gedruckt werden. Anscheinend ist das christlich-kirchliche Angebot an Zeitschriften so wenig attraktiv, daß es keinen Platz auf dem Ladentisch hat. Läßt das den Schluß zu, daß die Kraft des Religiösen aus der Kirche ausgewandert ist?
Selbst wenn man mit manchem nicht einverstanden ist - daß zum Beispiel fast nur strahlende, meist jüngere Gesichter zu sehen sind, daß menschliches Leid mit Religion nichts zu tun zu haben scheint - wäre es ungerecht, hier von einer Spiritualität ohne Gott zu sprechen. Weiterführend ist, hier eine gewaltige Herausforderung für uns kirchliche Christen zu sehen und sie anzunehmen. Damit müssen wir uns die Frage stellen: Mit welchem Potential an geistiger, spiritueller und emotionaler Wirksamkeit können wir der Esoterik-Szene entgegen treten? Welche Mittel und Wege gibt es, um dieses Potential in uns selbst zu erschließen? Eines läßt sich jedenfalls sagen: Es geht nicht auf der rein akademisch - intellektuellen Ebene und nicht ohne volles persönliches Engagement. Damit ist gemeint, daß wir die Fragen, welche Esoterik- und Alternativ-Interessierte bewegen, als unsere eigenen erkennen und uns von ihnen genauso umtreiben lassen. Im Grunde (der Seele und der Welt) geht es darum, daß wir uns den Anfragen unseres eigenen Lebens stellen, nicht in vordergründige Erklärungen und Unterschätzung der Problematik ausweichen und, selbst unbeteiligt, Lösungen für andere suchen. Es ist genau das Problem, das Goethe im schon zitierten Faust darstellt. Nicht die Wissenschaften können ihm, dem "alle Freud entrissen ist", das befreiende, beglückende und sinnstiftende Erleben vermitteln; er muß sich vielmehr auf die Lebensprozesse als solche einlassen, bis nach aller Dramatik, nach allem Auf und Ab, der Augenblick da ist, der ihn voll erfüllt.
Der bekannte Theologe Professor Eugen Biser sieht als Hauptgrund der Entfremdung des Menschen vom Glauben "die Unfähigkeit der Kirche, auf seine Sorgen verstehend einzugehen, seinem vielfach frustrierten Glücksverlangen entgegen zu kommen und ihm in seiner Überforderung, Vereinsamung und Lebensangst einen Raum des Aufatmens, der Solidarität und Geborgenheit zu bieten" (6).
Es wäre ein Mißverständnis, durch diese Feststellung sich neue Lasten aufladen und sich ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Vielmehr können wir diesem berechtigten Vorwurf nur dann gerecht werden, wenn jeder seiner eigenen Problematik ins Auge schaut, seiner Überforderung, seiner Angst und seiner Einsamkeit, und sich dem Prozeß der Heilung aussetzt. Nur auf diese Weise wird das Potential geweckt, mit der wir der Esoterik-Szene erfolgreich entgegentreten können. Hilfestellung für andere zu finden ist nur dann möglich, wenn man die Nöte des Lebens am eigenen Leib ausgetragen hat. Das beste Argument - ein Damm, und nicht nur Zaunpfähle - ist die eigene reflektierte und bearbeitete Lebensgeschichte.
Auf der anderen Seite macht es durchaus Sinn, sich in die Lebenssituation anderer Menschen hinein zu versetzen - in ihre Angst vor der Zukunft, in ihre Überforderung, in ihre Sinnlehre und Depression, in ihre Einsamkeit und ihre Sehnsucht nach dauerhaftem Lebensglück.
Mit Einsamkeit ist mehr gemeint als der unerfüllte Wunsch nach Nähe zu einem verständnisvollen Lebenspartner. Worunter Menschen heute leiden, könnte man als seelische Heimatlosigkeit und Entwurzelung bezeichnen. Die Einbindung in eine lebendige Religion ist abgerissen oder nie geschehen. Die Symbole in der Welt der kirchlichen Tradition wie Festtage, Gottesdienste, Riten erscheinen überholt und veraltet. Sie sind vielfach zu bloßen Formeln erstarrt und müßten erst erschlossen werden. So findet die Seele keinen Raum, wo sie ausruhen und sich ausbreiten könnte. Um so größer sind die Erwartungen an das Glück im ganz kleinen Kreis oder an ein Leben zu zweit. Ob nun innerhalb oder außerhalb der Kirche, Tatsache ist, daß immer mehr Menschen an einem Zustand des "Stecken -Bleibens" oder "Festgefahrensein" leiden. Es ist, als ob sich die Seele aus allem entfernt hätte. Man hat keinen Schwung bei der Arbeit, das Gespräch zwischen den Lebenspartnern verstummt, es fehlen Einfälle, sein Leben mit Freude kreativ zu gestalten. Die Gefühle sind wie vertrocknet, es findet kein Austausch statt, auch nicht im sexuellen Bereich; alles ist wie verödet. Statt einander Hilfe und Stütze zu sein, wird man einander zur Last. Man fühlt sich überfordert von anderen, von den Kindern und vom Beruf. Damit geht die Angst einher, nicht zu genügen vor dem, was auf einen zukommt, vor dem eigenen Schicksal, vor den Veränderungen in der Arbeitswelt. Selbst gläubige Menschen sind verunsichert durch die verschiedensten gegensätzlichen Meinungen und die Polarisierung im altgewohnten, heimatlichen religiösen Raum.
Die Suche der Menschen geht heute der Frage nach: Wo eröffnet sich eine Möglichkeit, den seelischen Stillstand zu überwinden, die Totenstarre zu lösen, in sich wieder Lebendigkeit zu spüren, einen festen Grund unter sich und Kraft in sich, neu erfüllende Nähe und Austausch zu erfahren; nicht zuletzt ist es die Sehnsucht nach der religiösen Tiefe, nach der mystischen Dimension außerhalb des Alltäglichen, nach Ausbrechen aus einem verengten, schablonenhaften, rein rationalen Weltbild. Man könnte es eine Suche nach Gott nennen, aber die Betroffenen würden dieser Bezeichnung kaum zustimmen. Denn mit dem Begriff "Gott" verbinden sie ein abstraktes Wesen jenseits dieser Welt, unerreichbar und unzugänglich - das, obwohl mit Allmacht ausgestattet, die Menschen ihrem Schicksal überläßt. So ein Gott ist nicht anziehend und kann nicht Grund für leidenschaftliche Suche sein. Wenn schon das Ziel des oft verzweifelten Strebens "Gott" genannt wird, dann muß er innerhalb dieser Welt sein, nicht ein Feind der Gefühle, sondern deren Anwalt, nicht ein Wesen der abstrakten Begriffe, sondern der unmittelbaren Erfahrung.
Unvergessen bleibt mir der Bericht einer Frau über eine Gottesbegegnung im Alter von vierzehn Jahren. Es war auf einem Traumkurs, wo sie nach 25 Jahren zum ersten Mal offen über dieses Erlebnis reden konnte. In ihrer Stimme und in der ganzen Art der Erzählung war noch etwas zu spüren von der Wucht und dem Glück dieses Ereignisses, von dem Schmerz, mit diesem Einbruch in ihr junges Leben jahrelang allein gewesen zu sein. Sie konnte es niemand erzählen, nicht den Eltern, nicht der besten Freundin, auch nicht ihrem Mann, weil sie das berechtigte Gefühl hatte, von niemand verstanden zu werden, statt dessen fürchten mußte, für verrückt erklärt zu werden. Gerade von den Kindern war sie am meisten enttäuscht. Sie fand keinen Seelsorge, der nur annähernd auf das eingegangen wäre, was sie bewegte. So mußte sie ihr kostbarstes, wichtigstes und schönstes Erlebnis als ungelöstes Geheimnis, das sie isolierte, mit sich herumtragen. Es kam so weit, daß sie ernsthaft an sich zweifelte, ob alles doch nur Einbildung gewesen sei; fühlte sich minderwertig und wie ausgestoßen. In der Selbsterfahrungsgruppe jedoch spürte sie den Rahmen, wo sie sich öffnen und Verständnis finden konnte. Es wurde ein Beitrag, der alle bewegte und aufhorchen ließ und ganz wesentlich das weitere Gruppengeschehen bestimmte. Man hatte den Eindruck, daß sich hier der Raum des Heiligen aufgetan hatte: eine wohltuende Stille in den Pausen des Gesprächs Achtung vor dem, was gesagt wurde; eine Nähe und Harmonie und doch die Freiheit, einander nicht festhalten zu müssen. Gerade durch die schmerzvolle Geschichte, mit dem ihr Gotteserlebnis verbunden war, gab der Erzählung ein besonderes Gewicht. Für die Frau war es beglückend zu erfahren, daß sie mit ihrem außergewöhnlichen Ereignis nicht mehr außerhalb stand und sich wie anormal vorkommen mußte, sondern daß sie in einer Gruppe von suchenden und durchaus kritischen Menschen ernst genommen und integriert wurde.
Zurück bleibt allerdings die Frage, wie es mit einer Theologie bestellt ist, wenn ein solches Thema nicht vorkommt bzw. wenn Seelsorger nicht befähigt werden, damit umzugehen. Bei aller Treue zur Tradition, bei allen Klugen Analysen der Gegenwart, bei allem Engagement für gesellschaftliche und soziale Probleme sollte vornehmlich der Blick dafür geschärft werden, daß Menschen heute "Religion pur" suchen; sie möchten mit aller Radikalität wissen, was der letzte Grund ihrer Existenz ist. Anders ist es nicht zu erklären, daß so häufig, wie ich es in Selbsterfahrungskursen erlebe, das Thema der Gotteserfahrung unter Tränen und großem Schmerz vorgebracht wird; es wäre auch recht vordergründig zu meinen, Menschen, die buddhistische Klöster in Nepal, Thailand und Japan aufsuchen, würden nur ihrem Drang nach Exotischem folgen. Warum sollte man nicht eine Sehnsucht nach seelischer Tiefe und Transzendenz vermuten, wenn sie sich der absoluten Abgeschiedenheit und Stille aussetzen und sich fremden Riten unterwerfen? Aufgeschlossenen Besucher spüren in den Zentren einer jahrtausendealten Kultur die ungebrochene Kraft des Religiösen. Zu denken wäre an die Zeit des Hochmittelalters im christlichen Europa, wo die religiöse Erfahrung die Menschen zuinnerst prägte und sie zu gewaltigen Leistungen antrieb. Man könnte mit Einschränkung sagen, daß die Länder des fernen Ostens zumindest im Hinblick auf ihre Religion im Mittelalter sogar noch im Altertum stehen mit allen Vorzügen aber auch mit allen Nachteilen. Gewiß ein Grund für eine mächtige Faszination.
Die Frage bleibt: Wo ist heute die Kraft des Religiösen im christlichen Raum?
Es gibt Zentren des christlich geprägten spirituellen Lebens, in denen auch Menschen von heute - gewiß nicht alle - Zugang finden. Für viele ist das Christentum durch Vorprägungen und Vorurteile entwertet und verschlossen. Am bekanntesten ist die Gemeinschaft von Taizé, die jedes Jahr Tausende junger Leute durch ihren erlebnisstarken, ergreifenden Gottesdienst anzieht. Zu bemerken ist, daß die Teilnehmer hier nicht in abgehobene Euphorie versetzt werden, sondern daß hier echte spirituelle Tiefe wirkt. In vielen Orten gibt es kleine Gruppen, die ihr Taizé-Erlebnis durch regelmäßiges Beten und Singen in den Alltag hineintragen.
Außer Taizé gibt es viele Stätten des religiösen Aufbruchs; Veranstaltungen, Seminare, Eucharistiefeiern in Kirchen und Klöstern. Die Einladung dorthin wird meist durch Mundpropaganda weiter getragen - ein Zeichen, daß religiöse Kraft die Menschen anzieht. Meist stehen Fragen im Mittelpunkt, die das Leben berühren und ausmachen. Man fühlt sich verstanden, ist innerlich beteiligt und geht erfüllt und beglückt weg. An der Art, wie ein Prediger über Texte spricht, merkt man, ob er auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann, ob er sich selbst der Einsamkeit, der Angst und dem Zweifel gestellt hat, ob er um die Erlebniswelt seiner Zuhörer weiß, weil er die eigene kennt. Hier ist der Punkt, wo christliche Verkündigung anfängt, nicht mehr auf Dauerrückzug zu sein und nicht mehr fremden Strömungen das Feld zu überlassen.
Wir setzen dem blinden auswuchernden Trachten nach sensationellen Neuheitserfahrungen, nach euphorischen Zuständen, aber auch nach einer falsch verstandenen Religiosität am ehesten dadurch eine Grenze, daß wir Themen aufgreifen, die im Raum der Esoterik maßgebend sind, sie durchleben und durchleiden und aus einem verantworteten geistigen Hintergrund gangbare Wege aufzeigen. Um sie kurz zusammenzufassen: es ist die Suche nach Einheit von allem, nach einem Zuhause in der Verlorenheit einer technisierten Welt; es ist die Sehnsucht nach etwas Größerem als was man selbst ist; nach etwas, was einen der Einsamkeit und dem seelischen Druck, der Angst vor der Zukunft und vor der Vergänglichkeit entreißt. Es ist die Ahnung, daß es noch andere Zugänge zur Wirklichkeit gibt, vielleicht auch ein Dasein, das dieses Leben übersteigt.
b.Esoterik und ihre gefragten Themen
1. Die Einheit der Welt - Heimat gegen Verlorenheit
"Die Welt um uns her ist ein Geheimnis", sagte er. "Und wir Menschen sind nicht besser als alles übrige. Wenn eine kleine Pflanze uns gegenüber großzügig ist, müssen wir ihr danken, sonst wird sie uns vielleicht nie mehr in Ruhe lassen" (7).
Dieses Zitat ist ein Ausschnitt aus dem Gespräch von Carlos Castaneda mit dem alten Indianer und Medizinmann Juan Matus. In den siebziger Jahren haben die Bücher Castanedas über seine Begegnung mit dem indianischen Zauberer und spirituellen Meister Don Juan weltweites Aufsehen erregt und vor allem jüngere Menschen massenhaft begeistert. Eine Vorlesung über dieses Thema auf der Lindauer Psychotherapiewoche im Jahre 1981 war das eindruckvollste Ereignis dieser Tage. Dem Vortragenden gelang es, etwas von der numinosen, man kann auch sagen religiösen Kraft der Ureinwohner Amerikas spürbar werden zu lassen. An die 400 Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzte, die gewöhnlich am allerwenigsten etwas von Religion halten, horchten 90 Minuten ergriffen den Ausführungen zu. Allein schon dieses Phänomen verdient Beachtung; denn es gibt außer Eugen Drewermann, im kirchlich - christlichen Raum kaum jemand, der so bewegend und nachhaltig von religiösen und existentiellen Themen sprechen kann. "Die Welt um uns ist ein Geheimnis", ist die Botschaft
des alten Indianers; auch einer kleinen Pflanze sind wir Menschen verpflichtet, wenn sie uns gegenüber großzügig ist. In abstrakter Rede ausgedrückt, würde diese Sicht etwa so lauten: Es besteht eine Einheit von Mensch und Kosmos und Gott. Es gibt einen geistigen Grund der Welt - auch Weltseele genannt -, dem wir uns nicht durch logische Beweisführung, sondern nur durch je eigene Erfahrung nähern können. Wer dem rein wissenschaftlichen Denken verhaftet ist, wird hier aussteigen - müßte man meinen. Der Vorgang bei der genannten Veranstaltung zeigt aber, daß sich gerade derart Gebildete sich von der mythischen Welt der Indianer ergreifen ließen. Hier wurde eine ganz andere Ebene als die akademisch-rationale angesprochen. Die volle Aufmerksamkeit und absolute Aufnahmebereitschaft waren nur möglich, weil die Zuhörer in der Tiefe ihrer Existenz erreicht wurden. Es war kein trockenes Referat über indianisches Schamanentum, sondern die Botschaft von der geheimnisvollen Einheit der Welt. Und diese wurde unmittelbar gegenwärtig. Der geistige Grund der Welt wurde in dieser Stunde im Rathaussaal von Lindau lebendig. Die Menschen gingen nachdenklich, aber erfüllt und beglückt weg. Sie waren an die Tiefe ihres Selbst angeschlossen worden, an denselben geistigen Boden, auf dem die Geschichte von Don Juan und Carlos Castaneda sich ereignet hat. Man könnte auch sagen: das Erlebnis dieses Vortrags war deshalb so bereichernd und wohltuend für sie, weil ihre Sehnsucht, aus der Verlorenheit in die Einheit mit sich selbst und mit der Welt zu kommen, zumindest in diesen Momenten erfüllt wurde.
Es gibt auch andere Augenblicke, wo man begreift, was mit Einheit von Mensch, Kosmos und Gott gemeint sein kann; Erlebnisse - z.B. ausgelöst durch die Passage eines Musikstücks, durch eine abendliche Stimmung in der freien Natur oder durch eine tiefe Begegnung - wo wir in dieser Welt zuhause sind, wo wir uns Menschen, der Schöpfung und Gott zugleich nahe fühlen.
Das bekannteste und überzeugendste Beispiel eines solchen Zustandes ist der Sonnengesang des hl. Franziskus. Selbst wenn man aus seinem Leben nichts wüßte, könnte man aufgrund des Textes darauf schließen: dieser Mann stand an dem Punkt, wo sich Gott, Mensch und Schöpfung berühren. Weil er erfüllt ist von der Gegenwart Gottes, oder: weil er angeschlossen ist an den Urgrund seiner Seele und der Welt, erkennt er die Sonne als Spiegelbild seines inneren Lichtes, empfindet er Mond und Sterne als kostbar, die Erde als nährende Mutter, den Wind und die Wolken als angenehme Begleiter. Die Natur ist nicht mehr ein gefährliches Ungeheuer, das es zu bekämpfen oder zu überlisten gilt. Selbst die dunklen Seiten, von denen Menschen gequält werden, Feindschaft, Krankheit, Leid und Tod sind nicht mehr unüberwindbar für einen, der in den Erlebnisraum des Heiligen eingetaucht ist. Wir hätten das beste Mittel gegen das gefürchtete Abdriften in magische, fremde, undurchschaubare spirituelle Praktiken, wenn wir dieses einzigartige Lied des hl. Franziskus so singen könnten wie er, mit derselben Freude und Hingabe, mit demselben Gefühl, in dieser Welt zuhause zu sein.
Sehr aufschlußreich ist, daß die Gestalt des hl. Franziskus auch Menschen aus anderen Religionen fasziniert. Überliefert ist die Begegnung mit dem Sultan, der ihn mit großer Achtung empfing. In der Lebensbeschreibung Thomas von Celano heißt es: "Er erkannte in ihm etwas ganz anderes als in gewöhnlichen Menschen, und von seinen Worten im Innersten berührt, hörte er ihm gerne zu" (8). Der Sultan muß etwas gespürt haben, was auch ganz und gar das Seine war. Eine eindrucksvolle Begebenheit, die zeigt, wie Grenzen zwischen Kulturen und Religionen durch eine bestimmte Art des Daseins durchlässig werden.
In unserer Zeit sind Zen-Meister und Buddhisten aus Japan zu nennen, welche die Welt des hl. Franziskus entdeckt haben. In Japan gibt es eine reiche Literatur über den Heiligen aus Assisi. Das ist in der Tat Grund genug, über das Wesentliche der Religionen nachzudenken und gerade den fernöstlichen, welche gewöhnlich unter Esoterik eingereiht werden, Achtung und Aufmerksamkeit zu schenken. Vieles spricht dafür, daß Menschen auf dem Zen-Weg auf ihre Weise dorthin gelangen, wo der hl. Franziskus stand.
Die Indianer nennen diesen Punkt bzw. Erlebnisraum die "Mitte der Welt". "In die Mitte der Welt hast du mich geführt", betet "Schwarzer Hirsch", Medizinmann der Sioux, am Ende seines Lebens zum Großen Geist und meint damit seine Vision in jungen Jahren, in der "er auf heilige Weise die Gestalten aller Dinge im Geiste, und die Gestalt aller Gestalten, wie sie zusammenleben müssen, schaute" (9).
"Die Gestalt aller Gestalten" erinnert an die Aussage vom Logos, dem Zentrum allen Lebens und allen Lichts, "durch den alles geschaffen ist" (Jo 1, 3). Oder die Stelle im Kolosserbrief, "daß in ihm (Christus) alles erschaffen ist, was im Himmel und auf Erden ist. ...Und er ist vor allem, und das All hat in ihm seinen Bestand" (Kol 1, 16,17). Wir dürfen mit gutem Grund annehmen, daß hinter den Aussagen des frühchristlichen Schreibers wie hinter denen der Indianer und des Sonnengesangs Erfahrungen der Einheit von Mensch, Gott und Kosmos stehen. Auf dieser Basis konnte die Vorstellung entstehen, daß der Mensch eine Welt im Kleinen (Mikrokosmos) ist, der die Welt im Großen (Makrokosmos) entspricht. Es ist eine Sicht der Wirklichkeit, die bei Naturvölkern, in alten Kulturen und im christlichen Mittelalter verbreitet war, die aber heute der Esoterik zugerechnet wird. Bei Nikolaus Cusanus, dem bedeutendsten Kirchenmann und Philosophen des 15. Jahrhunderts, lesen wir: "Der Mensch ist aber auch die Welt" (10). Dem großen Denker des ausgehenden Mittelalters ging es um die Einheit aller Dinge, welche er intuitiv wahrnahm. Er hätte sich wahrscheinlich mit dem alten Weisen der Sioux aus dem 19. Jahrhundert gut verstanden, der diese Grundannahme auf folgende Weise ausdrückt:
"Das Herz des Menschen ist ein Heiligtum.
In seiner Mitte befindet sich ein kleiner Raum,
in dem das große Geheimnis wohnt...
Der Mensch trägt das Weltall in der Mitte seines Herzens." (11)
Für viele sind solche Sätze nichts als Fantasie. Die große Aufnahmebereitschaft für diese ganz andere Sichtweise von Mensch und Kosmos gerade bei akademisch Gebildeten läßt aber darauf schließen, daß hier - in mythologischer Weise - eine Wahrheit ausgesprochen wird, die im engen rationalen Rahmen der Wissenschaftlichkeit verlorenging. Wenn das Herz des Menschen ein Heiligtum ist, wenn darin das große Geheimnis wohnt, wenn er das Weltall in der Mitte seines Herzens trägt, dann hat der Mensch nicht wegen seiner großen Leistungen, sondern wegen seines Herzens unantastbare Würde; dann ist jeder Mensch eine unendliche Größe und Kostbarkeit, so groß wie das Weltall. Wir können die uns umgebende Welt nicht losgelöst vom Innern des Menschen betrachten, ohne uns selbst und die Schöpfung auseinander zu reißen und zu zerstören.
Ergänzend sei auch noch ein Text angefügt, der in der Spätantike in Ägypten entstanden ist und das Grundgesetz der abendländischen Esoterik enthält. Seine Hauptaussage betont ebenfalls die Einheit von allem.
"Es ist wahr, ohne Lüge, sicher und gewiß.
Was oben ist, ist gleich dem, was unten ist, um die Wunder des Einen zu vollbringen.
Und wie alle Dinge aus einem sind, aus dem Denken des Einen, sind auch die gewordenen Dinge durch Entsprechung aus diesem Einen entstanden" (12).
Wenn wir statt "unten" und "oben" "außen" und "innen" sagen, wird einiges verständlicher. Es ist etwas daran, daß das Innere eines Menschen, d.h. wie er denkt, von welchen Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten er besetzt ist, auch das Äußere beeinflußt. Die Wahrnehmungspsychologie hat nachgewiesen, daß jeder Mensch einen inneren Rahmen hat, nach dem er die Dinge auswählt, sie einordnet und ihnen Bedeutung verleiht; und dieser veranlaßt ihn in bestimmter Weise auf eine Situation zu reagieren. Ein Wort zum Beispiel, das für den einen völlig harmlos ist oder sogar etwas Vertrautes darstellt, kann bei einem anderen Angst oder Zorn auslösen. Denken wir an Begriffe wie Selbstverwirklichung, Befreiungstheologie, Kirche: Für die einen sind es Reizwörter, für andere verbinden sich positive Inhalte, sogar Lebensziele damit. Das Innere eines Menschen entscheidet wesentlich darüber, wie er auf äußere Gegebenheiten antwortet, welche Freunde und welche/n Lebenspartner/in er auswählt, vor allem ob das Leben miteinander gelingt.
Der Esoterik wird vorgeworfen, einen Kult der Innerlichkeit aufgrund des südostasiatischen Einflusses zu zelebrieren. Ausdruck dafür sei der Satz von Thorwald Detlefseen: "Es gibt in dieser Welt nichts zu verbessern, aber sehr viel an sich selbst" (13). Hier werden wir eindeutig zum Widerspruch herausgefordert. Es gibt in dieser Welt sehr viel zu verbessern! Nur ist die Frage: Wo fangen wir an? Bei den Verhältnissen oder bei uns selbst? Es läßt sich beobachten, wie viele sich mit jugendlicher Begeisterung in den Einsatz für andere stürzen, nach Jahren in ihrem Eifer erlahmen und für die zunächst recht edel erscheinende Selbstlosigkeit Kompromisse suchen. Man darf nicht vergessen, daß die große Utopie des Sozialismus daran gescheitert ist.
Dauerhafte Veränderung der äußeren Verhältnisse wird ohne Wandlung des inneren Menschen nicht möglich sein. Wer jedoch an sich selbst eine große Aufgabe sieht, ist dem Vorwurf ausgesetzt, er kreise egozentrisch um sich selbst. In Wirklichkeit bewirkt Befreiung von Ängsten und Heilung seelischer Verwundungen eine Stärkung der Persönlichkeit, realitätsnähere Sicht der Dinge, Verbesserung der Beziehungsfähigkeit und der Fähigkeit richtig zu entscheiden; mit anderen Worten: durch die Bemühung, seine eigene Problematik zu lösen, wird man sich selbst, den Menschen und den Umständen eher gerecht und findet Lösungen, mit denen sich leben läßt.
Alle großen Gestalten des Christentums haben sich zunächst dem Prozeß der eigenen Wandlung ausgesetzt. Es wäre falsch zu sagen, sie faßten einen Plan, die Welt zu verbessern. Wahrscheinlicher ist, daß sie von einem Einbruch der Transzendenz erfaßt wurden, - eine Erfahrung, der sie sich nicht mehr entziehen konnten. Sie brauchten Zeit, um sich dem Neuen zu stellen und ihr Leben zu ordnen. Der seelische Prozeß beanspruchte alle Aufmerksamkeit und Energie. Deshalb zogen sie sich aus der gewohnten Umgebung in die Einsamkeit zurück.
An erster Stelle ist Jesu selbst zu nennen, der sich nach den Berichten der drei Evangelisten Mathäus, Markus und Lukas in die Wüste begab. Ähnliches taten der hl. Benedikt, der die Grundlagen der Kultur in Europa schuf, Franziskus von Assisi und viele andere. Ignatius hat alle wichtigen Vorgänge, seine eigenen inneren Wege genauestens festgehalten und in ein System gebracht. Daraus wurden seine Exerzitien, deren ursprüngliche Intention eine Form der Lebensentscheidung von den Wurzeln der Existenz her war - also mehr als einige Tage der Geisteserneuerung.
Den Satz: das Außen entspricht dem Innen und das Innen dem Außen, brauchen wir nicht eng und krampfhaft dahingehend verstehen, daß Leid, Krankheit und Unglück und ebenso wie Glück nur eine Folge der inneren Verfassung oder sogar eines früheren Lebens wäre. Nicht jede Krankheit ist psychisch bedingt und nicht jedes seelische Heilwerden macht auch schon gesund. Es gibt Heilige, die zeitlebens körperlich leidend waren und doch tiefsten Frieden ausstrahlten. Die heilige Klara z.B. war dreißig Jahre ans Bett gefesselt. Manche sind auch sehr schwer gestorben, wie die Seherin von Lourdes Bernadette Soubirou und Theresia von Lisieux. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte und der vieler anderer müssen wir Aussagen über die Zusammenhänge innen und außen, von Seele und Leib etwas kritischer betrachten. Das Schicksal von Heiligen, die wie der hl. Franziskus und viele andere durch Krankheit bedingt einen frühen Tod erlebten, läßt eher darauf schließen, daß die unmittelbare Begegnung mit der Transzendenz ihren Leib geschwächt hat; daß die Erfahrung Gottes nicht unbedingt die große Harmonie mit den Menschen, mit der materiellen und geistigen Welt bringt. Jesus hat einen Raum des Aufatmens, der bejahenden Güte, der vollen Annahme gestiftet, aber er hat auch die Geister herausgefordert und wurde von den Gegensätzen aufgerieben. Nach urchristlicher Überlieferung hat er sie aber bis zur letzten Konsequenz versöhnt. Jesus hat sich ganz und gar dem Anspruch des Innen gestellt - im Evangelium als Stimme oder Wille des Vaters bezeichnet - und zugleich nahm er die Herausforderungen von außen an, begegnete Kranken, Notleidenden, Einsamen, Verzweifelten, "den Verlorenen" und wich auch seinen Gegnern nicht aus. Der Mann aus Nazareth ist - auf der Ebene der äußeren Fakten gesehen - daran zerbrochen. Die Erfahrung der ersten Christen war jedoch, daß er gerade durch seinen Tod einen Erlebnisraum geöffnet hat, in dem alte Feindschaften und trennende Wände beseitigt sind (Vgl. Eph 2, 14), wo Menschen verschiedenster Herkunft und des unterschiedlichsten Standes eins werden (Vgl. Gal 3, 28).
Die Vorstellung der Einheit von Mensch, Kosmos und Gott ist eine zentrale Aussage der ersten christlichen Schriften, vor allem beim Apostel Paulus; doch hilft sie heute wenig, wenn davon nichts unmittelbar im Hier und Jetzt spürbar wird. Wenn Einheit ständig angemahnt und beschworen wird, ist sie noch lange nicht Wirklichkeit. Entscheidend sind konkrete Schritte, die keine neuen Überforderungen mit sich bringen.
Bei Selbsterfahrungskursen zeigt sich, daß eine Gruppe dann am ehesten zusammenfindet, wenn die Teilnehmer von der Ebene des Diskutierens, des Rechthaben-Wollens und gegenseitigen Kritisierens wegkommen zu einer Einstellung des Annehmens, wobei man die Beiträge einfach auf sich wirken und sich von dem betreffen läßt, was andere aus ihrem Leben erzählen. Bei Traumseminaren hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, wenn die Zuhörer nur das einbringen, was sie an den Bildern, Figuren und Handlungen eines Traums berührt hat, anstatt sofort zu deuten oder sogar angelesene Traumtheorien zum Besten zu geben. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für ein Gespräch über Texte der HL. Schrift. Nicht Rechthabenwollen oder "Richtigstellen", nicht gekonntes und geschliffenes Argumentieren öffnet Menschen füreinander, sondern Achtsamkeit und Interesse für das, was den anderen und einen selbst bewegt. Daß es einen Punkt gibt, wo Menschen, Kosmos und Gott einander berühren, ist altchristliche Lehre. Entscheidend ist, ob wir ihn finden.
2. Gott ist innen - Erfahrung vor Belehrung
"Im Jahre des Herrn 1654, Montag, den 23. November, von ungefähr halb elf abends bis ungefähr halb eins in der Nacht: Feuer. Gott Abrahams, Gott Israels, Gott Jakobs, nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Freude, Friede. Gott Jesu Christi. Er wird nur gefunden auf den Wegen, die im Evangelium gelehrt werden. Tränen der Freude.
Ich hatte mich von ihm getrennt. Ich bin vor ihm geflohen, ich habe ihn verleugnet, gekreuzigt. Daß ich nie mehr von ihm getrennt werde. Hingabe an Jesus Christus" (14).
Es handelt sich hier um das sogenannte Mémorial des Philosophen Blaise Pascal (+1663). Es war auf Pergament geschrieben und wurde nach seinem Tod in seine Kleider eingenäht gefunden. Es muß ihm anscheinend so viel bedeutet haben, daß er jeden Tag seines Lebens an dieses große Ereignis erinnert werden wollte.
Im Zentrum steht eine Erfahrung, die nur mit dem Begriff Feuer auszudrücken ist, für die meisten ist dies zunächst völlig unverständlich. Ich werde erinnert an den Bericht einer Frau über ein Jugenderlebnis. Es war nach dem Abitur. Als sie allein spazieren ging, habe sie plötzlich die Empfindung gehabt zu brennen. Dieses Erlebnis war so überwältigend, daß sie beim Erzählen 20 Jahre später noch in Tränen ausbrach. Sie konnte damals nichts damit anfangen, konnte es nicht einordnen, aber auch nicht vergessen. Sie wußte nicht, ob es Zeichen einer angehenden Psychose sei oder ob es mit dem Religiösen zu tun habe. Ihr geistlicher Onkel, den sie befragte, sah darin ein Zeichen, daß sie ins Kloster gehen müsse. Das konnte sie aber nicht, was sie noch mehr unter Druck setzte. Den Bogen vom Feuer in sich zum brennenden Dornbusch und zum Gott Abrahams, Gott Israels und Gott Jakobs (Ex 3,1-6) fand sie nicht. Es gab keinen Priester oder geistlichen Begleiter, der ihr hätte aufzeigen können: durch dieses Ereignis wollte Gott mit ihr eine bewußte Geschichte beginnen wie mit Moses. Heute herrscht im Raum der Kirche die große Klage, daß Gott sich zurückzieht, daß man nur mit Mühe über ihn reden kann. Andererseits wird seine Erscheinung in unserer Zeit nicht wahrgenommen bzw. werden Menschen, denen sie zuteil wurde, nicht ernst genommen. Außerordentliche religiöse Phänomene werden von theologischer Seite zunächst mit Skepsis betrachtet - gewiß mit Recht. Man denkt sofort an Marienerscheinungen und an die damit verbundene Frömmigkeit, besonders wenn sie dazu dann noch einer bestimmten kirchenpolitischen Richtung Aufhilfe leistet.
Das Schwinden des Religiösen im christlichen Raum und das Aufblühen esoterischer Praxis und fernöstlicher Meditation hat damit zu tun, daß religiöse Erfahrung im theologischen Denken und im praktischen Tun nicht den Stellenwert besitzt, der ihr zusteht. Kein anderer als Blaise Pascal hat den Gegensatz von einem bloß gedachten und einem erfahrenen Gott schon vor mehr als 300 Jahren erkannt. Er distanziert sich vom Gott der Philosophen als der obersten Spitze eines Gedankengebäudes, dem man zwar absolute Eigenschaften zuschreibt, der aber bis zum Vergessen weit weg ist von uns. Für Pascal ist Gott Feuer wie für Moses. Wenn dieser Ausruf seine erste Reaktion auf das außerordentliche Erlebnis war, kann man nur ahnen, welche Wucht von Energie ihn durchströmte. Wenn in einem Haus jemand "Feuer" schreit, bedeutet das höchste Alarmstufe, ja tödliche Bedrohung. Man könnte sich auch eine Art Blitz vorstellen, der ihm durch Mark und Bein fährt, eine plötzliche Erleuchtung der seelischen Landschaft. Wie immer es gewesen sein mag, das Wort "Feuer" besagt, der große Denker war zuinnerst getroffen, schmerzlich und beglückend zugleich. Gewißheit, Freude und Friede erfüllen ihn, sogar Tränen der Freude.
Zu dem, was Pascal widerfuhr, gibt es durchaus Parallelen in unserer Zeit, die aber im theologisch - kirchlichen Raum nicht registriert werden. Beim Durchblättern einer religionspsychologischen Zeitschrift, die eher der Esoterik-Szene zuzuordnen ist, erregte ein Artikel wegen der außerordentlichen Dichte und Wucht des Geschilderten Aufmerksamkeit. Es ist die Geschichte eines Mannes, Jahrgang 1942, von Beruf Soziologe, Grund- und Hauptschullehrer, Heilpraktiker und Psychotherapeut. Er versteht sich als Globetrotter in Sache Gott-Suche (Schon die verschiedenen Berufsbezeichnungen deuten an, daß es sich hier nicht um einen angepaßten, langweiligen, gewöhnlichen Menschen handelt.) und er vertritt sinnvolle Psychotherapie sei ohne spirituell - religiösen Rückbezug nicht möglich. Der Höhepunkt seiner Geschichte: nach 25 Jahren der Suche wollte er nun endlich Gott persönlich begegnen. Dazu nahm er sich ein Jahr Zeit und fuhr nach Byron Bay an die Küste Ostaustraliens - bis zum Ende der Welt. Dort erhoffte er in einer neuen christlichen Erweckungsbewegung das Ziel seiner Sehnsucht zu finden. Und es geschah tatsächlich ausgerechnet am Heiligen Abend.
"Es traf mich mit solch einer Wucht, daß ich augenblicklich das Gefühl hatte, meine Identität würde verschwinden, weggerissen wie ein lästiges Hindernis im Blickfeld. Da war Es nun! Und ich mittendrin, ohne noch irgendeine Unterscheidung zwischen mir und allem, was um mich herum vor sich ging, zu fühlen. Ich konnte nur noch herausbrüllen "God is" und wurde dann mit diesen Worten irgendwohin hinausgeschleudert, wo es nur noch still war. Unablässig pulsierende Stille.
Nach diesem Erlebnis konnte ich stundenlang nicht mehr sprechen, und mein Körper fühlte sich an wie ein schwerer Taucheranzug. Ich hatte erhalten, worum ich gebeten hatte. Die Tatsache, gehört und erhört worden zu sein, öffnete mir einen weiteren Raum, der kaum leichter beschreibbar ist" (15).
Es gibt keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit dieses Berichtes zu zweifeln. Auf die Radikalität des Einsatzes und die Intensität des Erlebens könnte durchaus das Bild des Feuers passen und es ist dieselbe Aussage wie bei Pascal: Gott ist nicht ein Gedanke, mit dem man jongliert; er ist das letzte Innen der Existenz; er ist das, was den Menschen zuinnerst aufwühlt und umwirft. Der Theologe Paul Tillich nennt deshalb "Gott" ein Symbol für das, was einen unbedingt angeht.
Nach wie vor bleibt die Frage, warum sich solche Begegnungen eher außerhalb als innerhalb der Kirche ereignen. Allein schon die Tatsache gibt zu denken, daß eine religionspsychologische Zeitschrift sich auf dem Ladentisch einer Buchhandlung behaupten kann, während theologische und kirchliche Blätter nicht zu sehen sind. Wir sollten überprüfen, ob nicht unser Gott tatsächlich zum Gott der Philosophen geworden ist. Es wird zwar ständig behauptet, daß Gott in der Geschichte handelt. Aber allein bei einem solchen Satz schalten die meisten schon ab, weil davon im Hier und Jetzt ja nichts zu spüren ist. Derartiges Reden wird zur Belehrung, die niemand bewegt. In den Erzählungen, wo Gott gehandelt hat, war es etwas anders: Das Feuer des Dornbusches brannte in Mose noch genauso, als er vor die Israeliten trat und vom Pharao die Freilassung seines Volkes forderte. Ebenso wenig hätte Paulus in Korinth irgendeinen Bewohner der Slums gewonnen, wenn nicht in ihm die Kraft seiner Urerfahrung mit dem Auferstandenen gewirkt hätte. Um auf das Bild des Feuers zurückzukommen: die Verkündigung in der Frühzeit des Christentums und bei allen lebendigen Aufbrüchen in den späteren Jahrhunderten ist ohne das Überspringen und Zünden des Funkens zu neuen eigenständigen Feuern (in den Glaubenden) nicht zu denken. Für uns heißt das: Wie kann das Feuer in uns geweckt werden, wenn nirgends einen Funkenflug zu entdecken ist? Die Aussage Meiser Eckehards kommt uns zu Hilfe, der aufgrund seiner eigenen Geschichte mit Gott den Begriff "Seelenfünklein" prägte. Es wird dann angefacht, wenn wir Achtsamkeit entwickeln für das, was in uns vorgeht, vor allem den Sinn schulen für das, was echt und stimmig ist, und die Sehnsucht nach Tiefe und Erfüllung zulassen. Das fordert allerdings ganzen Einsatz.
Was Blaise Pascal, was die Propheten des Alten Bundes, was die Apostel oder Menschen unserer Zeit (wie Eckehard Göbel in Australien) erlebt haben, ist nicht einfach machbar; Erfahrungen geschehen, sie sind dem Willen entzogen. Aber man kann sich für sie bereiten. Es gibt Wege, die in die Nähe solchen Erlebens führen. Hier ist die Ansatzstelle für östliche, esoterische Richtungen. Sie sind so gesucht, weil sie nicht damit beginnen, Lehren zu verkünden, sondern Anleitung zur je eigenen Erfahrung geben. Man sollte darin nicht sofort die Konkurrenz zum Christlichen sehen, sondern auch die Chance für Menschen, in einer religionslosen Zeit religiös zu werden.
3. Mantik (16) und die Angst um die Zukunft
"Laut der Zeitung "Die Woche" bemühen sich in Deutschland 6000 Astrologen, 10000 Geistheiler und 90000 Wahrsager um das Seelenheil der esoterisch interessierten Bevölkerung. Dagegen kümmern sich lediglich 30000 Geistliche um die Gläubigen der beiden großen Kirchen." (17). Man sucht sich Rat bei der Astrologie, bei der Handlesekunst, bei Tarot-Karten, bei I-Ging und beim Pendel. Die Häufung der Inserate in Zeitungen und Zeitschriften weisen darauf hin, daß in der Einschätzung der Gesellschaft eine Schwelle vom Geheimen zum Öffentlichen, von seriöse Dienstleistung zum Unseriösen und Unlauteren überschritten wurde. Man möchte es vorher wissen. Es wird verständlich im Blick auf die Tatsache, daß fast jede dritte Ehe geschieden wird, und daß selbst qualifizierte Ausbildung noch keine Garantie für einen sicheren Arbeitsplatz gibt. Die Enttäuschung über zerbrochenes Glück, die Verunsicherung im Bereich von Leistung und menschlicher Nähe und der einstmals tragenden Leitbilder wie Weltanschauung und Religion, auch ein Stück Neugier veranlassen Menschen, einen Blick in die Zukunft zu tun. Es gibt Personen, die bei jeder Reise das Horoskop zu Hilfe nehmen. Nicht wenige tun es sogar beim Ausfüllen eines Lottoscheines oder beim Erwerb von Aktien.
Opfern Menschen reihenweise ihren klaren Verstand?, könnte man fragen. Zunächst gilt es, auch hier die Keime der Wahrheit zu entdecken und sich vor pauschaler Verurteilung zu hüten. Immerhin hatte die Astrologie im Mittelalter kein geringes Ansehen; es gab bis 1789 einen päpstlichen Hausastrologen, im Hauptschiff mancher alten Kirche sind die Tierkreiszeichen dargestellt oder sogar ein Horoskop (18). Das Mathäusevangelium (Mt 2, 1-12) berichtet von Magiern, Sternkundigen - den Weisen aus dem Morgenland -, die dem neugeborenen König der Juden auf der Spur sind und Jesus in Bethlehem finden. Als Grund ihrer Suche geben sie an, sie hätten "seinen Stern gesehen". Tatsächlich bezeugt der Sternkalender von Sippar - eine Keilschrift aus Babylonien um die Zeitenwende - für das Jahr 7 vor Christus ein seltenes Sternbild: Jupiter und Saturn in den Fischen (19). Saturn gilt als der Stern Palästinas und der Juden. Man denke an die englische Bezeichnung für Samstag - saturday - "Saturnstag". Wie immer man die Geschichtlichkeit der Erzählung von den Weisen beurteilt, eines steht fest: Der Verfasser setzt bei seinen Lesern - wahrscheinlich Judenchristen - einen Verstehenshorizont voraus, in dem Sternbilder und Sternkundige, ebenso Träume eine wichtige Rolle spielen und keineswegs als heidnischer Aberglaube verurteilt werden.
Um einer ernsthaft betriebenen Astrologie gerecht zu werden, müssen wir auf das Weltbild des in uns wohnenden archaischen Menschen zurückgreifen. Dieses ist ganzheitlich. Damit ist gemeint: Wir Menschen können unser Schicksal nicht losgelöst von dem uns umgebenden Kosmos betrachten. Wir sind eingebettet in diese Welt mit ihren Kräften und Vorgängen und von ihnen beeinflußt. Jedes hängt mit jedem zusammen. Eine der Grundannahmen der hermetischen Philosophie (nach Hermes, dem Götterboten, dem Gott der Wege, der Kaufleute und Diebe) lautet: "Wie oben so auch unten". Wie die Gestirne sich bewegen und zueinander stehen, so vollziehen sich die Schicksale der Menschen. Die gegenseitigen Entsprechungen (Analogien) sind die Grundlage der Astrologie. Nach deren Auffassung sind die Sterne nicht die Verursacher des Schicksals, sondern sie zeigen die Vorgänge nur an.
Für den Indianer, wie für den Menschen der Antike und des Mittelalters war der Zusammenhang, die Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit dem Kosmos selbstverständlich. Deshalb fühlte er sich dort auch zuhause. Die Umwelt war für ihn verläßlich. Daraus bezog er sein Grundvertrauen in das Dasein. Bei den Indianern beginnen Verträge mit der Formel: "Solange die Sonne scheint und das Wasser fließt, solange die Bäume ihre Blätter werfen".... Im Psalm 89 wird der Mond als Zeuge für die Treue Gottes zum Hause David angeführt "er soll ewig bestehen wie der Mond, der verläßliche Zeuge über den Wolken". Wir können das Interesse für den Stand der Sterne als eine Suche nach einer letzten Sicherheit in der Form des archaischen Menschen sehen. "Wenn es schon keinen verläßlichen Menschen, keine unerschütterliche Autorität, kein festes Glaubenssystem mehr gibt, dann bleiben doch noch die Sterne", ist wohl die geheime Überzeugung vieler.
Dagegen wird eingewendet: Horoskope sind unsicher. Sie können alles und jedes bedeuten. Man macht sich abhängig von einem/r Astrologen/in, vom vorausgesagten Schicksal. Im Grunde komme es nur darauf an - so der Vorwurf - in einem Film mitzuspielen, dessen Drehbuch schon längst feststeht. Diese Gefahr im Umgang mit der Astrologie wird mit Recht angeprangert. Oberstes Prinzip sollte sein: sich nie die eigene Entscheidung abnehmen lassen. Der Betrachter kann in der Astrologie auch eine Art Charakterkunde sehen oder eine an den Himmel projizierte Tiefenpsychologie. Es geht um Muster, die Welt zu sehen und sich in ihr zu verhalten. Die Leistung einer guten astrologischen Deutung besteht darin, einem Menschen seinen jeweiligen individuellen Handlungsrahmen verständlich zu machen und Lösungsmöglichkeiten für konfliktträchtige Situationen aufzuzeigen. Die Astrologie gibt die Möglichkeit, den Spielraum, der mir zur Verfügung steht, zu erweitern. Mit den Ergebnissen aller zukunftsdeutenden Künste sollte man wie mit den Träumen verfahren. Sie sind nicht unmittelbar eindeutige Aussagen, sondern Bilder und Symbole für einen psychischen Tatbestand, für Gefühle, für eine augenblickliche Situation oder für einen tiefgehenden, bedrückenden Komplex. Der erste Schritt zur Erkenntnis wäre ein Traumbild einfach an mich heranzulassen. Was trifft auf mich zu?, sollte ich fragen und die Reaktion meiner Gefühle beobachten. Erst deren Zustimmung - das Erleben der inneren Einheit - läßt den Sinn eines Traumes an sein Ziel kommen.
Ähnlich könnte man mit dem Horoskop umgehen. Ein Beispiel: Ein Mann ließ sich von zwei Astrologinnen, unabhängig von einander, das Horoskop stellen. Sie kamen beide zu dem Ergebnis, daß er die Fähigkeit zum erfolgreichen Geschäftsmann habe. Ausgangspunkt der Deutung war die Nähe zu Merkur, dem Gott der Kaufleute. Damit konnte der Mann jedoch nichts anfangen. Aufgrund seiner Beschäftigung mit der Tiefenpsychologie Jungs ging ihm auf, daß Merkur auch die wandelnde Kraft meint, die den psychischen Prozeß vorantreibt. Einmal hatte er selbst eine tiefgreifende Wandlung durchgemacht, zum anderen war er gerade dadurch befähigt, Entwicklung bei anderen einzuleiten und zu begleiten.
Die Arbeit mit Träumen und mit Tarot-Karten verstärkt die Intuition, was ganz wörtlich "Einsicht" heißt. Wer einen bisher geleugneten oder unbekannt gebliebenen Sachverhalt seines Lebens einsieht, läßt neue Gefühle zu: Betroffenheit, Trauer, Schmerz, aber auch innere Geschlossenheit und Freude. Die Intuition bringt Verstand und Gefühl zusammen. Dies bedeutet Stärkung der Entscheidungsfähigkeit und damit mehr innere Sicherheit. Man bekommt das Gespür dafür, was für einen richtig ist, was, vor allem wer zu einem paßt. Wenn die Arbeit mit den sogenannten Wahrsagerkünsten zur kritischen Selbsterfahrung, Selbstprüfung und Selbsterkenntnis und somit zu Wachstum der Persönlichkeit führt, dann gestalten wir unsere Zukunft zumindest zu einem erheblichen Teil selbst. Während Angst die Wahrnehmung verzerrt, die Initiative lähmt, die Stimmung drückt, öffnet der neue Zustand der größeren inneren Freiheit den Blick für das Richtige und gibt Impulse, die Wirklichkeit zu bewältigen.
4. Magie: der andere Zugang zur Wirklichkeit
"Der Hahn vertreibt den Löwen"
Dieser Satz steht bei Plinius, einem lateinischen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts. Er fügt hinzu, daß Reisende in der Wüste einen Hahn mitnehmen, um sich vor Löwen zu schützen; ein typisches Beispiel dafür, welch magischen Charakter ein Tier im Glauben eines Volkes erhalten kann. Das Wort "magisch" hat keinen guten Klang; man verbindet es mit fremden, undurchschaubaren Praktiken, die angewandt werden, um Einfluß auf die Natur oder andere Menschen zu gewinnen, ohne deren Einsicht und Einwilligung. Man spricht von "magischer Anziehung", so manches Geistheilers, Sektenführers oder Politikers und meint genau diese Undurchschaubarkeit seiner Wirkung. Was bei kritischen Menschen auf Ablehnung stößt, übt auf andere Faszination aus. Wer z.B. bei Magier/innen in Sachen Partnerschaft Hilfe sucht, erhofft sich daß das ersehnte Glück über undurchsichtige Kanäle tatsächlich auch eintritt. Man traut den geheimen Kräfte zu, dem Schicksal eine positive Wendung zu geben. Ohne diesen latent vorhandenen Glauben an die Allmacht der Magie hätten Inserate in Zeitschriften kaum eine Chance. Alles nur Betrug? Könnte es vielleicht sein, daß die genannten Beraterinnen bzw. Glücksbringerinnen durch besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen, gute Menschenkenntnis und eine starke Suggestivkraft die Einstellung ihrer Klientinnen tatsächlich verändern?
Wie dem auch sei, damit ist das Thema des Magischen und der Magie noch nicht geklärt. Auch hier gilt es, den Kern der Wahrheit zu entdecken. Es kann nicht alles ganz falsch sein. Schließlich werden die Magier von Mathäus als recht positive Figuren geschildert (Mt2, 12).
Um der Sache auf die Spur zu kommen, müssen wir uns noch einmal in das esoterische bzw. magische Weltbild versetzen. Was uns zunächst als blanker Unsinn erscheint, kann im Rahmen dieses Verständnisses von Mensch und Kosmos durchaus Sinn-voll sein. Es handelt sich eben nicht um strenge Logik, sondern um ein vor-logisches Denken, das seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Voraussetzung von allem ist, daß für den archaischen Menschen der gesamte Kosmos belebt und beseelt ist. Der Begriff der "Weltseele" wurde schon erwähnt. Es ist die Art des Geistes, welche mit der Intuition die Brücke zu den Gefühlen schlägt und zum Erleben der Ganzheit mit sich und der Welt führt. Jung sieht das englische Wort "mind" (Geist) mit der lateinischen Bezeichnung für Welt "mundus" verwandt. Es ist einsichtig, daß die Seele und die damit eingeschlossenen Gefühle, Reaktions- und Verhaltensweisen anderen Regeln folgen müssen als unser rationales Denken. Die wichtigsten davon sind Gleichzeitigkeit und Entsprechung. In der Fachsprache heißen sie Synchronizität und Analogie.
Der anfangs zitierte Satz vom Hahn, der den Löwen vertreibt, gewinnt auf dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit des Ereignisses einen Sinn. Sobald nämlich der Hahn kräht, wird es Tag und der Löwe zieht sich wie alle Nachttiere in sein Versteck zurück. Der Hahn verursacht nicht die "Flucht" des Löwen, sondern er kündigt sie an. Unverständlich wird es dann, wenn der Zusammenhang des zeitlichen Rahmens nicht mehr gesehen wird. Auf diese Weise bekamen Gegenstände oder Lebewesen ihren "magischen" Charakter.
In den Rahmen der Gleichzeitigkeit kann man auch die wissenschaftlich erforschten sogenannten "bedingten Reflexe" einbeziehen. Starkes Erleben kann einen äußeren Reiz mit einer sonst unabhängigen Reaktion verbinden. Bei den Versuchen des russischen Psychologen Pawlow wurde beim Füttern von Hunden ein Glockenzeichen gegeben. Nach einiger Zeit war der Speichel, der sich beim Fressen bildet, beim bloßen Glockenzeichen festzustellen.
Der andere wichtige Aspekt esoterischen Denkens ist der der Analogie, der Ähnlichkeit und Entsprechung. Auf diesem Hintergrund werden die sogenannten magischen Rituale der Naturvölker vollzogen. Während wir genau unterscheiden zwischen dem, was in uns ist und dem, was in der Natur ist, reicht die Seele archaischer Menschen weit über sie hinaus. Ein Schamane redet mit den Pflanzen, mit den Steinen und mit den Wolken. "Er lauscht den Stimmen der Tiere. Er wird einer von ihnen. Von allen Lebewesen fließt etwas in ihn ein und von ihm strömt auch etwas aus" (20). Aufgrund dieser seelischen Verbundenheit wird verständlich, daß man nach dem Gesetz der Analogie Einfluß auf die Umwelt ausüben kann. Das Mittel dazu ist das Ritual, das von den weißen Forschern "Analogiezauber" genannt wurde.
Bei anhaltender Dürre veranstalten die Hopi - Indianer und andere Naturvölker den sogenannten Regentanz. Ihr Gesang und ihre Bewegungen sind so, als ob der Regen schon fallen würde. Der Tanz paßt bildlich zum Regen, er ist sozusagen eine "Vorahmung" (im Gegensatz zu Nachahmung); oder anders ausgedrückt: das Erlebnis des Regens wird vorausgenommen. Nach der Überzeugung der Indianer kommt dann der Regen tatsächlich - weil ja alle Dinge zusammenhängen.
Ein eindrucksvolles Ereignis, wo Seele und Natur sich gleichzeitig bewegen, wird aus dem Leben des indianischen Schamanen "Schwarzer Hirsch" geschildert. Als alter Mann besteigt er noch einmal den Hügel, auf dem er als Kind seine große Vision hatte. "Unter rinnenden Tränen" bittet er den Großen Geist, den verdorrten Baum, den er in der Vision gesehen hatte - Sinnbild seines Volkes - wieder leben zu lassen. Zur gleichen Zeit, so berichtet John G. Neihardt, der ihn dabei begleitete, fiel ein spärlicher kühler Regen. Es gab nicht nur Regen- sondern auch Jagd- und Kriegstänze. Es ging darum, die Seele und deren Kräfte auf das zu jagende Tier oder auf den Feind einzustellen. Man malte eine Hirschkuh oder die Umrisse einer menschlichen Gestalt in den Sand, tanzte um die Figuren und warf die Speere dorthin. Es war ebenfalls eine "Vorahmung" oder: die Vorausnahme des Erlebens von Kampf und Sieg!
Der aufgeklärte Mensch spricht von Zufall und belächelt das Denken jener Völker. Was gehen uns heute die Weltbilder noch lebender oder schon ausgestorbener bzw. ausgerotteter Stämme, deren Rituale und Praktiken an? Wir dürfen nie vergessen, daß unsere unbewußte Seele, der Sitz der Impulse, der Leidenschaften und der Reaktionen nach den Regeln des Weltbildes der Naturvölker "funktioniert". Der Grundsatz der Analogie, der Ähnlichkeiten und Entsprechungen ist Voraussetzung, um Einfluß auf das Unbewußte, auf Gesinnung und Stimmung auszulösen. So haben die Nationalsozialisten auf die altgermanische Mythologie, deren Wertvorstellungen und Riten zurückgegriffen. Die ständigen Aufmärsche mit der Parole "Sieg Heil" waren eindeutig die Vorausnahme eines Triumphzuges nach errungenem Sieg. Zusammen mit den Hetzreden der Propaganda gelang es, die Seele vor allem der jungen Menschen bis zur letzten Faser mit nationalsozialistischer Gesinnung, zu blindem Gehorsam und Fanatismus zu durchdringen. Die bittere Erfahrung mit dem Dritten Reich bestätigt die These, daß wir den archaischen Menschen in uns tragen - und daß magische Praktiken ein gewaltiges Potential der Zerstörung auslösen können. Eine sogenannte Aufklärung, welche alles, was mit Magie zu tun hat, für Null und Nichtig erklärt, geht an der Wirklichkeit vorbei. Statt dessen brauchen wir gerade die "magischen" Rituale, festgelegte Muster der Entsprechung und Ähnlichkeit, um einen positiven Wandel herbeizuführen.
Um jemand von seiner Traurigkeit zu erlösen, muß der Therapeut ein ähnliches Gefühl, ein Mit-Leiden mit dem Betroffenen aufbringen. Der große Erfolg der esoterischen Angebote beruht darauf, daß sie diese Rituale beherrschen. Es gelingt ihnen, Einfluß auf unbewußte Motivationen auszuüben und Kräfte freizusetzen. Ob das den Beteiligten immer zum Guten wird, ist eine andere Frage. Kurzzeitiges Überschwemmtwerden von Energie ist nicht schon dauerhaftes Glück. Es kann sehr schnell zusammenbrechen. Entscheidend ist der ganz normale Alltag: ob man seiner Arbeit und den Menschen, mit denen man lebt, gerecht wird. In den Esoterikzeitschriften sieht man fast nur strahlende Gesichter, als ob es nur um Steigerung des Erlebens ginge. Wie ist es aber mit Alter, Krankheit und Tod? Diese Themen werden weniger behandelt. Solange es an Bewußtheit, an Einsicht und Verantwortung für das eigene Schicksal und das anderer fehlt, bleibt alles noch im Bereich einer doppeldeutigen Magie im beschriebenen Sinn.
Hier steht der Schritt von der Magie zur Psychotherapie an. Die moderne Seelenheilkunde, die den unbewußten Grund der Seele verändern will, greift zwar auf "magische" Rituale zurück - sonst würde sie im Unbewußten nichts bewegen - sie unterscheidet sich von den genannten Praktiken darin, daß sie den Hilfesuchenden und Leidenden zur Bewußtheit ihrer selbst und zur Stärkung ihrer Entscheidungsfähigkeit führen will.
Ein guter Hinweis für die Nähe unserer Seelenlandschaft zur magischen Welt der Indianer und anderer Naturvölker sind unsere Träume. Hier begegnen wir bedrohlichen Gestalten, müssen uns mit ihnen auseinandersetzen und wie die Indianer in der Wildnis mit den Tieren und Geistern reden.
Die Figuren und deren Handlungen in den Träumen sind Bilder aus der äußeren erlebten Wirklichkeit. Beim Versuch, einen Traum zu verstehen, sollte man sich immer sagen: es ist wie wenn; das Prinzip der Analogie steht im Mittelpunkt.
Während eines Kurses träumt eine Frau von einer Schlange, die für sie recht bedrohlich ist. Beim Durcharbeiten des Traumes wird eine Decke zusammengerollt, die einer Schlange ähnelt. In einer Art Rollenspiel spricht die Träumerin mit ihr und kann sich ihr nähern. Ergebnis: die Schlange verändert sich in der Vorstellung der Frau, sie verliert ihre erschreckende massive Gestalt und sieht wie zum Anfassen aus. Entscheidend ist, daß Gefühle in Bewegung kommen, die von Angst befreien und froh machen. Ohne Zweifel könnte man hier Parallelen zu "magischen" Ritualen der Indianer oder anderer Kulturen sehen, die einen ähnlichen Vorgang mit lebenden Tieren der Wildnis ausführen. Es war eine Art "Schlangenbeschwörung".
Der Unterschied zur Imagination der Gruppe ist, daß die Beteiligten wissen: die Schlange existiert nur in der Vorstellung und ist ein Bild für eine innere Dynamik, während für den Schamanen diese Reflexion ausgeschlossen ist.
Von der "Magie" lernen
Magie, verstanden als Einfluß auf die Wirklichkeit durch Vorahmung des gewünschten Effekts, scheint im diametralen Gegensatz zur Naturwissenschaft zu stehen. Nun hat sich gezeigt, daß diese Art des Umgangs mit der Realität durchaus Berechtigung hat, wenn es sich um belebte und beseelte, eigentätige Wesen handelt, im konkreten Fall um die unbewußte Seele in uns. Das "magische" Denken in diesem Sinn ist keineswegs überholt, es kommt auf den Bereich an, wo es angewandt wird. Da naturwissenschaftliches Vorgehen nicht den ganzen Umfang der Wirklichkeit abdeckt, greift es dort nicht, wo es um menschliche Probleme geht.
Deshalb gilt es , beide Bereiche gut zu unterscheiden. Leider geschieht dies nicht immer. Um auf magische Weise ein Auto anzulassen, müßte der Fahrer einen Sympathie- oder Analogiezauber ausführen. Er müßte den gewünschten Effekt "vorahmen". Er würde also lautes Gebrüll ausstoßen, um das Auto herumhüpfen, vielleicht ein Stück vorauslaufen, den Feuergeist beschwören oder ähnlich Absurdes und Lächerliches tun. Niemand käme auf diese Idee. Selbst ein erfahrener Schamane würde sich davor hüten, die Ebenen des Wirkens auf diese Weise zu verwechseln. Wenn aber von naturwissenschaftlicher Seite Übergriffe auf einen Bereich geschehen, der ihr nicht zusteht, scheint das niemand mehr aufzufallen. Weil man ja anscheinend alles im Griff hat, glaubt man, daß alles, selbst lebendige Wesen, sogar die Seele des Menschen funktionieren, wie eine Maschine. Man braucht sozusagen nur den Zündschlüssel umzudrehen, dann müsse eigentlich alles nach Plan laufen.
Eine tragische Geschichte kann das Gesagte veranschaulichen. In einem größeren Betrieb war im oberen Leitungsbereich Zusammenarbeit nicht mehr möglich. Es knirschte überall. Daraufhin wurde die gesamte Mannschaft in ein Management - Zentrum zu einem zweitägigen Kurs eingeladen. Der Trainer klärte sie über Schicksal und Verantwortung, über immanente und transzendente Motive und über die Wichtigkeit von Sinnerfahrung auf. Anhand von Schautafeln konnten sich die Teilnehmer über die Zusammenhänge der einzelnen Entwicklungsschritte einen guten Überblick verschaffen. Sie schlossen sogar eine Abmachung, sich an bestimmte Punkte zu halten. Aber das Ganze funktionierte - außer dem schwindelerregenden Honorar des Referenten - genau so wenig, wie wenn der Medizinmann mit Beschwörungsformeln den Motor ankurbelte. Es endete sogar damit, daß sich einer der Mitarbeiter das Leben nahm.
Hier wären tatsächlich "magische" Künste, übertragen auf unsere Zeit, nötig gewesen, nämlich der Analogiezauber, d.h. die "Vorahmung" oder Vorausnahme der konfliktgeladenen Situationen im Rollenspiel: der Tanz oder das Kreisen um die Mitte, nämlich heiße Eisen von allen Seiten zu betrachten. In einer solchen Situation ist nicht Belehrung, sondern eine Intervention gefordert, daß die ganze Gruppe in Bewegung kommt, sich anstoßen läßt von dem, was eingebracht wird, und neue Einsichten und tiefere Gefühle zulassen kann.
Eines wird bei der Anfertigung von Programmen und Grundsatzerklärungen häufig übersehen: sie sind nur soviel wert, als Menschen dahinter stehen. Man kann ein harmonisches Miteinander, edle Gesinnung und Begeisterung nicht durch Beschluß verordnen, weder sich noch anderen. Das Erwünschte ist Ergebnis von Erlebnisprozessen, die erst in Gang gesetzt werden müssen, gewiß oft sehr mühsam aber im letzten doch effektiv. Sie beginnen mit emotionaler Entlastung und nicht mit neuen Forderungen.
Ob nicht hier ein Schlüssel liegt für manchen Stillstand im kirchlichen Raum? Es wiederholt sich, daß man mit großem Aufwand in höchsten Gremien - ob in Synoden der Bistümer, in Diözesanforen oder Ordensversammlungen - Beschlüsse faßt und nach einem Jahr spricht niemand mehr davon.
Vielmehr sind es nach wie vor Emotionen, welche die Tagesthemen beherrschen oder neue hervorbringen; Gefühle der moralischen Entrüstung, der Enttäuschung, der Verletztheit, der Ängste, der Unsicherheiten. Es scheint, daß jener Bereich, welcher die Motive wesentlich bestimmt, trotz aller beschworenen intellektuellen Redlichkeit bei den meisten ziemlich im Dunklen der archaischen Welt liegt. Sonst wäre die irrationale Zerstrittenheit gerade unter jenen, die sehr viel auf den Gebrauch der Vernunft setzen, nicht zu erklären. Nichts ist deshalb nötiger als ein Zugang zum Raum der unbewußten Seele.
5. Der Neue Mensch
Die Zielvorstellung der "Neue Mensch" durchzieht seit der Aufklärung die geistigen Strömungen der Neuzeit, war Inhalt der totalitären Ideologien und hat zur Jahrtausendwende an besonderer Anziehungskraft gewonnen. Die Rede ist von Biomedizin und Gentechnik, welche dem Menschen erlauben, zum ersten Mal in der Geschichte den eigenen Bauplan in Händen zu halten. Das sogenannte "Human Genom Projekt" wird als "eines der ehrgeizigsten Forschungsprojekte, das je in Angriff" genommen wurde, bezeichnet. Welches Ergebnis am Ende stehen wird, weiß niemand; Zweifel sind berechtigt, ob diese Entwicklung zum Besseren der Menschheit sein wird.
Während man auf der einen Seite von der Technik die Erfüllung des Wunschtraumes erwartet, hat sich die technologiefeindliche New - Age Bewegung unter Fritjof Capra, Marlyn Ferguson, Ken Wilber und Stanislav Grof die Verheißung vom Neuen Menschen zu eigen gemacht. Hier ist nicht wissenschaftliche Forschung die Grundlage für den Bewußtseinssprung, sondern spirituelle Erfahrung soll die Transformation des ICH vom Individuellen in das allgemeine kosmische Bewußtsein leisten. Damit greift New Age eigentlich auf die Praktiken und Erfahrungen uralter religiös-esoterischer Traditionen zurück. Jung hat zum Beispiel nachgewiesen, daß der von den Alchemisten gesuchte Stein der Weisen oder die Umwandlung von Blei in Gold eigentlich den neuen Zustand des alchemistischen Meisters, also einen neuen Menschen meint.
Wir brauchen gar nicht auf wissenschaftliche Ambitionen oder esoterischer Überlieferungen zurückgreifen, das Thema des Neuen Menschen begegnet uns jeden Tag im Umgang mit der jungen Generation; sie ist wesentlich spontaner, direkter und unmittelbarer in allen Gefühlsäußerungen, sie läßt sich von niemand bevormunden, sie tut, was sie im Augenblick für richtig hält, sie ist aber auch den Schwankungen ihrer Stimmungen viel stärker ausgeliefert; sie tut sich damit schwer, eine Verbindung auf Dauer durchzuhalten, sich auf andere einzustellen und auf eigenen Vorteil und auf Einschränkung der Freiheit zu verzichten. Das sogenannte moderne Lebensgefühl meint, daß es vor allem auf das Hier und Jetzt ankomme, daß man Erlebnisse auf alle mögliche Weise steigern müsse, daß der Blick auf die Zukunft weniger wichtig sei. Andererseits ist durchaus das Bestreben vorhanden, Beziehungen als Partner und Kollegen verstehen zu wollen, den versteckten Sehnsüchten nachzuspüren und für die Zukunft zu sorgen.
Die esoterischen Ansätze des Weges nach innen, der Wandlung und Transformation fallen allerdings eher dort auf fruchtbaren Boden, wo der unbeschwerte Optimismus angeschlagen ist, wo eher existentielle Verunsicherung durch Mißerfolg oder nicht weiter erklärbare Prozesse vorherrschen. Nicht jedes Scheitern einer Ehe ist bedingt durch Bindungsunfähigkeit oder mangelnde Fähigkeit des Gefühlsausdrucks. Bei vielen, ob Männer oder Frauen, stellt sich heraus, daß es einfach das Bedürfnis ist, sich nach innen zu kehren, sich dafür Zeit zu nehmen, um dem Anspruch der Tiefe - meist für Außenstehende unverständlich - zu genügen. Solche Menschen kann man dann in Meditationszentren - ob christlich oder buddhistisch - antreffen, die ihnen oft auch zur Heimat werden.
Wie ist eigentlich die Reaktion aus dem kirchlich - christlichen Raum auf diese Aspekte vom Neuen Menschen?
Es klingt ernüchternd und enttäuschend, wenn in einem Leitartikel der Herder Korrespondenz als christliche Antwort auf diese Herausforderung nur gesagt wird, daß christliche Verkündigung vom Neuen Menschen immer unter "eschatologischem Vorbehalt" stehe, daß da "eine unaufhebbare Spannung zwischen dem schon erfahrbaren Heil Gottes im Hier und Jetzt und der gleichermaßen umfassenden wie unverfügbaren Neuwerdung in der Ewigkeit Gottes" sei (21). Allein schon die Art des Ausdrucks macht es schwer, das Gemeinte zu verstehen oder gar zu vermitteln. Worauf es ankäme, wäre daß Heil Gottes auch im Hier und Jetzt tatsächlich erfahren wird, daß Menschen in ihrer spirituellen und menschlichen Not im Raum der Kirche finden, was sie suchen: Verstehen, Ernstgenommen-Werden, Tiefe. Im Hinblick auf die Anfänge des Christentums gäbe es zum Thema des Neuen Menschen sehr viel zu sagen. Der verstorbene Pastoraltheologe Viktor Schurr nennt als große Leistung der Frühkirche die Schaffung einer "neuen Menschenart", allein vom Glauben her, gegen eine Übermacht des Heidentums (22). Dies ist wesentlich mehr als nur die Spannung zwischen der (recht frustrierenden) Gegenwart und der Vollendung in der Ewigkeit auszuhalten. Die frühe Kirche hatte die Kraft, Menschen zu wandeln. Dies ist mehr, sogar total anders als Erziehen oder zum Befolgen der Gebote Anhalten. Das Grundlegende der Christen von damals war eine neue Erfahrung, weniger ein Hineinwachsen in schon vorgegebene Schemata oder ein mühsames, wiederholtes Ausrichten an hohen Idealen. Es muß etwas gewesen sein, was den ganzen Horizont des Erlebens, der Motivationen und Impulse und den des Denkens, der Lebensinhalte und Werte umgekippt hat. Nur auf dieser Ebene werden wir den Aussagen von einer "neuen Schöpfung" (2 Kor 5, 17), von der "Neuheit des Lebens" (Röm 6, 4), daß "Altes vergangen ist und Neues geworden ist" (2 Kor 5, 17), gerecht. Den Vorgang bezeichnet Paulus sogar als Sterben und Auferstehen (Röm 6, 1-20), um die Radikalität des ganz anderen Lebens zum Ausdruck zu bringen. Auf Grund seiner persönlichen Geschichte meint er damit ein reales Erleben, nicht nur eine theologische Interpretation der Taufe. Gerade bei solchen Bezeichnungen der Taufe und deren Wirkungen ist primär an den Prozeß zu denken, durch den ein damaliger Jude oder Heide gehen mußte. Er wurde zum Eingangstor für die anderen und das ganze christliche Leben, weil sich in diesem Wandlungsgeschehen eine neue Weite des Verstehens auftat.
Um es noch einmal zu sagen: die Wandlung, die in den frühchristlichen Schriften gemeint ist, ist etwas anderes als Perfektionierung einer bestimmten Lebensweise; sie ist nicht unmittelbar vom Willen hervorgerufen, sondern ein Widerfahrnis. Paulus nennt es Gnade; etwas, was nicht er gemacht, sondern was mit ihm geschehen ist. Den neuen Zustand bezeichnet er als "in Christus sein" (2 Kor 5, 17). Das ist das Schlüsselwort zum Verständnis der Gedankenwelt des Paulus und wäre es auch für das Christseins unserer Tage. Was aber ist mit dem Neuen Menschen bei uns Christen heute? Zunächst sollten wir uns von der Vorstellung frei machen, als ob wir durch die Taufe schon alles "hätten". Paulus und die anderen Schriftsteller schildern im Blick auf die Taufe Erlebnisprozesse Erwachsener, die ja im Zustand des Kleinkindes, in dem heute die Taufe gespendet wird, ausgeschlossen sind. Dem spirituellen Niveau nach steht die Mehrzahl der Getauften unserer Zeit den damaligen Heiden oder gläubigen Juden näher als dem von Dynamik und Aufbruchstimmung erfüllten frühen Christentum. Dort gab es den Neuen Menschen tatsächlich, während er heute eher außerhalb gesucht wird.
Qualitäten des Neuen Menschen
Im New-Age Wörterbuch (23) werden die Qualitäten des Neuen Menschen der kommenden Bewußtseinsstufe oder des nächsten Weltzeitalters angeführt. Sie stammen aber nicht von einer esoterischen Schule, sondern vom Begründer der Gesprächspsychotherapie Carl Rogers. Er ist der erste in seinem Beruf, der therapeutische Gespräche durch Tonbandprotokolle und Fragebögen wissenschaftlich überprüfen ließ. Deshalb lohnt es sich, die von ihm ausgemachten Kennzeichen des Neuen Menschen ernst zu nehmen und sie mit denen des christlichen Ursprungs zu vergleichen.
Erstens: Offenheit: Damit ist eine Einstellung gemeint, die neue Erfahrungen, Betrachtungsweisen, Lebensarten und Ideen nicht sofort ablehnt, sondern sich dort Anregungen holt zum eigenen spirituellen und persönlichen Wachstum, zur Erweiterung des eigenen Horizonts.
Es gibt bei den Kirchenvätern die Tradition des "Logos spermatikos" (23), welche auch bei anderen Religionen oder weltanschaulichen Richtungen Samenkörner oder Keime der Wahrheit zu finden sich bemüht. Dies käme der von Rogers angeführten Offenheit nahe.
Wie wichtig das Thema des Öffnens für den Zugang zum Glauben war, zeigt der bis heute noch geübte Ritus des "Effeta" während der Taufe. "Effeta" heißt: öffne dich. Jesus hatte es einmal zu einem Taubstummen gesprochen und ihm dabei Mund und Ohren aufgetan (Mk 7, 31-37). Ein neues Hören mit anderen Ohren und ein Sprechen mit einer anderen Zunge - eine neue Sprache - war einmal Ergebnis eines Bekehrungsweges.
Als zweite Eigenschaft wird Authentizität genannt. Es ist die Ablehnung von Heuchelei, Betrug, Doppelzüngigkeit. Es ist die Echtheit eines Menschen, die im Gespräch, im Auftreten, in einer Begegnung sofort spürbar wird, die Vertrauen schafft und es anderen ermöglicht, sich zu öffnen. Deshalb gilt sie bei Rogers als Voraussetzung für eine erfolgreiche Psychotherapie.
Im Neuen Testament steht dafür das Wort Wahrheit (Joh 14, 6; Eph 4, 23). Im Laufe der Christengeschichte hat man sich lange genug um die "Wahrheit" und "Wahrheiten" gestritten und tut es bis auf den heutigen Tag. Man hat nicht beachtet, daß Wahrheit primär eine Einstellung im Sinne von Echtheit meint, ohne die auch keine objektive Wahrheit als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses möglich ist. Das beste Zeugnis dafür bietet das Johannesevangelium. Als Jesus den Nathanael auf sich zukommen sieht, sagt er von ihm: "Seht, wahrhaftig ein Israelit, an dem kein Falsch ist" (Joh 1, 47). Eindeutig meint Jesus die Echtheit oder Authentizität dieses Mannes. Die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit (Joh 4, 23) bedeutet ebenfalls die Wahrheit der Einstellung. Wenn Jesus sich als die Wahrheit bezeichnet (Joh 14, 6), sollte man nicht sofort an Absolutheitsanspruch gegenüber anderen Religionen denken, sondern eher daran, daß in ihm Wahrheit als Einstellung und Inhalt zusammenfallen, daß in ihm das lebte, wovon er sprach; daß er zu seiner Wahrheit - dem Willen des Vater - bis zur letzten Konsequenz stand.
Eines läßt sich sagen: Die Echtheit des Religiösen zeigt sich darin, ob jemand recht - haben oder recht - sein will. Würde diese Haltung im Raum der Kirche Schule machen, würden sehr bald verhärtete Fronten aufgeweicht und man würde anders miteinander reden.
Der dritte Punkt ist die Skepsis gegenüber der Wissenschaft und Technologie. Sie ist sicher berechtigt, einmal weil die Technik die Sehnsucht des Menschen nach dem wahren Glück, nach Erfüllung, nach Verstehen und Nähe nicht abdeckt, zum anderen, weil der Mißbrauch ihrer Macht mit Recht zu fürchten ist.
Als viertes wird Ganzheit angeführt. Sie ist das hervorstechendste Anliegen der Esoterik und eines der Grundbedürfnisse der Menschen unserer Zeit.
"Ganzheitlich" heißt, daß der Mensch nicht in verschiedene Segmente aufgeteilt wird, sondern daß alle Lebens- und Erfahrungsbereiche eingeschlossen sind. Im Blick auf die Naturvölker, die man um den uns verloren gegangenen Sinn für die Einheit des Ganzen beneidet, wird der Medizinmann oder Schamane zum typischen Vertreter.. Er ist für Krankheiten, für Träume und Visionen und den Umgang mit den Geistern zuständig. Er ist Heiler, Seelsorger, Priester, Prophet und geistig-religiöser Führer in einem. Bei den Sioux wird er Wicasa Wakan, "heiliger Mann" genannt.
Vergleicht man damit die Gestalt Jesu, wie sie in den Evangelien dargestellt ist, ergibt sich eine wesentlich größere Nähe zum Medizinmann als zum Berufsbild des Priesters und anderer Diener oder Amtsträger der Kirche. Das Entscheidende dürfte sein, daß die Berührung mit dem Heiligen in der Tiefe der Existenz innere Einheit und wohltuende Geschlossenheit eines Menschen mit sich bringt. Ein solcher geht anders auf seine Mitmenschen zu, berührt sie in den Wurzeln ihres Wesens und ermöglicht in ihnen ähnliche Erfahrungen der Einheit mit sich, von Geist, Seele und Leib. Wem solches widerfährt, der hat das Gefühl: Ich werde als Ganzer angesprochen, als der/die ich im tiefsten Wesen bin; ich fühle mich aufgehoben und verstanden. Ein Grund, warum Begegnungen mit Heiligen so beliebt waren und immer noch sind; man denke an den hl. Franziskus, an den Pfarrer von Ars, zu dessen Besuch eine ganze Postlinie aufgemacht werden mußte, an Papst Johannes XXIII und an Roger Schutz in Taizé.
Die Nähe des Heiligen wird erfahren als Heilung der inneren Einsamkeit und Zerrissenheit, und oft auch von körperlicher Krankheit.
Es sei noch hingewiesen, daß im Englischen "whole" (ganz) und "holy" (heilig) verwandt sind, ebenso heil und heilig. Ein Mensch, der von der Atmosphäre des auferstandenen und verherrlichten Jesus geprägt ist, besitzt diese Eigenschaft: "In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben... Kranken werden sie die Hände auflegen, und diese werden gesund werden" (Mk 16, 17).
Die fünfte Eigenschaft des Neuen Menschen ist Nähe: Man bemüht sich, Gemeinsames zu entdecken, gemeinsame Ziele zu erreichen durch Initiativgruppen für bestimme Probleme, z.B. Kinderbetreuung oder Ähnliches. Neue Formen der Kommunikation werden erforscht. Hier ist allerdings seit dem Entstehen der sogenannten Encounter-Gruppen eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Echte Nähe läßt sich nicht machen. Gewisse Regeln der Konvention, z.B. ob Sie oder Du kann man zwar schnell überspringen, nicht aber ein grundlegendes Bedürfnis nach Distanz, nach Alleinsein, wenn es die seelische Entwicklung in einer bestimmten Lebensphase erfordert.
Von christlicher Seite sollte zu denken geben, daß im Sprachgebrauch für die Angehörigen desselben Glaubens oder einer Ordensgemeinschaft die Bezeichnung Brüder oder Schwestern üblich ist. Was heute zur leeren Formel erstarrt ist, muß bei dessen Einführung echte, neue Nähe, sogar Verwandtschaft ausgedrückt haben. Jesus hat die als Brüder und Schwestern bezeichnet (Vgl. Mk 3, 35), die den Willen Gottes tun.
Dies klingt für uns zunächst recht hohl, doch gibt es tatsächlich ein tiefes Empfinden für die Nähe Gottes, das man unmittelbar beim anderen spürt und das eine sehr innige Verbindung und Verstehen schafft. Es gilt, was von der Begegnung mit den Heiligen gesagt wurde: ein Raum der Ergriffenheit, der stillen Freude, der Einheit mit sich und dem anderen tut sich auf. Es gibt in der Tiefe der Seele einen Punkt, wo man sich selbst, dem Anderen und Gott zugleich nahe ist und zwar nicht in symbiotischer Verschmelzung und Abhängigkeit, sondern in der Wahrung der Eigenständigkeit und Freiheit jedes einzelnen.
Ob die gewonnene neue Nähe Einengung und Unterdrückung oder sogar Aufgabe der eigenen Identität bedeutet oder ob Nähe in Freiheit möglich ist, an dieser Frage müssen die neuen Formen der Selbsterfahrung und der spirituellen Innenwege gemessen werden.
Als weiterer, sechster Punkt wird Prozeßbewußtsein genannt. Es ist die Einsicht, daß leben ständige Veränderung bedeutet. Der Wandel, der einem von der Lebensgeschichte und von den äußeren Umständen auferlegt wird, wird nicht als bedrohlich, sondern als Herausforderung der eigenen Lebendigkeit erlebt. Es ist das Gegenteil von Erstarrung in Routine, Formeln und Denken in Schablonen. Es beinhaltet die Bereitschaft zum Risiko, sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Im Sprachgebrauch der spirituellen, auch der christlichen Schule steht die Bezeichnung "Weg", was dem Prozess (Prozess kommt von procedere = voranschreiten) entspricht. Aus Japan sind einige ursprüngliche "Sport"arten bekannt, die auf Do enden, z.B. Ju-do, Aki-do und ähnliche. Do heißt Weg. Nach der Apostelgeschichte bekennt Paulus im Vorhof des Tempels, er habe den neuen Weg bis auf den Tod verfolgt (Apg 22, 4) und meint damit nicht eine abgehobene Lehre, sonder die neue Lebensform, die neuen Überzeugungen von Gott und die Personen, die sie vertreten. Im Johannesevangelium sagt Jesus von sich, er sei der Weg (Joh 14, 6). Wie historisch dieses Wort ist oder nicht, feststeht, daß mit der Bezeichnung Weg die Erfahrung mit Jesus verbunden wurde. Dies bedeutet Wandel, Aufbruch, Überraschungen, Entwicklung, Lebendigkeit. Ausgeschlossen sind Erstarrung und Verhärtung.
Die siebte Qualität des Neuen Menschen heißt Anteilnahme. Darunter wird verstanden: unaufdringliche, nicht moralisierende, nicht urteilende Form der Zuwendung und Empathie.
Sofort taucht hier das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf (Lk 16, 25-37), das tatsächlich Geschichte gemacht hat. Was es heute an gesundheitlicher Versorgung gibt, geht auf christliche Wurzeln und auf das Beispiel des Mannes aus Samaria zurück. Das andere ist aber, daß das Gleichnis im Raum des Christentums nur zur Hälfte verstanden wurde. Warum nimmt Jesus, der die Geschichte wahrscheinlich erfunden hat, gerade einen Samariter, einen von einem Volk, zu dem eine traditionelle Feindschaft besteht? Doch wohl um zu zeigen, daß einer von der ganz anderen Seite mit dem anderen Glauben auch zu einer guten Tat fähig und deshalb ist und deshalb unsere Sympathie verdient und als Nächster zu lieben ist (Lk 10, 37). Was die Nächstenliebe der Tat anbelangt - die Sorge um die Armen und Kranken - haben wir in der Christengeschichte große Helden/innen aufzuweisen, was aber gegenseitige Toleranz, Einfühlung und Achtung auch dem Vertreter des anderen Glaubens oder auch nur einer anderen Richtung anbelangt, sieht es allerdings ganz anders aus. Beschämt müssen wir feststellen, welche Verletzungen sich Christen gegenseitig zugefügt haben und noch zufügen. Immer noch wird nicht verstanden, daß Nächstenliebe als erstes darin besteht, die Überzeugung, die Entscheidung, die Freiheit und die Gefühle des anderen zu achten.
Die achte Eigenschaft ist der ökologische Aspekt. Der Neue Mensch achtet die Natur, lebt mit ihr in Einklang und schützt sie. Im Neuen Testament ist auch dieser Punkt vertreten. Kein anderer als Paulus hat auch ein Herz für die Schöpfung. Er spürt das "Seufzen" der Kreatur und ist davon überzeugt, daß auch sie am verklärten Zustand der Kinder Gottes teilhaben wird (Röm 8, 19-23). Im Rückblick betrachtet haben diese Gedanken des Apostels wenig Widerhall gefunden. Der Begründer einer christlichen Schöpfungsliebe ist eindeutig der hl. Franziskus von Assisi. Aber auch er und seine Schule konnten die geistesgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes, die auf die Trennung von Geist und Gefühl, von Mensch und Natur hinauslief nicht aufhalten. In der ökologischen Bewegung ist jedoch, wie in vielen anderen Aufbrüchen der neuesten Zeit, ein verlorengegangener Keim der christlichen Wahrheit.
Als weiterer Punkt gilt die Ablehnung von Institutionen, wenn sie überstrukturiert gegen Menschen eingesetzt werden. Hier schließen sich die kirchenkritischen sofort an mit der Feststellung, daß gerade Jesus Verhärtung und Herzlosigkeit in der Auslegung der Gesetze angreift und alles andere als ein Freund eines seelenlosen Apparates ist. Allerdings darf man von einer Veränderung der Strukturen, wie das häufig gefordert wird, nicht allzuviel erwarten. Wenn sich nicht Menschen ändern, wird der alte Geist der Beziehungslosigkeit, der Kälte, der Gleichgültigkeit wieder einziehen.
Eine echte Wandlung geht nicht ohne die Stärkung der inneren Autorität, welche ebenfalls ein Kennzeichen des Neuen Menschen ist. Damit hängt das Vertrauen in die eigenen Erfahrungen zusammen. Während diese heute im Raum der Kirche eher gegen Tradition und äußere Autorität verteidigt werden müssen, war es in den ersten Jahrhunderten genau umgekehrt: Es war der Vorwurf der Heiden an die Christen, daß sie die alten religiösen Traditionen mißachten (24). Paulus beruft sich auf seine ganz persönliche Erfahrung, daß "ihm Gott seinen Sohn offenbarte" (Gal 1, 16). Allerdings gehört zu einer echten inneren Autorität auch die Bereitschaft, seine (religiösen) Erlebnisse und Überzeugungen auch kritisch zu überprüfen, durchaus auch an dem, was die Tradition sagt. Die Geschichte des Christentums kennt zu viele Gruppen oder einzelne, die eine Augenblickserleuchtung schon für die absolute Wahrheit halten und sie mit Fanatismus verteidigen oder auszubreiten versuchen. Eine echte innere Autorität jedoch ist gelassen, selbstkritisch weiß sie auch um die Einwände und um die noch nicht geklärten eigenen Anteile. Sie kann auch Meinungen gelten lassen.
In zwei weiteren Punkten nähert sch Rogers dem christlichen. Zum Neuen Menschen gehört die Unwichtigkeit materieller Dinge, Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Anreizen und Belohnungen, gegenüber Geld und Statussymbolen.
Damit verbunden ist die Sehnsucht nach dem Spirituellen. Es wird etwas gesucht, das größer ist als das Individuum, Bewußtseinszustände, welche die Einheit und Harmonie des Universums erlebbar machen.
Niemand wird bestreiten, daß hier von einer ganz anderen Seite Werte des Urchristentums auftauchen, die man in der Bergpredigt wie beim hl. Franziskus findet. Neben Rogers sollten wir bei der Vorstellung des Neuen Menschen auf den Begründer der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jung zurückgehen. Nach seinen Beobachtungen an Patienten geht der Prozeß der inneren Entwicklung auch nach einer Behandlung weiter. Er kommt zu dem Schluß, daß es eine Dynamik der Entfaltung zum größeren Umfang der Persönlichkeit gibt, die nicht dem Bewußtsein und der Willkür unterworfen ist und eigentätig wirkt. Weil er diese Instanz das Selbst nennt im Unterschied zum Ich, spricht er von Selbstwerdung oder Individuation. Im Grunde geht es hier auch um einen Neuen Menschen, der primär aus den geistigen Schichten des Unbewußten lebt, wo die vitalen Anteile mitleben dürfen, aber nicht mehr eine verwirrende und zerstörende Macht ausüben. Individuation meint die volle Ausprägung des ganz Eigenen, was nicht mit Egoismus verwechselt werden darf. Was wir als das uns Eigene erkannt haben - eine Aufgabe, einen Beruf, oder auch eine Idee, eine Begegnung mit einem anderen Menschen - das gibt uns Kraft oft sogar zu heroischen Taten. Wenn wir deshalb im Prozeß der Selbstwerdung Fremdes und Übergestülptes ablegen, bis zum Kern unseres Wesens, nehmen wir an innerer Sicherheit und Lebendigkeit zu. Wie von selbst erwachsen in uns die von Rogers beschriebenen Qualitäten des Neuen Menschen. Wir werden kontaktfähiger und angstfreier. Der erwähnte größere Umfang der Persönlichkeit besagt, daß wir die dunklen Seiten und uns, welche Ängste erzeugen und echte Kontakte verhindern, erhellt haben. Dies schließt eine stärkere Dichte der Ausstrahlung und den klareren Überblick mit ein. Der aber dürre und abgehobene Intellekt muß sich mit der Welt des Irrationalen, der Instinkte und der spirituellen Erfahrung versöhnen. Im Hinblick auf den Stand der geistesgeschichtlichen Entwicklung heißt das: Der Mensch der Aufklärung muß sich mit dem des Mittelalters, sogar mit dem noch älteren archaischen Menschen in sich versöhnen. Für ein erfülltes Leben in dieser Welt bräuchten wir etwas von den Instinkten der Ureinwohner Amerikas, noch mehr aber von der religiösen Kraft der asiatischen Traditionen, welche der unseres europäischen Mittelalters entspricht. Wie es aber in uns selbst suchen?
Die esoterische Überschwemmung aus diesen Kulturen ist deshalb möglich, weil beim europäischen Menschen in Bezug auf Religion, Instinkte und Gefühle eine Leerstelle ist. Die von Jung gemeinte und praktizierte Bildung der Persönlichkeit hat die Füllung dieser Leerstelle zum Ziel aus den Beständen des eigenen Unbewußten, d.h. was die Träume an Bildern und neuen Erkenntnissen hervorbringen.
Der Neue Mensch ist in diesem Sinne keine Utopie, die niemals erreicht wird, sondern kann Realität werden, wenn in uns die Dynamik des Werdeprozesses geweckt wird.
Der Neue Mensch - nur Utopie?
Der Weg der Transformation
Im New-Age Lexikon wird die Vorstellung Rogers vom Neuen Menschen als Utopie oder als visionäre Leitidee bezeichnet. Dies klingt nicht gerade ermutigend; denn in der Geschichte gab es genug (politische) Utopien, die zu verwirklichen nie gelungen ist, die aber maßlose Opfer gekostet haben. Also wieder etwas anstreben, was sich nie erreichen läßt?
Wir sollten nicht vergessen, daß Qualitäten, die Rogers anführt, aus seiner Erfahrung mit Menschen in seinen Encounter-Gruppen und in persönlicher Begleitung stammen, ebenso ist das, was Jung über die Entwicklung der Persönlichkeit sagt, Ergebnis seiner Beobachtung an Patienten über Jahrzehnte.
Ebenso sind die Zeugnisse des frühen Christentums und der großen Gestalten der christlichen Geschichte sowie anderer Religionen nicht aus der Luft gegriffen, sondern spiegeln den Denk- und Erlebnishorizont dieser Menschen wieder. Um nocheinmal auf den Sonnengesang des hl. Franziskus zurückzukommen: er drückt die innere Welt, die Qualitäten dieses Mannes aus: die Tiefe des Spirituellen, die Nähe zur Natur, die Nähe zu den Menschen, die Überwindung des Todes.
Bleibt aber immer noch die Frage der Verwirklichung. Der hl. Franziskus hat viele Bewunderer und Verehrer, aber wenige, die überzeugend so leben wie er. Zudem weigern sich viele, Idealen nachzurennen, die man doch nie erreicht. So macht sich Skepsis und Hoffnungslosigkeit breit.
Genau hier setzen die esoterischen Schulen und neureligiösen Bewegungen an. Sie haben die Transformation in ihrem Programm. Sie kennen Mittel und Wege, um aus alten neue Menschen zu machen. Die Methoden - von Außenstehenden Techniken genannt - bestehen darin, dem einzelnen außerordentliche Erlebnisse zu verschaffen, die gerade seiner inneren Leere, Trauer oder Einsamkeit entsprechen und ihn auf diese Weise in eine neue Spur der Lebenseinstellung und Gestaltung führen.
Daß es auf das Erleben, nicht auf die Belehrung ankommt, wenn Menschen sich wandeln sollen, diese Wahrheit scheint in den traditionellen christlichen Ordensgemeinschaften meist vergessen worden zu sein. Umsomehr müßte man danach suchen, wie die Kunst und die Kraft der frühen Kirche, eine "neue Menschenart zu schaffen" wieder gewonnen werden kann.
Hier brauchen wir nicht unbedingt von den Sekten lernen, aber sehr viel von den ernsthaften Therapeuten, die sich mit Heilung, Wachstum und Entwicklung der Persönlichkeit beschäftigen. Gerade die erwähnten Namen Carl Rogers und C. G. Jung weisen einen gangbaren Weg.
Er kann kurz so beschrieben werden: In uns selbst ist die Dynamik einer heilenden und wandelnden Kraft. Jung hat aufgrund seiner Beobachtungen von Träumen und Prozessen des Unbewußten bei seinen Patienten nachgewiesen, daß dieser Impuls zur größeren, umfassenderen Persönlichkeit in der Tiefe der Seele vorhanden ist. Es ist eine Instanz jenseits unserer Bewußtseinsgrenze. Sie ist Bild Gottes und Gefäß der göttlichen Gnade - so Jung. Sie ist gleichbedeutend mit dem religiösen Archetyp, der eigentätig die Entwicklung zur Ganzheit will. Das bedeutet die Ausprägung zur Individualität, aber auch zu einer neuen sozialen Nähe, sowie Nähe zur Natur. Jung geht von einer geistigen Mitte jenseits unseres Bewußtseins gibt, die diesen Prozeß von sich aus als geistige Kraft in Bewegung setzt, das innere Chaos ordnet und Unteres und Oberes, d.h. Materielles, Emotionales, Rationales und die spirituelle Ebene zu einer Einheit verbindet. Diese Instanz ist nicht nur Zentrum für die Einzelnen, sondern für alle, die daran angeschlossen sind. Für Christen ist dieses Christus als Mittelpunkt und "Haupt der Gemeinde.
Bei Selbsterfahrungskursen mit Träumen, die ich regelmäßig veranstalte, vollzieht sich ein Prozeß, in dem jeder einzelne sein eigenes Traumthema verarbeitet, wo Spannungen sich lösen, wo Begegnungen stattfinden und Nähe aufbricht; man gewinnt den Eindruck: je mehr jede/r einzelne sie/er selbst wird, umso mehr Gemeinschaft entsteht. Es wird immer wieder bestätigt, daß der Punkt, der von Innen her erlöst, für alle derselbe ist.
In ihm ist die Dynamik der Persönlichkeitsentfaltung. Auslöser des Prozesses sind meistens Einbrüche in das gewohnte Leben durch Krankheit, Trennung oder andere Krisen, welche sich meist um die Lebensmitte ereignen. Sie zwingen uns, uns von äußeren Lebensinhalten zurückzuziehen, uns voll dem Innen (griechisch eso) zuzuwenden und ganz dem nachzugehen, was das Eigene ist. Einbrüche können auch spirituelle Neuheitserfahrungen sein, welche die bisherigen Wertmaßstäbe in Frage stellen. Ohne ein solches Ereignis ist die Wende im Leben des hl. Franziskus und vieler anderer großer Heiliger nicht zu verstehen. Auch von Jesus wird ein solches berichtet - "da öffnete sich ihm der Himmel" (Mt 4, 1). Auch er zog sich in die Wüste zurück.
Die Nachfolge Jesu und die des hl. Franziskus beginnt dann wirksam zu werden, wenn in uns ein ähnlicher Prozeß angestoßen wird. Es wurde schon gesagt, daß man Erlebnisse nicht machen kann, aber daß man sich für sie bereiten, Dinge tun kann, die in die Nähe des Erlebnisses führen. Dies geschieht dann, wenn wir uns mit uns selbst konfrontieren, aufhören, unsere negativen Seiten, unsere Schatten auf andere zu projizieren, unsere eigenen Anteile bei einem Konflikt sehen, der Not, Einsamkeit, Leere in uns selbst nicht mehr davonlaufen.
Als hilfreich hat sich die schon erwähnte Arbeit mit Träumen erwiesen. Sie enthalten Bilder, deren Energie uns beim richtigen Verstehen zufließt. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit, Einfluß auf den unbewußten Teil unserer Seele zu nehmen und die Entwicklung des zukünftigen größeren Menschen zu fördern.
3. Esoterik: Die existentielle Falle
Auslösung der Individualität?
Bei ernsthaften, esoterischen Ansätzen ist oberstes Ziel die Wandlung des Menschen zur Einheit mit sich selbst, mit dem Kosmos und mit Gott. Eine Einführung in die Mysterien, die sogenannte Initiation sollte diesen Prozeß bewirken. Der Schüler, Adept oder Initiant genannt, soll sich für eine höhere Welt öffnen und deren Kräfte erfahren und dadurch zu einem neuen Menschen werden. Die Frage wird immer sein: Wie sieht der Mensch aus, der dabei heraus kommt? Im New-Age Wörterbuch finden wir zu diesem Thema beim Stichwort Buddhismus folgende Aussage: Endziel ist die absolute und endgültige Auslöschung der Individualität ohne Bewußtseinsverlust - ein Zustand, in dem aller Schmerz, alles Leiden, geistige Qual und Wiedergeburt zu existieren aufhören (25).
Der Ausdruck "die absolute und endgültige Auslöschung der Individualität" stößt zunächst einmal auf Skepsis. Wie immer man das Gesagte interpretieren mag, - im christlichen Raum ist die Ausprägung und nicht die Auslöschung der Individualität Ziel des menschlichen und spirituellen Strebens.
Es wurde gesagt, daß Nähe und Einheit nur dann eine Lösung für Die Beziehungsprobleme wird, wenn die Freiheit gewahrt bleibt. Das ist nur möglich, wenn der triebhafte Bereich des Unbewußten transzendiert wird zum geistigen Erleben. Die große Leistung Jungs war es, daß er hinter der Triebdynamik der unbewußten Seele noch eine Geistesdynamik entdeckt hat. Das heißt: der Mensch findet dann seinen Sinn und die Erfüllung seines Lebens, wenn er sich auf die Erfahrung des Transzendenten einläßt. Es geht um ein Eintauchen in den geistigen Grund der Seele und der Welt nicht aber um Aufgabe des Ich als Zentrum der Bewußtheit und der Selbstbestimmung. Der häufig gehörte Begriff vom Auslöschen des Ego soll in diesem Zusammenhang genauer betrachtet werden.
Eine Frau, die regelmäßig meditiert, kommt zum Gespräch. Sie beklagt sich, daß sie gerade in der Weihnachtszeit aus ihrer trüben Stimmung nicht heraus komme. In den Unterweisungen beim Sesshin sei ständig vom Loslassen des Ich die Rede gewesen. Das versuche sie jetzt, indem sie sich zurücknimmt, immer nachgibt und das tut, was ihr Mann wünscht. Trotzdem werde sie ständig trauriger. Offensichtlich hat die Frau einiges total falsch verstanden oder der Referent oder Meister hat die Akzente nicht richtig gesetzt. Wer den Weg nach innen gehen will, braucht ein starkes Ich. Gerade die Bedrohungen und Ängste, denen man dabei ausgesetzt ist, erfordern es. Zuerst sollte ein Mensch lernen, sich abzugrenzen; Ich zu sagen; den Raum seiner Lebensmöglichkeiten zu entdecken; er sollte sich eine feste Disziplin auferlegen und sich die Fähigkeit zur Konzentration aneignen. Häufig wird in esoterischer Literatur das Buch von Herriegel "Die Kunst des Bogenschießens" angeführt, um auf das Aufgeben des Ich hinzuweisen. In Wirklichkeit verlangt die Übung des Bogenschießens höchste Konzentration, ebenso wie das Sitzen im Stil des Zen. Dazu muß das Ich voll funktionsfähig sein. Bei aller berechtigten Rede über das Ich-Vergessen handelt es sich bei Herriegel nicht um eine Auslöschung des Ich, sondern um den vollen Kontakt mit der sonst unbewußten Ki-Kraft, die aus der Position des Selbst die Führung übernimmt und das kleine Ich von der eigenen Anstrengung befreit. Im Grunde wird das Ich nicht ausgelöscht oder vergessen, sondern auf eine höhere Ebene gehoben, wo die alten Gegensätze Einsamkeit und Nähe, Ablehnung oder Wertschätzung ihre Bedeutung verlieren.
So sehr man den Wert der Stille, den der Osten pflegt, schätzen muß, so kann das Sitzen und Schweigen nur die eine Seite eines spirituellen Innenweges sein. Zur Ganzheit gehört auch das Wort. Das, was in einem vorgeht, aussprechen und Verstehen ist die Grundlage der Begegnung von Mensch zu Mensch und der Bewußtwerdung und der Persönlichkeitsbildung. Wir im Westen brauchen die Stille, um in die Tiefe der Existenz zu kommen, wir brauchen für die Selbsterfahrung genauso die Sprache. Man kann häufig hören: Östliche und westliche Heilswege führen zum selben Ziel. Man muß aber auch dazusagen: Es ist nicht derselbe Mensch, der dabei herauskommt. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen oder auszutauschen, sondern um die Ganzheit zu erreichen. Der christliche Innenweg besagt nicht Individualismus, sondern Verbundenheit und Nähe in menschlicher und spiritueller Tiefe, ein solidarisches Miteinander aber in Abgrenzung und Freiheit.
Psychische Inflation: Gnosis und Bhagwan
Der richtige Weg der Individuation führt zunächst in die Tiefe und in die Dunkelheiten des menschlichen Daseins. Es ist die Konfrontation mit den negativen Eigenschaften, mit den Defiziten der Persönlichkeit, ebenso mit Krankheit, Leid und Tod. Zunächst ist es ein Abstieg, wozu das kleine Ich Stütze und Begleitung braucht.
Der Innenweg wird falsch, wenn man meint, sich den Gang nach unten, d.h. in die nüchterne Sicht der Wirklichkeit, in das Austragen von Einsamkeit und Leid ersparen zu können und ständig nur vom Gipfel zu noch höheren Gipfeln fortschreiten möchte. Das bedeutet konkret: Alle Angebote, die vorzüglich Ekstase und Erleuchtungserlebnisse anbieten, sind verdächtig. Eine Therapeutin, die im Bereich des Spirituellen zuhause ist, erzählt von Leuten, die mit ihren in indischen Ashrams gemachten Erleuchtungserlebnissen nicht zurechtkommen. Sie finden den Anschluß an die bisherigen Bezugspersonen, Lebenspartner, Freunde nicht mehr, noch weniger einen angemessenen Arbeitsplatz. Die Suche nach Highlight-Erlebnissen kann zur Sucht werden und lebensuntüchtig machen. Jung spricht von der Gefahr der Inflation des Bewußtseins. Sie ist die Gefahr bei allen sogenannten Psychotechniken, die entweder aus fremden Kulturkreisen stammen oder von sogenannten modernen Therapeuten entwickelt wurden. Inflation heißt Aufblähung. Gemeint ist: Durch bestimmte Übungen, z.B. holotropes Atmen, strömt eine gewaltige Energie in das Bewußtsein. Man fühlt ungeahnte Kraft und überschätzt sich selbst und seine eigenen Möglichkeiten.
Es sei noch einmal verwiesen auf die zu Beginn erwähnte schamanistische Behandlung. Es wäre falsch, von Aberglauben zu reden als von bloßem Humbug, den man noch durch teures Geld bezahlt. Es trat tatsächlich eine Wirkung ein, aber die einer Inflation des Ich; in der Sprache der Psychiatrie ausgedrückt: die Frau fiel in eine Psychose, in einen Zustand der Manie.
Inflation ist immer dann gegeben, wenn Menschen mit einem Dauerlächeln ihre felsenfesten Überzeugung anderen einzureden versuchen; wenn sie weder Argumenten zugänglich, noch bereit sind, eigene Positionen kritisch zu überprüfen. Es ist oft merkwürdig, wie junge oder nicht mehr ganz junge Leute, die von Religion nie etwas wissen wollten, plötzlich mit glühendem Eifer eine neue religiöse Richtung vertreten. Die Frage ist immer, inwieweit sie noch sie selbst sind oder inwieweit etwas abläuft, das eher einer Schablone gleicht als dem Ausdruck der Persönlichkeit.
Das Faszinierende an der psychischen Inflation ist, daß sie in Euphorie versetzt, daß sie den einzelnen seiner Einsamkeit und der Last eigener Entscheidungen entreißt, daß sie die Einheit schafft, nach der sich Menschen in ihrer Zerrissenheit und in ihrem Verlorensein sehnen. Aber es geht auf Kosten der freien, eigenständigen Persönlichkeit. Im Grunde wird die Angst nicht überwunden, sondern erzeugt Projektionen von Feindbildern; es kommen absurde Vorstellungen auf, etwa, daß alle anderen, die nicht zur Gruppe gehören, verloren sind oder daß sie absolut böse sind und sie vernichten wollen. Auf jeden Fall sind sie als Unerleuchtete der Verachtung wert. Mit diesen psychologischen Mechanismen muß eine religiöse Gemeinschaft immer dann rechnen, wenn sie besonderen Eifer und intensiven Zusammenhalt entwickelt. Andererseits läßt sich beobachten, daß durch wachsende Bereitschaft, mit anderen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen ins Gespräch zu kommen, die inneren Bindungen nachlassen.
So wird offenbar, daß es eher Gruppendruck aufgrund eines gemeinsamen überhöhten Ideals war, was die Mitglieder zusammenschloß als authentische Beziehungen von Mensch zu Mensch.
Die Inflation der Gnosis
Es wurde schon gesagt, daß die Gnosis im Altertum eine philosophisch religiöse Bewegung war, die in Konkurrenz zum jungen Christentum stand und es sogar beeinflußte. Der Grund, warum diese Richtung von christlichen Theologen bekämpft wurde, war, daß sie die eigene Erfahrung über die Zeugnisse der Hl. Schrift stellt.
Jung hat anhand einer gnostischen Schrift aus dem 2. Jahrhundert, den sogenannten Johannesakten, auf die Gefahr der Inflation hingewiesen. Bei diesem Text geht es um eine Vision des Petrus, die er vor seiner Kreuzigung hatte. Es besteht der Eindruck, so Jung, als ob das Licht alle Dunkelheit verschlungen hätte. Wie die erleuchtende Vision über der konkreten Kreuzigung steht (wörtlich heißt es: "von allem sinnlich Wahrnehmbaren haltet eure Seelen fern, von allem Erscheinenden, da es nicht wirklich ist!"), so steht der Erleuchtete über der gestaltlosen Volksmenge. Der Text sagt: "Darum kümmere dich nicht um die große Menge und verachte die, welche außerhalb des Geheimnisses stehen!" (26) Jung sieht diese Haltung als typischen Fall der Inflation. Sie entstand dadurch, daß sich der Erleuchtete mit seinem Licht identifiziert, d.h. sein Ich mit dem Selbst, das als überragende Mitte und Einheit der Person so wie der Welt umschrieben wurde, verwechselt und sich über seine eigene Dunkelheit und über alle Nichterleuchteten - die große Menge und die, die außerhalb des Geheimnisses stehen - erhaben dünkt. Der Verfasser der Schrift vergißt, so Jung, daß seine Erleuchtung ihm nur dann ihre Dienste leistet, wenn sie ihm hilft, seine eigene Dunkelheit zu erkennen. Das bedeutet, Gipfelerlebnisse dürfen nicht Selbstzweck sein, sondern Anstoß und Impuls, sich auf den beschwerlichen Weg nach unten zu machen.
Die eigene Dunkelheit erkennen, heißt selbstkritisch sein, sowohl in Bezug auf die eigene Person wie auf die Gruppe und deren Überzeugungen. Erst die Bescheidenheit schafft die Grundlage für das Gespräch mit Andersdenkenden und für gegenseitige Achtung und Toleranz.
Nach Jung sind ziemlich alle neureligiösen Bewegungen unter dem Stichwort Gnosis einzuordnen; er nennt Theosophie, Anthroposophie und die neu-gnostische Kirche in Frankreich. Heute dürfen wir die Vielzahl der Sekten, unter ihnen das "Universelle Leben" dazurechnen. Deren Aufblühen scheint Jung recht zu geben, daß das moderne Bewußtsein sich im Gegensatz zum 19. Jahrhundert mit seinen intimsten und stärksten Erwartungen der Seele zuwendet und zwar nicht im Sinne irgendeiner traditionellen Konfession, sondern im gnostischen Sinn. Der moderne Mensch will nicht glauben, sondern wissen, das heißt Urerfahrung haben (27).
Psychische Inflation: Bhagwan Shree Rajneesh
Ein eindeutiger Fall einer psychischen Inflation ist der schon erwähnte Begründer der Sanyasin, Bhagwan Shree Rajneesh.
Seine "Philosophie" ist eine Mischung aus altindischer religiöser Tradition und modernen therapeutischen Techniken amerikanischer Herkunft. Geschickt verstand er es, die Dynamik des Verdrängten und Angestauten bei den von der westlichen Zivilisation Enttäuschten zu öffnen. Bei den Treffen um den Meister brachen regelrechte Begeisterungsstürme aus. Seine Absicht war, seinen Anhängern sowohl der vitalen Seite, nämlich Sex und Aggression, als auch der spirituellen zum vollen Durchbruch zu verhelfen, und dies im vermischten Zustand. Der Akzent von Bhagwans Theorie liegt auf dem Erleben und auf Wandlung des einzelnen. Das klingt zunächst harmlos. In Wirklichkeit geht es um die Auflösung der Identität, um Abbau der Persönlichkeitsgrenzen. Und des Intimraumes. Die Praktiken, die von Jörg Andrees Elten beschrieben werden, lassen keinen Raum für freie Entscheidungen. "Es ist keine Zeit darüber nachzudenken" (28), steht an einer Stelle, wo eine Übung die andere jagt und wo der Leiter die Teilnehmer in immer stärkere Erregung hineintreibt. Was dabei herauskommt, sind Menschen, die aufgeladen sind mit Energie, "von Liebe" erfüllt, die aber die Fähigkeit zum kritischen Denken und zu echter zwischenmenschlicher Begegnung, die ihr ganzes Eigenes verloren haben und die nicht einmal merken. Nach Berichten soll es in Poona heute für die Sanyasin bestimmte Tage geben, wo alle auf Befehl nur traurig sind, und andere, wo alle nur lachen.
"Liebe ist nicht Zweierbeziehung. Liebe schließt alle Menschen ein, ist freier Fluß der sexuellen Energie", so steht es im Tagebuch einer Teilnehmerin (29). An anderer Stelle in einer Pause spürt Elten eine maßlose Einsamkeit.
Bhagwan behauptet immer, daß es ihm um das Göttliche gehe. Es ist im Menschen selbst. Deshalb brauche man nicht irgendeinen Gott anbeten. Bei den Mystikern des Ostens wie des Westens wird Erleuchtung der Seele mit einem Tropfen verglichen, der ins Meer fällt. Angelus Silesius sagt: "Das Tröpflein wird zum Meer, wenn es ins Meer gekommen, die Seele Gott, wenn sie in Gott ist aufgenommen". Der indische Meister drehte das Verhältnis um: Der Ozean fällt in den Tropfen! Damit wird jeder Tropfen zum Ozean! An keiner Aussage wird der Vorgang der Inflation des Meisters deutlicher. Tatsächlich war es auch so, daß er bald wie ein Gott verehrt wurde. Es wird berichtet, daß er 120 Rolls Royce besaß, daß er sich die zweihundert Meter von seinem Zimmer zur Buddhahalle in einem solchen fahren ließ. Seine Anhänger behaupten zwar, nicht deshalb habe er das getan, um seine Größe zu zeigen, sondern um sie zu schockieren und ihr Gedankensystem zu durchbrechen. Wie immer das Motiv gewesen sein mag, in beiden Fällen kommt eine nicht geringe Selbstüberschätzung zum Vorschein. So etwas wie Ehrfurcht vor jedem Menschen, gerade weil in ihm das Göttliche wohnt, war ihm fremd. So waren ihm und seinen Freunden die negativen Folgen seiner sogenannten Therapien ziemlich gleichgültig. Eine Psychologin, die ein Jahr in Poona war, berichtet, daß sie bei einem Darshan (Versammlung) in die Augen dieses Mannes geblickt habe. Sie waren eiskalt und erschreckend. Dieselbe Frau hatte vor ihrem Poona-Aufenthalt als Therapeutin erfolgreich gearbeitet. Seitdem aber hatte sie schon sieben Psychosen und mußte in einen anderen Beruf umsteigen.
Das Phänomen "Bhagwan" ist inzwischen abgeklungen, nicht aber die Problematik unserer Zeit, die es wie in einem Brennglas gesammelt und gespiegelt hat. Da treffen sich aus der ganzen Welt Menschen aus führenden Berufen der Gesellschaft, Manager, Professoren, Lehrer, Ärzte, Psychologen, um ihrem entleerten und sinnlosen Leben eine Wende zu geben. Heute nach 25 Jahren fühlen sich die meisten betrogen. Man muß aber in aller Nüchternheit die Frage stellen: Wo im christlichen Raum gibt es Orte, wo Menschen eine "Wiedergeburt", "eine Neuheit des Lebens" in dieser Radikalität erfahren könnten?
Unvermischt und ungetrennt
Die verwirrende Fülle von esoterischen, pseudoreligiösen und echt spirituellen Angeboten macht den Durchblick schwierig und man sucht verzweifelt nach Kriterien der Beurteilung. Die Tiefenpsychologie, die einen Schritt weiterhilft, verweist aber auf die alte christliche Tradition der Unterscheidung von Menschlichem und Göttlichem, von Heiligem und Profanem.
In den ersten Jahrhunderten des Christentums hat man um diese Klarheit gerungen. Das Ergebnis war die Formel des Konzils von Chalzedon. Sie lautet:
Die beiden Naturen sind in Jesus unvermischt und ungetrennt. Aus tiefenpsychologischer Sicht würde man die göttliche Natur in Jesus als das Selbst bezeichnen, die menschliche als das Ich. Damit sagt das Konzil nach tiefenpsychologischer Lesart: Jesus hat sein Ich nicht mit dem Selbst verwechselt, er ist nicht einer Inflation zum Opfer gefallen. Daß diese tatsächlich ein Thema für Jesus war, zeigen die Versuchungsgeschichten. Die drei Evangelisten Mathäus, Markus und Lukas berichten, Jesus sei in der Wüste vom Teufel versucht worden (Mt 4, 1-11; MK 1, 12; Lk 4, 1-13). Der Satan will ihn dazu verleiten, die Wunderkraft für eigene Bedürfnisse zu verwenden, sich auf leichte Weise Anhänger zu verschaffen und die Welt zu beherrschen, d.h. das Religiöse und die spirituelle Berufung mit der Macht zu verbinden; eine Verlockung, der seine Jünger im Laufe der Geschichte immer wieder erliegen.
Die Formel "unvermischt und ungetrennt" könnte eine Lösung der geistigen Auseinandersetzung unserer Zeit sein. Die dem naturwissenschaftlichen Denken Verhafteten haben fein säuberlich Intellekt vom Gefühl, Wissen und Macht von menschlichen Werten getrennt. Die Folge ist eine seelenlose, gefühllose herzlose, erstarrte Welt.
Als Gegenreaktion überflutet nun die Dynamik des Irrationalen, der Esoterik den geistigen Raum. Ihr Kennzeichen ist, daß sie alles "vermischt", d.h. verwechselt und vertauscht. Sie bringt war Bewegung und Lebendigkeit, kann viele faszinieren und in ihren Bann ziehen, aber sie schafft auch Chaos, entläßt die Menschen verwirrt und enttäuscht. Deshalb gilt es, die Balance zu finden zwischen dem, was aus dem Reich des Irrationalen - mythologisch gesprochen aus der Unterwelt - aufsteigt und dem, was uns der klare Verstand sagt. Dies bedeutet, uns nicht den Reichtum und die Kraft der emotionalen und spirituellen Erfahrung abschneiden, zum anderen eine klarsichtige Unterscheidung, was auf die Wirklichkeit zutrifft und was nicht.
Nicht indem wir ungewohnte Impulse des geistigen Lebens abwehren und verdrängen, sondern indem wir darin die Keime einer tiefgreifenden Wandlung erkennen und sie uns zu eigen machen, werden wir den Herausforderungen unserer Zeit die nötige Antwort geben..
Anmerkungen
- Goethe, Faust I, 4160
- Vgl. Bernhard Grom SJ, Faszination Esoterik in Stimmen der Zeit 3,2000
- Gruber Elmar und Fassberg Susan, New Age Wörterbuch, Freiburg 1986, Art. Esoterik
- Gerhard Schmidtchen, Sekten und Psychokulturen, Reichweite und Attraktivität von Jugendreligionen in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg i. Br. 1987/65f
- Connection, Lebenskunst, Vision, Bewußtsein, 2/ 2000/ 16. Jg./ 5f
- Eugen Biser, Glaubensverständnis, Freiburg 1975, 132
- Carlos Castaneda, Reise nach Ixtlan, Die Lehre des Don Juan, Ffm 1975 / 38
- Thomas von Celano, zit. In: Otto Karrer, Legenden und Laude, Zürich 1975,95
- Vgl. Schwarzer Hirsch, Ich rufe mein Volk,
- Nikolaus von Kues, Aller Dinge Einheit ist Gott, Zürich - Einsiedeln - Köln 1984, S105
- Schwarzer Hirsch, Ich rufe mein Volk
- Tabula Smaragdina, zit in Jörg Wichmann, Die Renaissance der Esoterik, Stuttgart 1991/166
- Thorwald Detlefsen: Schicksal als Chance, S86f
- Blaise Pascal, Mémorial zit n. Huub Osterhuise, Im Vorübergehen, Freiburg 1969 / 18
- Eckhard Göbel, Gott finden am Ende der Welt in connection 2/2000 16. Jhg. 57ff
- Mantik kommt von griech. Mantis = der Seher und Prophet. Als mantische Künste bezeichnet man die Deutung von Orakeln und Zeichen (n. Jörg Wichmann, Die Renaissance der Esoterik, Stuttgart 1991/207
- Hugo Stamm, Achtung Esoterik. Zwischen Spiritualität und Verführung. Pendo -Verlag Zürich/München. Set. 2000 ISBN 3-85842-388-2
- Am Eingang der Abtei-Kirche in Niederaltaich, Vgl. dazu Gerhard Voss, Astrologie - christlich, Regensburg 1996
- Vgl. Anmerkung zu Mt 2, 1 in Neues Testament, übersetzt und erklärt von Otto Karrer, München 1959,27
- Lame Deer in: Freundschaft mit der Erde, Der indianische Weg, hg. von Käthe Recheis und Georg Bydlinski, Wien 1985,19
- Alexander Foitzick, Sehnsuchtsziel "Neuer Mensch" in Herder Korrespondenz 53 (1999) /9, 433
- Viktor Schurr, Art. Seelsore (katholisch) in LTHK 1961 Bd 9, 579
- New-Age-Wörterbuch hg von Elmar Gruber und Susan Fassler, Freiburg 1986, Art Neuer Mensch
- Vgl. Gustav Bardy, Menschen werden Christen, Das Drama der Bekehrung in den ersten Jahrhunderten hg von Josef Blanck, Freiburg 1988 / 223ff
- New-Age-Wörterbuch, Art Buddhismus
- C. G. Jung GW XI / 313
- C. G. Jung, in: Das Seelenproblem des modernen Menschen (Vortrag in Prag 1928), GW X / 101
- Vgl. Swami Satyananda (Jörg Andrees Elten), Ganz entspannt im Hier und Jetzt, Tagebuch über mein Leben mit Bhagwan in Poona, Hamburg 1980 / 50ff
- ebenda, 98
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