Selbstverwirklichung oder Selbstverleugnung

INHALT

Selbstverwirklichung oder Selbstverleugnung?     
                                   
1.Selbstverwirklichung als Reizthema                                          

       Aber ist das schon die ganze Wahrheit?

2.Selbstverwirklichung in der Psychologie

2.1. Auf der Suche nach Sinn           
2.2. „Der sich voll entfaltende Mensch“ bei Carl Rogers   
       Was bringt persönliches Wachstum?                                                  
       Wie christlich ist die humanistische Psychologie?    
2.3. Selbstverwirklichung bei C. G. Jung                                              
       Die Natur des Menschen ist geistig                                                      
       Sinn als Ziel der Therapie                                                                            
       Der halbe und der ganze Mensch                                                       
       Individualisierung und kein Ende?                                                       
       Alle sollen so denken wie ich!   
       Aufstand gegen die Tradition                                                                         
       Zum Kind werden und doch erwachsen sein                                                                                        
       Je mehr ich ich selbst bin, um so mehr bedeute ich anderen                                                                
       Wir sind gelenkt von einem Punkt in uns                                          

3.Selbstverwirklichung und Nachfolge Jesu                                     

       Missverständnisse ...                                                                                     
       Imitation oder Inspiration?                                                                                    
       Nachfolge - ein durch Christus angeregter Prozess ...                           
       Spontaneität zum Guten                                                                                    
       Wo bleibt die Selbstverleugnung?                                                                       
       "Der andere ist an meinem Unglück schuld“?                                      
       Die Feindbilder überprüfen                                                                                         
       Ohne Selbstverleugnung geht es nicht                                                                  
       Niemand kann mich daran hindern, mich selbst zu verändern            
       Nachfolge ist Bewusstheit - nicht Blindheit                                             
       Weiß man, was man sagt?

4. Macht die Lehre Jesu neurotisch?                                                             

       Kritik am Christentum

       Die Lehre Jesu: Überforderung oder Entlastung?                                          

       Der sympathische Jesus: der Befreier vom Gesetz und der Freund der Menschen         

       Der andere Jesus                                                                                  
       Muß man Gefühle unterdrücken?                                                                
       Die Erlösung der Gefühle                                                                               
       Der Archimedische Punkt                                                                                  
       Die Mystik kann uns weiterhelfen

Anmerkungen

SELBSTVERWIRKLICHUNG ODER SELBSTVERLEUGNUNG?

1. Selbstverwirklichung als Reizthema

„Selbstverwirklichung“ scheint in kirchlichen Kreisen ein Reizwort zu sein, denn für viele ist es gleichbedeutend mit schrankenlosem Egoismus ohne Rücksicht auf die Folgen. Es gibt genug Beispiele aus der näheren und weiteren Umgebung.
Da ist eine junge Frau mit zwei Kindern, die ihren Mann verläßt, weil sie Freiheit für die eigene Entfaltung braucht. So wird es von außen gesehen. „Selbstverwirklichung“, sagen die Verwandten.
Ein Mann ist ratlos und fast verzweifelt, weil seine Frau mit drei kleinen Kindern noch eine Berufsausbildung machen will, obwohl das Geld für die ganze Familie gut reicht.
Ein anderer Mann hat neben seiner Ehefrau eine Freundin; er brauche dies zu seiner Selbstverwirklichung, meint er.
Eine junge Ordensfrau verlässt das Kloster. Sie sagt, jetzt spüre sie, was Leben ist; dies sei wichtig zur Selbstfindung.
Vorkommnisse dieser Art werden wir in unserer Umgebung häufig finden, vielleicht sind wir sogar selbst betroffen.
Außenstehenden, die noch in kirchlichen Kategorien denken, fällt es nicht schwer, Partei für die jeweils leidende Seite zu ergreifen.
Ein großer Teil der Menschen unserer Tage ist jedoch aus dem vorgegebenen Rahmen der traditionellen Moral, aber auch der Sinnerfahrung herausgefallen. ...........

Verschiedene Worte Jesu machen den Gegensatz deutlich. Wir lesen bei Matthäus: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich, so folge er mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden (Mt 16,24f).
Nimmt man diese Sätze wörtlich, fordert Jesus eindeutig Selbstverleugnung; das bedeutet: eigene Wünsche und Gefühle um eines hohen Wertes willen, nämlich des Reiches Gottes wegen, zurückzustellen. Wenn man unter Selbstfindung und Selbstverwirklichung versteht, aufsteigenden Impulsen nachzugeben, damit das Leben leichter, interessanter und abwechslungsreicher wird, dann schließen Selbstverwirklichung und Nachfolge Jesu einander eindeutig aus.
Aber ist das schon die ganze Wahrheit?................

2. Selbstverwirklichung in der Psychologie

Häufig wird gegen die Psychologie der Vorwurf erhoben, sie sei schuld an einem allgemeinen moralischen Niedergang; durch sie sei ja das Thema der Selbstverwirklichung in die breite Öffentlichkeit gelangt. Es sei ja zu beobachten, dass sich viele Frauen und Männer nach einem Selbsterfahrungskurs, nach einer psychologischen Beratung oder im Laufe einer Psychoanalyse von ihren Ehepartnern trennen und dass noch viel anderes Unheil geschehe.……………………………………………………….

Auf der Suche nach Sinn

Die humanistische Psychologie ist die maßgebende Therapieform in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Amerika. Ihre wichtigsten Vertreter sind Charlotte Bühler, Rollo May, Abraham Maslow, Ruth Cohn, Carl Rogers und Erich Fromm. Sie setzen sich von der Psychoanalyse Sigmund Freuds ab, weil ihnen dessen Menschenbild zu pessimistisch ist. Ihr Grundanliegen ist, die Sinn- und Werteproblematik des modernen Menschen aufzugreifen, sie möchten ihm ganz einfach leben………………………………………………………….

Dass Selbstverwirklichung im Sinne der humanistischen Psychologie mehr ist als leichtsinnige Selbstbezogenheit und Laune, darauf weisen die Kriterien hin, die Abraham Maslow für den sich selbstverwirklichenden Menschen fordert, nämlich: eine feste Identität und Ganzheit und Einheit der Person.
Konkret heißt das: Ein Mensch mit innerer Einheit kann „nein“ sagen und sich abgrenzen, er kann sich auch auf Nähe einlassen und ist zu dauerhaften emotionalen Beziehungen fähig. Er kann Gefühle bei sich und bei anderen wahrnehmen und vernünftig damit umgehen. Er vermeidet die beiden Extreme: einerseits das einer emotionalen Erstarrung und Austrocknung, wo er alles, was mit innerer Befindlichkeit zu tun hat, für unwesentlich erklärt und unterdrückt; andrerseits eine Überschwemmung von Emotionen, in denen man sich auflösen kann. Beides birgt die Gefahr, in einer Partnerschaft oder im Menschsein als solchem zu scheitern. Es geht also um Erlebnis- und Liebesfähigkeit, in der die eigene Identität gewahrt bleibt.
Wie wichtig eine feste Identität für das Gelingen einer Partnerschaft ist, zeigen immer wieder die Geschichten von zerbrochenen Ehen. Außenstehenden erscheint es oft unerklärlich, wie Menschen, die gerade noch im Glück der gemeinsamen Nähe und Verbundenheit schwelgten, nach kurzer Zeit einander als Last und Bedrohung und die Trennung sogar als Erleichterung empfinden. Der Grund liegt ziemlich eindeutig........

„Der sich voll entfaltende Mensch“ bei Carl Rogers

Von den Vertretern der humanistischen Psychologie ist im kirchlichen Raum Carl Rogers am meisten bekannt. Er kommt mit seiner Forderung der bedingungslosen Wertschätzung, welche der Therapeut dem Klienten gegenüber aufzubringen hat, dem Auftrag Jesu von der Liebe (vgl. Mk 12,31, Mt 19,19) und der Grundauffassung vom Reich Gottes als einem Prozess des Wachstums (vgl. Mk 4, 1 - 34) am nächsten. Er spricht von „personal growth“, also vom Wachsen oder Werden der Persönlichkeit. Voraussetzung dafür sind allerdings optimale Bedingungen, die wir als urchristlich bezeichnen könnten.
Rogers entwickelt in einer Art Utopie das Ideal eines guten Therapeuten. Dieser müsse sich voll und ganz in die Beziehung einlassen, frei und unverkrampft. Er sollte nur darauf bedacht sein, ein Klima zu schaffen, das dem Klienten die äußerste Freiheit ermöglicht, er selbst zu werden. Beim Klienten werde die optimale Einstellung des Therapeuten folgendes bewirken: Er werde zunehmend die ihm noch fremden, unangenehmen und gefährlichen Gefühle entdecken. Erst unter der Voraussetzung des vollen Akzeptiert Werdens, des uneingeschränkten Interesses, der vollen Aufmerksamkeit von Seiten des Therapeuten lernt er Elemente seiner Erfahrung kennen, die in der Vergangenheit dem Bewusstsein vorenthalten wurden, d.h. unbewusst waren; welche er nicht anschauen wollte, weil sie zu beschämend, zu unangenehm, zu bedrohlich waren. Das Entscheidende ist, daß er diese dunklen Seiten seiner Persönlichkeit hier und jetzt erlebt und zulassen kann, aber trotzdem das Gefühl hat, wertvoll zu sein.
Am Beispiel von Erwachsenen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, kann dieser Prozess verdeutlicht werden.

Frauen, mehr noch Männer, haben große Hemmungen darüber zu reden; es wirkt immer noch die Missachtung und Ausbeutung nach, die sie als Kinder erfahren mussten…………………………………………Neue, bisher wenig bekannte Elemente ihres Inneren - wie Vertrauen, Hoffnung, Zuversicht - steigen allmählich auf, und so ereignet sich langsam, beinahe unmerklich, aber doch stetig, eine Veränderung in ihnen selbst und ihren Mitmenschen gegenüber.……………………………………………………………….. ; wenn wir aufhören, uns selbst zu verteidigen, und seien es noch so gut durchdachte und abgesicherte Argumente, sondern wenn wir uns der Situation stellen. Dieser Schritt besteht eigentlich nur in der Frage: Wie geht es mir ?
Wenn wir ihr konsequent nachgehen, führt sie uns zu einem Therapeuten bzw. zu einem(r) kompetenten Seelsorger(in); denn die einzige Möglichkeit, in solchen Momenten Sicherheit und Klarheit zu finden, besteht darin, daß wir unsere Gefühle wahrnehmen und sie zum Thema des Gesprächs machen. Dies geschieht in der beratenden - therapeutischen Situation. Dies ist insofern so schwierig und kostet einen hohen Grad an Selbstüberwindung, weil damit die demütigende Einsicht verbunden ist, daß auch wir am Konflikt unseren Anteil haben; und daß auch wir, nicht nur die anderen, eine Menge dunkler Eigenschaften besitzen und deshalb eine tiefgreifende Arbeit an uns selbst nötig hätten. Zugeben müssen, daß man eine Psychotherapie braucht, kommt einer moralischen Niederlage gleich. Durch nichts kann man einen Menschen mehr kränken, als wenn man ihm sagt - selbstverständlich wohlmeinend - er soll zum Therapeuten gehen.
Es fällt auf, daß bei Ehekrisen meist die Frau in die Beratung kommt, während der Mann es weit von sich weist, seine (scheinbare) Sicherheit in Frage stellen zu lassen. Es ist einfach dem eigenen Stolz zuwider, das durchgängige Gefühl, recht zu haben, aufzugeben.

„Der/die andere ist an meinem Unglück schuld“?

Weil dieser Schritt - eben die Selbstverleugnung - so schwer fällt, verlegen wir alles Böse in den oder die Menschen, mit dem oder mit denen wir in Konflikt sind. Fast ausnahmslos sehen wir die Ursache unseres Ärgers oder unseres Scheiterns im anderen, im persönlichen, weltanschaulichen oder politischen Gegner.

Die Feindbilder überprüfen

An nichts halten wir mehr fest, als an unseren Idealen, d.h. Wertvorstellungen, und an unseren Feindbildern. Unser Muster, Gutes und Böses zu verteilen, verläuft immer so, dass wir diejenigen sind, die Edles wollen, hingegen der uns zugewachsene oder gewählte Feind nur Bosheit im Schilde führt. Es fällt auf, dass religiöse Menschen solchen Mechanismen genauso wie andere unterliegen. Früher waren es die Protestanten, dann die Kommunisten, auf die alles Böse abgeladen werden konnte; heute sind es die Gegensätze zwischen den verschiedenen kirchenpolitischen Richtungen.
Das Lamento über die Krise in der Kirche mündet bei den einen einhellig in den Vorwurf an die Kirchenleitung, sie sei schuld an allem, sie unterdrücke die Freiheit des Geistes, sie bremse die Entwicklungen, sie stelle sich gegen vernünftige Forderungen. Die andere Seite sieht genau in diesen Äußerungen nach mehr Freiheit die Aushöhlung des Glaubens. Man verketzert sich gegenseitig und wirft einander Unglaube vor. Es ist im Grunde jenes Stück Unglaube, mit dem jeder zu ringen hat, das man aber nicht bei sich selbst, sondern beim anderen zu bekämpfen versucht. „Weil der andere so ist, so eigensinnig, so abweisend, so kalt, so wenig flexibel, so unmöglich, deshalb bin ich nicht zu dem gekommen, was ich mir unter meinem Leben vorgestellt habe“, solautet vielfach die Klage über das eigene unglückliche Dasein. „Du hast mich nicht glücklich gemacht“, sagte eine schwer depressive Frau zu ihrem durchaus verständnisvollen Mann.
Die gegenseitigen Schuldzuweisungen von Eheleuten, von politischen Parteien und von Richtungen innerhalb der Kirche sind anschauliche Beispiele für das, was Jung die Projektion des Schattens nennt. Immer sind es die anderen, die das Gute verhindern; „wenn sie so wären wie ich bzw. wie wir sie uns vorstellen, wäre alles in bester Ordnung“, so denken die meisten.

…………..dann lockern wir auch den Würgegriff am anderen. Wir sehen ein, daß wir an uns selbst zunächst einmal eine große Aufgabe haben, und hören auf, ihm Vorwürfe zu machen. Damit beginnt auch die Beziehung sich zu ändern. Jung sagt zur Zurücknahme der Projektion des Schattens: „Es tritt dann die Aufgabe an das Subjekt heran, alle jene Gemeinheit und Teufelei, die man ungescheut dem anderen zugetraut und worüber man sich ein Leben lang entrüstet hat, auf eigene Rechnung zu übernehmen.“ Es ist leicht einzusehen, daß das Leben wesentlich erträglicher würde, wenn jeder so handelte. Es ist aber äußerst schwer, dieses Prinzip bei sich selbst anzuwenden.………………

„Deshalb zieht man mit Vergnügen und ohne Zögern das Komplizierte vor, nämlich das Nichtwissen um sich selbst und die geschäftige Bekümmerung um andere und anderer Schwierigkeiten und Sünden. Dort winken sichtbare Tugenden, welche die anderen und einen selbst wohltätig täuschen. Man ist - Gott sei Dank-sich selbst entlaufen“.
Die Wende der Aufmerksamkeit vom anderen auf sich selbst, von außen nach innen ist ein wesentlicher Teil dessen, was in der Hl. Schrift „Umkehr“ (Metanoia) genannt wird (vgl. Mk 1,15).
Die Gemeinheit, die man dem anderen zutraut, auf eigene Rechnung nehmen, das ist mehr als die herkömmliche Gewissenserforschung bei der Beichte, sie kann sogar ganz anders verlaufen. Wenn sich jemand z.B. anklagt, dass er hochmütig sei, andere entwertet und das Gute bei seiner Kollegen nicht ertragen kann, ist das ein Zeichen seiner inneren Unsicherheit, sein Mangel an gewachsener Identität. Der Weg der Besserung beginnt nicht damit, dass man nun sich selbst entwertet, sondern lernt, sich selbst mehr zu spüren, tiefere Gefühle zuzulassen, mit sich selbst mehr in Kontakt zu kommen. Bei Gesprächen stellt sich immer wieder heraus, dass es der zugelassene....................