Die Analytische Psychologie C. G. Jungs


1.1 Religion: Zwangsneurose oder Heilungssystem?

Carl Gustav Jung (1876-1961) gehört zu den Begründern der Tiefenpsychologie, die vor 40 Jahren durch Eugen Drewer¬mann wieder in das Blickfeld der kirchlichen und außerkirchlichen Öffentlichkeit geraten ist. In der Auseinanderset¬zung um Drewermann wurde häufig auch C.G.Jung von Theologen kritisiert. Man warf ihm Unwissenschaftlichkeit, Mangel an intellektueller Redlichkeit und Nähe zum Nationalsozialismus vor.12 Schon zu seinen Lebzeiten fand Jung mit einigen Ausnahmen wenig Sympathien seitens der Theolo¬gen. Dabei war es gerade das Religiöse, weshalb sich Jung von Sigmund Freud trennte. Jung ließ dessen Sexualtheorie als Er¬klärung für religiös-kulturelle Erscheinungen wie z. B. das Op¬fer nicht gelten, sondern erkannte dem religiösen Erleben Eigenständigkeit zu.13
Freud sieht in der Religion eine Form von Zwangsneurose; der „Trost der religiösen Illusion" ist nach ihm Infantilismus, der dazu bestimmt ist, überwunden zu werden. Die Psychoanalyse habe gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes sei als ein erhöhter Vater. Sie führe täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den Glauben verlieren, sobald bei ihnen die Autorität des Vaters zusammenbricht. Die Wurzeln des religiösen Bedürfnisses liegen nach Freud im Elternkomplex.14 „Religion erscheint... als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Weg von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat."15 Während für Freud die Religion der Vernunft weichen muß, ist für Jung religiöse Erfahrung für jeden, der sie hat, „eine Quelle von Leben, Sinn und Schönheit, die der Welt einen neuen Glanz gibt".16
Gerade dann, wann für Freud Religion aufhört, d. h. wann der Mensch erwachsen wird, beginnt für Jung der Wert von Religion: wenn der Mensch anfängt, nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Dem Lustprinzip Freuds als Lebenszweck stellt Jung das finale Streben nach Lebenssinn gegenüber. Damit weist er der Religion eine zentrale Stellung im seelischen Haushalt, also im Leben eines Menschen zu. „Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären", zitiert er aus dem Traum eines Patienten.17 Freud sah im Sexuellen den eigentlichen Ursprung aller menschlichen Antriebe und Lebensenergie, das daher auch das Objekt seiner Forschung war. Dagegen faszinierte Jung das Religiöse, das Okkulte, wie er es nannte. Er sah darin Ursprung und Ziel jeder menschlichen Entwicklung. Braucht der Mensch Religion? Jung kommt aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte und jahrelanger Beobachtung und Bearbeitung von Träumen in der Behandlung seiner Patienten zu dem Ergebnis, daß jeder Mensch zur seellischen, ja ganzheitlichen Gesundheit religiöses Leben braucht. Die Religionen sind für ihn Heilungssysteme, weil sie die Grundstrukturen der menschlichen Seele in den Symbolen der Riten, Bilder, Dogmen, Erzählungen adäquat auszudrücken vermögen. Der Mensch braucht symbolisches Leben, weil in ihm sowohl archetypische, emotionale, irrationale, d. h. die wesentlichen Inhalte menschlicher Existenz - die mit Intellekt und Willen allein nicht verstan¬den, gelenkt und gelebt werden können - sich entfalten dürfen. Ohne symbolisches Leben wird das Dasein leer und banal, es verödet und verursacht den Ausbruch von Leben lähmenden Neurosen.                                                                                                 Der große Schatz der Kirche

Dazu sagt Jung in einem Seminarvortrag vor dem Verband der Pastoralpsychologie in London 1939: „Der Mensch braucht ein symbolisches Leben. Er braucht es dringend. Wir erleben nur banale, gewöhnliche oder irrationale Dinge - die sich natürlich auch innerhalb des Bereichs des Rationalismus halten - sonst könnte man sie nicht irrational nennen. Aber wir haben kein symbolisches Leben. Wo leben wir symbolisch? Nirgends, außer wo wir am Ritual des Lebens teilhaben. Aber wer unter vielen hat wirklich am Ritual des Lebens teil? Sehr wenige.. ."l8
Das, was es in der katholischen Kirche an Riten und Dogmen gibt, bezeichnete Jung als großen Schatz. Er bewunderte, dass sie immer noch ein Geheimnis in sich bewahrt, das es ihr zugehörigen Menschen ermögliche, bis zu einem gewissen Grade ein sinnvolles Dasein zu führen. Vom katholischen Priester sagte C. G. Jung: Er sei in der Gottheit zu Hause, trage sich selbst auf den Altar, biete sich selbst zum Opfer an. Dies klingt wie eine überdehnte Verherrlichung der Kirche, der gegenüber sogar kirchlich Gesinnte und mehr noch nüchtern Denkende ihre Vorbehalte haben dürften. Kritiker werden hier so¬fort auf Neurosen hinweisen, die durch kirchliche Strukturen geradezu hervorgerufen werden19, dass es viel Zwanghaftigkeit und Seelenlosigkeit in der Verwaltung, im Lehrbetrieb und sogar in der Liturgie gibt, daß Freud und Drewermann in vielem recht haben. Andererseits werfen Menschen mit den Fesseln, die ihnen die Kirche auferlegte, nicht in jedem Fall auch ihre Neurosen ab.                                                                                                                                                                                                                                                                                           Neurose: Suche nach Sinn
Vieles spricht dafür, daß Freud und Jung zwei verschiedene Arten seelischer Störungen im Blick hatten. Freud und noch mehr Drewermann haben Menschen vor Augen, die durch rigide, einengende religiöse Erziehung geprägt sind und vornehmlich darunter leiden, daß sie ihre Vitalität, ihre Gefühle, ihre spontanen Impulse und eigenes Denken nicht zulassen können. Jung jedoch hatte mit Menschen zu tun, von denen die allerwenigsten der katholischen Kirche angehörten, die meisten sogar ohne eine Religionszugehörigkeit waren. Deren Problem war weniger die Gehemmtheit, sondern eine geistige Orientierungslosigkeit. Es suchten ihn viele auf, weil sie nach dem Sinn ihres Lebens fragten. Von daher versteht Jung Neurosen als Suche der Seele nach Sinn, wobei er mit dem Begriff „Neurose" eher jene Lebensbehinderung meint, die wir heute als Lebenskrise bezeichnen: ein plötzlicher Einbruch in einem sonst normalen Leben, emotionale Kälte, Lustlosigkeit in allen Lebensbereichen, Angst zu versagen oder verrückt zu werden. Die Lösung dieser Probleme liegt nach Jung primär nicht in der Triebsphäre, sondern im geistig¬seelischen Bereich, konkreter gesagt: in der Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, dem Menschen ein geistig-seelisches Erleben, d. h. ein Ergriffensein von einem transzenden¬ten Wert zu vermitteln. Hierin sieht Jung die große Bedeutung und Aufgabe der Religion; aber sie muß lebendig, dem konkreten Leben zugewandt sein, sonst kann sie nicht helfen und heilen. Sie ist es dann, wenn die Dimension des Numinosen, des Geheimnises erfahrbar wird. Dies vermutet er in der katholischen Messe. Oder hat er es aufgrund seiner hohen Sensi-bilität auch tatsächlich gespürt? Seine Aussage klingt heute vielen befremdlich. Nicht nur, daß er die katholische Auffassung nicht korrekt widergibt - danach bringt sich in der Messe Christus und nicht der einzelne Priester Gott, dem Vater dar -, sondern weil für ihn der „Opfer"-Charakter der Eucharistie gegenüber dem des Mahles im Vordergrund steht. "OPfer " ist inzwischen zu einem sehr umstrittenen Begriff geworden. Man kann hören: Der Gott der grenzenlosen Liebe, den Jesus verkündet, braucht keine Opfer, um versöhnt zu werden.                                                                                                                                                                                                             Heilkraft des Numinosen                                                                                                                                                                                                                                                                                   Wie dem auch sei: Sein Hinweis auf die Heilkraft des Numinosen sollte Anlaß zum Nachdenken sein, inwiefern gerade das Mysterium, von dem Jung spricht, in christlichen Gottes¬diensten fehlt oder für viel zu viele Menschen nicht erfahrbar ist und wie es gelingen kann, das Symbol des Opfers auf neue Weise mit Bedeutung und erfahrbarer Sinnhaftigkeit zu füllen, damit die heiligen Handlungen wieder Kraft haben.

1.2 Die Wirklichkeit der Seele
Nach Alfred Farau schließt Jung das moderne Denken erstmals an die Überzeugung des Mittelalters von der absoluten Realität der Seele an, freilich auf einer ganz anders gearteten Be¬wußtseinsebene.21 Für ihn ist die Seele weder ein abstraktes, irgendwie unwirkliches geistiges Prinzip noch bloß Ergebnis und Abbild physikalischer und chemischer Prozesse, sondern das Lebende und das, was Leben verursacht. die Psyche ist „das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist". Was wir auch immer empfinden, fühlen, wahmehmen, denken: Es handelt sich immer unmittelbar um einen psychischen Akt. Jeder Mensch hat eine ihm eigene psychische Struktur, die sein Erleben und Denken beeinflußt und formt. Die Erkenntnis und Erweiterung dieser Struktur, d. h. die Selbsterkenntnis oder Selbsterfahrung ist deshalb ein ganz wesentlicher Schritt zur Erkennt¬nis der Wirklichkeit.
Die Seele des Menschen hat in der Tat schöpferische Kraft und Eigentätigkeit. Es gehen von ihr Wirkungen aus, die das denkende Ich weder denkt noch macht, oft noch weniger wünscht z. B. die zwanghafte Vorstellung, daß man Krebs hat, obwohl alle Befunde dagegensprechen. Eine solche Fantasie ist nach den Maßstäben der naturwissenschaftliche Disziplin Illusion. Trotzdem ist sie eine seelische Wirklichkeit, insofern sie dem, der sie hat, tatsächlich bedrückende Angst macht, sein ganzes Leben nachweislich beeinträchtigt und oft sogar zerstört. Und umgekehrt: Im positiven Sinn sind es kreative Ideen und Visionen, die uns beflügeln und in diesem Sinne weiterbringen. Nicht die Inhalte der Fantasien und Träume sind in sich schon objektive Wirklichkeit, wohl aber die dahinter wirkenden Gefühle und Erlebnisprozesse.

Die Seele ist immer dabei
Verwiesen sei auch auf die Bedeutung der Betrachtung des Lebens Jesu bei den Exerzitien des hl. Ignatius: Anschauliche Vorstellungen von Zuständen, Personen, Orten, die für das Heil wichtig sind, wirken auf die Seele ein und wandeln sie von innen her. Bereits Ignatius von Loyola erkannte, daß man die Seele nicht auf das Bewußtsein beschränken darf. Sie hat - noch einmal Jung - andere Wirklichkeitskategorien; für sie ist das wirklich, was wirkt, zum Beispiel auch eine Fantasie oder ein nicht ausgesprochenes Gefühl. Unser Denken geschieht also nicht unabhängig, sondern ist im wesentlichen von den Prägungen und Inhalten unserer Seele bestimmt.
Selbst theologisch-metaphysische Erkennisse und Aussagen können nicht ohne die Funktion der Seele gemacht werden. Daher kann es auch das reine Wort Gottes nicht geben, wenn es Wort für die Menschen sein soll: Es hat immer ein menschli¬ches Gewand und kann sich nur in Symbolen ausdrücken, die von der schöpferischen Kraft der Seele erkannt und gedeutet werden. Die Offenbarung Gottes ist nicht zu denken ohne die Einwirkung auf das Unbewußte der Menschen. Das Ineinan¬dergreifen von Gottes Gnade und der schöpferischen Eigentä¬tigkeit des Geschaffenen dürfte hier zu beachten sein. Es ist der Prozeß, in dem wir uns zu Gott hin bewegen.22
Häufig wird die Vorstellung aufrechterhalten, man könne die Wirklichkeit der Seele umgehen. In einem Referat zur tie-fenpsychologischen Schriftauslegung Eugen Drewermanns wurde zum Beispiel gesagt, die „Vorgängigkeit" Gottes, die Pau¬lus uns vermittelt, erübrige es, in die Tiefe der Seele hinabzu- steigen.23 Aber: Wie kann ein Mensch Gottes Botschaft überhaupt als solche wahmehmen, verstehen und annehmen, wenn in ihm das Organ dafür nicht geweckt ist? Wir sollten uns bewußt werden, daß theologisches Denken ideale oder me¬taphysische Inhalte hat, während pychologische Wahrneh¬mung das reale Erleben meint. Hier liegt eine Ursache für das mangelnde Verstehen der Verkündigung.
Wenn es etwa heißt: Gott schenke dem Menschen im Sakra¬ment der Buße und Versöhnung seine bedingungslose., verge¬bende Liebe, ist doch zu fragen: Wie kommen Menschen dahin, diese Liebe wirk-lich zu erleben und sie tat-sächlich als emotionale Entlastung zu erfahren? Welche Widerstände, Hin¬dernisse, Komplexe und Wahmehmungsbarrieren müssen ab¬gebaut werden, damit eine solche Erfahrung geschehen kann? Denn erst emotional, psychisch spürbare Entlastung kann Trost und Hoffnung, erst recht eine Verhaltensänderung und neue Lebenskräfte auf Dauer erwirken.
In früheren Zeiten, als der einzelne noch ganz in den Erleb-nisrahmen der Kirche eingebettet war, hatte die „sakramen¬tale" (heilende) Lossprechung auch im Bereich des Emotiona¬len einen anderen Stellenwert, während heute diese sakrale und zugleich erfahrbare Befreiungsdimension so gut wie nicht mehr gegeben ist. Ein Reden von der Gnade Gottes, das den menschlichen, erlebnis-unmittelbaren Aufnahme- und Verste¬hensvorgang nicht mehr erreicht, bleibt im verbalen Klangbe¬reich und wird nur noch von jenen gehört - und verstan¬den, denen eben dieses Wortesystem vertraut ist. Menschen in existentieller Not, für die Gottes Wort und Wirken wesent¬lich bestimmt ist, erreicht es nicht.
Immer noch - wenn auch meist unausgesprochen - besteht die Meinung, daß alles Religiöse, betrachtet es jemand psycho¬logisch, zu einer psychischen Fiktion, d. h. zur Unwirklichkeit degradiere. Dies fällt besonders in der Auseinandersetzung um Eugen Drewermann auf. Ein Sammelband in der Reihe ,Quae- stiones Disputatae' trägt den Titel „Tiefenpsychologische Deu¬tung des Glaubens?"24 Schon allein die Bezeichnung „Deu¬tung" mit Fragezeichen läßt den Eindruck aufkommen, als ginge es in dem ganzen Komplex „Tiefenpsychologie und Glaube" darum, letzteren vor einer Reduzierung auf tiefenpsy- chologische Begriffe zu bewahren.


Richtig daran ist nur, daß es im System Freuds tatsächlich die Dimension des Religiösen als eigene Wirklichkeit nicht gibt und religiöse Phänomene auf die Beziehung zu Vater und Mutter zurückgeführt werden. Wirklichkeit des Seelischen bei C. G. Jung heißt dagegen: Wirk-lichkeit der religiösen Erfah¬rung. Er zeigt, daß das Religiöse eine Erfahrung eigener, ganz wesentlicher Art ist, wobei er sich zudem darauf beschränkt - und dies dient zur Unterscheidung der Geister - über das reli¬giöse Erleben sowie über dessen Vorbedingungen und Struktu¬ren etwas zu sagen, nicht jedoch über dessen objektive Inhalte. Nach Jung handelt es sich nicht darum, die Existenz des Lieh? tes zu beweisen, sondern um die Tatsache, daß es Blinde gibt, die nicht wissen, daß ihre Augen etwas sehen können.25
Erkenntnis in der ersten Person
C.G. Jungs positive Entscheidung für die „anima naturaliter re- ligiosa", für die wesenhaft religiöse Seelenstruktur des Men¬schen wäre berechtigter Anlaß, sein Konzept der Seelenkunde für heutiges not-wendendes theologisches und vor allem seel¬sorgliches Bemühen heranzuziehen. Er suchte zeitlebens das Gespräch mit Theologen und Seelsorgern, stieß aber auf große Widerstände. Zuallererst wurde er von seinen Fachkollegen ab¬gelehnt, als er das Religiöse in die Psychologie und Therapie mit einbezog. Er galt als Theologe, Mystiker, Esoteriker und Fantast. Nicht nur, weil seine Grundannahmen, wie die der Archetypen, einer exakt-wissenschaftlichen, experimentellen Nachprüfbarkeit entzogen sind, sondern vor allem deshalb, weil für die allermeisten Psychotherapeuten das Religiöse des Menschen für ihre Arbeit tabu ist.
Das Urteil der Theologen fällt aber nicht minder hart aus: Jung wurde Gnostiker, Agnostiker und Atheist genannt. Er selbst dagegen hat sich als Arzt und Empiriker bezeichnet, der Fakten wahmehme, registriere - und ernst nehme.
Unausgesprochen aber divergiert sein Wissenschaftsbegriff mit dem allgemein üblichen Verständnis von Wissenschaft¬lichkeit, die nur das gelten läßt, was objektiv unter Ausschal¬tung subjektiver Empfindungen des Forschers festgestellt und vermittelt wird. Deshalb paßt Jung weder in die Schulpsycho- logie noch in die Schultheologie, nicht in ein Denken, das von der Innenerfahrung abgehoben ist oder von ihr nichts weiß. Was aber den Naturwissenschaften große Erfolge gebracht hat, mußte in der Theologie zur absoluten Glaubenskrise führen; denn ein Denken, das vom Erleben abgespalten ist, wird für die eigene Existenz belanglos. Hier ist der Grund für den Atheis¬mus der Neuzeit zu suchen.
Jung ist Empiriker im existentiellen Bereich; denn das Innere der Seele kann „nur" durch subjektive Betrachtung, d. h. durch die Beteiligung der eigenen Person wahrgenommen, erkannt und verstanden werden. Seine Forschungsergebnisse und die Argumente, die er dazu liefert, werden weder einen Psycholo¬gen noch einen Theologen überzeugen, der den Menschen und seine Probleme nur von außen sieht. Es sind völlig unter¬schiedliche Rahmen, in denen sich die beiden Denkrichtungen bewegen. Bei Jung geht es um Innenerfahrung, die der nieder¬ländische Religionsphilosoph Han Fortman Erkenntnis „in der ersten Person nennt".26 Sie hat Zugang zum je Eigenen, zu dem, was für mich persönlich wichtig ist. Wer Jung verstehen will, darf also nicht davon ausgehen, daß ihm objektiv beweisbare Fakten auf den Tisch gelegt werden. Vielmehr muß er ein Stück dieses Erfahrungsweges mitgehen, sich den aufsteigen¬den Lebensfragen und Botschaften der Träume stellen, vor al¬lem die Erfahrung des Religiösen als geistiges Erleben zulassen.
Die Notwendigkeit dazu ergibt sich für Menschen, die eine pastorale Aufgabe übernommen haben, wie von selbst; denn Gott ist nur auf dem Weg des persönlichen Engagements zu finden, und jedes Reden über Grundfragen, die Menschen be¬drücken, hat nur soviel an Wirkung, als der seelsorgerlich Tä¬tige sie selbst ausgehalten und durchlitten hat. C. G. Jung hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Natur der Seele zu erforschen, und dazu mußte er in die eigene Seele hinabsteigen. Nach sei¬nen eigenen Aussagen hat er sich diesen Weg nicht einfachhin ausgedacht, sondern wurde von innen her dazu gedrängt durch starke Erlebnisse, denen er nicht ausweichen konnte und die er in sein psychologisches Konzept einbauen mußte. Träume lö¬sten bei ihm tiefe Ergriffenheit aus, sie zwangen ihn geradezu, sich ihnen zuzuwenden, ihre Botschaft zu ergründen, anzu¬nehmen und weiterzugeben.                                                                                                                                             Das Haus der Seele

Ein Beispiel für Jungs Innenweg ist der folgende Traum, den er Sigmund Freud während der Zeit ihrer Freundschaft zur Analyse vorlegte: Er befindet sich in einem unbekannten Haus. Es ist „sein" Haus. Er hält sich im oberen Stockwerk auf. Dort ist eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil stehen. An den Wänden hängen kostbare alte Bilder. Er wundert sich, daß dies sein Haus sein soll. Er geht die Treppe hinab und findet im Erdgeschoß alles so vor wie etwa im 15. Jahrhundert. Schließlich kommt er in den Keller, wo rö¬mische Mauerreste lagern; von dort gelangt er durch eine Steinplatte noch weiter nach unten in eine Höhle mit Funden einer älteren, primitiven Kultur.27
Für Jung wurde dieser Traum zum Leitbild, das ihm Innenräume eröffnete und ihm die Ahnung gab, daß wir nicht nur Prägungen der eigenen Lebensgeschichte, sondern auch früherer Generationen in uns tragen, daß das Unbewußte Bilder, Symbole, Erlebnisschichten aufbewahrt, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, z. B. mit dem primitiven Men¬schen in uns selbst. Wem sich das Innere der Seele auf ähnliche Weise kundtut und erschließt, dem wird das, was Jung über den Menschen und seine Probleme sagt, einsichtig. Es braucht dann keine äußeren Beweise im Sinne eines naturwissenschaftlichen Experiments, sondern hat eine innere Evidenz. Wem die eigene Seele jedoch verschlossen ist, der wird Jungs Erkenntnissen jede Berechtigung auf Allgemeingültigkeit absprechen.

Die Methode des Erkennens

Wie man zu C. G. Jung steht, ist deshalb zuerst eine Frage der Erkennisweise. Man kann ihm als Verdienst anrech¬nen, daß er das rein materialistische, vordergründige Weltbild des 19. Jahrhunderts überwindet, indem er den Hauptakzent auf das geistig-seelische Erleben legt und das Religiöse als eigene Erfahrung anerkennt und nicht auf infantile Ängste und Bedürfnisse reduziert.
Vorbehalte sind jedoch durchaus angebracht, wenn Jung theologische Themen, z. B. das Trinitätsdogma auf seine Weise erörtert. Vieles davon muß man, wenn man es rein theologisch sieht, ablehnen. Begibt man sich jedoch mit Jung auf die psychologische Ebene - d. h. fragt man, wie es die Menschen tatsächlich erleben -, wird man wertvolle Anregungen entnehmen können. Augustinus, der Kenner der Seele Die tiefenpsychologische Selbsterfahrung greift, ohne es zu wissen und zu wollen, auf Erkenntnisse des hl. Augustinus (+ 430) zurück, der den inneren Menschen als den höheren Men¬schen bezeichnet und für den die Einkehr bei sich selbst, die Innenschau, der königliche Erkenntnisweg ist. Der folgende Satz, den man in jüngster Zeit etwas abschätzig betrachtet, könnte die Einseitigkeit der modernen, extravertierten Einstel¬lung etwas zurücknehmen: „Noli foras ire, in te redi, in inter- iore hominis habitat veritas". - „Wende dich nicht nach außen! Bei dir kehre ein! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit."28 Für Augustinus ist die unmittelbare innere Erfah¬rung deshalb sicher und gewiß, weil er davon ausgeht, daß sich im Individuellen das Allgemeine offenbart: das, was für alle Menschen gültig ist. In Selbsterfahrungsgruppen wird diese Wahrheit immer neu bestätigt: Je mehr die Teilnehmer von sich selbst sprechen, in ihren Gefühlen sind, umso mehr Aufmerksamkeit und Betroffenheit wecken sie bei den andern.

Die Kirche  vor Jung verschlossen

In der Kirche bestehen nach wie vor große Vorbehalte, Jung als Zeugen des Religiösen anzuerkennen. Das Entscheidende ist aber nicht seine Person, die in vielem umstritten ist, sondern die Weise des Erkennens, die er pflegte. Vom Innern der Seele, vom individuellen Erleben her, nicht durch äußere, vorgebene Fakten ist auch für heutige Menschen der Glaube begründbar und kann auf diese Weise erschlossen werden. Es läßt sich ein¬fach nicht mehr übersehen, wie sehr zunehmend mehr Men¬schen nach emotional-spiritueller Erfahrung dürsten, - ein Grund für das Wuchern pseudo-mystischer Bewegungen. Dem ist nicht mit rationalen Argumenten beizukommen, wohl aber dadurch, daß Wahrheiten, die Christen verkünden, wieder eine Erlebnisdichte erhalten, indem vom Dogma zum Erleben eine Brücke geschlagen wird. Das bedeutet, daß wir dem sog. Irrationalen, d. h. den inneren Strömungen und Impulsen, die wir nicht machen können, sondern empfangen, ja sogar erlei¬den, eine größere Aufmerksamkeit schenken sollten. Anson¬sten kann es geschehen, daß wir vom Irrationalen über¬schwemmt werden und nicht wissen, worum es geht.Deshalb ist es gut, unsere Innenerfahrungen mit ihren Ge¬fühlen, Vorstellungen und Wünschen in einer Supervision oder geistlichen Begleitung kritisch überprüfen zu lassen. Da¬bei wäre darauf zu achten, daß wir den Zusammenhang mit der Tradition des christlichen Glaubens nicht verlieren, daß wir unsere menschlichen Beziehungen kultivieren und uns auch nicht vom politischen Geschehen zurückziehen. Kurz: Es gilt, die Balance zwischen Innen und Außen zu finden.

Jung im Nationalsozialismus

Um auf die Vorbehalte gegen C. G. Jung ganz einzugehen, muß auch seine Stellung zum Nationalsozialismus kurz be¬leuchtet werden. Jung mußte selbst zugeben, daß er die Ge¬fährlichkeit dieser Bewegung und vor allem die Psychopathie Hitlers nicht von Anfang an durchschaut hatte, was man von einem Mann seines Wissens und seiner Menschenkenntnis wohl am ehesten hätte erwarten dürfen. Nicht verziehen ha¬ben ihm seine Gegner, daß er sich 1933 zum Präsidenten der „Deutschen Allgemeinen Gesellschaft für Therapie", eines be¬reits gleichgeschalteten nazistischen Verbandes, wählen ließ, daß er 1934 in einem Artikel behauptete, das arische Unbe-wußte habe ein höheres Potential als das jüdische.29
Dies bedeutet gewiß einen Makel am Namen dieses sonst ge¬nialen Menschen. Viele wollten daraus ein Argument gegen seine Arbeit und seine Methode ableiten, wie es heute in man¬chen Artikeln gegen Eugen Drewermann geschieht. Vernünfti¬ger wäre allerdings die Folgerung, wachsamer gegenüber dem eigenen Schatten zu sein, d. h. sich nicht von Emotionen hin¬reißen zu lassen. Schließlich geht es nicht um die Person Jungs, sondern um den Glauben, zu dem viele durch seine Entdek- kungen fanden.30 Wir sollen ja nicht Jungianer werden, son¬dern Menschen, Christen, Seelsorger, die eigenständig ihren Weg gehen.

Die Gestalt der Seele
Die Sicht C. G. Jungs von der menschlichen Seele kann man sich als Modell folgendermaßen vorstellen: Der psychische Or¬ganismus als ganzer, also die Gesamtheit aller bewußten und unbewußten Vorgänge, ist mit einer Kugel zu vergleichen31, an deren Oberfläche sich ein umgrenzter Bereich befindet: das Be¬wußtsein mit dem Ich als Zentrum. Das Ich gleicht einer Insel im Ozean des Unbewußten, so Jung. Man stelle sich dies ein¬mal bildlich vor: etwa im Verhältnis der Insel Malta zur Erdku¬gel.
Oder ein anderer Vergleich: Wie wir nur den geringsten Teil der Vielzahl unserer körperlichen Funktionen wahrnehmen und noch weniger von ihnen bewußt steuern oder ausführen - man denke an die Stoffwechsel- und Wachtumsprozesse so dürfen wir davon ausgehen, daß uns auch nur ein minimaler Teil der seelischen Abläufe bekannt ist und wir noch weniger über diese verfügen können, daß sie vielmehr uns bestimmen. Etwa Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie sind Vorgänge und Empfindungen in uns, über die wir nicht unmittelbar, al¬lein willentlich und bewußt verfügen können, die aber einen wesentlichen Einfluß auf unser Leben haben. Niemand kann sich rein willentlich, rein rational in einen anderen Menschen verlieben oder für ihn Sympathie aufbringen. Oder, es gelingt uns kaum, eine tiefsitzende Abneigung gegen jemanden, gegen eine bestimmte politische oder religiöse Gruppierung mit rein willentlich gutem und festem Vorsatz auszuräumen. An dieser Unmöglichkeit ist die herkömmliche Beichtpraxis gescheitert.

Archetypen- typische Siruationen - Grundstrukturen der Seele-
Ein anderes Beispiel: Hinter dem, was wir als Aggression oder als Sexualität erleben, stehen zum Großteil uns unbewußte psychische Grundstrukturen, die eigentätig wirken und von Jung „Archetypen" genannt werden, z. B. der Archetyp der „Anima", welcher eine beglückende oder verführerische Seite hat, - oder der Archetyp des „Animus", welcher sich als Initia¬tive und Tatkraft, als geistige Größe oder auch als Rechthabe¬rei und giftige Angrifflust zeigen kann. Archetypen sind rational nicht steuerbare Kräfte und werden gefährlich, wenn sie vom großen Ganzen abgespalten sind. Das führt zu Ausbrü¬chen von sinnloser Zerstörung oder zu einer Form der Sexuali¬tät, in der keine Beziehung gelingt. Mit dem Willen allein lassen sich Emotionen im besten Fall kontrollieren, aber nicht wandeln. Es braucht dazu eine innere Dynamik, die stärker ist als beispielsweise die vitalen Antriebe der Sexualität und Ag-gression, als Liebe und Haß.
Die Auffassung Freuds, daß das Unbewußte nur verdrängte Triebwünsche enthält, führte ihn im Hinblick auf die ge-schichtlichen Ereignisse seiner Zeit zu der pessimistischen An-nahme, daß der Mensch im Grunde seinen Trieben, vor allem dem Todestrieb, ausgeliefert sei. Dagegen nimmt C. G. Jung an
wie schon mehrfach angedeutet daß das Unbewußte eine wesentlich geistig-seelische Dimension hat. Es gebe eine zen¬trale, ordnende Instanz im Menschen, die sowohl das uns ver¬fügbare Ich-Bewußtsein als auch den uns in der Regel unverfügbaren und unerschöpflichen Bereich des Unbewu߬ten umfaßt. Damit ist gemeint: Es gibt eine Grundstruktur der Seele, welche die innere Einheit und Ordnung der Persönlich¬keit will und anstrebt. Jung nennt diese Dominanz des Unbe¬wußten den Archetyp der Ganzheit oder das Selbst In ihm verbirgt sich die Sinnsuche als „religiöser Trieb", der nicht ein Trieb unter anderen ist, sondern die eigentliche, wesentliche Grundströmung des menschlichen Lebens ausmacht. Sie ist das mächtigste Streben, das speziell in der zweiten Lebens¬hälfte aufbricht und alle anderen Triebe bzw. Archetypen ein¬binden kann. Das Selbst- die Mitte von allem
Im Symbol der Kugel bildet das Selbst die Mitte. Sie enthält wie der Kern einer Frucht eine Entelechie, d. h. einen inneren Plan der Persönlichkeit, oder anders gesagt: den geistigen Sinn, um dessentwillen sich das gesamte Drama eines Menschenlebens abspielt. Das Selbst ist zugleich auch der Umfang des Kreises bzw. die Oberfläche der Kugel, wenn das Ich-Bewußtsein in le¬bendigem, wachem Kontakt mit der Mitte steht und aus dieser Wachheit heraus der Entwurf der Persönlichkeit verwirklicht wird.
Im Laufe der Selbstwerdung oder Individuation werden die  Archetypen wie die Bilder der Fenster-Rosette einer mittelal-terlichen Kathedrale auf die Mitte hin bezogen. Deshalb ist die Rosette ein so beliebtes und faszinierendes Bild der Ganzheit bzw. Einheit. Der Kern unseres Selbst aber ist jenes mystische Zentrum, von dem aus wir uns selbst und die Menschen und die gesamte Schöpfung in ihrem Wesen berühren, erkennen - und heben können.                                                                                                                                                                                                                                      Kreis und Quadrat - Mandala                                                                                                                                                                                                                                                                            Deshalb ist das Symbol des Kreises bzw. des Mandala - der Kreis im Quadrat - das Bild der Einheit aller bzw. des Alls. Das Selbst hat demnach einen personalen, sozialen und kosmologi- schen Aspekt. „Das Selbst ist auch das Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man Individuum nennt und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in der einer den anderen zum völligen Bild ergänzt."32 Ein hervorragendes Beispiel, in dem dieses Verbundensein sehr schön zum Ausdruck kommt, ist der Sonnengesang des hl. Franziskus. Er war den Elementen ebenso nahe wie den Tieren und Menschen. An diesem Punkt angelangt, konnte er nicht nur angesichts der Sonne, sondern sogar inmitten seiner Schmerzen Gott loben und jene seligprei¬sen, die aus Liebe verzeihen. An Franz von Assisi |t 1226) wird sichtbar, wie das Selbst, das er herausragend darstellt, individu¬ell und zugleich universal, geschichtlich und zugleich zeitlos ist. So strömen jedes Jahr Tausende von Menschen nach Assisi zu den historischen Spuren eines Mannes, der vor 700 Jahren gelebt und zeitlose Bedeutung gewonnen hat, der einen höchst individuellen Lebenstil pflegte und heute noch die Achtung und Bewunderung Ungezählter f                                                                                                                                                    Wie die Erde um die Sonne

Die Überlegungen zur Gestalt der Seele laufen darauf hinaus, daß das Ich, wenn es sich der inneren Erlebniswelt verschließt und sich nur auf das Rationale stützt, verarmt und seiner Be¬stimmung nicht gerecht wird; denn es liegt - vom Ganzen her gesehen - nicht im Zentrum, sondern am Rande des gesamten seelischen Organismus. Es kreist - nach einem Wort von Jung
um das Selbst wie die Erde um die Sonne. Wenn der Mensch diese Gegebenheit nicht beachtet, verliert er sein Gleichge¬wicht, seine Einheit und seinen Halt. Die Einseitigkeit des all-
gemein verbreiteten, durch Bildung und Berufsleben geform¬ten vorder-gründigen Bewußtseins, welches den Schwerpunkt im Ich statt im Selbst hat, verursacht psychische und/oder psy- cho-somatische Störungen des einzelnen sowie krankhafte Massenphänomene. Diese zeigen sich im schon beklagten Lei¬den am sinnlosen Leben, an Beziehungslosigkeit, an Verödung des Daseins, sowie in der Flucht in Süchte und Ersatzbefriedi¬gungen, Ideologien, Scheinreligiosität und nicht zuletzt in sich mehrenden Ausbrüchen von Gewalt. Sosehr man soziale Pro¬bleme dafür verantwortlich machen kann, die tieferen Ursa¬chen liegen im emotional-geistigen Bereich. Es fehlt das Angebundensein an eine tragende Mitte.
Friedrich Nietzsche (t 1900) hat bereits vor 100 Jahren den Verlust der Mitte als den Verlust Gottes empfunden und mit den Worten beklagt: „Was taten wir, als wir diese Erde von ih¬rer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin be¬wegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?"33                                                                                                                                                                                                       Wandlung zum größeren Menschen

Wandlung geschieht dann, wenn wir uns auf die Suche nach der Mitte machen. Dies bedeutet, dem geistig-emotionalen Er¬leben Raum zu geben, aufmerksam auf die Impulse des Unbe¬wußten zu achten und wie der hl. Franziskus um Licht in der Finsternis des Herzens zu ringen. Wir sollen uns jedoch keines¬wegs den Strebungen des Unbewußten unbedacht aussetzen, sondern den großen Sinnzusammenhang zu ertasten suchen. In der Tiefenpsychologie spricht man von Bewusstwerdung unbewußter Inhalte, von Bewußtseinserweiterung, von Indiviuation und Selbstwerdung. Dieser Prozeß ist die menschliche Grundlage, auf dem sich der Weg zu Gott vollzieht; das bedeu¬tet Wandlung und Reifung. Das Leben des hl. Franziskus zeigt diese Form der Selbstwerdung. Sie bestätigt Jungs Annahme eines schöpferischen Sinngrundes, des Selbst, in dem sich Gottes Wille als die je eigene Entelechie des einzelnen offenbart.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, daß das Ureigenste mit dem Willen Gottes zusammenfällt: Gott will, daß ich ganz Ich-selbst werde und darin mein Glück finde. In der Sprache der Tiefenpsychologie ausgedrückt: Da» Selbst fällt als Mitte und Umfang der Seele mit dem Gottesbild zusammen. Hiermit ist gesagt, daß Gott in mir, in meinem Le¬bensprozeß, in dessen Tiefe und Umfang zu finden ist.
Es wurde schon gesagt, daß Jung eine Beziehungsmöglich¬keit der Seele zum Wesen Gottes postuliert: „Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott."34 Diese Entsprechung nennt er den Archetyp des Gottesbildes.                                                                                                                                                                                                                                                                                    Gott nur psychologisch?                                                                                                                                                                                                                                                                                   An diesem Begriff hat man sich viel gerieben, so als ob Jung sagen wollte, Gott sei nur eine innerpsychische Größe. Er betont aber ausdrücklich, daß der Typos, die Prägung, einen Stempel, einen Prägenden vor¬aussetzt. An anderer Stelle sagt er, daß das Gottesbild zwar nicht vom Archetypen der Ganzheit, dem Selbst zu unterschei¬den sei, daß aber „dieses Selbst nie und nimmer an Stelle Got¬tes steht, sondern vielleicht ein Gefäß für die göttüche Gnade ist".35 Das heißt: Wenn Gott unmittelbar auf uns einwirkt, dann tut er es inmitten unseres Selbst als dem Organ der religi¬ösen Erfahrung und der Ganzwerdung.Hier ist einmal mehr bedeutsam zu sehen, daß es religiöse Urerfahrung gibt, die sich unabhängig von Erziehung, von Religionen und religiösen Veranstaltungen zuträgt. Es ist ein Er-griffenwerden vom Heiligen im Sinne Rudolf Ottos als von einem anziehend-beglückenden und Schauder erregenden Geheimnis (mysterium fascinosum et tremendum).36 Es ist das wirkmächtigste Erleben, das einen Menschen bis in die Wur¬zeln seiner Existenz zu erschüttern und seine Anschauungen radikal zu verändern vermag. Das Selbst als die übergeordnete, anordnende und bewirkende Instanz hat demnach selbst nu- minosen Charakter.

Das Wissen vom Bild Gottes im Menschen hat christliche und außerchristliche Tradition. Es kann sich berufen auf Au¬gustinus und seine Lehre vom inneren Menschen, von der „Imago Dei"37, auf die erwähnte mittelalterliche Mystik eines Meister Eckhart (t 1327) mit seinem Bild vom Seelenfünklein, auf Johannes Taulers (t 1361) Seelengrund und auf Teresas von Avila (t 1582) innerer Burg. Und schließlich beruft sich Jung auf Paulus, wenn dieser im Galaterbrief sagt: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir" (Galater 2,2).

Karl Rahner (t 1984) spricht von der Wurzel der Welt, von der innersten, personalen Mitte der geistigen Subjekte, von der her die Welt zuinnerst immer und dauernd von Gnade erfaßt ist.38 An anderer Stelle sagt er, daß ein Mensch - auch wenn er nicht explizit Christ sei - die Selbstmitteilung Gottes, Gnade genannt, als die innerste Mitte seiner Existenz besitzen könne und damit auch als Heide das Heilsgut in sich trage.39
Es geht beim Selbst um den großen inneren Menschen, dem unser Ich angeglichen werden soll, um dichtere Erlebnisfülle wie um tiefere Einsicht. Dieser große innere Mensch, die An- thropos-Figur, ist für Christen Christus, dem sie ähnlich wer¬den sollen, aber nicht „aufgrund von Werken, sondern von Gnade" (vgl. Titus 3,3). Es ist nicht Ergebnis von Leistungen, sondern ein personaler Wachstumsprozeß, der nicht unmittel¬bar dem Willen unterliegt, aber durchaus Anstrengungen ko¬stet. Weil alle Aussagen über das Selbst - daß es zeitlos sei und geschichtlich, individuell und universal - auf Christus zutref¬fen, hat C. G. Jung Christus ein Symbol des Selbst genannt, d. h.: Christus sei eine Gestalt, die das menschliche Selbst ver¬anschaulicht. Rein empirisch-psychologisch kann man es so sagen. Für Glaubende ist Christus der erhöhte Herr, der seinen Thron in der Mitte unserer Seele, in der gemeinsamen Mitte aller und des Kosmos, also im Selbst eingenommen hat und der als der Logos im transzendentalen Sinngrund schon immer da war.
Die Aussagen Jungs über das Unbewußte seien noch einmal zusammengefaßt: Es ist instinkthaft, triebhaft und geistig, per-sönlich und kollektiv. Es enthält Inhalte des vitalen Bereichs und solche, die geistiger Natur sind. In ihm ist die persönliche Lebensgeschichte gespeichert, aber auch menschheitliche Grundmuster von Erfahrungen und Vorstellungen, die uns mit allen Menschen verbinden, die Archetypen. Das „kollek¬tive Unbewußte", wie diese Schicht genannt wird, ist nicht nur als Ablagerung von vergangenem Leben zu verstehen, sondern als schöpferischer Urgrund, als eine Art Matrix, welche Neues hervorbringt.

Hoffnung durch Jung
Jungs Sicht von der menschlichen Seele läßt hoffen; seine
Psychologie ist nicht der Glaube; aber sie schafft einen Rah¬men, in dem der Glaube im menschlichen Leben einen Ansatz findet und sogar in dessen Mitte gerückt wird. Die Definition von Glauben im „Handbuch theologischer Grundbegriffe" be¬rechtigt zu dieser Aussage. Dort heißt es, daß sich „im Akt des Glaubens der ganze Mensch engagieren muß, und zwar in je¬nem innersten Kern seiner Person, in dem Freiheit, Erkenntnis und Liebe jene ungeschiedene Einheit bilden, die für den Akt des Glaubens erforderlich ist und aus der Verantwortung und Schicksal entspringen".40 Mit Recht dürfen wir annehmen, daß dieser Raum, den Augustinus mit „cor" (Herz) und Thomas von Aquin mit „mens"(Sinn, Verstand) bezeichnet, der inner¬ste Personkern, mit dem zusammenfällt, was Jung unter dem „Selbst" versteht. Deshalb ist Selbstfindung als das Aufsuchen dieses Raumes der Einheit und Ganzheit zuinnerst mit dem Weg des Glaubens verflochten.
Gewiß ist nicht jede Selbstfindung, die im Laufe einer Psy-chotherapie geschieht, schon Glaube im Sinne der Offenba¬rung; denn dieser ist wesentlich personale Begegnung mit einem transzendenten Du. Die Psychotherapie kümmert sich um die Aufarbeitung der persönlichen Lebensgeschichte, um die Freisetzung der Antriebe, um die Ablösung von Fremdbe¬stimmung, die im Laufe einer Lebensgeschichte entstanden ist. Sie kann aber - wie bei Jung - auch zu einer religiösen Einstel¬lung führen in dem Sinn, daß man das souveräne Wirken un¬bewußter Kräfte anerkennt und sorgfältig berücksichtigt. Sie kann in den Vorraum des Glaubens führen, ähnlich dem Vor¬hof - Narthex genannt - der antiken und mittelalterlichen Kir¬chen. Das Tor zum Heiligtum, d. h. zum Glauben selbst, kann allerdings nur von jemand geöffnet werden, der innerhalb die¬ses Raumes steht.
Andererseits kann es sein, daß der Weg nach innen mit einem starken religiösen Einstiegserlebnis beginnt, daß Gebet und Meditation einen wesentlichen Teil des Prozesses darstel¬len und daß sich zusammen mit der therapeutischen Erschlie¬ßung der Erlebnisfähigkeit auch tiefere, umfassendere, erlöste Erlebnisräume öffnen. An den Heiligen läßt sich erkennen, daß sich ihr Weg zu Gott als Selbstfindungsprozeß vollzogen hat.41 Selbstwerdung, menschliche Entwicklung, personales Wachstum und Glaube dürfen wir deshalb als zusammengehö* rend betrachten - wie die menschliche und göttliche Natur in Christus: unvermischt und ungetrennt. Wir sollten Selbster¬fahrung nicht mit Glauben verwechseln, aber sie auch nicht von ihm trennen.
Eine gute Synthese von Tiefenpsychologie und Glaube bie¬tet Adolf Heimler, Priester und Psychotherapeuth. Er nennt Glaube eine entgrenzende, Ich-übergreifende En twicklungsdy» namik und spricht vom selbsthaften Glauben, der nicht im ei* genen Ich verbleibt und sich nicht innerweltlich abschließt/ sondern nach der Vollendung des Menschen strebt und aus der Verantwortung für sein Menschsein handelt.42 Selbstverwirkli* chung findet, so gesehen, ihre Erhöhung im Glauben und der Glaube seine menschliche Gestalt. Die Anschauung vom Selbst als der bewußtseins-immanenten und -transzendenten geistigen Mitte besagt, daß es eine Ausrichtung von innen her gibt, durch die der einzelne Mensch, sowie seine Beziehung zu anderen und zur Natur wieder ins Lot, in die rechte Ordnung kommen. Dies bedeutet zugleich Befreiung der Gefühle und vor allem Wiederbelebung des Religiösen als einer heilenden; ordnenden und sinnstiftenden Kraft. Damit besteht zudem Aussicht, auf das heutige gesellschaftliche Leben einzuwirken und gerade in jenen Erfahrungsbereichen Antworten anbieten zu können, in denen Menschen verunsichert und verzweifelt sind: in der Suche nach tragfesten emotionalen Beziehungen, nach geistigem Gehalt, nach Auswegen aus der Zukunftsangst, nach Versöhnung mit der Schöpfung.
Angesichts der (scheinbaren) Abwesenheit Gottes, unter der viele leiden, kann der Mensch sehr viel tun, um sich bereit zu machen. Das geschieht insbesondere dadurch, daß er den Fra¬gen nicht ausweicht, die ihn „im Innersten angehen", um ein Wort von Paul Tillich abgewandelt zu gebrauchen, und daß er in sich die nach Sinn treibende Kraft zuläßt.43 Nur wer sich auf die Ebene existentieller Betroffenheit begibt, gelangt zum Selbst, in dem Gott im Menschen anwesend ist. Eine große Rolle spielen dabei Symbole, wie sie in Träumen, im täglichen Leben, in der Natur, in der Heiligen Schrift und der Liturgie Vorkommen. In, ihnen finden wir Erfahrungen von Leid und Bedrohung, aber ebenso von Erlösung und Heil verdichtet dar¬gestellt. Sie sprechen die Sprache der Seele, sprechen gerade sie an und sind daher eine hervorragende Möglichkeit, das Tiefste im Menschen wachzurufen, Belastendes abzugeben und eine Heilung der Seele anzuregen.
Weil die religiösen Symbole Urerfahrungen der Nähe Gottes
psychologisch gesprochen: des Gottesbildes des Heil- und Ganzseins, der Rettung, des Vertrauens und der Hoffnung ent¬halten, ist es so enorm bedeutsam, sie dem eigenen Erleben zu öffnen. Damit kann auch etwas - christlich gesprochen - vom Urereignis des Heils in Christus für die Gegenwart wirksam werden. Es sei hier erinnert an die liturgischen Symbole der Vergegenwärtigung des Todes und der Auferstehung in der Eu¬charistie oder insbesondere der Ostemachtfeier. Symbole der christlichen Liturgie sind als Schätze zu betrachten, die zu ent¬decken sich lohnt.
Peisona und Schatten - Echtheit und Authentizität Das Modell C. G. Jungs von der Seele gilt es noch ein wenig weiter auszufalten. Dabei sind die beiden Begriffe „Persona" und „Schatten" von großer Bedeutung, weil das Ich unmittel¬bar zwischen beiden steht.
„Persona" war die Maske des antiken Schauspielers, durch die seine Stimme hindurch-tönte (lateinisch: per-sonare). In der Psychologie Jungs ist sie jener Teil in uns, durch den wir mit der äußeren Wirklichkeit verbunden sind, als den wir von außen her gesehen werden: unser Erscheinungsbild. Die Per¬sona besteht aus einer Summe von Verhaltensweisen, Eigen¬schaften, Ansichten und Reaktionsformen, die wir uns erworben, die wir unbewußt oder bewußt von anderen über¬nommen haben, um in dieser Welt eingegliedert zu sein und zu funktionieren; also all das, was man in einer bestimmten Position und Rolle von uns erwartet, ohne daß es unsere Indi¬vidualität und unser wahres Wesen schon ausdrückt.
In jedem Beruf gibt es Rollenmuster, mit denen wir dessen Aufgaben optimal erfüllen: z. B. die immer freundliche Ge- schätsfrau, der aktive, bestinformierte, sich voll einsetzende
Arzt, der alles wissende und alles erklärende Lehrer. Der Nach¬teil ist allerdings, daß dadurch keine unmittelbare Begegnung von Mensch zu Mensch stattfindet. Das Gespräch bewegt sich in Schablonen, Formalitäten, eben nach den Rollen, die gerade zu spielen sind. Es fehlt an individueller Echtheit oder Authen-tizität. Die Individualität wird hinter einer Fassade versteckt, und es ist sehr schwer, aus der Berufsmaske wieder herauszu- kommen.


Wie ist das nun beim Priester und Seelsorger? Aufgrund seines hohen Auftrages und der hohen Erwartungen seitens der Gläu¬bigen ist die Gefahr besonders groß, sich mit der Rolle zu iden-tifizieren, also bloß Persona zu sein. Darüber hat der Pastoraltheologe Rolf Zerfaß eine sehr hart klingende Feststel¬lung getroffen, die der Innsbrucker Pastoralpsychologe Her¬mann Stenger in seinem Buch „Eignung für die Berufe der Kirche" zitiert: „Bereits nach wenigen Berufsjahren ist jener unruhige, laute, veräußerlichte Kirchenfunktionär entstan¬den, der Christen und Nichtchristen und vor allem potentielle Priesteramtskandidaten abstößt, weil er der lebendige Beweis dafür ist, wie sehr auch die Religion den Menschen zu ent¬fremden vermag, wie wenig der Glaube erlöst und heilt."44 '
Diese Aussage erinnert an die eingangs erwähnte Bemer¬kung einer jungen Frau, nach der sie die Fragen der Theologen nicht interessieren und sie ihre Antworten schon kenne. Fer¬ner sprachen wir schon davon, daß Menschen in Sinnkrisen eher zum Therapeuten oder in ein Meditationszentrum gehen als zum Seelsorger. Sie erwarten von ihm keine lebendige Be¬gegnung mehr, in der ihre Fragen voll und ganz zugelassen würden.
Es ist - anderseits - sehr bitter, sich sagen lassen zu müssen, daß die Predigt nicht ankommt, daß das Reden einfach zu schablonenhaft in alten theologischen Denkmustem verläuft. Das Tragische ist, daß es nicht an Einsatz, an Eifer und An¬strengung fehlt, sondern daß alle Mühe wie von unbekannter Kraft ins Leere gelenkt wird. Nun sind solche Feststellungen al¬lein noch nicht hilfreich, könnten sogar entmutigen und Ge¬fühle der Minderwertigkeit auslösen. Darum erscheint es mir auch hier sinnvoller, statt über die Dunkelheit zu klagen, ein Licht anzuzünden, wie ein altes Weisheitswort sagt.
Die Ursachen sind in der persönlichen Lebensgeschichte zu suchen, für die wir nicht die unmittelbare Verantwortung tra¬gen. Denn wann - so dürfen viele sagen - wurde ich mit mei¬ner Lebendigkeit in Kontakt gebracht, so daß ich jetzt daraus schöpfen und auf die Menschen zugehen könnte? Waren die Tugenden, zu denen ich erzogen wurde, nicht vielmehr - eher regressiv - Gehorsam, Anpassung und Leistung?45 Zudem sind Seelsorger durch die äußere Struktur in einen festen, von au¬ßen oder oben vorgegebenen Rahmen gespannt, mit einer Viel¬zahl von Verpflichtungen überlastet und von den spezifischen Aufgaben her überfordert.
Die unterschiedlichen Erwartungen und die damit verbun¬dene Rollenunsicherheit führt viele dazu, sich an ein bestimm¬tes Schema zu klammem und alle Energie darin zu investieren. Es kann auch sein, daß man die Arbeit geradezu sucht, um sich nicht der Stille und in ihr möglicherweise dem Zweifel, der Verunsicherung und Leere auszusetzen. So kann die beste Ab¬sicht zur Selbsttäuschung werden, der man, wenn man nicht doch eines Tages die Tretmühle anhält, zum Opfer fällt, des¬sen Symptome alles nur noch schwieriger machen.
Zu dieser Problematik hatte ich folgenden Traum: Ich leite ein Geschäft. Der Umsatz ist gut. Ich habe noch einen stellver-tretenden Geschäftsführer, einen Schwarzen, der aber in seine eigene Tasche wirtschaftet, so daß immer mit Verlust gearbei¬tet wird.
Genau diese dunkle Figur stellt jene Kraft dar, die im Tages-bewußtsein des Lebens nicht sichtbar, greifbar wird, die aber von hinten her unser Bemühen zunichte macht. Sie ist das, was in der Tiefenpsychologie der dunkle Hintergänger bzw. „Schatten" genannt wird. Er ist es, der den lebendigen Kontakt, die authentische Beziehung verhindert. Er ist die Rückseite der priesterlichen, hohen Ideale, des unermüdlichen Einsatzes für Gott, für die Kirche, für Menschen und umfaßt jene Anteile der Persönlichkeit, jene Antriebe, Wünsche und Vorstellun¬gen, die viele Priester und seelsorgerlich tätige Menschen auf¬grund ihrer Erziehung und ihres hohen Berufsethos' zurückge-
stellt, als minderwertig verdrängt, mißachtet haben. Doch diese vitalen Kräfte hinter der Fassade eines ehrenvollen Hau¬ses sind damit durchaus nicht für immer erledigt, still, unwirk¬sam, - selbst wenn es gelingt, hohen Idealen treu zu bleiben. : Sie wirken verborgen und daher unmerklich auf unser Denken ein und können zu lange Zeit unerklärlichen StörfaktoreR| werden, die von den innersten Zielen - Menschen zu Christus 1 zu führen - abhalten. Dies geschieht umso mehr, je ablehneif-| der jemand mit den nicht emstgenommenen, zurückgewies#J nen Kräften, besonders jenen im Reich der Gefühle umgeht, v
Bei Klerikern ist nicht selten ein Ton anzutreffen, der den Wert menschlicher Beziehungen recht abfällig und verstand-; nislos einschätzt und alle - für sie suspekten - Bemühungen! um sie, wie etwa Selbsterfahrung und Meditation, belächelt, Is ironisiert. Dies ist jedoch eine (unbewußte) Weise, den eigenen Schatten, das eigene Ungelebte und Ungeklärte abzuwehren, 1 mit allen (ungewollten) negativen Konsequenzen.
Da der Schatten - unbearbeitet - unbewußt ist und doch wirklich, äußert er sich in der Projektion besonders auf jene Personen, die - noch einmal imbewußt für den Projizieren- < den - wie ein Spiegel sind, Gegner oder sogar Feinde, weil sich der eigene Schatten, das eigene Ungelebte in ihnen wiederer¬kennt. In ihnen bekämpfen wir etwas, mit dem wir selbst nicht fertig geworden sind und uns deshalb Angst macht, verunsi¬chert und insgeheim minderwertig sein läßt.
Hierher gehört auch die gegenseitige Verketzerung kirchli¬cher Gruppierungen. Wer Polemik übt, ist sich seines Glau¬bens nicht sicher; er fühlt sich durch Meinungen anderer bedroht, die eine Wahrheit vertreten, welche er selbst nicht zulassen kann, die aber wesentlich mit seinem Schatten zu tun hat. Deshalb ist „Schatten" gleichbedeutend mit einem Stück Unglauben. Im Andersdenkenden bekämpfen wir den eigenen Zweifel, den wir zuzulassen uns nicht erlauben (können), und mit ihm einen Teil unseres Lebens.
Neue, ungewohnte Wege der Seelsorge und der Glaubenser¬fahrung werden beargwöhnt, weil sie die eigene Praxis in Frage stellen und somit als eine Gefahr für das eigene Selbstverständ¬nis empfunden werden.
Alles Lebendige bzw. alle Menschen, die lebendig sind, ver-unsichern jeden, der in seinen - ihm vertrauten - Mauern sitzt und die freie Luft scheut. Wenn in einer Gemeinschaft der Hauptakzent allein auf rationale Bildung, auf Glaubenswi&sen, auf Institution, Organisation und Gehorsam gelegt wird, wirkt jeder, der innerhalb der eigenen Mauern Leben und Glauben neu entdeckt, noch bedrohlicher als ein Anstoß von außen. So verunsichert eigenständiges Denken und selbst spirituelle Tiefe wie die einer - freilich für viele noch ungewohnten - Meditationsweise manche Ordensobere, manche Ordensge¬meinschaft, manche Bischöfe und Priesterkollegen. In den Le¬bensgeschichten etwa einer Teresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz kann man nachlesen, zu welchen Kon¬flikten und Anfeindungen es kommen kann, wenn Spirituali¬tät von innen und Charismen sich zu Wort melden. Warum sollte es gegenwärtig plötzlich anders sein? Ganz im Zeichen des Schattens und der Schattenkämpfe steht auch heute die Auseinandersetzung um Eugen Drewermann und seine Anlie¬gen, zum Beispiel.
Während der Paderbomer Theologe genau den Schattenbe¬reich der Kirche - wie Mißachtung der Gefühle, Sexual-Feind- lichkeit, so vieles, was zu denken nicht erlaubt ist - ans Licht hebt, müßte er bei sich selbst prüfen, inwieweit er vom Schat¬ten eigener Ängste und Affekte beeinflußt wird, wie auch an¬derseits jene, die ihn unzumutbar, störend, nicht mehr katholisch finden und eliminierten. Wobei jedoch nicht die Institution als solche anzuklagen ist; waren und sind es doch Menschen, die sie zu dem gemacht haben und - Fakten schaf¬fend - als die erhalten, worunter viele heute leiden.
Man sollte darauf achten, inwieweit eine Lebensform, die ultimativ auf Armut, Gehorsam und ehelose Keuschheit aus¬gerichtet ist, nicht genau das verhindert, was sie anstrebt: eine im Glauben überzeugende Persönlichkeit. Nach Schultz- Henke entsprechen die drei „evangelischen Räte" den drei ele- metaren Antrieben, mit denen der Mensch ausgestattet ist: dem Besitzstreben, der Aggression und dem Liebesstreben.                                                                                                                                                                                                                                                                                    Reifung unter Verzicht
Folgende Frage dürfte weder mit theologischen noch spiritu- eilen Argumenten vorschnell zurückgewiesen werden: Wie soll eine Reifung der Persönlichkeit erfolgen, wenn ein wesent¬licher Bereich - nämlich die Vitalität - ins Unbewußte abge¬drängt wird? Im Laufe einer priesterlichen Sozialisation wird ja der lebendige Bezug zu den vitalen Persönlichkeitskräften nicht gerade gefördert, vielfach reißt er ab, und nicht selten wird eine Berufsentscheidung in einer Verfassung getroffen, die man in der Psychotherapie als Gehemmtheit bezeichnet.
Die Schwierigkeit für einen Priester, seinen Schatten anzu¬nehmen, ist deshalb so groß, weil er einerseits - um seiner Echtheit und Selbstkongruenz als Mensch willen - die unge- lebten Kräfte seines Wesens zulassen sollte, andererseits aber seinen Idealen nicht untreu werden möchte. Beides zu verei¬nen ist eine echte, spannende Gratwanderung, am ehesten möglich und erreichbar mit fachlich fundierter Begleitung und bei einem wachsenden, tiefen Glauben. Wobei vielleicht die schwierigste Hürde für manchen die ist, sich als „Ratsuchen¬der" auf den Weg zu machen; denn - als Priester einen Thera¬peuten brauchen ...?
Bei aller Treue zu den Idealen, bei allem in ihnen Eingebun¬densein sollte man sich in aller Wahrhaftigkeit fragen: Was vermeide ich? Was will leben?
Man kann sich durch all seine vielen Verpflichtungen recht „erfolgreich" aus dem wirklichen Leben heraushalten, so daß gerade bei jungen Menschen der Eindruck entsteht: ,In dieser Kirche darf ich das Leben nicht voll und ganz riskieren. Hier fühle ich mich ständig gebremst. Hier habe ich nichts zu sa¬gen.' Gehorsam kann zur Fremdbestimmung werden, die es verhindert, sich selbst wahrzunehmen, sich abzugrenzen, zu seinen Gefühlen zu stehen und konstruktiv Konflikte auszu¬tragen. Es ist kein Geheimnis: Im Vergleich zu kirchenfernen sind kirchliche Personen im Ausdruck ihrer Emotionen und ihrer vitalen Kreativität eher gehemmt. Die geistige Enge, über die so manche in der Kirche klagen, hat viel mit der Ableh¬nung des vitalen Bereichs zu tun. Genau dieser ist aber der Bo¬den, aus dem echte, heilsame Gefühle wie Vertrauen, Herzlichkeit und Einfühlungsvermögen wachsen.
Wenn vitale Gefühle nicht zugelassen werden, wenn die Seele des seelsorgerlich Tätigen keinen Raum, sich auszudrük- ken, bekommt, wirkt sich das auch auf das spirituelle Leben aus. Es bedarf wirklich einer ernsthaften Prüfung, warum spiri¬tuelle Aufbrüche heute eher außerhalb als innerhalb der Kir¬che stattfinden. Menschen gehen dorthin, wo sie dichteres Erleben finden, wo eine Sprache gesprochen wird, die ihr Herz erreicht. Alles spricht dafür, daß mit der Nichtbeachtung oder gar Unterdrückung des Lebendigen und dem Mangel an Re¬spekt vor den genau dies Suchenden oder bereits Lebenden die spirituelle Entfaltung verhindert und damit in den Schatten abgedrängt wird. Es ist mehr als eine Vermutung, daß sich bei vielen kirchlichen Personen die vitalen und spirituellen Kräfte gegenseitig blockieren und letztere dazu dienen, erstere in Schach zu halten, anstatt sie sich frei entfalten zu lassen.
Es mag provozierend klingen, wenn zum Thema „Inhalte des Schattens" gesagt wird: Im Bewußtsein der meisten fehlt es nicht an gutem Willen und schier rastlosem Einsatz. Lebendig¬keit und spirituelle Kraft jedoch liegen bei vielen im Bereich des Schattens. Die Frage wäre - um der priesterlichen und seel-sorgerlich wirkenden Menschen willen - von jedem persön¬lich zu prüfen, inwieweit das Ergebnis seines/ihres bisherigen Lebens die angestrebte Reife und auch menschliche Erfüllung ist oder verkümmertes Menschsein und spirituelle Mittelmä¬ßigkeit.
Das gegengeschlechtliche Seelenbild - Anima und Animus Um mit dem Schatten, den eine ehelose Lebensform wirft - unbestritten: eine andere Lebensform wirft auch Schatten -, zurechtzukommen, ist C. G. Jungs Verstehensmodell von „Anima" und „Animus" sehr hilfreich. Es besagt, daß jeder Mann einen unbewußten weiblichen Seelenanteil, Anima ge¬nannt, in sich trägt und ebenso die Frau einen männlichen, Animus.
Wenn sich zwei Menschen verlieben, wird die Anima im Mann und der Animus in der Frau geweckt. Der Mann kommt in einen Erlebnisbereich, den man mit weich, zärtlich, einfühl¬sam, mit verbindender Nähe umschreiben kann. Die Frau spürt in sich etwas von der Kraft und Sicherheit eines Mannes. Der Mann kommt also in Kontakt mit seiner Anima, die Frau mit ihrem Animus. Dies wird als ungemein wohltuend, be¬glückend und erfüllend, von beiden als „Ergänzung" (als Ganz¬heit) erlebt.
Zunächst wird der andere als tatsächliche(r) Träger(in) dieser Eigenschaften und noch vieler anderer gesehen, welche jedoch in Wahrheit Inhalte des unbewußten gegengeschlechtlichen Seelenbildes sind; d. h. Anima und Animus werden auf den Partner projiziert. Der ist nur der Auslöser und nicht der wirk¬liche Inhaber der geschätzten Erlebnisqualitäten. Denn diese sind vorgeprägt von den Urerfahrungen des Mannes mit der Frau als Mutter, Schwester, Geliebte, Gattin und von persönli¬chen Begegnungen, - analog verhält es sich mit den Erfahrun¬gen der Frau in bezug auf den Mann.
Mit anderen Worten: In der Begegnung von Mann und Frau werden aufgrund des eigenen, unbewußten gegengeschlechtli¬chen Seelenbildes (Anima, Animus) Eigenschaften in den Part¬ner bzw. in die Partnerin hineingesehen, die er/sie nicht apriori als dieser konkrete Mensch tatsächlich hat. Es werden Erwartungen an ihn/sie gestellt, die er/sie nicht erfüllen kann. Die - in der Weiterentwicklung ihrer Beziehung - erfor¬derliche Rücknahme dieser Projektion bewirkt, den anderen so sehen zu können, wie er/sie wirklich ist, und erreicht eine Überführung bisher unbewußter Inhalte ins Bewußtsein. Die¬ser Prozeß ist eine entscheidende Voraussetzung für eine gelin¬gende Beziehung. Kurz: Anima und Animus sind Archetypen des Seelenlebens, üben eine faszinierende Kraft aus, regen zu Projektionen an, die jedoch als solche erkannt und abgelöst werden müssen, will man nicht auf bittere Enttäuschungen und ein Scheitern zusteuern.
Die Funktion dieser Seelenbilder, ob positiv oder negativ, ist auf drei wichtigen Ebenen entscheidend: (1) in der konkreten Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau, sowie all¬gemein in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Zusammenleben und -arbeiten, (2) in der Beziehung des Men¬schen zum eigenen Unbewußten, zu sich selbst und (3) in be-
zug auf die eigene Ganzheit. Die Anima des Mannes und der Animus der Frau haben eine vitale und eine geistig-spirituelle Seite.
Jung unterscheidet in der Entwicklung der Anima vier Stu¬fen: (1 ] primitiv-sinnliche Sexualität, symbolisch verkörpert in Eva, (2) romantische Liebe, verkörpert in der Person der He¬lena, (3) die vergeistigte Beziehung zur Frau, dargestellt in der Jungfrau Maria, und (4) die Vollgestalt der Anima in der So¬phia, welche alle anderen Stufen in sich vereinigt: Die eroti¬sche Kraft enthält dann auch eine tief-geistige Komponente des Erlebens, und im geistig-spirituellen Erleben schwingt die erotische Sensibilität mit.
Jung kritisiert am seinerzeit und wohl auch noch heute ge¬lebten Christentum, daß die chthonische, die erdhafte, d. h. die vitale Seite von der bewußten Persönlichkeit abgespalten ist. Solange dieser Bereich aber unbewußt bleibt, kann er nicht kultiviert werden und ist ein ständiger Herd der Bedrohung, der Unsicherheit und der Neurose. Die Liberalisierung des Se¬xuellen bzw. die Sexualisierung der Öffentlichkeit hat auch da¬mit zu tun, daß es der Kirche zu wenig gelungen ist, die Sexualität ins ganzheitlich Personale zu integrieren. Die perso¬nale Liebe wird zwar als höchstes Ziel vor Augen gestellt, aber das bloße Insistieren auf Moralnormen hilft nicht, es auch zu erreichen.
Für „von Berufs wegen" ehelos lebende Christen, die sich schon in jungen Jahren auf ihre künftige Rolle eingestellt und nähere Begegnung mit Frauen bzw. Männern eher vermieden als gesucht haben, ist die Neigung und Gefahr besonders groß, hier in der Unbewußtheit zu verbleiben. Sie zeigt sich bei¬spielsweise darin, daß mancher Ehelose Frauen einerseits uner¬reichbar überhöht und sie als Quelle allen Glücks betrachtet, andererseits sie verbal oder faktisch abwertet und verletzt. Daß im kirchlich Christlichen nur eine Seite der Anima offiziell zu¬gelassen ist, nämlich die der sich aufopfernden Mutter und der sexuell neutralen Jungfrau - entsprechend der Erfahrung von Priestern mit ihrer Mutter und mit ihrer Schwester -, verstärkt eine solche Einstellung. Dieses unvollständige Bild von der
Frau wird noch erhöht und sanktioniert mittels der Gestalt Marias, die als Jungfrau und Mutter den höchsten Rang der Verehrung (nach Christus) einnimmt.
Im „Lexikon für Theologie und Kirche" - es wird derzeit neu erarbeitet - hieß es vor gut dreißig Jahren zu diesem Thema, das Wesen der Frau sei Mütterlichkeit: „Das Mutter- tum wurzelt im Empfangen und Tragen. Es reift zur opferfreu¬digen, sich nie versagenden Hingabe."46 Eine solch einseitige Sicht berücksichtigt nicht die Symbol-Gestalten von Eva und Helena, d. h. den gleichwertigen Aspekt der körperlichen und romantischen Liebe. Wenn dieser unbewußt, unbeachtet oder tabuisiert bleibt und nicht entwickelt wird, fehlt ein wesentli¬cher Teil in der Persönlichkeit des Mannes und in seiner Bezie¬hung zur Frau. Die einseitige Betonung eines vergeistigten Frauenbildes übersieht, daß der sexuelle und erotische Erleb¬nisraum die Grundlage, die Ausdruckskraft und den Nährbo¬den bildet für die geistige Überzeugungskraft und Liebesge- meinschaft zweier Menschen, ja gewissermaßen dazu die Energie liefert.
Vor allem werden die tatsächlich lebenden Frauen überse¬hen, die sich im Bild der nur dienenden Magd, der nur sich auf¬opfernden Mutter oder der geschlechtslosen Jungfrau nicht wiederfinden. Sie wollen in ihrem Selbstbewußtsein als Frauen mit erotischer Ausstrahlung, als gleichwertige, ebenbürtige Persönlichkeiten ernstgenommen sein und wehren sich, in we¬sentlichen Punkten ihrer Existenz übergangen zu werden. In einer Kirche, die einem solchen fraulichen Selbstverständnis fremd oder sogar ablehnend gegenübersteht, können sie sich nicht zu Hause fühlen. So mehren sich die Kirchenaustritte vor allem jüngerer Frauen, die berechtigterweise nach Bestäti¬gung ihrer noch unsicheren Identität suchen und die Mängel dieser nur von Männern geleiteten und geprägten Kirche als Mißachtung ihrer Würde empfinden. Die Auseinandersetzung um den Platz der Frau in der Kirche ist nicht zuerst eine Sache der Institution, sondern der Einstellung, des Bewußtseins, der Reife, d. h. ein Problem der Anima derer, die der Kirche vorste¬hen, aber auch des Animus der Frauen in der Kirche, will sa¬gen: Erst wenn sich der Mann mit der Frau und die Frau mit dem Mann in sich versöhnt, wird aus der Kontroverse, die ge-geneinander gerichtet ist, eine fruchtbare Spannung zueinan¬der. Die Versöhnung beginnt dann, wenn die Männer der Kirche alles, was - nicht nur - das „Lexikon für Theologie und Kirche" (d. h. ein Mann, bzw. Männer) über das Wesen der Frau schreibt, ernst nehmen und es als eigene, reale Identität betrachten.47 Dort heißt es, wie bereits erwähnt, daß das We¬sen der Frau die Mütterlichkeit sei. Bei allem kritischen Vorbe¬halt zu dieser einseitigen Aussage ist dieses Thema von höchster Aktualität. Frauen, die bewußt eine Entbindung er¬lebt haben, bezeichnen sie als höchste Form der Selbsterfah¬rung. Mutterschaft bedeutet Empfangen und Tragen. Darin entdecke ich für mich als Mann die Frage: Inwieweit kann ich eine Anregung von außen oder einen Impuls aus der Tiefe der Seele annehmen und austragen wie eine Mutter ihr Kind? In¬wieweit kann ich im Innern etwas wachsen und reifen lassen - der Anima in mir Raum geben?
Es geht um die mütterliche Grundhaltung des Pathischen, die sich entscheidend von der reinen Passivität oder einem ma¬sochistischen Erleiden abhebt. Es ist ein bewußt angenomme¬nes und bejahtes Erleben. Jeder priesterlich tätige Mensch sollte - um seiner Glaubwürdigkeit und eigenen Identität wil¬len - sich prüfen, ob seine Tätigkeit ausschließlich aus Planen und Machen, aus Aktivitäten besteht und das Erleben als ein Geschehenlassen im emotionalen und spirituellen Bereich nicht zu kurz kommt.
Weiter zeichnet die Grundhaltung des Pathischen aus: eine opferfreudige, keineswegs selbstlose, vielmehr liebende Hin¬gabe. Ob diese vielleicht deshalb bei vielen Seelsorgern erlahmt oder auch nie so richtig vorhanden war, weil es im Grunde nicht das „eigene Kind" ist, wofür einer Sorge trug, sondern nur etwas von außen Übernommenes? Das würde bedeuten: Die Suche nach dem Eigenen steht noch aus.
Auch die folgenden Eigenschaften als Gütezeichen des Pathi¬schen sind sehr zu beherzigen: dem Leben mitfühlend naheste¬hen,• sich sensibel von dessen Not und Freude berühren lassen; es unmittelbar, spontan und tief erfahren,- dem spontanen, lei-denschaftlichen Lebensantrieb trauen; sich von Gefühlen be¬wegen lassen; sich flexibel auf Lebenswichtiges, Naheliegendes und Gegenwärtiges einstellen; dem Einzelmenschen, zumal dem Hilfsbedürftigen mehr zugetan sein als hohen Prinzipien; eher person- als sachbezogen handeln; sich vom Konkreten und Vorstellbaren stärker als von abstrakten Begriffen anspre¬chen lassen; dem ahnenden und intuitiven Erfassen Raum ge¬ben und nicht nur dem schlußfolgernden Denken. Was speziell den Glauben betrifft, könnten die leitenden und leh¬renden Männer der Kirche von den Frauen lernen, sich mehr für das Geheimnis der Gnade und der Güte Gottes zu öffnen und eine größere Nähe zum Erlöser zu entwickeln, der als Mensch handelt und leidet.
Bei eingehender Betrachtung sind es genau diese Wesens¬und Erlebensmerkmale, von denen zunehmend mehr Men¬schen den Eindruck haben, daß sie der Kirche heute fehlen, und aufgrund dessen sie - enttäuscht, verärgert, verletzt oder ironisierend - als „Männerkirche" abgelehnt wird. Um in der Kirche wirklich zur Anerkennung der Frau in Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zu kommen, drängt die Zeit, die weib¬liche Seite des Menschlichen und des Glaubens entschieden wahrzunehmen und zu schätzen. Es wäre allerdings zu wenig, diese Qualitäten den Frauen zwar zuzugestehen und ihnen auch Raum zu geben, - während die Männer dieselben, d. h. unverändert blieben.
Was im bisherigen „Lexikon für Theologie und Kirche" zum Thema Frau gesagt ist, wirkt bedrückend, einengend, ja gefähr¬lich, wenn daraus ihre konkrete Rolle, ihre Rechte und Pflich¬ten abgeleitet werden. So wie der Mann nicht festgelegt werden darf auf bestimmte Charaktereigenschaften wie dis¬kursive Rationalität, Extravertiertheit, Objektivität, sachhafte Bezogenheit auf die Umwelt48, so darf auch die Entfaltung der Frau nicht durch einseitige Festschreibung ihres sogenannten „Wesens" eingeschränkt werden. Es wurde schon gesagt, daß ihr Unbewußtes einen männlichen Anteil enthält, den Ani¬mus, in dem ein wesentlicher Zuwachs an Identität liegt. Bei den Frauen, die heute gegen die Kirche aufbegehren, ist dieser Anteil erwacht. Er äußert sich in eigenem Urteil, in Unter¬scheidungsvermögen, in Eigeninitiativen und in der Suche nach einem geistigen Grund. Man kann im Animus den Logos sehen, in der Anima den Eros. Wenn allerdings bestimmte Meinungen von Frauen in einer Weise vertreten werden, die ein Gespräch ausschließt, zeigt sich darin der Animus in einer negativen Wirkung; in der Analytischen Psychologie spricht man dann von Animusbesessenheit.
Entscheidend für die Zukunft wird sein, ob der Animus der Frau in der Kirche leben darf, ob eine eigenständige Entwick¬lung willkommen ist oder ob man es lieber sieht, daß Frauen, besonders jene im kirchlichen Dienst, weiterhin vom Urteil der männlichen Vorgesetzten und ihrer Entscheidungen ab¬hängig bleiben.
Für das Zusammenleben der Menschen ganz allgemein, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche gilt: Das patriarchale Prin¬zip, der Logos ohne Einbezug des Eros, verlangt Unterordnung und Unterwerfung; der Eros ohne den unterscheidenden und führenden Logos jedoch führt zu einem Chaos der Gefühle und Beziehungen. Anzustreben ist eine Balance von Animus und Anima, von Logos und Eros, von Yin und Yang im Sinne der chinesischen Philosophie des Tao. Erst der Ausgleich er¬möglicht Beziehungen in Gleichrangigkeit und Teilhabe und schafft die Voraussetzung für eine brüderliche und schwester¬liche Kirche. Solche Ausgewogenheit ist aber in der Öffentlich¬keit nicht zu erreichen, wenn sie nicht im seelischen Binnenraum des einzelnen Wirklichkeit geworden ist.
Der Kontakt mit dem gegengeschlechtlichen Seelenbild, aus¬gelöst durch eine Begegnung oder durch einen therapeutischen Prozeß, öffnet das Unbewußte und bringt den Menschen in Be¬ziehung zu sich selbst und seiner Ganzheit. Es bietet sich die Chance, in die unbewußte Seelentiefe vorzustoßen, was als ein Ergriffen-, Bewegt- und Erfülltsein erfahren wird. Man findet Anschluß an die innere Lebendigkeit, die Quellen der Seele be¬ginnen zu fließen und beenden eine oft jahrelange innere Dürre. Die erwachte Emotionalität geht einher mit Intuition, mit Ideenreichtum und Erlebnisfähigkeit und mit schöpferi¬schen Kräften. Vor allem ist es die religiöse Tiefe, die aufbricht und Urerfahrungen ermöglicht. Es kann sein, daß einem plötz¬lich Sätze aus der Liturgie oder der Hl. Schrift aufgehen, über die man bisher hinweggelesen hat. Andererseits liegen in der Abspaltung der Anima Gründe für Erfolglosigkeit und Isolie¬rung, für depressive Selbstwertgefühle und Zweifel an der Identität als Priester und Seelsorger. Wer die Tragik vermeiden will, trotz besten Willens und der Treue zu den übernomme¬nen Verpflichtungen als Mensch zu verarmen, ist aufgerufen, den Reichtum seiner eigenen Seele zu entdecken. Das heißt: in Beziehung zu treten zur Innenseite seiner Existenz und auf fol¬gendes zu achten: Was ist mein eigener Anteil in all dem, wo¬mit ich konfrontiert bin? Wie heißt das Brachland in mir, daß ich zu bestimmten Menschen oder Altersgruppen keinen ech¬ten, selbstverständlichen Kontakt finde? Zur Überwindung der Gefühlsarmut und der Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, braucht es für einen Priester bzw. für eine seelsorgerlich tätige Frau nicht ultimativ, aber auch die Anregung durch die Frau bzw. den Mann.
Was aber, wenn dann eine Begegnung so tief geht, daß sie wie ein Erwachen aus dem Wesenssschlaf erlebt wird und mit der übernommenen Verpflichtung zur Ehelosigkeit und der Liebe zum Beruf als unvereinbar erscheint? Wichtig ist, daß man trotz aller Gefühlsdichte sich selbst und auch den ändern noch nüchtern wahrnimmt, sein eigenes Empfinden von dem des geliebten Menschen unterscheidet und den Sinn für die Wahrheit der eigenen Identität bewahrt bzw. entwickelt. Da¬mit ist freilich noch lange nicht das Problem gelöst. Es wird in einer solchen Situation niemandem eine einschneidende, schmerzhafte Konfrontation mit sich selbst erspart bleiben. Genau diese hält wesentliche, innere Schritte zur ganzheitli¬chen Reife der Persönlichkeit bereit.
Abschließend seien die wichtigsten Aspekte zum Thema „Anima - Animus" als dem jeweils gegengeschlechtlichen See¬lenbild noch einmal zusammengefaßt:
Solange die Anima unbewußt und unentwickelt bleibt, sind wir ihrem Wirken ausgeliefert: Sie, nicht der seelsorgerlich Ar¬beitende bestimmt dann über das Gelingen seiner Tätigkeit;
sie macht - als noch abgespaltene Vitalkraft - eigensinnig und launisch, so daß sich andere vor den Kopf gestoßen fühlen, und mutlos, wenn etwas mißlungen ist.
Ideal wäre es, wenn in einem therapeutischen Prozeß die verschiedenen Kräfte der Anima harmonisch entwickelt wer¬den könnten.
Das Wissen um das weibliche Unbewußte des Mannes und das männliche Unbewußte der Frau besagt u. a., daß der Ver¬zicht auf eine eheliche Partnerschaft nicht Verzicht auf Ge¬fühle bedeuten muß, wohl aber, daß es die Mühe eines ganzheitlichen Entwicklungsprozesses kostet, den existentiel¬len Wert der Ehelosigkeit wirklich zu erfassen, zu retten, per¬sönlich von ihm durchdrungen zu leben.
Die Versöhnung der Gegensätze
Es wurde gesagt, daß der Archetyp des Gottesbildes, den Jung das Selbst nennt und der den Seelengrund der Mystik meint, einen individuellen und universalen, einen geschichtlichen und zeitlosen Aspekt in sich vereint. Menschen, die aus die¬sem Erlebnisraum schöpften, waren höchst individuell heraus¬ragende Gestalten und von großer Bedeutung für ihre Zeit und über sie hinaus, bis heute. Ihre Größe liegt darin, daß sie in sich die Gegensätze ausgetragen haben, mit denen sonst die Menschen kaum fertig werden. Von den Heiligen ist zu lernen, daß sie nicht aufgrund von heroischen Willensleistungen Au¬ßerordentliches vollbrachten, sondern weil sie sich von einer inneren Dynamik bewegen ließen, theologisch gesprochen: von der Gnade Gottes, die im Archetyp wirkt. Voraussetzung ist allerdings, daß wir uns dem Prozeß der Selbstwerdung un¬terwerfen. In dessen Verlauf erleben wir, daß sich alte Kon¬flikte mit uns selbst und mit anderen wie von selbst lösen; aber nicht in dem Sinn, daß sich die eine Seite gegen die andere durchsetzt, sondern die Gegensätze - Leidenschaftlichkeit und Vernunft, Intuition und analytisches Denken, Gedanken und Gefühle - werden in uns miteinander versöhnt. Man muß sie allerdings so lange aushalten und in sich austragen, bis sie ihre spaltende Kraft verlieren.
Wenn wir dann unsere Emotionen von einem tiefen geistigen Erleben durchdrungen fühlen, stehen wir nicht mehr vor der Alternative: Gehemmtsein oder freies Ausleben mit allen - möglicherweise auch zerstörerischen - Konsequenzen, son¬dern wir spüren eine Kraft, die von innen her die Antriebe ih¬rem übergeordneten Sinn zuführt. Der Gegensatz von Geist und Trieb, von rationaler Einsicht und Dynamik des Irrationa¬len, wird nicht dadurch aufgehoben, daß man entgegenste¬hende Impulse auf die Dauer mit dem Willen niederringt und sie abschneidet, auch nicht dadurch, daß man seine Ideale ein-fach aufgibt und nur mehr seinen Wünschen folgt, sondern dadurch, daß man in einem personalen, geistig-emotionalen Wachstumsprozeß allmählich zu seinem Personkern findet, der über den beiden scheinbar unversöhnlichen Gegensätzen liegt. Wir haben dann die Gewißheit, nichts versäumt und nichts verloren zu haben, weil uns das Sein im Hier und Jetzt ganz und gar ausfüllt. Normen und Ideale werden menschli¬cher und damit lebbar, ohne von ihrer Substanz einzubüßen.
Wenn es gelingt, von der eigenen Mitte her, aus der eigenen Betroffenheit und mit Echtheit Menschen anzusprechen, wer¬den sie sich öffnen. In Selbsterfahrungskursen zeigt sich im¬mer wieder sehr eindrucksvoll, daß die Teilnehmer einander umso näher kommen, einander umso intensiver verstehen, je dichter jeder mit seinen Gefühlen, seinen Empfindungen in Berührung kommt, je offener jeder von seinem eigenen Erle¬ben spricht. Betroffenheit, Verstehen teilt sich dann von selbst mit, und dadurch geschieht Veränderung von innen her.
Die Gegensätze, die „zwei Seelen in unserer Brust" erschei¬nen uns jedoch nicht immer nur als Spannung zwischen Ge¬fühl und Verstand, Trieb und Geist. Deutlicher noch empfin¬den wir ein anderes Gegensatzpaar: die Ansprüche, die wir in stiller Stunde da drinnen in uns verspüren, und die, die von außen auf uns zukommen, und die uns möglicherweise unvereinbar erscheinen, zwischen denen wir stehen: Habe ich das Recht auf meine eigene, individuelle Entwicklung und auf ei¬genes Glück, oder gilt nur die Verantwortung für andere, für die Gemeinde, für die Notleidenden oder für die Familie? Das andere Gewissen
Für immer mehr Menschen sind nicht Normen und Ide¬ale das Problem; was sie quält, ist ein inneres Chaos, eine Ver¬wirrung der Gefühle. Sie streben nach Lebensfreude und fallen in die Depression. Wichtig ist, daran zu erinnern, daß es auch ein Urgewissen gibt: die innerste Anlage der ganzheitlich be¬griffenen Menschennatur49, in der Scholastik „syneidesis" ge¬nannt. Dieses gilt es im Prozeß der Selbstwerdung zu entdecken. Weil es in den Träumen häufig als eine Stimme er¬scheint, wird es in der Analytischen Psychologie „Stimme-Gewissen" genannt. Es hat die Eigenschaft, daß es nicht nur die Richtung aufzeigt, sondern auch die Kraft vermittelt, den Weg zu gehen.
Oder, da ist der fast weltanschauliche Gegensatz zwischen „ge-schichtlich" und „zeitlos", historisch und zeitlos symbolisch. Diese scheinbare Unvereinbarkeit ist vor kurzem im Streit um die tiefenpsychologische Schriftauslegung akut geworden. Eu¬gen Drewermann wird vorgeworfen, er vernachlässige das hi¬storische Geschehen des Alten und Neuen Testaments zugunsten allgemeiner zeitloser Bilder. Die Vorstellung vom Selbst besagt aber: Es gibt eine Bewußtseinsebene, wo ich als heute lebender Mensch den Gestalten und Geschichten der Bi¬bel voll und ganz nahe, ihnen existentiell gleichzeitig bin, und zwar dann, wenn das Ich an das Selbst angeschlossen ist. Dies wird besonders im Bibliodrama deutlich. Wenn sich Teilneh¬mer eines Bibliodrama-Kursus in einer biblischen Gestalt mit der ganzen Dimension des Erlebens wiederfinden und dies auch unter Tränen und Erschütterungen zum Ausdruck brin¬gen, entsteht eine Atmosphäre höchster spiritueller Tiefe und emotionaler Dichte. Man gewinnt den Eindruck, daß sich die biblische Szene unmittelbar vollzieht. Manchmal breitet sich eine Ergriffenheit aus, die eher zur Stille oder zu einem Dank¬lied einlädt als zum Reden.
Selbst wenn die Probleme noch längst nicht gelöst sind, wird in solchen Momenten etwas von der Versöhnung der Gegen¬sätze spürbar, von einer zeitlosen und ganz realen Harmonie, nach der sich die Menschen sehnen. Dazu gehört der Aus¬gleich von rational und irrational, von bewußt und unbewußt, wobei wir das Rationale mehr dem Außen, das Irrationale mehr dem Innen zuordnen dürfen. Im Prozeß der Selbsterfah¬rung, ob in der Gruppe oder im Zweiergespräch, geht es einer¬seits darum, das Irrationale zu öffnen, das heißt mit abgespalte¬nen Gefühlen in Kontakt zu kommen und sie auch ein Stück zuzulassen, andererseits sollen sich die Teilnehmer kritisch fragen, inwieweit das innerlich Wahrgenommene der äußeren Realität entspricht. Das Licht des Bewußtseins soll mit der Kraft des Unbewußten verbunden werden. Emotionen ohne Verstand sind blind; Wille und Verstand ohne Emotionen sind kraftlos. Das Selbst als Repräsentant der Ganzheit gelangt nur dann zu seinem Ziel, wenn das Ich seine Funktion beibehält und nicht vom Irrationalen überschwemmt wird.
Konkret heißt das: Es braucht eine hohe Sensibilität, um die Impulse des Selbst wahrzunehmen; zu unterscheiden zwischen solchen, die nur einer Aufblähung des Ich dienen, seiner äuße¬ren Anerkennung, und solchen, die inneres Wachstum för¬dern. Nicht die so oft belächelte Euphorie ist das Ziel der Selbsterfahrung, die mit Menschen einer Gruppe geübt wird, sondern tieferes Wissen um sich selbst, Entlastung von nieder¬drückenden Gefühlen und das Geschenk schöpferischer Im¬pulse. Ergriffen-Werden und Ergreifen im Sinne von aktivem Verstehen sollen sich die Balance halten. Das ist gemeint mit einer Synthese von rational und irrational, sowie mit der In¬tention, „rational mit dem Irrationalen" umzugehen. Wenn in der Begegnung und im Lebensaustausch mit anderen am Ende eines Kursus die Stille als wohltuend erlebt wird, wenn man ge¬lernt hat, sowohl über sich zu reden als auch sich zurückzu¬nehmen, ist sehr viel von dem Gesagten geschehen.
Individuation und Individualisierung
Allgemein wird heute über die zunehmende Individualisie¬rung geklagt. Viele erleben diesen Prozeß aus allernächster Nähe. Besonders schmerzlich ist es, wenn es Ehe und Familie trifft. Die Entscheidung eines Partners, sich zu trennen, er¬scheint für den ändern und für Außenstehende häufig als Treulosigkeit. Schuld daran sei der allgemeine Drang nach schrankenloser Selbstverwirklichung.

Nur noch ich selbst?
In einem zeitgeschichtlichen Kommentar mit dem Titel „Sind wir ein Volk von Egoisten?"50 in der „Herder Korrespondenz" ist von Entsolidarisierung die Rede, davon, daß die Ge¬sellschaft in ihren Grundfesten bedroht sei, daß der legitime Anspruch auf Autonomie und die Freisetzung aus starren Rol¬lenvorgaben zur Verneinung der sozialen Verpflichtungen und zur Atomisierung und Privatisierung des einzelnen führe. Die Kirche ist von dieser allgemein herrschenden Strömung nicht ausgenommen. Verpflichtungen auf Lebenszeit werden zu¬rückgenommen, was früher undenkbar schien. Man vermutet, daß es einfach an Bereitschaft zur Hingabe und zum Dienen fehle. Selbstfindung und Individuation auch noch zu empfeh-len hieße dann, öl ins Feuer zu gießen.
Nun ist es allerdings so, daß einmal eingetretene Entwick¬lungen auf die Dauer nicht aufzuhalten sind und nicht rück¬gängig gemacht werden können. Entscheidend bleibt, ob und wie sie aufgefangen und weitergeführt werden. Umso wichti¬ger ist es, den Begriff der Individuation genauer anzuschauen. Jung definiert ihn so: „Die Individuation ist allgemein der Vor¬gang der Bildung und Besonderung von Einzelwesen, speziell die Entwicklung des psychologischen Individuums als eines vom Allgemeinen, von der Kollektivpsychologie unterschiede¬nen Wesens."51 In dieser Definition ist der Konflikt mit der Außenwelt eingeschlossen. Es bedeutet, daß einer, der sich auf diesen Prozeß einläßt, die Erwartungen seiner sozialen Umge¬bung aufkündet und sich von ihr absetzt. Jedoch muß er nicht in der Vereinzelung enden. Wenn der Weg voll und ganz durchgestanden wird, öffnet sich sogar ein intensiverer und allgemeinerer Kollektivzusammenhang; denn im Innersten, in dem, was Jung das Selbst nennt, ist jedes Individuum auf das Ganze bezogen.
Die Auswüchse der sogenannten „Selbstverwirklichung" sind so zu erklären, daß die wenigsten die Stimme des Inner¬sten, des Selbst, die Ansprüche des Urgewissens52 wahmehmen und sehr viele in Trennung und Auflehnung steckenbleiben. Bei einem inneren Aufbruch werden die bisherigen Gefühls¬richtungen umgekehrt. Gegenüber der Nähe zum ändern, die man früher suchte, braucht man jetzt Distanz. Gegenüber der
Anpassung an Familie oder kirchliche Gemeinschaft will man sich jetzt auf eigenes Urteil und eigene Gestaltung des Lebens verlassen. Es kann sein, daß alle bisher zurückgehaltenen Af¬fekte durchbrechen und man gerade nach Argumenten z. B. aus der jüngsten oder weitvergangenen Kirchengeschichte sucht, um seine Grundstimmung zu bestätigen. Ein Weiter¬kommen in solchen Situationen hängt von der Bereitschaft ab, sich selbst kritisch zu betrachten, zwischen objektiven Gege¬benheiten und der eigenen Sicht der Dinge zu unterscheiden. Den wenigsten ist bewußt, daß eine nur von Emotionen be¬stimmte Wahrnehmung Wirklichkeit verzerrt und zunächst selbst einer kritischen Analyse bedarf. Statt dessen treiben ne¬gative Affekte gegenüber Tradition, Kirche und Gesellschaft viele in die Isolierung und in eine Haltung, wo nur mehr der eigene Vorteil zählt.
Andererseits muß es noch lange nicht zu moralischer Anar¬chie führen, wenn sich ein junger oder erwachsener Mensch im Laufe seiner Entwicklung von Vorstellungen der Tradition löst, und zwar dann, wenn sie ihn wirklich am Leben hindern. Es muß nicht Leichtsinn oder Bequemlichkeit, es kann auch Mut zum Risiko, zur Verantwortung sein, etwas Neues, Schöp¬ferisches zu beginnen. Oft ist es sogar eine tiefe religiöse Erfah¬rung, die einen von allem, was bisher als selbstverständlich galt, wegreißt und in die Einsamkeit stößt. Entscheidend ist, ob diese Einsamkeit genutzt wird. Religiöse Urerfahrungen, von denen es heute mehr gibt, als man annimmt, werden oft gar nicht als solche erkannt, nicht weitergeführt und deshalb für die weitere Entwicklung nicht fruchtbar.
Menschen in solchen Situationen finden meist weder in der Psychotherapie noch in der Seelsorge einen Gesprächspartner. Für den Therapeuten gehört das Religiöse nicht in seinen Be¬reich, für den Theologen sind außergewöhnliche religiöse Phä¬nomene ungewohnt und suspekt. So ist das Problem der Vereinzelung nicht nur eine Sache „des einzelnen". Jedoch geht es nur dann weiter, wenn der Betroffene die Verantwor¬tung für sich voll und ganz übernimmt. Wenn das Unbewußte sich öffnet - damit beginnt die je eigene Entwicklung kom¬men wir in Berührung mit dem eigenen Schatten, mit dem ge¬gen- geschlechtlichen Seelenanteil und mit dem religiösen Ar¬chetypen, dem Selbst. Gefordert ist eine hohe Wachsamkeit für die persönliche Wahrheit, ein hoher Grad an Unterschei-dungsfähigkeit zwischen dem, was im Schatten, dem bisher Ungelebten, falsch oder richtig ist, ebenso im Erleben der Anima-, bzw. der Animusfigur. Selbst das Religiöse braucht die nüchterne und klare Differenzierung.
Der Aufbruch geschieht meist ohne eigenes Zutun, und man kann oft selber nicht sagen, warum er jetzt und so ge¬schieht. Die folgenden Schritte aber brauchen viel Wachsam¬keit und Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst, gegenüber inneren Vorgängen und Einflüssen von außen. Die Gefahr ist, daß einer in Situationen des Umbruchs nicht mehr weiß, wo er steht und was er tut. Kritische, agressive Gefühle gegenüber dem Lebenspartner, Vorgesetzten und Kirche können einen to¬tal besetzen und die Sicht verdunkeln. Oder: Ein Mensch, ob Mann oder Frau, kann im ändern so viel an Lebendigkeit und Faszination wecken, daß dieser wie geblendet ist. Die wenig-sten wissen, daß hier die eigene Anima- bzw. Animus- Figur am Werk ist - und daß Faszination noch keine tragfähige Be¬ziehung schafft. Affekte können uns so stark beherrschen, daß uns der Sinn für den großen Zusammenhang und für jene Werte, die das Leben auf die Dauer gelingen lassen, verloren¬geht.
Hier ist sicher der Punkt, wo die Klage gegen Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft berechtigt erscheint. Alle Versuche, diesen Strömungen regressiv und Einhalt gebietend entgegen-zutreten, sind allerdings bisher gescheitert, ebenso moralische Appelle. Ungerecht ist es aber, die Begründer der großen psy-chologischen Schulen für das, was so vielfältig an Aufbrüchen geschieht, verantwortlich zu machen. Ebenso ist es wenig ver-sprechend, das Bildungswesen zur Erziehung zu größerer Soli¬darität anzumahnen. Man kann nicht bei den Kindern beginnen, wenn den Erwachsenen fehlt, was sie weitergeben sollten. Erfolgreicher wird sein, wenn jeder, den heutige gei¬stige, seelische und geistige Umbrüche berühren und der dar¬unter leidet, seinen Weg in Treue zu seiner ureigensten, innersten Wahrhaftigkeit geht und auf ihm durchhält, seinen eigenen Schatten anschaut, aufhellt und akzeptierend inte¬griert, Faszinationen und auch Resignatives auflöst und weiter geht, als im allgemeinen Trend üblich ist.
Diese intensive Aufmerksamkeit für und das bewußte Achtge¬ben auf das Indivduelle hat den Sinn, universaler zu werden. Wer davon überzeugt ist, daß Probleme zuerst im eigenen In¬nern gelöst werden müssen (oder zumindest nicht ohne eigene innerste Beteiligung) und dann erst außen, wird zu einem Punkt kommen, wo er für die soziale Umgebung immer be¬deutsamer wird; denn die Grundhaltung der Wahrhaftigkeit trägt sich von selbst weiter, strahlt aus, gewiß nicht auf alle, aber auf die, die dafür offen sind.
Eine Kirche, die sich dem Individuationsprozeß öffnet, hat die Chance, Entwicklungen mit zu steuern und zum Guten zu lenken. Wenig bekannt scheint zu sein, daß diesen Weg die Heiligen gegangen sind und sogar Jesus dazu aufgerufen hat: Trennung und Auflehnung als emotionale Distanz zur Familie und zum Kreis der Bekannten und Freunde lassen sich auch im Leben Jesu finden. Es beginnt mit der Geschichte des Zwölfjäh¬rigen im Tempel, wo er aufgrund seiner inneren Nähe zum Hause Gottes seine Eltern vor den Kopf stößt (Lukas 2,41-52); es führt zum Zusammenstoß mit seinen Verwandten, die ihn für verrückt halten (Markus 3,20), und mit der damaligen reli¬giösen Obrigkeit. Jesus stand ganz und gar gegen die Vorstel¬lungen seiner Zeit, „weil Gott", aus dem heraus er unmittelbar lebte, „anders ist."53
Wer so wie Jesus vom Urgrund berührt ist, wird anders als die ihn umgebenden Menschen. Deshalb gehört - wenn nötig
die Loslösung von den nächsten Angehörigen zur Nachfolge Jesu. Auf dieser Ebene sind die recht hart klingenden Worte Jesu zu verstehen: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" (Lukas 2,49). Oder: „Wenn je¬mand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und Weib und Kinder und Bruder und Schwester und dazu auch sein ei¬genes Leben haßt, so kann er nicht mein Jünger sein" (Lukas 14,26). Es geht bei diesem Satz um Selbst- oder Fremdbestim¬mung. Denn so wichtig Nähe, Schutz und Geborgenheit der
Familie für den jungen Menschen sind, so hinderlich können sie sein für die Entfaltung des Erwachsenen; die unbewußte emotionale, allzu lange und ungelöste Bindung an Vater und Mutter lassen es nicht zu, daß eine(r) sie/er selbst wird. So¬lange noch deren Vorstellungen, vor allem deren Ängste und Drohungen in uns regieren, finden wir nicht zur eigenen Kraft und Lebensfreude. Nicht selten setzt sich dann ein ganzes Le¬ben lang ein ständiger Kampf gegen die Eltern fort, nur daß diese auf einmal anders heißen: Kirche, Staat oder Gesell¬schaft. Um zum Frieden mit sich und den Menschen zu gelan¬gen, ist die Ablösung, die Befreiung von jenen lebensnotwen¬dig, die uns primär geprägt, ihr Denken und Empfinden eingegeben haben, das ja keineswegs und selbstverständlich mit unserem Ureigensten identisch sein muß oder ist. So sieht es heute die Tiefenpsychologie.
Jesus hat schon längst vor ihr diesen Zusammenhang er¬kannt und ihn in jene schroff wirkenden Worte gefaßt. Wer zu Jesus kommt, gelangt zum Ursprung, in dem das Ureigenste und der Wille Gottes zusammenfallen. Vor diesem Hinter¬grund brauchen wir vor der Selbstbestimmung nicht Angst zu haben, sondern wir übertreffen alle Versuche, die heute Men¬schen auf diesem Gebiet anstellen. Nachfolge Christi und in¬nere Entwicklung sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern eins schließt geradezu das andere ein. Deshalb waren auch die Heiligen recht eigenwillige Persönlichkeiten. Entwe¬der hatten die eigenen Angehörigen oder die kirchliche Obrig¬keit mit ihnen ihre Schwierigkeiten; aber gerade sie haben Menschen zusammengeführt und nicht gespalten, weil sie aus dem gemeinsamen Mittelpunkt gelebt haben.
Ein gutes Beispiel, daß der Weg nach innen nicht zur folgenlo¬sen Innerlichkeit und Vereinzelung führt, ist neben Franz von Assisi der heilige Nikolaus von der Flüe. Bekannt ist, daß er seine Frau und seine Kinder verlassen hat, um in der Einsam¬keit zu leben. Von außen gesehen: für viele Frauen heute noch ein Ärgernis. Doch es war nicht Verschrobenheit, Oberfläch¬lichkeit oder Ausweichen vor der Verantwortung. Es war eine innere Kraft, die dazu drängte. Sein einsames Leben wurde fruchtbar für die Allgemeinheit. Sein Ansehen als kluger Rat¬geber, - er war selbst Ratsherr gewesen, dem die Wahrheit über alles ging -, bewirkte, daß viele ihn in wichtigen Angelegenhei¬ten aufsuchten. Sein wichtigstes Werk war das sogenannte „Stanser Verkommnis" von 1481, das auf seinen Einfluß zu¬standekam und den Zusammenbruch der damaligen Schweiz verhinderte.54
Für die Kirche als Gemeinschaft ist die richtig verstandene Individuation eine Chance für Lebendigkeit und Erneuerung. Dazu noch einmal C. G. Jung: „Der Drang zur Individuation ist natürlich, und eine wesentliche Behinderung der Individu¬alität bedeutet daher eine künstliche Verkrüppelung. Es ist ohne weiteres klar, daß eine soziale Gruppe, die aus verkrüp¬pelten Individuen besteht, keine gesunde und auf die Dauer le¬bensfähige Institution sein kann; denn nur diejenige Sozietät, welche ihren inneren Zusammenhang und ihre Kollektivwerte bei größtmöglicher Freiheit des einzelnen bewahren kann, hat eine Anwartschaft auf dauerhafte Lebendigkeit.55
1.5 Von der Tiefenpsychologie lernen - Zusammenfassung
Aus den zahlreichen Anregungen, die uns verschiedene Rich¬tungen der Psychotherapie bieten, gilt es, die wichtigsten noch einmal herauszugreifen und kurz darzustellen. Vorausgehend allerdings muß gesagt werden: Es kann und soll nicht darum gehen, Methoden zu übernehmen, ohne sich auf die dahinter¬stehende Problematik einzulassen. Wenn wir nach Hilfen aus dem humanwissenwissenschaftlichen Gebiet Ausschau hal¬ten, dann in dem Sinn, daß wir die Lücken unserer Identität, unseren Schatten erkennen und daß wir den im kirchlichen Binnenraum nicht gelebten Wahrheiten zum Leben verhelfen, zunächst in uns selbst und dann in unserem Umfeld.
Einmal geht es um die Wirklichkeit und Eigendynamik des Emotionalen. Damit ist nicht nur die Beziehungsebene zwi¬schen Seelsorgern und Gläubigen gemeint, sondern der ganze Bereich, wo Menschen sich in den tieferen Schichten ihrer Seele angesprochen fühlen, in ihrer Suche nach Bestätigung und emotional-geistiger Heimat. Tatsache ist, daß ein großer Teil des Kirchenvolkes auf dieser Ebene verunsichert ist; des¬halb neigen viele zu irrationalen Entscheidungen, sei es in ex¬tremen Formen der Frömmigkeit oder kirchenpolitischer Positionen. Es sollte vertrauensvoller und angstfreier ins Be¬wußtsein gelangen, daß in den Auseinandersetzungen im Raum der Kirche die affektive Ebene in den Menschen eine entscheidendere Rolle spielt als die kontrovers vorgetragenen Streitpunkte. Die Erfahrung lehrt, daß man über Meinungen reden kann, über Grundmeinungen kaum56; denn diese ent-stammen einem Bereich, der von Erfahrungen der Kindheit oder von bedeutsamen emotionalen Prozessen geprägt und im wesentlichen unbewußt ist.
Das Stichwort „Drewermann" illustriert sehr klar, wie Af¬fekte ihre Eigendynamik entwickeln, wie man mit Argumen¬ten aneinander vorbeiredet, ohne den Kern der Problematik zu treffen. Nur mühsam und langsam wächst die Einsicht, daß sich Affekte nie direkt über Argumente beeinflussen lassen, sondern nur nicht-direktiv, indem man sie wahmimmt, be¬rücksichtigt und gelten läßt. Im Bereich der Affekte muß vor allem der Leiter, die Leiterin einer Gruppe oder einer Ge¬meinde nicht nur Einfühlung aufbringen, sondern auch ein-deutig Stellung nehmen. Nur so entsteht emotionale Sicher¬heit. Voraussetzung dafür ist neben der geistigen Auseinander¬setzung die Durchbildung der Gefühle.


Als zweiter Anstoß ergibt sich, die kirchliche Einstellung zur Vitalität zu überprüfen, d. h. zu Impulsen der positiven Agres- sion und der Sexualität. Inwieweit gelingt es, die Dynamik die¬ser menschlichen Kräfte in ihrem Wert anzuerkennen? In kirchlichen Kreisen ist es immer noch so, daß allein schon ein Wunsch auf diesem Gebiet als verwerflich gilt. Man achte in diesem Zusammenhang einmal auf den abwertenden Beige¬schmack aller Worte, die mit „Selbst" zusammengesetzt sind („Selbst-findung", „Selbst-Verwirklichung", „Selbst-erfahrung"). Dabei geht es doch wesentüch darum, inmitten und mittels all der schöpferischen Vitalkräften jene Urkraft zu er¬spüren, die zur inneren Ordnung und zum Sinn treibt. Ein Ab¬schnüren der eigenen Impulse verhindert die Lebendigkeit, die Reifung der Persönlichkeit und nimmt auch dem Glauben sei¬nen natürlichen, lebendigen Grund.
Drittens ist die enge Verbindung des Seelischen mit dem Religi¬ösen zu beachten. Es gibt eine Begründung des Glaubens - sie wird Mystagogik oder Initiation genannt - von der Innenseite der Seele, d. h. vom Erleben her. Die innere Hinführung ist überzeugender als der Aufweis von äußeren Gründen. Sie regt einen Prozeß an, überfordert den Menschen nicht und läßt ihm Freiheit. Logische Beweisketten jedoch haben etwas Zwin¬gendes und Kopflastiges, Unlebendiges an sich, lassen das Herz eines Menschen kalt und werden mit Gegenargumenten zu¬rückgewiesen.
Viertens ist die Funktion der Symbole hervorzuheben. Die Bil¬der und Symbole der Hl. Schrift und der Liturgie entsprechen den Bildern der Seele. Sie schlagen eine Brücke von der kirchli¬chen Lehre zum Erleben der Menschen und damit vom Glau¬ben zum Leben. Andererseits wird auf dieser Ebene der Glaube aus dem Leben und das Leben aus dem Glauben geboren und die Schicht der Affekte mit einbezogen. Daraus erst wachsen existentieller Sinn und Ganzheit.
Der fünfte und wichtigste Aspekt ist: Der Weg zu Gott muß nicht gegen den Drang zur Selbstwerdung erkämpft werden. Selbst-findung, Du-findung und Gott-findung korrelieren viel¬mehr im Raum des Glaubens. Was mich mir selbst, was mich anderen und Gott näherbringt, ist zwar im Vollzug jeweils zu unterscheiden, läßt sich aber nicht voneinander trennen.

 

Die Analytische Psychologie C. G. Jungs

Religion: Zwangsneurose oder Heilungssystem?
Carl Gustav Jung (1876-1961) gehört zu den Begründern der Tiefenpsychologie, die vor 40 Jahren durch Eugen Drewer¬mann wieder in das Blickfeld der kirchlichen und außerkirchlichen Öffentlichkeit geraten ist. In der Auseinanderset¬zung um Drewermann wurde häufig auch C.G.Jung von Theologen kritisiert. Man warf ihm Unwissenschaftlichkeit, Mangel an intellektueller Redlichkeit und Nähe zum Nationalsozialismus vor.12 Schon zu seinen Lebzeiten fand Jung mit einigen Ausnahmen wenig Sympathien seitens der Theolo¬gen. Dabei war es gerade das Religiöse, weshalb sich Jung von Sigmund Freud trennte. Jung ließ dessen Sexualtheorie als Er¬klärung für religiös-kulturelle Erscheinungen wie z. B. das Op¬fer nicht gelten, sondern erkannte dem religiösen Erleben Eigenständigkeit zu.13
Freud sieht in der Religion eine Form von Zwangsneurose; der „Trost der religiösen Illusion" ist nach ihm Infantilismus, der dazu bestimmt ist, überwunden zu werden. Die Psychoanalyse habe gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes sei als ein erhöhter Vater. Sie führe täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den Glauben verlieren, sobald bei ihnen die Autorität des Vaters zusammenbricht. Die Wurzeln des religiösen Bedürfnisses liegen nach Freud im Elternkomplex.14 „Religion erscheint... als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Weg von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat."15 Während für Freud die Religion der Vernunft weichen muß, ist für Jung religiöse Erfahrung für jeden, der sie hat, „eine Quelle von Leben, Sinn und Schönheit, die der Welt einen neuen Glanz gibt".16
Gerade dann, wann für Freud Religion aufhört, d. h. wann der Mensch erwachsen wird, beginnt für Jung der Wert von Religion: wenn der Mensch anfängt, nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Dem Lustprinzip Freuds als Lebenszweck stellt Jung das finale Streben nach Lebenssinn gegenüber. Damit weist er der Religion eine zentrale Stellung im seelischen Haushalt, also im Leben eines Menschen zu. „Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären", zitiert er aus dem Traum eines Patienten.17 Freud sah im Sexuellen den eigentlichen Ursprung aller menschlichen Antriebe und Lebensenergie, das daher auch das Objekt seiner Forschung war. Dagegen faszinierte Jung das Religiöse, das Okkulte, wie er es nannte. Er sah darin Ursprung und Ziel jeder menschlichen Entwicklung. Braucht der Mensch Religion? Jung kommt aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte und jahrelanger Beobachtung und Bearbeitung von Träumen in der Behandlung seiner Patienten zu dem Ergebnis, daß jeder Mensch zur seellischen, ja ganzheitlichen Gesundheit religiöses Leben braucht. Die Religionen sind für ihn Heilungssysteme, weil sie die Grundstrukturen der menschlichen Seele in den Symbolen der Riten, Bilder, Dogmen, Erzählungen adäquat auszudrücken vermögen. Der Mensch braucht symbolisches Leben, weil in ihm sowohl archetypische, emotionale, irrationale, d. h. die wesentlichen Inhalte menschlicher Existenz - die mit Intellekt und Willen allein nicht verstan¬den, gelenkt und gelebt werden können - sich entfalten dürfen. Ohne symbolisches Leben wird das Dasein leer und banal, es verödet und verursacht den Ausbruch von Leben lähmenden Neurosen. Der große Schatz der Kirche

Dazu sagt Jung in einem Seminarvortrag vor dem Verband der Pastoralpsychologie in London 1939: „Der Mensch braucht ein symbolisches Leben. Er braucht es dringend. Wir erleben nur banale, gewöhnliche oder irrationale Dinge - die sich natürlich auch innerhalb des Bereichs des Rationalismus halten - sonst könnte man sie nicht irrational nennen. Aber wir haben kein symbolisches Leben. Wo leben wir symbolisch? Nirgends, außer wo wir am Ritual des Lebens teilhaben. Aber wer unter vielen hat wirklich am Ritual des Lebens teil? Sehr wenige.. ."l8
Das, was es in der katholischen Kirche an Riten und Dogmen gibt, bezeichnete Jung als großen Schatz. Er bewunderte, dass sie immer noch ein Geheimnis in sich bewahrt, das es ihr zugehörigen Menschen ermögliche, bis zu einem gewissen Grade ein sinnvolles Dasein zu führen. Vom katholischen Priester sagte C. G. Jung: Er sei in der Gottheit zu Hause, trage sich selbst auf den Altar, biete sich selbst zum Opfer an. Dies klingt wie eine überdehnte Verherrlichung der Kirche, der gegenüber sogar kirchlich Gesinnte und mehr noch nüchtern Denkende ihre Vorbehalte haben dürften. Kritiker werden hier so¬fort auf Neurosen hinweisen, die durch kirchliche Strukturen geradezu hervorgerufen werden19, dass es viel Zwanghaftigkeit und Seelenlosigkeit in der Verwaltung, im Lehrbetrieb und sogar in der Liturgie gibt, daß Freud und Drewermann in vielem recht haben. Andererseits werfen Menschen mit den Fesseln, die ihnen die Kirche auferlegte, nicht in jedem Fall auch ihre Neurosen ab. Neurose: Suche nach Sinn
Vieles spricht dafür, daß Freud und Jung zwei verschiedene Arten seelischer Störungen im Blick hatten. Freud und noch mehr Drewermann haben Menschen vor Augen, die durch rigide, einengende religiöse Erziehung geprägt sind und vornehmlich darunter leiden, daß sie ihre Vitalität, ihre Gefühle, ihre spontanen Impulse und eigenes Denken nicht zulassen können. Jung jedoch hatte mit Menschen zu tun, von denen die allerwenigsten der katholischen Kirche angehörten, die meisten sogar ohne eine Religionszugehörigkeit waren. Deren Problem war weniger die Gehemmtheit, sondern eine geistige Orientierungslosigkeit. Es suchten ihn viele auf, weil sie nach dem Sinn ihres Lebens fragten. Von daher versteht Jung Neurosen als Suche der Seele nach Sinn, wobei er mit dem Begriff „Neurose" eher jene Lebensbehinderung meint, die wir heute als Lebenskrise bezeichnen: ein plötzlicher Einbruch in einem sonst normalen Leben, emotionale Kälte, Lustlosigkeit in allen Lebensbereichen, Angst zu versagen oder verrückt zu werden. Die Lösung dieser Probleme liegt nach Jung primär nicht in der Triebsphäre, sondern im geistig¬seelischen Bereich, konkreter gesagt: in der Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, dem Menschen ein geistig-seelisches Erleben, d. h. ein Ergriffensein von einem transzenden¬ten Wert zu vermitteln. Hierin sieht Jung die große Bedeutung und Aufgabe der Religion; aber sie muß lebendig, dem konkreten Leben zugewandt sein, sonst kann sie nicht helfen und heilen. Sie ist es dann, wenn die Dimension des Numinosen, des Geheimnises erfahrbar wird. Dies vermutet er in der katholischen Messe. Oder hat er es aufgrund seiner hohen Sensi-bilität auch tatsächlich gespürt? Seine Aussage klingt heute vielen befremdlich. Nicht nur, daß er die katholische Auffassung nicht korrekt widergibt - danach bringt sich in der Messe Christus und nicht der einzelne Priester Gott, dem Vater dar -, sondern weil für ihn der „Opfer"-Charakter der Eucharistie gegenüber dem des Mahles im Vordergrund steht. "OPfer " ist inzwischen zu einem sehr umstrittenen Begriff geworden. Man kann hören: Der Gott der grenzenlosen Liebe, den Jesus verkündet, braucht keine Opfer, um versöhnt zu werden. Heilkraft des Numinosen

Wie dem auch sei: Sein Hinweis auf die Heilkraft des Numinosen sollte Anlaß zum Nachdenken sein, inwiefern gerade das Mysterium, von dem Jung spricht, in christlichen Gottes¬diensten fehlt oder für viel zu viele Menschen nicht erfahrbar ist und wie es gelingen kann, das Symbol des Opfers auf neue Weise mit Bedeutung und erfahrbarer Sinnhaftigkeit zu füllen, damit die heiligen Handlungen wieder Kraft haben.
1.2 Die Wirklichkeit der Seele
Nach Alfred Farau schließt Jung das moderne Denken erstmals an die Überzeugung des Mittelalters von der absoluten Realität der Seele an, freilich auf einer ganz anders gearteten Be¬wußtseinsebene.21 Für ihn ist die Seele weder ein abstraktes, irgendwie unwirkliches geistiges Prinzip noch bloß Ergebnis und Abbild physikalischer und chemischer Prozesse, sondern das Lebende und das, was Leben verursacht. die Psyche ist „das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist". Was wir auch immer empfinden, fühlen, wahmehmen, denken: Es handelt sich immer unmittelbar um einen psychischen Akt. Jeder Mensch hat eine ihm eigene psychische Struktur, die sein Erleben und Denken beeinflußt und formt. Die Erkenntnis und Erweiterung dieser Struktur, d. h. die Selbsterkenntnis oder Selbsterfahrung ist deshalb ein ganz wesentlicher Schritt zur Erkennt¬nis der Wirklichkeit.
Die Seele des Menschen hat in der Tat schöpferische Kraft und Eigentätigkeit. Es gehen von ihr Wirkungen aus, die das denkende Ich weder denkt noch macht, oft noch weniger wünscht z. B. die zwanghafte Vorstellung, daß man Krebs hat, obwohl alle Befunde dagegensprechen. Eine solche Fantasie ist nach den Maßstäben der naturwissenschaftliche Disziplin Illusion. Trotzdem ist sie eine seelische Wirklichkeit, insofern sie dem, der sie hat, tatsächlich bedrückende Angst macht, sein ganzes Leben nachweislich beeinträchtigt und oft sogar zerstört. Und umgekehrt: Im positiven Sinn sind es kreative Ideen und Visionen, die uns beflügeln und in diesem Sinne weiterbringen. Nicht die Inhalte der Fantasien und Träume sind in sich schon objektive Wirklichkeit, wohl aber die dahinter wirkenden Gefühle und Erlebnisprozesse.


Verwiesen sei auch auf die Bedeutung der Betrachtung des Lebens Jesu bei den Exerzitien des hl. Ignatius: Anschauliche Vorstellungen von Zuständen, Personen, Orten, die für das Heil wichtig sind, wirken auf die Seele ein und wandeln sie von innen her. Bereits Ignatius von Loyola erkannte, daß man die Seele nicht auf das Bewußtsein beschränken darf. Sie hat - noch einmal Jung - andere Wirklichkeitskategorien; für sie ist das wirklich, was wirkt, zum Beispiel auch eine Fantasie oder ein nicht ausgesprochenes Gefühl. Unser Denken geschieht also nicht unabhängig, sondern ist im wesentlichen von den Prägungen und Inhalten unserer Seele bestimmt.
Selbst theologisch-metaphysische Erkennisse und Aussagen können nicht ohne die Funktion der Seele gemacht werden. Daher kann es auch das reine Wort Gottes nicht geben, wenn es Wort für die Menschen sein soll: Es hat immer ein menschli¬ches Gewand und kann sich nur in Symbolen ausdrücken, die von der schöpferischen Kraft der Seele erkannt und gedeutet werden. Die Offenbarung Gottes ist nicht zu denken ohne die Einwirkung auf das Unbewußte der Menschen. Das Ineinan¬dergreifen von Gottes Gnade und der schöpferischen Eigentä¬tigkeit des Geschaffenen dürfte hier zu beachten sein. Es ist der Prozeß, in dem wir uns zu Gott hin bewegen.22
Häufig wird die Vorstellung aufrechterhalten, man könne die Wirklichkeit der Seele umgehen. In einem Referat zur tie-fenpsychologischen Schriftauslegung Eugen Drewermanns wurde zum Beispiel gesagt, die „Vorgängigkeit" Gottes, die Pau¬lus uns vermittelt, erübrige es, in die Tiefe der Seele hinabzu- steigen.23 Aber: Wie kann ein Mensch Gottes Botschaft überhaupt als solche wahmehmen, verstehen und annehmen, wenn in ihm das Organ dafür nicht geweckt ist? Wir sollten uns bewußt werden, daß theologisches Denken ideale oder me¬taphysische Inhalte hat, während pychologische Wahrneh¬mung das reale Erleben meint. Hier liegt eine Ursache für das mangelnde Verstehen der Verkündigung.
Wenn es etwa heißt: Gott schenke dem Menschen im Sakra¬ment der Buße und Versöhnung seine bedingungslose., verge¬bende Liebe, ist doch zu fragen: Wie kommen Menschen dahin, diese Liebe wirk-lich zu erleben und sie tat-sächlich als emotionale Entlastung zu erfahren? Welche Widerstände, Hin¬dernisse, Komplexe und Wahmehmungsbarrieren müssen ab¬gebaut werden, damit eine solche Erfahrung geschehen kann? Denn erst emotional, psychisch spürbare Entlastung kann Trost und Hoffnung, erst recht eine Verhaltensänderung und neue Lebenskräfte auf Dauer erwirken.
In früheren Zeiten, als der einzelne noch ganz in den Erleb-nisrahmen der Kirche eingebettet war, hatte die „sakramen¬tale" (heilende) Lossprechung auch im Bereich des Emotiona¬len einen anderen Stellenwert, während heute diese sakrale und zugleich erfahrbare Befreiungsdimension so gut wie nicht mehr gegeben ist. Ein Reden von der Gnade Gottes, das den menschlichen, erlebnis-unmittelbaren Aufnahme- und Verste¬hensvorgang nicht mehr erreicht, bleibt im verbalen Klangbe¬reich und wird nur noch von jenen gehört - und verstan¬den? denen eben dieses Wortesystem vertraut ist. Menschen in existentieller Not, für die Gottes Wort und Wirken wesent¬lich bestimmt ist, berührt, erreicht es nicht.
Immer noch - wenn auch meist unausgesprochen - besteht die Meinung, daß alles Religiöse, betrachtet es jemand psycho¬logisch, zu einer psychischen Fiktion, d. h. zur Unwirklichkeit degradiere. Dies fällt besonders in der Auseinandersetzung um Eugen Drewermann auf. Ein Sammelband in der Reihe ,Quae- stiones Disputatae' trägt den Titel „Tiefenpsychologische Deu¬tung des Glaubens?"24 Schon allein die Bezeichnung „Deu¬tung" mit Fragezeichen läßt den Eindruck aufkommen, als ginge es in dem ganzen Komplex „Tiefenpsychologie und Glaube" darum, letzteren vor einer Reduzierung auf tiefenpsy- chologische Begriffe zu bewahren.
Richtig daran ist nur, daß es im System Freuds tatsächlich die Dimension des Religiösen als eigene Wirklichkeit nicht gibt und religiöse Phänomene auf die Beziehung zu Vater und Mutter zurückgeführt werden. Wirklichkeit des Seelischen bei C. G. Jung heißt dagegen: Wirk-lichkeit der religiösen Erfah¬rung. Er zeigt, daß das Religiöse eine Erfahrung eigener, ganz wesentlicher Art ist, wobei er sich zudem darauf beschränkt - und dies dient zur Unterscheidung der Geister - über das reli¬giöse Erleben sowie über dessen Vorbedingungen und Struktu¬ren etwas zu sagen, nicht jedoch über dessen objektive Inhalte. Nach Jung handelt es sich nicht darum, die Existenz des Lieh? tes zu beweisen, sondern um die Tatsache, daß es Blinde gibt, die nicht wissen, daß ihre Augen etwas sehen können.25
Erkenntnis in der ersten Person
C.G. Jungs positive Entscheidung für die „anima naturaliter re- ligiosa", für die wesenhaft religiöse Seelenstruktur des Men¬schen wäre berechtigter Anlaß, sein Konzept der Seelenkunde für heutiges not-wendendes theologisches und vor allem seel¬sorgliches Bemühen heranzuziehen. Er suchte zeitlebens das Gespräch mit Theologen und Seelsorgern, stieß aber auf große Widerstände. Zuallererst wurde er von seinen Fachkollegen ab¬gelehnt, als er das Religiöse in die Psychologie und Therapie mit einbezog. Er galt als Theologe, Mystiker, Esoteriker und Fantast. Nicht nur, weil seine Grundannahmen, wie die der Archetypen, einer exakt-wissenschaftlichen, experimentellen Nachprüfbarkeit entzogen sind, sondern vor allem deshalb, weil für die allermeisten Psychotherapeuten das Religiöse des Menschen für ihre Arbeit tabu ist.
Das Urteil der Theologen fällt aber nicht minder hart aus: Jung wurde Gnostiker, Agnostiker und Atheist genannt. Er selbst dagegen hat sich als Arzt und Empiriker bezeichnet, der Fakten wahmehme, registriere - und ernst nehme.
Unausgesprochen aber divergiert sein Wissenschaftsbegriff mit dem allgemein üblichen Verständnis von Wissenschaft¬lichkeit, die nur das gelten läßt, was objektiv unter Ausschal¬tung subjektiver Empfindungen des Forschers festgestellt und vermittelt wird. Deshalb paßt Jung weder in die Schulpsycho- logie noch in die Schultheologie, nicht in ein Denken, das von der Innenerfahrung abgehoben ist oder von ihr nichts weiß. Was aber den Naturwissenschaften große Erfolge gebracht hat, mußte in der Theologie zur absoluten Glaubenskrise führen; denn ein Denken, das vom Erleben abgespalten ist, wird für die eigene Existenz belanglos. Hier ist der Grund für den Atheis¬mus der Neuzeit zu suchen.
Jung ist Empiriker im existentiellen Bereich; denn das Innere der Seele kann „nur" durch subjektive Betrachtung, d. h. durch die Beteiligung der eigenen Person wahrgenommen, erkannt und verstanden werden. Seine Forschungsergebnisse und die Argumente, die er dazu liefert, werden weder einen Psycholo¬gen noch einen Theologen überzeugen, der den Menschen und seine Probleme nur von außen sieht. Es sind völlig unter¬schiedliche Rahmen, in denen sich die beiden Denkrichtungen bewegen. Bei Jung geht es um Innenerfahrung, die der nieder¬ländische Religionsphilosoph Han Fortman Erkenntnis „in der ersten Person nennt".26 Sie hat Zugang zum je Eigenen, zu dem, was für mich persönlich wichtig ist. Wer Jung verstehen will, darf also nicht davon ausgehen, daß ihm objektiv beweisbare Fakten auf den Tisch gelegt werden. Vielmehr muß er ein Stück dieses Erfahrungsweges mitgehen, sich den aufsteigen¬den Lebensfragen und Botschaften der Träume stellen, vor al¬lem die Erfahrung des Religiösen als geistiges Erleben zulassen.
Die Notwendigkeit dazu ergibt sich für Menschen, die eine pastorale Aufgabe übernommen haben, wie von selbst; denn Gott ist nur auf dem Weg des persönlichen Engagements zu finden, und jedes Reden über Grundfragen, die Menschen be¬drücken, hat nur soviel an Wirkung, als der seelsorgerlich Tä¬tige sie selbst ausgehalten und durchlitten hat. C. G. Jung hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Natur der Seele zu erforschen, und dazu mußte er in die eigene Seele hinabsteigen. Nach sei¬nen eigenen Aussagen hat er sich diesen Weg nicht einfachhin ausgedacht, sondern wurde von innen her dazu gedrängt durch starke Erlebnisse, denen er nicht ausweichen konnte und die er in sein psychologisches Konzept einbauen mußte. Träume lö¬sten bei ihm tiefe Ergriffenheit aus, sie zwangen ihn geradezu, sich ihnen zuzuwenden, ihre Botschaft zu ergründen, anzu¬nehmen und weiterzugeben. Das Haus der Seele

Ein Beispiel für Jungs Innenweg ist der folgende Traum, den er Sigmund Freud während der Zeit ihrer Freundschaft zur Analyse vorlegte: Er befindet sich in einem unbekannten Haus. Es ist „sein" Haus. Er hält sich im oberen Stockwerk auf. Dort ist eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil stehen. An den Wänden hängen kostbare alte Bilder. Er wundert sich, daß dies sein Haus sein soll. Er geht die Treppe hinab und findet im Erdgeschoß alles so vor wie etwa im 15. Jahrhundert. Schließlich kommt er in den Keller, wo rö¬mische Mauerreste lagern; von dort gelangt er durch eine Steinplatte noch weiter nach unten in eine Höhle mit Funden einer älteren, primitiven Kultur.27
Für Jung wurde dieser Traum zum Leitbild, das ihm Innenräume eröffnete und ihm die Ahnung gab, daß wir nicht nur Prägungen der eigenen Lebensgeschichte, sondern auch früherer Generationen in uns tragen, daß das Unbewußte Bilder, Symbole, Erlebnisschichten aufbewahrt, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, z. B. mit dem primitiven Men¬schen in uns selbst. Wem sich das Innere der Seele auf ähnliche Weise kundtut und erschließt, dem wird das, was Jung über den Menschen und seine Probleme sagt, einsichtig. Es braucht dann keine äußeren Beweise im Sinne eines naturwissenschaftlichen Experiments, sondern hat eine innere Evidenz. Wem die eigene Seele jedoch verschlossen ist, der wird Jungs Erkenntnissen jede Berechtigung auf Allgemeingültigkeit absprechen. Die Methode des Erkennens

Wie man zu C. G. Jung steht, ist deshalb zuerst eine Frage der Erkennisweise. Man kann ihm als Verdienst anrech¬nen, daß er das rein materialistische, vordergründige Weltbild des 19. Jahrhunderts überwindet, indem er den Hauptakzent auf das geistig-seelische Erleben legt und das Religiöse als eigene Erfahrung anerkennt und nicht auf infantile Ängste und Bedürfnisse reduziert.
Vorbehalte sind jedoch durchaus angebracht, wenn Jung theologische Themen, z. B. das Trinitätsdogma auf seine Weise erörtert. Vieles davon muß man, wenn man es rein theologisch sieht, ablehnen. Begibt man sich jedoch mit Jung auf die psychologische Ebene - d. h. fragt man, wie es die Menschen tatsächlich erleben -, wird man wertvolle Anregungen entnehmen können. Augustinus, der Meister der Seele Die tiefenpsychologische Selbsterfahrung greift, ohne es zu wissen und zu wollen, auf Erkenntnisse des hl. Augustinus (+ 430) zurück, der den inneren Menschen als den höheren Men¬schen bezeichnet und für den die Einkehr bei sich selbst, die Innenschau, der königliche Erkenntnisweg ist. Der folgende Satz, den man in jüngster Zeit etwas abschätzig betrachtet, könnte die Einseitigkeit der modernen, extravertierten Einstel¬lung etwas zurücknehmen: „Noli foras ire, in te redi, in inter- iore hominis habitat veritas". - „Wende dich nicht nach außen! Bei dir kehre ein! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit."28 Für Augustinus ist die unmittelbare innere Erfah¬rung deshalb sicher und gewiß, weil er davon ausgeht, daß sich im Individuellen das Allgemeine offenbart: das, was für alle Menschen gültig ist. In Selbsterfahrungsgruppen wird diese Wahrheit immer neu bestätigt: Je mehr die Teilnehmer von sich selbst sprechen, in ihren Gefühlen sind, umso mehr Aufmerksamkeit und Betroffenheit wecken sie bei anderen.

23-01.24

Die Analytische Psychologie C. G. Jungs als Rahmen für den Glaubensweg

Religion: Zwangsneurose oder Heilungsraum
Carl Gustav Jung (1876-1961) gehört zu den Begründern der Tiefenpsychologie, die in jüngster Zeit durch Eugen Drewer¬mann wieder in das Blickfeld der kirchlichen und außer¬kirchlichen Öffentlichkeit geraten ist. In der Auseinanderset¬zung um Drewermann wird nun häufig auch Jung von Theologen angegriffen. Man wirft ihm Unwissenschaftlich¬keit, Mangel an intellektueller Redlichkeit und Nähe zum Na¬tionalsozialismus vor.12 Schon zu seinen Lebzeiten fand Jung mit einigen Ausnahmen wenig Sympathien seitens der Theolo¬gen. Dabei war es gerade das Religiöse, weshalb sich Jung von Sigmund Freud trennte. Jung ließ dessen Sexualtheorie als Er¬klärung für religiös-kulturelle Erscheinungen wie z. B. das Op¬fer nicht gelten, sondern erkannte dem religiösen Erleben Eigenständigkeit zu.13
Freud sieht in der Religion eine Form von Zwangsneurose; der „Trost der religiösen Illusion" ist nach ihm Infantilismus, der dazu bestimmt ist, überwunden zu werden. Die Psychoana¬lyse habe gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes sei als ein erhöhter Vater. Sie führe täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den Glauben verlieren, so¬bald bei ihnen die Autorität des Vaters zusammenbricht. Die Wurzeln des religiösen Bedürfnisses Üegen nach Freud im El¬ternkomplex.14 „Religion erscheint... als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Weg von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat."15 Während für Freud die Religion der Vernunft weichen muß, ist für Jung reli¬giöse Erfahrung für jeden, der sie hat, „eine Quelle von Leben, Sinn und Schönheit, die der Welt einen neuen Glanz gibt".16
Gerade dann, wenn für Freud Religion aufhört, d. h. wenn der Mensch erwachsen wird, beginnt für Jung der Wert von Religion: wenn der Mensch anfängt, nach dem Sinn des Gan¬zen zu fragen. Freuds Lustprinzip als Lebenszweck stellt Jung das finale Streben nach Lebenssinn gegenüber. Damit weist er der Religion eine zentrale Stellung im seelischen Haushalt, also im Leben eines Menschen zu. „Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären", zitiert er aus dem Traum eines Pa¬tienten.17 Freud sah im Sexuellen den eigentlichen Ursprung aller menschlichen Antriebe und Lebensenergie, das Hahpr auch das Objekt seiner Forschung war. Dagegen faszinierte Jung das Religiöse, das Okkulte, wie er es nannte. Er sah darin Ursprung und Ziel jeder menschlichen Entwicklung.
Jung kommt aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte und jahrelanger Beobachtung und Bearbeitung von Träumen in der Behandlung seiner Patienten zu dem Ergebnis, daß jeder Mensch zur seellischen, ja ganzheitlichen Gesundheit religiöses Leben braucht. Die Religionen sind für ihn Heilungssysteme, weil sie die Grundstrukturen der menschlichen Seele in den Symbolen der Riten, Bilder, Dogmen, Erzählungen adäquat auszudrücken vermögen. Der Mensch braucht symbolisches Leben, weil in ihm sowohl archetypische, als auch emotionale und irrationale, d. h. die wesentlichen Inhalte menschlicher Existenz - die mit Intellekt und Willen allein nicht verstan¬den, gelenkt und gelebt werden können - sich entfalten dür¬fen. Ohne symbolisches Leben wird das Dasein leer und banal, es verödet und verursacht den Ausbruch von Leben lähmen¬den Neurosen.
Dazu sagt Jung in einem Seminarvortrag vor dem Verband der Pastoralpsychologie in London 1939: „Der Mensch braucht ein symbolisches Leben. Er braucht es dringend. Wir erleben nur banale, gewöhnliche oder irrationale Dinge - die sich natürlich auch innerhalb des Bereichs des Rationalismus hal¬ten - sonst könnte man sie nicht irrational nennen. Aber wir haben kein symbolisches Leben. Wo leben wir symbolisch? Nirgends, außer wo wir am Ritual des Lebens teilhaben. Aber wer unter vielen hat wirklich am Ritual des Lebens teil? Sehr wenige.. ."l8
Das, was es in der katholischen Kirche an Riten und Dog¬men gibt, bezeichnete Jung als großen Schatz. Er bewunderte, Haft sie immer noch ein Geheimnis in sich bewahrt, das es ihr zugehörigen Menschen ermögliche, bis zu einem gewissen Grade ein sinnvolles Dasein zu führen. Vom katholischen Priester sagte C. G. Jung: Er sei in der Gottheit zu Hause, trage sich selbst auf den Altar, biete sich selbst zum Opfer an. Dies klingt wie eine überdehnte Verherrlichung der Kirche, der ge¬genüber sogar kirchlich Gesinnte und mehr noch nüchtern Denkende ihre Vorbehalte haben dürften. Man könnte hier so¬fort auf viele Neurosen hinweisen, die durch kirchliche Struk¬turen geradezu hervorgerufen werden19, daß es viel Zwanghaf¬tigkeit und Seelenlosigkeit in der Verwaltung, im Lehrbetrieb und sogar in der Liturgie gibt, daß Freud und Drewermann in vielem recht haben. Andererseits werfen Menschen mit den Fesseln, die ihnen die Kirche auferlegte, nicht in jedem Fall auch ihre Neurosen ab.
Vieles spricht dafür, daß Freud und Jung zwei verschiedene Arten seelischer Störungen im Blick hatten. Freud und noch mehr Drewermann haben Menschen vor Augen, die durch ri¬gide, einengende religiöse Erziehung geprägt sind und vor¬nehmlich darunter leiden, daß sie ihre Vitalität, d.h. sich selbst und ihre Gefühle nicht zulassen können. Jung jedoch hatte mit Menschen zu tun, von denen die allerwenigsten der katholischen Kirche angehörten, die meisten sogar ohne eine Religionszugehörigkeit zu ihm kamen. Deren Problem ist we¬niger die Gehemmtheit, sondern geistige Orientierungslosig-keit. Wie schon gesagt, suchten viele ihn auf, weil sie nach dem Sinn ihres Lebens fragten. Von daher versteht Jung Neu¬rosen als Suche der Seele nach Sinn, wobei er mit dem Begriff „Neurose" wahrscheinlich eher jene Lebensbehinderung meint, die wir heute als Lebenskrise bezeichnen: ein plötzli¬cher Einbruch in einem sonst normalen Leben, emotionale Kälte, Lustlosigkeit in allen Lebensbereichen, Angst zu versa¬gen oder verrückt zu werden. Die Lösung dieser Probleme liegt nach Jung primär nicht in der Triebsphäre, sondern im geistig¬seelischen Bereich, konkreter gesagt: in der Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, dem Menschen ein geistig-seeli¬sches Erleben, d. h. ein Ergriffensein von einem transzenden¬ten Wert zu vermitteln. Hierin sieht Jung die große Bedeutung und Aufgabe der Religion; aber sie muß lebendig, dem konkre¬ten Leben zugewandt sein, sonst kann sie nicht helfen und hei¬len. Sie ist es dann, wenn die Dimension des Numinosen, des Geheimnisvollen erfahrbar wird. Dies vermutet er in der ka-tholischen Messe. Oder hat er es aufgrund seiner hohen Sensi-bilität auch tatsächlich gespürt? Seine Überzeugung klingt heute vielen befremdlich. Nicht nur, daß er die katholische Auffassung nicht korrekt wiedergibt - danach bringt sich Chri¬stus und nicht der einzelne Priester in der Messe Gott, dem Va¬ter dar -, sondern weil für ihn der „Opfer"-Charakter der Eucharistie gegenüber dem des Mahles im Vordergrund steht.
Wie dem auch sei: Sein Hinweis auf die Heilkraft des Numi¬nosen sollte Anlaß zum Nachdenken sein, inwiefern gerade das Mysterium, von dem Jung spricht, in christlichen Gottes¬diensten fehlt oder für viel zu viele Menschen nicht erfahrbar ist und wie es gelingen kann, das Symbol des Opfers auf neue Weise mit Bedeutung und erfahrbarer Sinnhaftigkeit zu füllen, damit die heiligen Handlungen wieder Kraft haben.
Die Wirklichkeit der Seele?0
Nach Alfred Farau schließt Jung das moderne Denken erstmals an die Überzeugung des Mittelalters von der absoluten Realität der Seele an, freilich auf einer ganz anders gearteten Be¬wußtseinsebene.21 Für ihn sei die Seele weder ein abstraktes, ir¬gendwie unwirkliches geistiges Prinzip noch bloß Ergebnis und Abbild physikalischer und chemischer Prozesse, sondern das Lebende und Leben Verursachende. Psyche sei „das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist". Was wir auch im¬mer empfinden, fühlen, wahmehmen, denken: Es handele sich immer unmittelbar um einen psychischen Akt. Jeder Mensch habe eine ihm eigene psychische Struktur, die sein Erleben und Denken beeinflußt und formt. Die Erkenntnis und Erwei¬terung dieser Struktur, d. h. die Selbsterkenntnis oder Selbster¬fahrung sei deshalb ein ganz wesentlicher Schritt zur Erkennt¬nis der Wirklichkeit.
Die Seele des Menschen hat in der Tat schöpferische Kraft und Eigentätigkeit. Es gehen von ihr Wirkungen aus, die das denkende Ich weder gedacht noch gemacht, oft noch weniger gewünscht hat, z. B. die zwanghafte Vorstellung, daß man Krebs hat, obwohl alle Befunde dagegensprechen. Eine solche Fantasie ist nach den Maßstäben der naturwissenschaftliche^ Disziplin Illusion. In Wahrheit ist sie aber eine seelische Wirklichkeit, insofern sie dem, der sie hat, tatsächlich be¬drückende Angst macht, sein ganzes Leben nachweislich be¬einträchtigt und oft sogar zerstört. Und umgekehrt: Im positiven Sinn sind es kreative Ideen und Visionen, die uns beflügeln und in diesem Sinne weiterbringen. Nicht die In-halte der Fantasien und Träume sind in sich schon objektiv# Wirklichkeit, wohl aber die dahinter wirkenden Gefühle und Erlebnisprozesse.
Verwiesen sei auch auf die Bedeutung der Betrachtung des Lebens Jesu bei den Exerzitien des hl. Ignatius: Anschauliche Vorstellungen von Zuständen, Personen, Orten, die für das Heil wichtig sind, wirken auf die Seele ein und wandeln sie von innen her. Bereits Ignatius von Loyola erkannte, daß man die Seele nicht auf das Bewußtsein beschränken darf. Sie hat - noch einmal Jung - andere Wirklichkeitskategorien; für sie ist das wirklich, was wirkt, zum Beispiel auch eine Fantasie oder ein nicht ausgesprochenes Gefühl. Unser Denken geschieht also nicht unabhängig, sondern ist im wesentlichen von den Prägungen und Inhalten unserer Seele bestimmt.
Selbst theologisch-metaphysische Erkennisse und Aussagen können nicht ohne die Funktion der Seele gemacht werden. Daher kann es auch das reine Wort Gottes nicht geben, wenn es Wort für die Menschen sein soll: Es hat immer ein menschli¬ches Gewand und kann sich nur in Symbolen ausdrücken, die von der schöpferischen Kraft der Seele erkannt und gedeutet werden. Die Offenbarung Gottes ist nicht zu denken ohne die Einwirkung auf das Unbewußte der Menschen. Das Ineinan¬dergreifen von Gottes Gnade und der schöpferischen Eigentä¬tigkeit des Geschaffenen dürfte hier zu beachten sein. Es ist der Prozeß, in dem wir uns zu Gott hin bewegen.22
Häufig wird die Vorstellung aufrechterhalten, man könne die Wirklichkeit der Seele umgehen. In einem Referat zur tie-fenpsychologischen Schriftauslegung Eugen Drewermanns wurde zum Beispiel gesagt, die „Vorgängigkeit" Gottes, die Pau¬lus uns vermittelt, erübrige es, in die Tiefe der Seele hinabzu- steigen.23 Aber: Wie kann ein Mensch Gottes Botschaft überhaupt als solche wahmehmen, verstehen und annehmen, wenn in ihm das Organ dafür nicht geweckt ist? Wir sollten uns bewußt werden, daß theologisches Denken ideale oder me¬taphysische Inhalte hat, während pychologische Wahrneh¬mung das reale Erleben meint. Hier liegt eine Ursache für das mangelnde Verstehen der Verkündigung.
Wenn es etwa heißt: Gott schenke dem Menschen im Sakra¬ment der Buße und Versöhnung seine bedingungslose., verge¬bende Liebe, ist doch zu fragen: Wie kommen Menschen dahin, diese Liebe wirk-lich zu erleben und sie tat-sächlich als emotionale Entlastung zu erfahren? Welche Widerstände, Hin¬dernisse, Komplexe und Wahmehmungsbarrieren müssen ab¬gebaut werden, damit eine solche Erfahrung geschehen kann? Denn erst emotional, psychisch spürbare Entlastung kann Trost und Hoffnung, erst recht eine Verhaltensänderung und neue Lebenskräfte auf Dauer erwirken.
In früheren Zeiten, als der einzelne noch ganz in den Erleb-nisrahmen der Kirche eingebettet war, hatte die „sakramen¬tale" (heilende) Lossprechung auch im Bereich des Emotiona¬len einen anderen Stellenwert, während heute diese sakrale und zugleich erfahrbare Befreiungsdimension so gut wie nicht mehr gegeben ist. Ein Reden von der Gnade Gottes, das den menschlichen, erlebnis-unmittelbaren Aufnahme- und Verste¬hensvorgang nicht mehr erreicht, bleibt im verbalen Klangbe¬reich und wird nur noch von jenen gehört - und verstan¬den? denen eben dieses Wortesystem vertraut ist. Menschen in existentieller Not, für die Gottes Wort und Wirken wesent¬lich bestimmt ist, berührt, erreicht es nicht.
Immer noch - wenn auch meist unausgesprochen - besteht die Meinung, daß alles Religiöse, betrachtet es jemand psycho¬logisch, zu einer psychischen Fiktion, d. h. zur Unwirklichkeit degradiere. Dies fällt besonders in der Auseinandersetzung um Eugen Drewermann auf. Ein Sammelband in der Reihe ,Quae- stiones Disputatae' trägt den Titel „Tiefenpsychologische Deu¬tung des Glaubens?"24 Schon allein die Bezeichnung „Deu¬tung" mit Fragezeichen läßt den Eindruck aufkommen, als ginge es in dem ganzen Komplex „Tiefenpsychologie und Glaube" darum, letzteren vor einer Reduzierung auf tiefenpsy- chologische Begriffe zu bewahren.
Richtig daran ist nur, daß es im System Freuds tatsächlich die Dimension des Religiösen als eigene Wirklichkeit nicht gibt und religiöse Phänomene auf die Beziehung zu Vater und Mutter zurückgeführt werden. Wirklichkeit des Seelischen bei C. G. Jung heißt dagegen: Wirk-lichkeit der religiösen Erfah¬rung. Er zeigt, daß das Religiöse eine Erfahrung eigener, ganz wesentlicher Art ist, wobei er sich zudem darauf beschränkt - und dies dient zur Unterscheidung der Geister - über das reli¬giöse Erleben sowie über dessen Vorbedingungen und Struktu¬ren etwas zu sagen, nicht jedoch über dessen objektive Inhalte. Nach Jung handelt es sich nicht darum, die Existenz des Lieh? tes zu beweisen, sondern um die Tatsache, daß es Blinde gibt, die nicht wissen, daß ihre Augen etwas sehen können.25
Erkenntnis in der ersten Person
C.G. Jungs positive Entscheidung für die „anima naturaliter re- ligiosa", für die wesenhaft religiöse Seelenstruktur des Men¬schen wäre berechtigter Anlaß, sein Konzept der Seelenkunde für heutiges not-wendendes theologisches und vor allem seel¬sorgliches Bemühen heranzuziehen. Er suchte zeitlebens das Gespräch mit Theologen und Seelsorgern, stieß aber auf große Widerstände. Zuallererst wurde er von seinen Fachkollegen ab¬gelehnt, als er das Religiöse in die Psychologie und Therapie mit einbezog. Er galt als Theologe, Mystiker, Esoteriker und Fantast. Nicht nur, weil seine Grundannahmen, wie die der Archetypen, einer exakt-wissenschaftlichen, experimentellen Nachprüfbarkeit entzogen sind, sondern vor allem deshalb, weil für die allermeisten Psychotherapeuten das Religiöse des Menschen für ihre Arbeit tabu ist.
Das Urteil der Theologen fällt aber nicht minder hart aus: Jung wurde Gnostiker, Agnostiker und Atheist genannt. Er selbst dagegen hat sich als Arzt und Empiriker bezeichnet, der Fakten wahmehme, registriere - und ernst nehme.
Unausgesprochen aber divergiert sein Wissenschaftsbegriff mit dem allgemein üblichen Verständnis von Wissenschaft¬lichkeit, die nur das gelten läßt, was objektiv unter Ausschal¬tung subjektiver Empfindungen des Forschers festgestellt und vermittelt wird. Deshalb paßt Jung weder in die Schulpsycho- logie noch in die Schultheologie, nicht in ein Denken, das von der Innenerfahrung abgehoben ist oder von ihr nichts weiß. Was aber den Naturwissenschaften große Erfolge gebracht hat, mußte in der Theologie zur absoluten Glaubenskrise führen; denn ein Denken, das vom Erleben abgespalten ist, wird für die eigene Existenz belanglos. Hier ist der Grund für den Atheis¬mus der Neuzeit zu suchen.
Jung ist Empiriker im existentiellen Bereich; denn das Innere der Seele kann „nur" durch subjektive Betrachtung, d. h. durch die Beteiligung der eigenen Person wahrgenommen, erkannt und verstanden werden. Seine Forschungsergebnisse und die Argumente, die er dazu liefert, werden weder einen Psycholo¬gen noch einen Theologen überzeugen, der den Menschen und seine Probleme nur von außen sieht. Es sind völlig unter¬schiedliche Rahmen, in denen sich die beiden Denkrichtungen bewegen. Bei Jung geht es um Innenerfahrung, die der nieder¬ländische Religionsphilosoph Han Fortman Erkenntnis „in der ersten Person nennt".26 Sie hat Zugang zum je Eigenen, zu dem, was für mich persönlich wichtig ist. Wer Jung verstehen will, darf also nicht davon ausgehen, daß ihm objektiv beweisbare Fakten auf den Tisch gelegt werden. Vielmehr muß er ein Stück dieses Erfahrungsweges mitgehen, sich den aufsteigen¬den Lebensfragen und Botschaften der Träume stellen, vor al¬lem die Erfahrung des Religiösen als geistiges Erleben zulassen.
Die Notwendigkeit dazu ergibt sich für Menschen, die eine pastorale Aufgabe übernommen haben, wie von selbst; denn Gott ist nur auf dem Weg des persönlichen Engagements zu finden, und jedes Reden über Grundfragen, die Menschen be¬drücken, hat nur soviel an Wirkung, als der seelsorgerlich Tä¬tige sie selbst ausgehalten und durchlitten hat. C. G. Jung hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Natur der Seele zu erforschen, und dazu mußte er in die eigene Seele hinabsteigen. Nach sei¬nen eigenen Aussagen hat er sich diesen Weg nicht einfachhin ausgedacht, sondern wurde von innen her dazu gedrängt durch starke Erlebnisse, denen er nicht ausweichen konnte und die er in sein psychologisches Konzept einbauen mußte. Träume lö¬sten bei ihm tiefe Ergriffenheit aus, sie zwangen ihn geradezu, sich ihnen zuzuwenden, ihre Botschaft zu ergründen, anzu¬nehmen und weiterzugeben.
Ein Beispiel für Jungs Innenweg ist der folgende Traum, den er Sigmund Freud während der Zeit ihrer Freundschaft zur Analyse vorlegte: Er befindet sich in einem unbekannten Haus. Es ist „sein" Haus. Er hält sich im oberen Stock auf. Dort ist eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil stehen. An den Wänden hängen kostbare alte Bil¬der. Er wundert sich, daß dies sein Haus sein soll. Er geht die Treppe hinab und findet im Erdgeschoß alles so vor wie etwa im 15. Jahrhundert. Schließlich kommt er in den Keller, wo rö¬mische Mauerreste lagern; von dort gelangt er durch eine Steinplatte noch weiter nach unten in eine Höhle mit Funden einer älteren, primitiven Kultur.27
Für Jung wurde dieser Traum zum Leitbild, das ihm Innen¬räume eröffnete und ihm die Ahnung gab, daß wir nicht nur Prägungen der eigenen Lebensgeschichte, sondern auch frühe¬rer Generationen in uns tragen, daß das Unbewußte Bilder, Symbole, Erlebnisschichten aufbewahrt, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, z. B. mit dem primitiven Men¬schen in uns selbst. Wem sich das Innere der Seele auf ähnliche Weise kundtut und erschließt, dem wird das, was Jung über den Menschen und seine Probleme sagt, einsichtig. Es braucht dann keine äußeren Beweise im Sinne eines naturwissenschaft¬lichen Experiments, sondern hat eine innere Evidenz. Wem die eigene Seele jedoch verschlossen ist, der wird Jungs Er¬kenntnissen jede Berechtigung auf Allgemeingültigkeit abspre¬chen. Wie man zu C. G. Jung steht, ist deshalb zuerst eine Frage der Erkennisweise. Man kann ihm als Verdienst anrech¬nen, daß er das rein materialistische, vordergründige Weltbild des 19. Jahrhunderts überwindet, indem er den Hauptakzent auf das geistig-seelische Erleben legt und das Religiöse als ei¬gene Erfahrung anerkennt und nicht auf infantile Ängste und Bedürfnisse reduziert.
Vorbehalte sind jedoch durchaus angebracht, wenn Jung theologische Themen, z. B. das Trinitätsdogma auf seine Weise erörtert. Vieles davon muß man, wenn man es rein theologisch sieht, ablehnen. Begibt man sich jedoch mit Jung auf die psychologische Ebene - d. h. fragt man, wie es die Men¬schen tatsächlich erleben -, wird man selbst dort noch wert¬volle Anregungen entnehmen können.
Die tiefenpsychologische Selbsterfahrung greift, ohne es zu wissen und zu wollen, auf Erkenntnisse des hl. Augustinus (+ 430) zurück, der den inneren Menschen als den höheren Men¬schen bezeichnet und für den die Einkehr bei sich selbst, die Innenschau, der königliche Erkenntnisweg ist. Der folgende Satz, den man in jüngster Zeit etwas abschätzig betrachtet, könnte die Einseitigkeit der modernen, extravertierten Einstel¬lung etwas zurücknehmen: „Noli foras ire, in te redi, in inter- iore hominis habitat veritas". - „Wende dich nicht nach außen! Bei dir kehre ein! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit."28 Für Augustinus ist die unmittelbare innere Erfah¬rung deshalb sicher und gewiß, weil er davon ausgeht, daß sich im Individuellen das Allgemeine offenbart: das, was für alle Menschen gültig ist. In Selbsterfahrungsgruppen wird diese Wahrheit immer neu bestätigt: Je mehr die Teilnehmer von sich selbst sprechen, in ihren Gefühlen sind, umso mehr Auf¬merksamkeit und Betroffenheit wecken sie bei anderen.
In der Kirche bestehen nach wie vor große Vorbehalte, Jung als Zeugen des Religiösen anzuerkennen. Das Entscheidende ist aber nicht seine Person, die in vielem umstritten ist, sondern die Weise des Erkennens, die er pflegte. Vom Innern der Seele, vom individuellen Erleben her, nicht durch äußere, vorgebene Fakten ist auch für heutige Menschen der Glaube begründbar und kann auf diese Weise erschlossen werden. Es läßt sich ein¬fach nicht mehr übersehen, wie sehr zunehmend mehr Men¬schen nach emotional-spiritueller Erfahrung dürsten, - ein Grund für das Wuchern pseudo-mystischer Bewegungen. Dem ist nicht mit rationalen Argumenten beizukommen, wohl aber dadurch, daß Wahrheiten, die Christen verkünden, wieder eine Erlebnisdichte erhalten, indem vom Dogma zum Erleben
eine Brücke geschlagen wird. Das bedeutet, daß wir dem sog. Irrationalen, d. h. den inneren Strömungen und Impulsen, die wir nicht machen können, sondern empfangen, ja sogar erlei¬den, eine größere Aufmerksamkeit schenken sollten. Anson¬sten kann es geschehen, daß wir vom Irrationalen über¬schwemmt werden und nicht wissen, worum es geht.
Deshalb ist es gut, unsere Innenerfahrungen mit ihren Ge¬fühlen, Vorstellungen und Wünschen in einer Supervision oder geistlichen Begleitung kritisch überprüfen zu lassen. Da¬bei wäre darauf zu achten, daß wir den Zusammenhang mit der Tradition des christlichen Glaubens nicht verlieren, daß wir unsere menschlichen Beziehungen kultivieren und uns auch nicht vom politischen Geschehen zurückziehen. Kurz: Es gilt, die Balance zwischen Innen und Außen zu finden.
Um auf die Vorbehalte gegen C. G. Jung ganz einzugehen, muß auch seine Stellung zum Nationalsozialismus kurz be¬leuchtet werden. Jung mußte selbst zugeben, daß er die Ge¬fährlichkeit dieser Bewegung und vor allem die Psychopathie Hitlers nicht von Anfang an durchschaut hatte, was man von einem Mann seines Wissens und seiner Menschenkenntnis wohl am ehesten hätte erwarten dürfen. Nicht verziehen ha¬ben ihm seine Gegner, daß er sich 1933 zum Präsidenten der „Deutschen Allgemeinen Gesellschaft für Therapie", eines be¬reits gleichgeschalteten nazistischen Verbandes, wählen ließ, daß er 1934 in einem Artikel behauptete, das arische Unbe-wußte habe ein höheres Potential als das jüdische.29
Dies bedeutet gewiß einen Makel am Namen dieses sonst ge¬nialen Menschen. Viele wollten daraus ein Argument gegen seine Arbeit und seine Methode ableiten, wie es heute in man¬chen Artikeln gegen Eugen Drewermann geschieht. Vernünfti¬ger wäre allerdings die Folgerung, wachsamer gegenüber dem eigenen Schatten zu sein, d. h. sich nicht von Emotionen hin¬reißen zu lassen. Schließlich geht es nicht um die Person Jungs, sondern um den Glauben, zu dem viele durch seine Entdek- kungen fanden.30 Wir sollen ja nicht Jungianer werden, son¬dern Menschen, Christen, Seelsorger, die eigenständig ihren Weg gehen.


Die Seele als Ganzheit und Mitte
Die Sicht C. G. Jungs von der menschlichen Seele kann man sich als Modell folgendermaßen vorstellen: Der psychische Or¬ganismus als ganzer, also die Gesamtheit aller bewußten und unbewußten Vorgänge, ist mit einer Kugel zu vergleichen31, an deren Oberfläche sich ein umgrenzter Bereich befindet: das Be¬wußtsein mit dem Ich als Zentrum. Das Ich gleicht einer Insel im Ozean des Unbewußten, so Jung. Man stelle sich dies ein¬mal bildlich vor: etwa im Verhältnis der Insel Malta zur Erdku¬gel.
Oder ein anderer Vergleich: Wie wir nur den geringsten Teil der Vielzahl unserer körperlichen Funktionen wahrnehmen und noch weniger von ihnen bewußt steuern oder ausführen - man denke an die Stoffwechsel- und Wachtumsprozesse so dürfen wir davon ausgehen, daß uns auch nur ein minimaler Teil der seelischen Abläufe bekannt ist und wir noch weniger über diese verfügen können, daß sie vielmehr uns bestimmen. Etwa Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie sind Vorgänge und Empfindungen in uns, über die wir nicht unmittelbar, al¬lein willentlich und bewußt verfügen können, die aber einen wesentlichen Einfluß auf unser Leben haben. Niemand kann sich rein willentlich, rein rational in einen anderen Menschen verlieben oder für ihn Sympathie aufbringen. Oder, es gelingt uns kaum, eine tiefsitzende Abneigung gegen jemanden, gegen eine bestimmte politische oder religiöse Gruppierung mit rein willentlich gutem und festem Vorsatz auszuräumen. An dieser Unmöglichkeit ist die herkömmliche Beichtpraxis gescheitert.
Ein anderes Beispiel: Hinter dem, was wir als Aggression oder als Sexualität erleben, stehen zum Großteil uns unbe¬wußte psychische Grundstrukturen, die eigentätig wirken und von Jung „Archetypen" genannt werden, z. B. der Archetyp der „Anima", welcher eine beglückende oder verführerische Seite hat, - oder der Archetyp des „Animus", welcher sich als Initia¬tive und Tatkraft, als geistige Größe oder auch als Rechthabe¬rei und giftige Angrifflust zeigen kann. Archetypen sind rational nicht steuerbare Kräfte und werden gefährlich, wenn sie vom großen Ganzen abgespalten sind. Das führt zu Ausbrü¬chen von sinnloser Zerstörung oder zu einer Form der Sexuali¬tät, in der keine Beziehung gelingt. Mit dem Willen allein lassen sich Emotionen im besten Fall kontrollieren, aber nicht wandeln. Es braucht dazu eine innere Dynamik, die stärker ist als beispielsweise die vitalen Antriebe der Sexualität und Ag-gression, als Liebe und Haß.
Die Auffassung Freuds, daß das Unbewußte nur verdrängte Triebwünsche enthält, führte ihn im Hinblick auf die ge-schichtlichen Ereignisse seiner Zeit zu der pessimistischen An-nahme, daß der Mensch im Grunde seinen Trieben, vor allem dem Todestrieb, ausgeliefert sei. Dagegen nimmt C. G. Jung an
wie schon mehrfach angedeutet daß das Unbewußte eine wesentlich geistig-seelische Dimension hat. Es gebe eine zen¬trale, ordnende Instanz im Menschen, die sowohl das uns ver¬fügbare Ich-Bewußtsein als auch den uns in der Regel unverfügbaren und unerschöpflichen Bereich des Unbewu߬ten umfaßt. Damit ist gemeint: Es gibt eine Grundstruktur der Seele, welche die innere Einheit und Ordnung der Persönlich¬keit will und anstrebt. Jung nennt diese Dominanz des Unbe¬wußten den Archetyp der Ganzheit oder das Selbst In ihm verbirgt sich die Sinnsuche als „religiöser Trieb", der nicht ein Trieb unter anderen ist, sondern die eigentliche, wesentliche Grundströmung des menschlichen Lebens ausmacht. Sie ist das mächtigste Streben, das speziell in der zweiten Lebens¬hälfte aufbricht und alle anderen Triebe bzw. Archetypen ein¬binden kann.
Im Symbol der Kugel bildet das Selbst die Mitte. Sie enthält wie der Kern einer Frucht eine Entelechie, d. h. einen inneren Plan der Persönlichkeit, oder anders gesagt: den geistigen Sinn, um dessentwillen sich das gesamte Drama eines Menschenlebens abspielt. Das Selbst ist zugleich auch der Umfang des Kreises bzw. die Oberfläche der Kugel, wenn das Ich-Bewußtsein in le¬bendigem, wachem Kontakt mit der Mitte steht und aus dieser Wachheit heraus der Entwurf der Persönlichkeit verwirklicht wird.
Im Laufe der Selbstwerdung oder Individuation werden die
Archetypen wie die Bilder der Fenster-Rosette einer mittelal-terlichen Kathedrale auf die Mitte hin bezogen. Deshalb ist die Rosette ein so beliebtes und faszinierendes Bild der Ganzheit bzw. Einheit. Der Kern unseres Selbst aber ist jenes mystische Zentrum, von dem aus wir uns selbst und die Menschen und die gesamte Schöpfung in ihrem Wesen berühren, erkennen - und heben können.
Deshalb ist das Symbol des Kreises bzw. des Mandala - der Kreis im Quadrat - das Bild der Einheit aller bzw. des Alls. Das Selbst hat demnach einen personalen, sozialen und kosmologi- schen Aspekt. „Das Selbst ist auch das Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man Individuum nennt und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in der einer den anderen zum völligen Bild ergänzt."32 Ein hervorragendes Beispiel, in dem dieses Verbundensein sehr schön zum Ausdruck kommt, ist der Sonnengesang des hl. Franziskus. Er war den Elementen ebenso nahe wie den Tieren und Menschen. An diesem Punkt angelangt, konnte er nicht nur angesichts der Sonne, sondern sogar inmitten seiner Schmerzen Gott loben und jene seligprei¬sen, die aus Liebe verzeihen. An Franz von Assisi |t 1226) wird sichtbar, wie das Selbst, das er herausragend darstellt, individu¬ell und zugleich universal, geschichtlich und zugleich zeitlos ist. So strömen jedes Jahr Tausende von Menschen nach Assisi zu den historischen Spuren eines Mannes, der vor 700 Jahren gelebt und zeitlose Bedeutung gewonnen hat, der einen höchst individuellen Lebenstil pflegte und heute noch die Achtung und Bewunderung Ungezählter findet.
Die Überlegungen zur Gestalt der Seele laufen darauf hinaus, daß das Ich, wenn es sich der inneren Erlebniswelt verschließt und sich nur auf das Rationale stützt, verarmt und seiner Be¬stimmung nicht gerecht wird; denn es Hegt - vom Ganzen her gesehen - nicht im Zentrum, sondern am Rande des gesamten seelischen Organismus. Es kreist - nach einem Wort von Jung
um das Selbst wie die Erde um die Sonne. Wenn der Mensch diese Gegebenheit nicht beachtet, verliert er sein Gleichge¬wicht, seine Einheit und seinen Halt. Die Einseitigkeit des all-
gemein verbreiteten, durch Bildung und Berufsleben geform¬ten vorder-gründigen Bewußtseins, welches den Schwerpunkt im Ich statt im Selbst hat, verursacht psychische und/oder psy- cho-somatische Störungen des einzelnen sowie krankhafte Massenphänomene. Diese zeigen sich im schon beklagten Lei¬den am sinnlosen Leben, an Beziehungslosigkeit, an Verödung des Daseins, sowie in der Flucht in Süchte und Ersatzbefriedi¬gungen, Ideologien, Scheinreligiosität und nicht zuletzt in sich mehrenden Ausbrüchen von Gewalt. Sosehr man soziale Pro¬bleme dafür verantwortlich machen kann, die tieferen Ursa¬chen liegen im emotional-geistigen Bereich. Es fehlt das Angebundensein an eine tragende Mitte.
Friedrich Nietzsche (t 1900) hat bereits vor 100 Jahren den Verlust der Mitte als den Verlust Gottes empfunden und mit den Worten beklagt: „Was taten wir, als wir diese Erde von ih¬rer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin be¬wegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?"33
Wandlung geschieht dann, wenn wir uns auf die Suche nach der Mitte machen. Dies bedeutet, dem geistig-emotionalen Er¬leben Raum zu geben, aufmerksam auf die Impulse des Unbe¬wußten zu achten und wie der hl. Franziskus um Licht in der Finsternis des Herzens zu ringen. Wir sollen uns jedoch keines¬wegs den Strebungen des Unbewußten imbedacht aussetzen, sondern den großen Sinnzusammenhang zu ertasten suchen. In der Tiefenpsychologie spricht man von Bewußtwerdung un¬bewußter Inhalte, von Bewußtseinserweiterung, von Indiviua- tion und Selbstwerdung. Dieser Prozeß ist die menschliche Grundlage, auf dem sich der Weg zu Gott vollzieht; das bedeu¬tet Wandlung und Reifung. Das Leben des hl. Franziskus zeigt diese Form der Selbstwerdung. Sie bestätigt Jungs Annahme eines schöpferischen Sinngrundes, des Selbst, in dem sich Got¬tes Wille als die je eigene Entelechie des einzelnen offenbart.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, daß das Ureigenste mit dem Willen Gottes zusammenfällt: Gott will, daß ich ganz Ich-selbst werde und darin mein Glück finde. In der Sprache der Tiefenpsychologie ausgedrückt: Da» Selbst fällt als Mitte und Umfang der Seele mit dem Gottesbild zusammen. Hiermit ist gesagt, daß Gott in mir, in meinem Le¬bensprozeß, in dessen Tiefe und Umfang zu finden ist.
Es wurde schon gesagt, daß Jung eine Beziehungsmöglich¬keit der Seele zum Wesen Gottes postuliert: „Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott."34 Diese Entsprechung nennt er den Archetyp des Gottesbildes. An diesem Begriff hat man sich viel gerieben, so als ob Jung sagen wollte, Gott sei nur eine innerpsychische Größe. Er betont aber ausdrücklich, daß der Typos, die Prägung, einen Stempel, einen Prägenden vor¬aussetzt. An anderer Stelle sagt er, daß das Gottesbild zwar nicht vom Archetypen der Ganzheit, dem Selbst zu unterschei¬den sei, daß aber „dieses Selbst nie und nimmer an Stelle Got¬tes steht, sondern vielleicht ein Gefäß für die göttüche Gnade ist".35 Das heißt: Wenn Gott unmittelbar auf uns einwirkt, dann tut er es inmitten unseres Selbst als dem Organ der religi¬ösen Erfahrung und der Ganzwerdung.
Hier ist einmal mehr bedeutsam zu sehen, daß es religiöse Urerfahrung gibt, die sich unabhängig von Erziehung, von Re-ligionen und religiösen Veranstaltungen zuträgt. Es ist ein Er-griffenwerden vom Heiligen im Sinne Rudolf Ottos als von einem anziehend-beglückenden und Schauder erregenden Ge¬heimnis (mysterium fascinosum et tremendum).36 Es ist das wirkmächtigste Erleben, das einen Menschen bis in die Wur¬zeln seiner Existenz zu erschüttern und seine Anschauungen radikal zu verändern vermag. Das Selbst als die übergeordnete, anordnende und bewirkende Instanz hat demnach selbst nu- minosen Charakter.
Das Wissen vom Bild Gottes im Menschen hat christliche und außerchristliche Tradition. Es kann sich berufen auf Au¬gustinus und seine Lehre vom inneren Menschen, von der „Imago Dei"37, auf die erwähnte mittelalterliche Mystik eines Meister Eckhart (t 1327) mit seinem Bild vom Seelenfünklein, auf Johannes Taulers (t 1361) Seelengrund und auf Teresas von Avila (t 1582) innerer Burg. Und schließlich beruft sich Jung auf Paulus, wenn dieser im Galaterbrief sagt: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir" (Galater 2,2).

Karl Rahner (t 1984) spricht von der Wurzel der Welt, von der innersten, personalen Mitte der geistigen Subjekte, von der her die Welt zuinnerst immer und dauernd von Gnade erfaßt ist.38 An anderer Stelle sagt er, daß ein Mensch - auch wenn er nicht explizit Christ sei - die Selbstmitteilung Gottes, Gnade genannt, als die innerste Mitte seiner Existenz besitzen könne und damit auch als Heide das Heilsgut in sich trage.39
Es geht beim Selbst um den großen inneren Menschen, dem unser Ich angeglichen werden soll, um dichtere Erlebnisfülle wie um tiefere Einsicht. Dieser große innere Mensch, die An- thropos-Figur, ist für Christen Christus, dem sie ähnlich wer¬den sollen, aber nicht „aufgrund von Werken, sondern von Gnade" (vgl. Titus 3,3). Es ist nicht Ergebnis von Leistungen, sondern ein personaler Wachstumsprozeß, der nicht unmittel¬bar dem Willen unterliegt, aber durchaus Anstrengungen ko¬stet. Weil alle Aussagen über das Selbst - daß es zeitlos sei und geschichtlich, individuell und universal - auf Christus zutref¬fen, hat C. G. Jung Christus ein Symbol des Selbst genannt, d. h.: Christus sei eine Gestalt, die das menschliche Selbst ver¬anschaulicht. Rein empirisch-psychologisch kann man es so sagen. Für Glaubende ist Christus der erhöhte Herr, der seinen Thron in der Mitte unserer Seele, in der gemeinsamen Mitte aller und des Kosmos, also im Selbst eingenommen hat und der als der Logos im transzendentalen Sinngrund schon immer da war.
Die Aussagen Jungs über das Unbewußte seien noch einmal zusammengefaßt: Es ist instinkthaft, triebhaft und geistig, per-sönlich und kollektiv. Es enthält Inhalte des vitalen Bereichs und solche, die geistiger Natur sind. In ihm ist die persönliche Lebensgeschichte gespeichert, aber auch menschheitliche Grundmuster von Erfahrungen und Vorstellungen, die uns mit allen Menschen verbinden, die Archetypen. Das „kollek¬tive Unbewußte", wie diese Schicht genannt wird, ist nicht nur als Ablagerung von vergangenem Leben zu verstehen, sondern als schöpferischer Urgrund, als eine Art Matrix, welche Neues hervorbringt.
Jungs Sicht von der menschlichen Seele läßt hoffen; seine
Psychologie ist nicht der Glaube; aber sie schafft einen Rah¬men, in dem der Glaube im menschlichen Leben einen Ansatz findet und sogar in dessen Mitte gerückt wird. Die Definition von Glauben im „Handbuch theologischer Grundbegriffe" be¬rechtigt zu dieser Aussage. Dort heißt es, daß sich „im Akt des Glaubens der ganze Mensch engagieren muß, und zwar in je¬nem innersten Kern seiner Person, in dem Freiheit, Erkenntnis und Liebe jene ungeschiedene Einheit bilden, die für den Akt des Glaubens erforderlich ist und aus der Verantwortung und Schicksal entspringen".40 Mit Recht dürfen wir annehmen, daß dieser Raum, den Augustinus mit „cor" (Herz) und Thomas von Aquin mit „mens"(Sinn, Verstand) bezeichnet, der inner¬ste Personkern, mit dem zusammenfällt, was Jung unter dem „Selbst" versteht. Deshalb ist Selbstfindung als das Aufsuchen dieses Raumes der Einheit und Ganzheit zuinnerst mit dem Weg des Glaubens verflochten.
Gewiß ist nicht jede Selbstfindung, die im Laufe einer Psy-chotherapie geschieht, schon Glaube im Sinne der Offenba¬rung; denn dieser ist wesentlich personale Begegnung mit einem transzendenten Du. Die Psychotherapie kümmert sich um die Aufarbeitung der persönlichen Lebensgeschichte, um die Freisetzung der Antriebe, um die Ablösung von Fremdbe¬stimmung, die im Laufe einer Lebensgeschichte entstanden ist. Sie kann aber - wie bei Jung - auch zu einer religiösen Einstel¬lung führen in dem Sinn, daß man das souveräne Wirken un¬bewußter Kräfte anerkennt und sorgfältig berücksichtigt. Sie kann in den Vorraum des Glaubens führen, ähnlich dem Vor¬hof - Narthex genannt - der antiken und mittelalterlichen Kir¬chen. Das Tor zum Heiligtum, d. h. zum Glauben selbst, kann allerdings nur von jemand geöffnet werden, der innerhalb die¬ses Raumes steht.
Andererseits kann es sein, daß der Weg nach innen mit einem starken religiösen Einstiegserlebnis beginnt, daß Gebet und Meditation einen wesentlichen Teil des Prozesses darstel¬len und daß sich zusammen mit der therapeutischen Erschlie¬ßung der Erlebnisfähigkeit auch tiefere, umfassendere, erlöste Erlebnisräume öffnen. An den Heiligen läßt sich erkennen, daß sich ihr Weg zu Gott als Selbstfindungsprozeß vollzogen hat.41 Selbstwerdung, menschliche Entwicklung, personales Wachstum und Glaube dürfen wir deshalb als zusammengehö* rend betrachten - wie die menschliche und göttliche Natur in Christus: unvermischt und ungetrennt. Wir sollten Selbster¬fahrung nicht mit Glauben verwechseln, aber sie auch nicht von ihm trennen.
Eine gute Synthese von Tiefenpsychologie und Glaube bie¬tet Adolf Heimler, Priester und Psychotherapeuth. Er nennt Glaube eine entgrenzende, Ich-übergreifende En twicklungsdy» namik und spricht vom selbsthaften Glauben, der nicht im ei* genen Ich verbleibt und sich nicht innerweltlich abschließt/ sondern nach der Vollendung des Menschen strebt und aus der Verantwortung für sein Menschsein handelt.42 Selbstverwirkli* chung findet, so gesehen, ihre Erhöhung im Glauben und der Glaube seine menschliche Gestalt. Die Anschauung vom Selbst als der bewußtseins-immanenten und -transzendenten geistigen Mitte besagt, daß es eine Ausrichtung von innen her gibt, durch die der einzelne Mensch, sowie seine Beziehung zu anderen und zur Natur wieder ins Lot, in die rechte Ordnung kommen. Dies bedeutet zugleich Befreiung der Gefühle und vor allem Wiederbelebung des Religiösen als einer heilenden; ordnenden und sinnstiftenden Kraft. Damit besteht zudem Aussicht, auf das heutige gesellschaftliche Leben einzuwirken und gerade in jenen Erfahrungsbereichen Antworten anbieten zu können, in denen Menschen verunsichert und verzweifelt sind: in der Suche nach tragfesten emotionalen Beziehungen, nach geistigem Gehalt, nach Auswegen aus der Zukunftsangst, nach Versöhnung mit der Schöpfung.
Angesichts der (scheinbaren) Abwesenheit Gottes, unter der viele leiden, kann der Mensch sehr viel tun, um sich bereit zu machen. Das geschieht insbesondere dadurch, daß er den Fra¬gen nicht ausweicht, die ihn „im Innersten angehen", um ein Wort von Paul Tillich abgewandelt zu gebrauchen, und daß er in sich die nach Sinn treibende Kraft zuläßt.43 Nur wer sich auf die Ebene existentieller Betroffenheit begibt, gelangt zum Selbst, in dem Gott im Menschen anwesend ist. Eine große Rolle spielen dabei Symbole, wie sie in Träumen, im täglichen Leben, in der Natur, in der Heiligen Schrift und der Liturgie Vorkommen. In, ihnen finden wir Erfahrungen von Leid und Bedrohung, aber ebenso von Erlösung und Heil verdichtet dar¬gestellt. Sie sprechen die Sprache der Seele, sprechen gerade sie an und sind daher eine hervorragende Möglichkeit, das Tiefste im Menschen wachzurufen, Belastendes abzugeben und eine Heilung der Seele anzuregen.
Weil die religiösen Symbole Urerfahrungen der Nähe Gottes
psychologisch gesprochen: des Gottesbildes des Heil- und Ganzseins, der Rettung, des Vertrauens und der Hoffnung ent¬halten, ist es so enorm bedeutsam, sie dem eigenen Erleben zu öffnen. Damit kann auch etwas - christlich gesprochen - vom Urereignis des Heils in Christus für die Gegenwart wirksam werden. Es sei hier erinnert an die liturgischen Symbole der Vergegenwärtigung des Todes und der Auferstehung in der Eu¬charistie oder insbesondere der Ostemachtfeier. Symbole der christlichen Liturgie sind als Schätze zu betrachten, die zu ent¬decken sich lohnt.
Peisona und Schatten - Echtheit und Authentizität Das Modell C. G. Jungs von der Seele gilt es noch ein wenig weiter auszufalten. Dabei sind die beiden Begriffe „Persona" und „Schatten" von großer Bedeutung, weil das Ich unmittel¬bar zwischen beiden steht.
„Persona" war die Maske des antiken Schauspielers, durch die seine Stimme hindurch-tönte (lateinisch: per-sonare). In der Psychologie Jungs ist sie jener Teil in uns, durch den wir mit der äußeren Wirklichkeit verbunden sind, als den wir von außen her gesehen werden: unser Erscheinungsbild. Die Per¬sona besteht aus einer Summe von Verhaltensweisen, Eigen¬schaften, Ansichten und Reaktionsformen, die wir uns erworben, die wir unbewußt oder bewußt von anderen über¬nommen haben, um in dieser Welt eingegliedert zu sein und zu funktionieren; also all das, was man in einer bestimmten Position und Rolle von uns erwartet, ohne daß es unsere Indi¬vidualität und unser wahres Wesen schon ausdrückt.
In jedem Beruf gibt es Rollenmuster, mit denen wir dessen Aufgaben optimal erfüllen: z. B. die immer freundliche Ge- schätsfrau, der aktive, bestinformierte, sich voll einsetzende
Arzt, der alles wissende und alles erklärende Lehrer. Der Nach¬teil ist allerdings, daß dadurch keine unmittelbare Begegnung von Mensch zu Mensch stattfindet. Das Gespräch bewegt sich in Schablonen, Formalitäten, eben nach den Rollen, die gerade zu spielen sind. Es fehlt an individueller Echtheit oder Authen-tizität. Die Individualität wird hinter einer Fassade versteckt, und es ist sehr schwer, aus der Berufsmaske wieder herauszu- kommen.
Wie ist das nun beim Priester und Seelsorger? Aufgrund seines hohen Auftrages und der hohen Erwartungen seitens der Gläu¬bigen ist die Gefahr besonders groß, sich mit der Rolle zu iden-tifizieren, also bloß Persona zu sein. Darüber hat der Pastoraltheologe Rolf Zerfaß eine sehr hart klingende Feststel¬lung getroffen, die der Innsbrucker Pastoralpsychologe Her¬mann Stenger in seinem Buch „Eignung für die Berufe der Kirche" zitiert: „Bereits nach wenigen Berufsjahren ist jener unruhige, laute, veräußerlichte Kirchenfunktionär entstan¬den, der Christen und Nichtchristen und vor allem potentielle Priesteramtskandidaten abstößt, weil er der lebendige Beweis dafür ist, wie sehr auch die Religion den Menschen zu ent¬fremden vermag, wie wenig der Glaube erlöst und heilt."44 '
Diese Aussage erinnert an die eingangs erwähnte Bemer¬kung einer jungen Frau, nach der sie die Fragen der Theologen nicht interessieren und sie ihre Antworten schon kenne. Fer¬ner sprachen wir schon davon, daß Menschen in Sinnkrisen eher zum Therapeuten oder in ein Meditationszentrum gehen als zum Seelsorger. Sie erwarten von ihm keine lebendige Be¬gegnung mehr, in der ihre Fragen voll und ganz zugelassen würden.
Es ist - anderseits - sehr bitter, sich sagen lassen zu müssen, daß die Predigt nicht ankommt, daß das Reden einfach zu schablonenhaft in alten theologischen Denkmustem verläuft. Das Tragische ist, daß es nicht an Einsatz, an Eifer und An¬strengung fehlt, sondern daß alle Mühe wie von unbekannter Kraft ins Leere gelenkt wird. Nun sind solche Feststellungen al¬lein noch nicht hilfreich, könnten sogar entmutigen und Ge¬fühle der Minderwertigkeit auslösen. Darum erscheint es mir auch hier sinnvoller, statt über die Dunkelheit zu klagen, ein Licht anzuzünden, wie ein altes Weisheitswort sagt.
Die Ursachen sind in der persönlichen Lebensgeschichte zu suchen, für die wir nicht die unmittelbare Verantwortung tra¬gen. Denn wann - so dürfen viele sagen - wurde ich mit mei¬ner Lebendigkeit in Kontakt gebracht, so daß ich jetzt daraus schöpfen und auf die Menschen zugehen könnte? Waren die Tugenden, zu denen ich erzogen wurde, nicht vielmehr - eher regressiv - Gehorsam, Anpassung und Leistung?45 Zudem sind Seelsorger durch die äußere Struktur in einen festen, von au¬ßen oder oben vorgegebenen Rahmen gespannt, mit einer Viel¬zahl von Verpflichtungen überlastet und von den spezifischen Aufgaben her überfordert.
Die unterschiedlichen Erwartungen und die damit verbun¬dene Rollenunsicherheit führt viele dazu, sich an ein bestimm¬tes Schema zu klammem und alle Energie darin zu investieren. Es kann auch sein, daß man die Arbeit geradezu sucht, um sich nicht der Stille und in ihr möglicherweise dem Zweifel, der Verunsicherung und Leere auszusetzen. So kann die beste Ab¬sicht zur Selbsttäuschung werden, der man, wenn man nicht doch eines Tages die Tretmühle anhält, zum Opfer fällt, des¬sen Symptome alles nur noch schwieriger machen.
Zu dieser Problematik hatte ich folgenden Traum: Ich leite ein Geschäft. Der Umsatz ist gut. Ich habe noch einen stellver-tretenden Geschäftsführer, einen Schwarzen, der aber in seine eigene Tasche wirtschaftet, so daß immer mit Verlust gearbei¬tet wird.
Genau diese dunkle Figur stellt jene Kraft dar, die im Tages-bewußtsein des Lebens nicht sichtbar, greifbar wird, die aber von hinten her unser Bemühen zunichte macht. Sie ist das, was in der Tiefenpsychologie der dunkle Hintergänger bzw. „Schatten" genannt wird. Er ist es, der den lebendigen Kontakt, die authentische Beziehung verhindert. Er ist die Rückseite der priesterlichen, hohen Ideale, des unermüdlichen Einsatzes für Gott, für die Kirche, für Menschen und umfaßt jene Anteile der Persönlichkeit, jene Antriebe, Wünsche und Vorstellun¬gen, die viele Priester und seelsorgerlich tätige Menschen auf¬grund ihrer Erziehung und ihres hohen Berufsethos' zurückge-
stellt, als minderwertig verdrängt, mißachtet haben. Doch diese vitalen Kräfte hinter der Fassade eines ehrenvollen Hau¬ses sind damit durchaus nicht für immer erledigt, still, unwirk¬sam, - selbst wenn es gelingt, hohen Idealen treu zu bleiben. : Sie wirken verborgen und daher unmerklich auf unser Denken ein und können zu lange Zeit unerklärlichen StörfaktoreR| werden, die von den innersten Zielen - Menschen zu Christus 1 zu führen - abhalten. Dies geschieht umso mehr, je ablehneif-| der jemand mit den nicht emstgenommenen, zurückgewies#J nen Kräften, besonders jenen im Reich der Gefühle umgeht, v
Bei Klerikern ist nicht selten ein Ton anzutreffen, der den Wert menschlicher Beziehungen recht abfällig und verstand-; nislos einschätzt und alle - für sie suspekten - Bemühungen! um sie, wie etwa Selbsterfahrung und Meditation, belächelt, Is ironisiert. Dies ist jedoch eine (unbewußte) Weise, den eigenen Schatten, das eigene Ungelebte und Ungeklärte abzuwehren, 1 mit allen (ungewollten) negativen Konsequenzen.
Da der Schatten - unbearbeitet - unbewußt ist und doch wirklich, äußert er sich in der Projektion besonders auf jene Personen, die - noch einmal imbewußt für den Projizieren- < den - wie ein Spiegel sind, Gegner oder sogar Feinde, weil sich der eigene Schatten, das eigene Ungelebte in ihnen wiederer¬kennt. In ihnen bekämpfen wir etwas, mit dem wir selbst nicht fertig geworden sind und uns deshalb Angst macht, verunsi¬chert und insgeheim minderwertig sein läßt.
Hierher gehört auch die gegenseitige Verketzerung kirchli¬cher Gruppierungen. Wer Polemik übt, ist sich seines Glau¬bens nicht sicher; er fühlt sich durch Meinungen anderer bedroht, die eine Wahrheit vertreten, welche er selbst nicht zulassen kann, die aber wesentlich mit seinem Schatten zu tun hat. Deshalb ist „Schatten" gleichbedeutend mit einem Stück Unglauben. Im Andersdenkenden bekämpfen wir den eigenen Zweifel, den wir zuzulassen uns nicht erlauben (können), und mit ihm einen Teil unseres Lebens.
Neue, ungewohnte Wege der Seelsorge und der Glaubenser¬fahrung werden beargwöhnt, weil sie die eigene Praxis in Frage stellen und somit als eine Gefahr für das eigene Selbstverständ¬nis empfunden werden.
Alles Lebendige bzw. alle Menschen, die lebendig sind, ver-unsichern jeden, der in seinen - ihm vertrauten - Mauern sitzt und die freie Luft scheut. Wenn in einer Gemeinschaft der Hauptakzent allein auf rationale Bildung, auf Glaubenswi&sen, auf Institution, Organisation und Gehorsam gelegt wird, wirkt jeder, der innerhalb der eigenen Mauern Leben und Glauben neu entdeckt, noch bedrohlicher als ein Anstoß von außen. So verunsichert eigenständiges Denken und selbst spirituelle Tiefe wie die einer - freilich für viele noch ungewohnten - Meditationsweise manche Ordensobere, manche Ordensge¬meinschaft, manche Bischöfe und Priesterkollegen. In den Le¬bensgeschichten etwa einer Teresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz kann man nachlesen, zu welchen Kon¬flikten und Anfeindungen es kommen kann, wenn Spirituali¬tät von innen und Charismen sich zu Wort melden. Warum sollte es gegenwärtig plötzlich anders sein? Ganz im Zeichen des Schattens und der Schattenkämpfe steht auch heute die Auseinandersetzung um Eugen Drewermann und seine Anlie¬gen, zum Beispiel.
Während der Paderbomer Theologe genau den Schattenbe¬reich der Kirche - wie Mißachtung der Gefühle, Sexual-Feind- lichkeit, so vieles, was zu denken nicht erlaubt ist - ans Licht hebt, müßte er bei sich selbst prüfen, inwieweit er vom Schat¬ten eigener Ängste und Affekte beeinflußt wird, wie auch an¬derseits jene, die ihn unzumutbar, störend, nicht mehr katholisch finden und eliminierten. Wobei jedoch nicht die Institution als solche anzuklagen ist; waren und sind es doch Menschen, die sie zu dem gemacht haben und - Fakten schaf¬fend - als die erhalten, worunter viele heute leiden.
Man sollte darauf achten, inwieweit eine Lebensform, die ultimativ auf Armut, Gehorsam und ehelose Keuschheit aus¬gerichtet ist, nicht genau das verhindert, was sie anstrebt: eine im Glauben überzeugende Persönlichkeit. Nach Schultz- Henke entsprechen die drei „evangelischen Räte" den drei ele- metaren Antrieben, mit denen der Mensch ausgestattet ist: dem Besitzstreben, der Aggression und dem Liebesstreben.
Folgende Frage dürfte weder mit theologischen noch spiritu- eilen Argumenten vorschnell zurückgewiesen werden: Wie soll eine Reifung der Persönlichkeit erfolgen, wenn ein wesent¬licher Bereich - nämlich die Vitalität - ins Unbewußte abge¬drängt wird? Im Laufe einer priesterlichen Sozialisation wird ja der lebendige Bezug zu den vitalen Persönlichkeitskräften nicht gerade gefördert, vielfach reißt er ab, und nicht selten wird eine Berufsentscheidung in einer Verfassung getroffen, die man in der Psychotherapie als Gehemmtheit bezeichnet.
Die Schwierigkeit für einen Priester, seinen Schatten anzu¬nehmen, ist deshalb so groß, weil er einerseits - um seiner Echtheit und Selbstkongruenz als Mensch willen - die unge- lebten Kräfte seines Wesens zulassen sollte, andererseits aber seinen Idealen nicht untreu werden möchte. Beides zu verei¬nen ist eine echte, spannende Gratwanderung, am ehesten möglich und erreichbar mit fachlich fundierter Begleitung und bei einem wachsenden, tiefen Glauben. Wobei vielleicht die schwierigste Hürde für manchen die ist, sich als „Ratsuchen¬der" auf den Weg zu machen; denn - als Priester einen Thera¬peuten brauchen ...?
Bei aller Treue zu den Idealen, bei allem in ihnen Eingebun¬densein sollte man sich in aller Wahrhaftigkeit fragen: Was vermeide ich? Was will leben?
Man kann sich durch all seine vielen Verpflichtungen recht „erfolgreich" aus dem wirklichen Leben heraushalten, so daß gerade bei jungen Menschen der Eindruck entsteht: ,In dieser Kirche darf ich das Leben nicht voll und ganz riskieren. Hier fühle ich mich ständig gebremst. Hier habe ich nichts zu sa¬gen.' Gehorsam kann zur Fremdbestimmung werden, die es verhindert, sich selbst wahrzunehmen, sich abzugrenzen, zu seinen Gefühlen zu stehen und konstruktiv Konflikte auszu¬tragen. Es ist kein Geheimnis: Im Vergleich zu kirchenfernen sind kirchliche Personen im Ausdruck ihrer Emotionen und ihrer vitalen Kreativität eher gehemmt. Die geistige Enge, über die so manche in der Kirche klagen, hat viel mit der Ableh¬nung des vitalen Bereichs zu tun. Genau dieser ist aber der Bo¬den, aus dem echte, heilsame Gefühle wie Vertrauen, Herzlichkeit und Einfühlungsvermögen wachsen.
Wenn vitale Gefühle nicht zugelassen werden, wenn die Seele des seelsorgerlich Tätigen keinen Raum, sich auszudrük- ken, bekommt, wirkt sich das auch auf das spirituelle Leben aus. Es bedarf wirklich einer ernsthaften Prüfung, warum spiri¬tuelle Aufbrüche heute eher außerhalb als innerhalb der Kir¬che stattfinden. Menschen gehen dorthin, wo sie dichteres Erleben finden, wo eine Sprache gesprochen wird, die ihr Herz erreicht. Alles spricht dafür, daß mit der Nichtbeachtung oder gar Unterdrückung des Lebendigen und dem Mangel an Re¬spekt vor den genau dies Suchenden oder bereits Lebenden die spirituelle Entfaltung verhindert und damit in den Schatten abgedrängt wird. Es ist mehr als eine Vermutung, daß sich bei vielen kirchlichen Personen die vitalen und spirituellen Kräfte gegenseitig blockieren und letztere dazu dienen, erstere in Schach zu halten, anstatt sie sich frei entfalten zu lassen.
Es mag provozierend klingen, wenn zum Thema „Inhalte des Schattens" gesagt wird: Im Bewußtsein der meisten fehlt es nicht an gutem Willen und schier rastlosem Einsatz. Lebendig¬keit und spirituelle Kraft jedoch liegen bei vielen im Bereich des Schattens. Die Frage wäre - um der priesterlichen und seel-sorgerlich wirkenden Menschen willen - von jedem persön¬lich zu prüfen, inwieweit das Ergebnis seines/ihres bisherigen Lebens die angestrebte Reife und auch menschliche Erfüllung ist oder verkümmertes Menschsein und spirituelle Mittelmä¬ßigkeit.
Das gegengeschlechtliche Seelenbild - Anima und Animus Um mit dem Schatten, den eine ehelose Lebensform wirft - unbestritten: eine andere Lebensform wirft auch Schatten -, zurechtzukommen, ist C. G. Jungs Verstehensmodell von „Anima" und „Animus" sehr hilfreich. Es besagt, daß jeder Mann einen unbewußten weiblichen Seelenanteil, Anima ge¬nannt, in sich trägt und ebenso die Frau einen männlichen, Animus.
Wenn sich zwei Menschen verlieben, wird die Anima im Mann und der Animus in der Frau geweckt. Der Mann kommt in einen Erlebnisbereich, den man mit weich, zärtlich, einfühl¬sam, mit verbindender Nähe umschreiben kann. Die Frau spürt in sich etwas von der Kraft und Sicherheit eines Mannes. Der Mann kommt also in Kontakt mit seiner Anima, die Frau mit ihrem Animus. Dies wird als ungemein wohltuend, be¬glückend und erfüllend, von beiden als „Ergänzung" (als Ganz¬heit) erlebt.
Zunächst wird der andere als tatsächliche(r) Träger(in) dieser Eigenschaften und noch vieler anderer gesehen, welche jedoch in Wahrheit Inhalte des unbewußten gegengeschlechtlichen Seelenbildes sind; d. h. Anima und Animus werden auf den Partner projiziert. Der ist nur der Auslöser und nicht der wirk¬liche Inhaber der geschätzten Erlebnisqualitäten. Denn diese sind vorgeprägt von den Urerfahrungen des Mannes mit der Frau als Mutter, Schwester, Geliebte, Gattin und von persönli¬chen Begegnungen, - analog verhält es sich mit den Erfahrun¬gen der Frau in bezug auf den Mann.
Mit anderen Worten: In der Begegnung von Mann und Frau werden aufgrund des eigenen, unbewußten gegengeschlechtli¬chen Seelenbildes (Anima, Animus) Eigenschaften in den Part¬ner bzw. in die Partnerin hineingesehen, die er/sie nicht apriori als dieser konkrete Mensch tatsächlich hat. Es werden Erwartungen an ihn/sie gestellt, die er/sie nicht erfüllen kann. Die - in der Weiterentwicklung ihrer Beziehung - erfor¬derliche Rücknahme dieser Projektion bewirkt, den anderen so sehen zu können, wie er/sie wirklich ist, und erreicht eine Überführung bisher unbewußter Inhalte ins Bewußtsein. Die¬ser Prozeß ist eine entscheidende Voraussetzung für eine gelin¬gende Beziehung. Kurz: Anima und Animus sind Archetypen des Seelenlebens, üben eine faszinierende Kraft aus, regen zu Projektionen an, die jedoch als solche erkannt und abgelöst werden müssen, will man nicht auf bittere Enttäuschungen und ein Scheitern zusteuern.
Die Funktion dieser Seelenbilder, ob positiv oder negativ, ist auf drei wichtigen Ebenen entscheidend: (1) in der konkreten Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau, sowie all¬gemein in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Zusammenleben und -arbeiten, (2) in der Beziehung des Men¬schen zum eigenen Unbewußten, zu sich selbst und (3) in be-
zug auf die eigene Ganzheit. Die Anima des Mannes und der Animus der Frau haben eine vitale und eine geistig-spirituelle Seite.
Jung unterscheidet in der Entwicklung der Anima vier Stu¬fen: (1 ] primitiv-sinnliche Sexualität, symbolisch verkörpert in Eva, (2) romantische Liebe, verkörpert in der Person der He¬lena, (3) die vergeistigte Beziehung zur Frau, dargestellt in der Jungfrau Maria, und (4) die Vollgestalt der Anima in der So¬phia, welche alle anderen Stufen in sich vereinigt: Die eroti¬sche Kraft enthält dann auch eine tief-geistige Komponente des Erlebens, und im geistig-spirituellen Erleben schwingt die erotische Sensibilität mit.
Jung kritisiert am seinerzeit und wohl auch noch heute ge¬lebten Christentum, daß die chthonische, die erdhafte, d. h. die vitale Seite von der bewußten Persönlichkeit abgespalten ist. Solange dieser Bereich aber unbewußt bleibt, kann er nicht kultiviert werden und ist ein ständiger Herd der Bedrohung, der Unsicherheit und der Neurose. Die Liberalisierung des Se¬xuellen bzw. die Sexualisierung der Öffentlichkeit hat auch da¬mit zu tun, daß es der Kirche zu wenig gelungen ist, die Sexualität ins ganzheitlich Personale zu integrieren. Die perso¬nale Liebe wird zwar als höchstes Ziel vor Augen gestellt, aber das bloße Insistieren auf Moralnormen hilft nicht, es auch zu erreichen.
Für „von Berufs wegen" ehelos lebende Christen, die sich schon in jungen Jahren auf ihre künftige Rolle eingestellt und nähere Begegnung mit Frauen bzw. Männern eher vermieden als gesucht haben, ist die Neigung und Gefahr besonders groß, hier in der Unbewußtheit zu verbleiben. Sie zeigt sich bei¬spielsweise darin, daß mancher Ehelose Frauen einerseits uner¬reichbar überhöht und sie als Quelle allen Glücks betrachtet, andererseits sie verbal oder faktisch abwertet und verletzt. Daß im kirchlich Christlichen nur eine Seite der Anima offiziell zu¬gelassen ist, nämlich die der sich aufopfernden Mutter und der sexuell neutralen Jungfrau - entsprechend der Erfahrung von Priestern mit ihrer Mutter und mit ihrer Schwester -, verstärkt eine solche Einstellung. Dieses unvollständige Bild von der
Frau wird noch erhöht und sanktioniert mittels der Gestalt Marias, die als Jungfrau und Mutter den höchsten Rang der Verehrung (nach Christus) einnimmt.
Im „Lexikon für Theologie und Kirche" - es wird derzeit neu erarbeitet - hieß es vor gut dreißig Jahren zu diesem Thema, das Wesen der Frau sei Mütterlichkeit: „Das Mutter- tum wurzelt im Empfangen und Tragen. Es reift zur opferfreu¬digen, sich nie versagenden Hingabe."46 Eine solch einseitige Sicht berücksichtigt nicht die Symbol-Gestalten von Eva und Helena, d. h. den gleichwertigen Aspekt der körperlichen und romantischen Liebe. Wenn dieser unbewußt, unbeachtet oder tabuisiert bleibt und nicht entwickelt wird, fehlt ein wesentli¬cher Teil in der Persönlichkeit des Mannes und in seiner Bezie¬hung zur Frau. Die einseitige Betonung eines vergeistigten Frauenbildes übersieht, daß der sexuelle und erotische Erleb¬nisraum die Grundlage, die Ausdruckskraft und den Nährbo¬den bildet für die geistige Überzeugungskraft und Liebesge- meinschaft zweier Menschen, ja gewissermaßen dazu die Energie liefert.
Vor allem werden die tatsächlich lebenden Frauen überse¬hen, die sich im Bild der nur dienenden Magd, der nur sich auf¬opfernden Mutter oder der geschlechtslosen Jungfrau nicht wiederfinden. Sie wollen in ihrem Selbstbewußtsein als Frauen mit erotischer Ausstrahlung, als gleichwertige, ebenbürtige Persönlichkeiten ernstgenommen sein und wehren sich, in we¬sentlichen Punkten ihrer Existenz übergangen zu werden. In einer Kirche, die einem solchen fraulichen Selbstverständnis fremd oder sogar ablehnend gegenübersteht, können sie sich nicht zu Hause fühlen. So mehren sich die Kirchenaustritte vor allem jüngerer Frauen, die berechtigterweise nach Bestäti¬gung ihrer noch unsicheren Identität suchen und die Mängel dieser nur von Männern geleiteten und geprägten Kirche als Mißachtung ihrer Würde empfinden. Die Auseinandersetzung um den Platz der Frau in der Kirche ist nicht zuerst eine Sache der Institution, sondern der Einstellung, des Bewußtseins, der Reife, d. h. ein Problem der Anima derer, die der Kirche vorste¬hen, aber auch des Animus der Frauen in der Kirche, will sa¬gen: Erst wenn sich der Mann mit der Frau und die Frau mit dem Mann in sich versöhnt, wird aus der Kontroverse, die ge-geneinander gerichtet ist, eine fruchtbare Spannung zueinan¬der. Die Versöhnung beginnt dann, wenn die Männer der Kirche alles, was - nicht nur - das „Lexikon für Theologie und Kirche" (d. h. ein Mann, bzw. Männer) über das Wesen der Frau schreibt, ernst nehmen und es als eigene, reale Identität betrachten.47 Dort heißt es, wie bereits erwähnt, daß das We¬sen der Frau die Mütterlichkeit sei. Bei allem kritischen Vorbe¬halt zu dieser einseitigen Aussage ist dieses Thema von höchster Aktualität. Frauen, die bewußt eine Entbindung er¬lebt haben, bezeichnen sie als höchste Form der Selbsterfah¬rung. Mutterschaft bedeutet Empfangen und Tragen. Darin entdecke ich für mich als Mann die Frage: Inwieweit kann ich eine Anregung von außen oder einen Impuls aus der Tiefe der Seele annehmen und austragen wie eine Mutter ihr Kind? In¬wieweit kann ich im Innern etwas wachsen und reifen lassen - der Anima in mir Raum geben?
Es geht um die mütterliche Grundhaltung des Pathischen, die sich entscheidend von der reinen Passivität oder einem ma¬sochistischen Erleiden abhebt. Es ist ein bewußt angenomme¬nes und bejahtes Erleben. Jeder priesterlich tätige Mensch sollte - um seiner Glaubwürdigkeit und eigenen Identität wil¬len - sich prüfen, ob seine Tätigkeit ausschließlich aus Planen und Machen, aus Aktivitäten besteht und das Erleben als ein Geschehenlassen im emotionalen und spirituellen Bereich nicht zu kurz kommt.
Weiter zeichnet die Grundhaltung des Pathischen aus: eine opferfreudige, keineswegs selbstlose, vielmehr liebende Hin¬gabe. Ob diese vielleicht deshalb bei vielen Seelsorgern erlahmt oder auch nie so richtig vorhanden war, weil es im Grunde nicht das „eigene Kind" ist, wofür einer Sorge trug, sondern nur etwas von außen Übernommenes? Das würde bedeuten: Die Suche nach dem Eigenen steht noch aus.
Auch die folgenden Eigenschaften als Gütezeichen des Pathi¬schen sind sehr zu beherzigen: dem Leben mitfühlend naheste¬hen,• sich sensibel von dessen Not und Freude berühren lassen; es unmittelbar, spontan und tief erfahren,- dem spontanen, lei-denschaftlichen Lebensantrieb trauen; sich von Gefühlen be¬wegen lassen; sich flexibel auf Lebenswichtiges, Naheliegendes und Gegenwärtiges einstellen; dem Einzelmenschen, zumal dem Hilfsbedürftigen mehr zugetan sein als hohen Prinzipien; eher person- als sachbezogen handeln; sich vom Konkreten und Vorstellbaren stärker als von abstrakten Begriffen anspre¬chen lassen; dem ahnenden und intuitiven Erfassen Raum ge¬ben und nicht nur dem schlußfolgernden Denken. Was speziell den Glauben betrifft, könnten die leitenden und leh¬renden Männer der Kirche von den Frauen lernen, sich mehr für das Geheimnis der Gnade und der Güte Gottes zu öffnen und eine größere Nähe zum Erlöser zu entwickeln, der als Mensch handelt und leidet.
Bei eingehender Betrachtung sind es genau diese Wesens¬und Erlebensmerkmale, von denen zunehmend mehr Men¬schen den Eindruck haben, daß sie der Kirche heute fehlen, und aufgrund dessen sie - enttäuscht, verärgert, verletzt oder ironisierend - als „Männerkirche" abgelehnt wird. Um in der Kirche wirklich zur Anerkennung der Frau in Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zu kommen, drängt die Zeit, die weib¬liche Seite des Menschlichen und des Glaubens entschieden wahrzunehmen und zu schätzen. Es wäre allerdings zu wenig, diese Qualitäten den Frauen zwar zuzugestehen und ihnen auch Raum zu geben, - während die Männer dieselben, d. h. unverändert blieben.
Was im bisherigen „Lexikon für Theologie und Kirche" zum Thema Frau gesagt ist, wirkt bedrückend, einengend, ja gefähr¬lich, wenn daraus ihre konkrete Rolle, ihre Rechte und Pflich¬ten abgeleitet werden. So wie der Mann nicht festgelegt werden darf auf bestimmte Charaktereigenschaften wie dis¬kursive Rationalität, Extravertiertheit, Objektivität, sachhafte Bezogenheit auf die Umwelt48, so darf auch die Entfaltung der Frau nicht durch einseitige Festschreibung ihres sogenannten „Wesens" eingeschränkt werden. Es wurde schon gesagt, daß ihr Unbewußtes einen männlichen Anteil enthält, den Ani¬mus, in dem ein wesentlicher Zuwachs an Identität liegt. Bei den Frauen, die heute gegen die Kirche aufbegehren, ist dieser Anteil erwacht. Er äußert sich in eigenem Urteil, in Unter¬scheidungsvermögen, in Eigeninitiativen und in der Suche nach einem geistigen Grund. Man kann im Animus den Logos sehen, in der Anima den Eros. Wenn allerdings bestimmte Meinungen von Frauen in einer Weise vertreten werden, die ein Gespräch ausschließt, zeigt sich darin der Animus in einer negativen Wirkung; in der Analytischen Psychologie spricht man dann von Animusbesessenheit.
Entscheidend für die Zukunft wird sein, ob der Animus der Frau in der Kirche leben darf, ob eine eigenständige Entwick¬lung willkommen ist oder ob man es lieber sieht, daß Frauen, besonders jene im kirchlichen Dienst, weiterhin vom Urteil der männlichen Vorgesetzten und ihrer Entscheidungen ab¬hängig bleiben.
Für das Zusammenleben der Menschen ganz allgemein, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche gilt: Das patriarchale Prin¬zip, der Logos ohne Einbezug des Eros, verlangt Unterordnung und Unterwerfung; der Eros ohne den unterscheidenden und führenden Logos jedoch führt zu einem Chaos der Gefühle und Beziehungen. Anzustreben ist eine Balance von Animus und Anima, von Logos und Eros, von Yin und Yang im Sinne der chinesischen Philosophie des Tao. Erst der Ausgleich er¬möglicht Beziehungen in Gleichrangigkeit und Teilhabe und schafft die Voraussetzung für eine brüderliche und schwester¬liche Kirche. Solche Ausgewogenheit ist aber in der Öffentlich¬keit nicht zu erreichen, wenn sie nicht im seelischen Binnenraum des einzelnen Wirklichkeit geworden ist.
Der Kontakt mit dem gegengeschlechtlichen Seelenbild, aus¬gelöst durch eine Begegnung oder durch einen therapeutischen Prozeß, öffnet das Unbewußte und bringt den Menschen in Be¬ziehung zu sich selbst und seiner Ganzheit. Es bietet sich die Chance, in die unbewußte Seelentiefe vorzustoßen, was als ein Ergriffen-, Bewegt- und Erfülltsein erfahren wird. Man findet Anschluß an die innere Lebendigkeit, die Quellen der Seele be¬ginnen zu fließen und beenden eine oft jahrelange innere Dürre. Die erwachte Emotionalität geht einher mit Intuition, mit Ideenreichtum und Erlebnisfähigkeit und mit schöpferi¬schen Kräften. Vor allem ist es die religiöse Tiefe, die aufbricht und Urerfahrungen ermöglicht. Es kann sein, daß einem plötz¬lich Sätze aus der Liturgie oder der Hl. Schrift aufgehen, über die man bisher hinweggelesen hat. Andererseits liegen in der Abspaltung der Anima Gründe für Erfolglosigkeit und Isolie¬rung, für depressive Selbstwertgefühle und Zweifel an der Identität als Priester und Seelsorger. Wer die Tragik vermeiden will, trotz besten Willens und der Treue zu den übernomme¬nen Verpflichtungen als Mensch zu verarmen, ist aufgerufen, den Reichtum seiner eigenen Seele zu entdecken. Das heißt: in Beziehung zu treten zur Innenseite seiner Existenz und auf fol¬gendes zu achten: Was ist mein eigener Anteil in all dem, wo¬mit ich konfrontiert bin? Wie heißt das Brachland in mir, daß ich zu bestimmten Menschen oder Altersgruppen keinen ech¬ten, selbstverständlichen Kontakt finde? Zur Überwindung der Gefühlsarmut und der Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, braucht es für einen Priester bzw. für eine seelsorgerlich tätige Frau nicht ultimativ, aber auch die Anregung durch die Frau bzw. den Mann.
Was aber, wenn dann eine Begegnung so tief geht, daß sie wie ein Erwachen aus dem Wesenssschlaf erlebt wird und mit der übernommenen Verpflichtung zur Ehelosigkeit und der Liebe zum Beruf als unvereinbar erscheint? Wichtig ist, daß man trotz aller Gefühlsdichte sich selbst und auch den ändern noch nüchtern wahrnimmt, sein eigenes Empfinden von dem des geliebten Menschen unterscheidet und den Sinn für die Wahrheit der eigenen Identität bewahrt bzw. entwickelt. Da¬mit ist freilich noch lange nicht das Problem gelöst. Es wird in einer solchen Situation niemandem eine einschneidende, schmerzhafte Konfrontation mit sich selbst erspart bleiben. Genau diese hält wesentliche, innere Schritte zur ganzheitli¬chen Reife der Persönlichkeit bereit.
Abschließend seien die wichtigsten Aspekte zum Thema „Anima - Animus" als dem jeweils gegengeschlechtlichen See¬lenbild noch einmal zusammengefaßt:
Solange die Anima unbewußt und unentwickelt bleibt, sind wir ihrem Wirken ausgeliefert: Sie, nicht der seelsorgerlich Ar¬beitende bestimmt dann über das Gelingen seiner Tätigkeit;
sie macht - als noch abgespaltene Vitalkraft - eigensinnig und launisch, so daß sich andere vor den Kopf gestoßen fühlen, und mutlos, wenn etwas mißlungen ist.
Ideal wäre es, wenn in einem therapeutischen Prozeß die verschiedenen Kräfte der Anima harmonisch entwickelt wer¬den könnten.
Das Wissen um das weibliche Unbewußte des Mannes und das männliche Unbewußte der Frau besagt u. a., daß der Ver¬zicht auf eine eheliche Partnerschaft nicht Verzicht auf Ge¬fühle bedeuten muß, wohl aber, daß es die Mühe eines ganzheitlichen Entwicklungsprozesses kostet, den existentiel¬len Wert der Ehelosigkeit wirklich zu erfassen, zu retten, per¬sönlich von ihm durchdrungen zu leben.
Die Versöhnung der Gegensätze
Es wurde gesagt, daß der Archetyp des Gottesbildes, den Jung das Selbst nennt und der den Seelengrund der Mystik meint, einen individuellen und universalen, einen geschichtlichen und zeitlosen Aspekt in sich vereint. Menschen, die aus die¬sem Erlebnisraum schöpften, waren höchst individuell heraus¬ragende Gestalten und von großer Bedeutung für ihre Zeit und über sie hinaus, bis heute. Ihre Größe liegt darin, daß sie in sich die Gegensätze ausgetragen haben, mit denen sonst die Menschen kaum fertig werden. Von den Heiligen ist zu lernen, daß sie nicht aufgrund von heroischen Willensleistungen Au¬ßerordentliches vollbrachten, sondern weil sie sich von einer inneren Dynamik bewegen ließen, theologisch gesprochen: von der Gnade Gottes, die im Archetyp wirkt. Voraussetzung ist allerdings, daß wir uns dem Prozeß der Selbstwerdung un¬terwerfen. In dessen Verlauf erleben wir, daß sich alte Kon¬flikte mit uns selbst und mit anderen wie von selbst lösen; aber nicht in dem Sinn, daß sich die eine Seite gegen die andere durchsetzt, sondern die Gegensätze - Leidenschaftlichkeit und Vernunft, Intuition und analytisches Denken, Gedanken und Gefühle - werden in uns miteinander versöhnt. Man muß sie allerdings so lange aushalten und in sich austragen, bis sie ihre spaltende Kraft verlieren.
Wenn wir dann unsere Emotionen von einem tiefen geistigen Erleben durchdrungen fühlen, stehen wir nicht mehr vor der Alternative: Gehemmtsein oder freies Ausleben mit allen - möglicherweise auch zerstörerischen - Konsequenzen, son¬dern wir spüren eine Kraft, die von innen her die Antriebe ih¬rem übergeordneten Sinn zuführt. Der Gegensatz von Geist und Trieb, von rationaler Einsicht und Dynamik des Irrationa¬len, wird nicht dadurch aufgehoben, daß man entgegenste¬hende Impulse auf die Dauer mit dem Willen niederringt und sie abschneidet, auch nicht dadurch, daß man seine Ideale ein-fach aufgibt und nur mehr seinen Wünschen folgt, sondern dadurch, daß man in einem personalen, geistig-emotionalen Wachstumsprozeß allmählich zu seinem Personkern findet, der über den beiden scheinbar unversöhnlichen Gegensätzen liegt. Wir haben dann die Gewißheit, nichts versäumt und nichts verloren zu haben, weil uns das Sein im Hier und Jetzt ganz und gar ausfüllt. Normen und Ideale werden menschli¬cher und damit lebbar, ohne von ihrer Substanz einzubüßen.
Wenn es gelingt, von der eigenen Mitte her, aus der eigenen Betroffenheit und mit Echtheit Menschen anzusprechen, wer¬den sie sich öffnen. In Selbsterfahrungskursen zeigt sich im¬mer wieder sehr eindrucksvoll, daß die Teilnehmer einander umso näher kommen, einander umso intensiver verstehen, je dichter jeder mit seinen Gefühlen, seinen Empfindungen in Berührung kommt, je offener jeder von seinem eigenen Erle¬ben spricht. Betroffenheit, Verstehen teilt sich dann von selbst mit, und dadurch geschieht Veränderung von innen her.
Die Gegensätze, die „zwei Seelen in unserer Brust" erschei¬nen uns jedoch nicht immer nur als Spannung zwischen Ge¬fühl und Verstand, Trieb und Geist. Deutlicher noch empfin¬den wir ein anderes Gegensatzpaar: die Ansprüche, die wir in stiller Stunde da drinnen in uns verspüren, und die, die von au¬ßen auf uns zukommen, und die uns möglicherweise unver¬einbar erscheinen, zwischen denen wir stehen: Habe ich das Recht auf meine eigene, individuelle Entwicklung und auf ei¬genes Glück, oder gilt nur die Verantwortung für andere, für die Gemeinde, für die Notleidenden oder für die Familie?
Oder: Für immer mehr Menschen sind nicht Normen und Ide¬ale das Problem; was sie quält, ist ein inneres Chaos, eine Ver¬wirrung der Gefühle. Sie streben nach Lebensfreude und fallen in die Depression. Wichtig ist, daran zu erinnern, daß es auch ein Urgewissen gibt: die innerste Anlage der ganzheitlich be¬griffenen Menschennatur49, in der Scholastik „syneidesis" ge¬nannt. Dieses gilt es im Prozeß der Selbstwerdung zu entdecken. Weil es in den Träumen häufig als eine Stimme er¬scheint, wird es in der Analytischen Psychologie „Stimme-Ge- wissen" genannt. Es hat die Eigenschaft, daß es nicht nur die Richtung aufzeigt, sondern auch die Kraft vermittelt, den Weg zu gehen.
Oder, da ist der fast weltanschauliche Gegensatz zwischen „ge-schichtlich" und „zeitlos", historisch und zeitlos symbolisch. Diese scheinbare Unvereinbarkeit ist vor kurzem im Streit um die tiefenpsychologische Schriftauslegung akut geworden. Eu¬gen Drewermann wird vorgeworfen, er vernachlässige das hi¬storische Geschehen des Alten und Neuen Testaments zugunsten allgemeiner zeitloser Bilder. Die Vorstellung vom Selbst besagt aber: Es gibt eine Bewußtseinsebene, wo ich als heute lebender Mensch den Gestalten und Geschichten der Bi¬bel voll und ganz nahe, ihnen existentiell gleichzeitig bin, und zwar dann, wenn das Ich an das Selbst angeschlossen ist. Dies wird besonders im Bibliodrama deutlich. Wenn sich Teilneh¬mer eines Bibliodrama-Kursus in einer biblischen Gestalt mit der ganzen Dimension des Erlebens wiederfinden und dies auch unter Tränen und Erschütterungen zum Ausdruck brin¬gen, entsteht eine Atmosphäre höchster spiritueller Tiefe und emotionaler Dichte. Man gewinnt den Eindruck, daß sich die biblische Szene unmittelbar vollzieht. Manchmal breitet sich eine Ergriffenheit aus, die eher zur Stille oder zu einem Dank¬lied einlädt als zum Reden.
Selbst wenn die Probleme noch längst nicht gelöst sind, wird in solchen Momenten etwas von der Versöhnung der Gegen¬sätze spürbar, von einer zeitlosen und ganz realen Harmonie, nach der sich die Menschen sehnen. Dazu gehört der Aus¬gleich von rational und irrational, von bewußt und unbewußt, wobei wir das Rationale mehr dem Außen, das Irrationale mehr dem Innen zuordnen dürfen. Im Prozeß der Selbsterfah¬rung, ob in der Gruppe oder im Zweiergespräch, geht es einer¬seits darum, das Irrationale zu öffnen, das heißt mit abgespalte¬nen Gefühlen in Kontakt zu kommen und sie auch ein Stück zuzulassen, andererseits sollen sich die Teilnehmer kritisch fragen, inwieweit das innerlich Wahrgenommene der äußeren Realität entspricht. Das Licht des Bewußtseins soll mit der Kraft des Unbewußten verbunden werden. Emotionen ohne Verstand sind blind; Wille und Verstand ohne Emotionen sind kraftlos. Das Selbst als Repräsentant der Ganzheit gelangt nur dann zu seinem Ziel, wenn das Ich seine Funktion beibehält und nicht vom Irrationalen überschwemmt wird.
Konkret heißt das: Es braucht eine hohe Sensibilität, um die Impulse des Selbst wahrzunehmen; zu unterscheiden zwischen solchen, die nur einer Aufblähung des Ich dienen, seiner äuße¬ren Anerkennung, und solchen, die inneres Wachstum för¬dern. Nicht die so oft belächelte Euphorie ist das Ziel der Selbsterfahrung, die mit Menschen einer Gruppe geübt wird, sondern tieferes Wissen um sich selbst, Entlastung von nieder¬drückenden Gefühlen und das Geschenk schöpferischer Im¬pulse. Ergriffen-Werden und Ergreifen im Sinne von aktivem Verstehen sollen sich die Balance halten. Das ist gemeint mit einer Synthese von rational und irrational, sowie mit der In¬tention, „rational mit dem Irrationalen" umzugehen. Wenn in der Begegnung und im Lebensaustausch mit anderen am Ende eines Kursus die Stille als wohltuend erlebt wird, wenn man ge¬lernt hat, sowohl über sich zu reden als auch sich zurückzu¬nehmen, ist sehr viel von dem Gesagten geschehen.
Individuation und Individualisierung
Allgemein wird heute über die zunehmende Individualisie¬rung geklagt. Viele erleben diesen Prozeß aus allernächster Nähe. Besonders schmerzlich ist es, wenn es Ehe und Familie trifft. Die Entscheidung eines Partners, sich zu trennen, er¬scheint für den ändern und für Außenstehende häufig als Treulosigkeit. Schuld daran sei der allgemeine Drang nach schrankenloser Selbstverwirklichung.

In einem zeitgeschichtlichen Kommentar mit dem Titel „Sind wir ein Volk von Egoisten?"50 in der „Herder Korrespon¬denz" ist von Entsolidarisierung die Rede, davon, daß die Ge¬sellschaft in ihren Grundfesten bedroht sei, daß der legitime Anspruch auf Autonomie und die Freisetzung aus starren Rol¬lenvorgaben zur Verneinung der sozialen Verpflichtungen und zur Atomisierung und Privatisierung des einzelnen führe. Die Kirche ist von dieser allgemein herrschenden Strömung nicht ausgenommen. Verpflichtungen auf Lebenszeit werden zu¬rückgenommen, was früher undenkbar schien. Man vermutet, daß es einfach an Bereitschaft zur Hingabe und zum Dienen fehle. Selbstfindung und Individuation auch noch zu empfeh-len hieße dann, öl ins Feuer zu gießen.
Nun ist es allerdings so, daß einmal eingetretene Entwick¬lungen auf die Dauer nicht aufzuhalten sind und nicht rück¬gängig gemacht werden können. Entscheidend bleibt, ob und wie sie aufgefangen und weitergeführt werden. Umso wichti¬ger ist es, den Begriff der Individuation genauer anzuschauen. Jung definiert ihn so: „Die Individuation ist allgemein der Vor¬gang der Bildung und Besonderung von Einzelwesen, speziell die Entwicklung des psychologischen Individuums als eines vom Allgemeinen, von der Kollektivpsychologie unterschiede¬nen Wesens."51 In dieser Definition ist der Konflikt mit der Außenwelt eingeschlossen. Es bedeutet, daß einer, der sich auf diesen Prozeß einläßt, die Erwartungen seiner sozialen Umge¬bung aufkündet und sich von ihr absetzt. Jedoch muß er nicht in der Vereinzelung enden. Wenn der Weg voll und ganz durchgestanden wird, öffnet sich sogar ein intensiverer und allgemeinerer Kollektivzusammenhang; denn im Innersten, in dem, was Jung das Selbst nennt, ist jedes Individuum auf das Ganze bezogen.
Die Auswüchse der sogenannten „Selbstverwirklichung" sind so zu erklären, daß die wenigsten die Stimme des Inner¬sten, des Selbst, die Ansprüche des Urgewissens52 wahmehmen und sehr viele in Trennung und Auflehnung steckenbleiben. Bei einem inneren Aufbruch werden die bisherigen Gefühls¬richtungen umgekehrt. Gegenüber der Nähe zum ändern, die man früher suchte, braucht man jetzt Distanz. Gegenüber der Anpassung an Familie oder kirchliche Gemeinschaft will man sich jetzt auf eigenes Urteil und eigene Gestaltung des Lebens verlassen. Es kann sein, daß alle bisher zurückgehaltenen Af¬fekte durchbrechen und man gerade nach Argumenten z. B. aus der jüngsten oder weitvergangenen Kirchengeschichte sucht, um seine Grundstimmung zu bestätigen. Ein Weiter¬kommen in solchen Situationen hängt von der Bereitschaft ab, sich selbst kritisch zu betrachten, zwischen objektiven Gege¬benheiten und der eigenen Sicht der Dinge zu unterscheiden. Den wenigsten ist bewußt, daß eine nur von Emotionen be¬stimmte Wahrnehmung Wirklichkeit verzerrt und zunächst selbst einer kritischen Analyse bedarf. Statt dessen treiben ne¬gative Affekte gegenüber Tradition, Kirche und Gesellschaft viele in die Isolierung und in eine Haltung, wo nur mehr der eigene Vorteil zählt.
Andererseits muß es noch lange nicht zu moralischer Anar¬chie führen, wenn sich ein junger oder erwachsener Mensch im Laufe seiner Entwicklung von Vorstellungen der Tradition löst, und zwar dann, wenn sie ihn wirklich am Leben hindern. Es muß nicht Leichtsinn oder Bequemlichkeit, es kann auch Mut zum Risiko, zur Verantwortung sein, etwas Neues, Schöp¬ferisches zu beginnen. Oft ist es sogar eine tiefe religiöse Erfah¬rung, die einen von allem, was bisher als selbstverständlich galt, wegreißt und in die Einsamkeit stößt. Entscheidend ist, ob diese Einsamkeit genutzt wird. Religiöse Urerfahrungen, von denen es heute mehr gibt, als man annimmt, werden oft gar nicht als solche erkannt, nicht weitergeführt und deshalb für die weitere Entwicklung nicht fruchtbar.
Menschen in solchen Situationen finden meist weder in der Psychotherapie noch in der Seelsorge einen Gesprächspartner. Für den Therapeuten gehört das Religiöse nicht in seinen Be¬reich, für den Theologen sind außergewöhnliche religiöse Phä¬nomene ungewohnt und suspekt. So ist das Problem der Vereinzelung nicht nur eine Sache „des einzelnen". Jedoch geht es nur dann weiter, wenn der Betroffene die Verantwor¬tung für sich voll und ganz übernimmt. Wenn das Unbewußte sich öffnet - damit beginnt die je eigene Entwicklung kom¬men wir in Berührung mit dem eigenen Schatten, mit dem ge¬gen- geschlechtlichen Seelenanteil und mit dem religiösen Ar¬chetypen, dem Selbst. Gefordert ist eine hohe Wachsamkeit für die persönliche Wahrheit, ein hoher Grad an Unterschei-dungsfähigkeit zwischen dem, was im Schatten, dem bisher Ungelebten, falsch oder richtig ist, ebenso im Erleben der Anima-, bzw. der Animusfigur. Selbst das Religiöse braucht die nüchterne und klare Differenzierung.
Der Aufbruch geschieht meist ohne eigenes Zutun, und man kann oft selber nicht sagen, warum er jetzt und so ge¬schieht. Die folgenden Schritte aber brauchen viel Wachsam¬keit und Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst, gegenüber inneren Vorgängen und Einflüssen von außen. Die Gefahr ist, daß einer in Situationen des Umbruchs nicht mehr weiß, wo er steht und was er tut. Kritische, agressive Gefühle gegenüber dem Lebenspartner, Vorgesetzten und Kirche können einen to¬tal besetzen und die Sicht verdunkeln. Oder: Ein Mensch, ob Mann oder Frau, kann im ändern so viel an Lebendigkeit und Faszination wecken, daß dieser wie geblendet ist. Die wenig-sten wissen, daß hier die eigene Anima- bzw. Animus- Figur am Werk ist - und daß Faszination noch keine tragfähige Be¬ziehung schafft. Affekte können uns so stark beherrschen, daß uns der Sinn für den großen Zusammenhang und für jene Werte, die das Leben auf die Dauer gelingen lassen, verloren¬geht.
Hier ist sicher der Punkt, wo die Klage gegen Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft berechtigt erscheint. Alle Versuche, diesen Strömungen regressiv und Einhalt gebietend entgegen-zutreten, sind allerdings bisher gescheitert, ebenso moralische Appelle. Ungerecht ist es aber, die Begründer der großen psy-chologischen Schulen für das, was so vielfältig an Aufbrüchen geschieht, verantwortlich zu machen. Ebenso ist es wenig ver-sprechend, das Bildungswesen zur Erziehung zu größerer Soli¬darität anzumahnen. Man kann nicht bei den Kindern beginnen, wenn den Erwachsenen fehlt, was sie weitergeben sollten. Erfolgreicher wird sein, wenn jeder, den heutige gei¬stige, seelische und geistige Umbrüche berühren und der dar¬unter leidet, seinen Weg in Treue zu seiner ureigensten, innersten Wahrhaftigkeit geht und auf ihm durchhält, seinen eigenen Schatten anschaut, aufhellt und akzeptierend inte¬griert, Faszinationen und auch Resignatives auflöst und weiter geht, als im allgemeinen Trend üblich ist.
Diese intensive Aufmerksamkeit für und das bewußte Achtge¬ben auf das Indivduelle hat den Sinn, universaler zu werden. Wer davon überzeugt ist, daß Probleme zuerst im eigenen In¬nern gelöst werden müssen (oder zumindest nicht ohne eigene innerste Beteiligung) und dann erst außen, wird zu einem Punkt kommen, wo er für die soziale Umgebung immer be¬deutsamer wird; denn die Grundhaltung der Wahrhaftigkeit trägt sich von selbst weiter, strahlt aus, gewiß nicht auf alle, aber auf die, die dafür offen sind.
Eine Kirche, die sich dem Individuationsprozeß öffnet, hat die Chance, Entwicklungen mit zu steuern und zum Guten zu lenken. Wenig bekannt scheint zu sein, daß diesen Weg die Heiligen gegangen sind und sogar Jesus dazu aufgerufen hat: Trennung und Auflehnung als emotionale Distanz zur Familie und zum Kreis der Bekannten und Freunde lassen sich auch im Leben Jesu finden. Es beginnt mit der Geschichte des Zwölfjäh¬rigen im Tempel, wo er aufgrund seiner inneren Nähe zum Hause Gottes seine Eltern vor den Kopf stößt (Lukas 2,41-52); es führt zum Zusammenstoß mit seinen Verwandten, die ihn für verrückt halten (Markus 3,20), und mit der damaligen reli¬giösen Obrigkeit. Jesus stand ganz und gar gegen die Vorstel¬lungen seiner Zeit, „weil Gott", aus dem heraus er unmittelbar lebte, „anders ist."53
Wer so wie Jesus vom Urgrund berührt ist, wird anders als die ihn umgebenden Menschen. Deshalb gehört - wenn nötig
die Loslösung von den nächsten Angehörigen zur Nachfolge Jesu. Auf dieser Ebene sind die recht hart klingenden Worte Jesu zu verstehen: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" (Lukas 2,49). Oder: „Wenn je¬mand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und Weib und Kinder und Bruder und Schwester und dazu auch sein ei¬genes Leben haßt, so kann er nicht mein Jünger sein" (Lukas 14,26). Es geht bei diesem Satz um Selbst- oder Fremdbestim¬mung. Denn so wichtig Nähe, Schutz und Geborgenheit der
Familie für den jungen Menschen sind, so hinderlich können sie sein für die Entfaltung des Erwachsenen; die unbewußte emotionale, allzu lange und ungelöste Bindung an Vater und Mutter lassen es nicht zu, daß eine(r) sie/er selbst wird. So¬lange noch deren Vorstellungen, vor allem deren Ängste und Drohungen in uns regieren, finden wir nicht zur eigenen Kraft und Lebensfreude. Nicht selten setzt sich dann ein ganzes Le¬ben lang ein ständiger Kampf gegen die Eltern fort, nur daß diese auf einmal anders heißen: Kirche, Staat oder Gesell¬schaft. Um zum Frieden mit sich und den Menschen zu gelan¬gen, ist die Ablösung, die Befreiung von jenen lebensnotwen¬dig, die uns primär geprägt, ihr Denken und Empfinden eingegeben haben, das ja keineswegs und selbstverständlich mit unserem Ureigensten identisch sein muß oder ist. So sieht es heute die Tiefenpsychologie.
Jesus hat schon längst vor ihr diesen Zusammenhang er¬kannt und ihn in jene schroff wirkenden Worte gefaßt. Wer zu Jesus kommt, gelangt zum Ursprung, in dem das Ureigenste und der Wille Gottes zusammenfallen. Vor diesem Hinter¬grund brauchen wir vor der Selbstbestimmung nicht Angst zu haben, sondern wir übertreffen alle Versuche, die heute Men¬schen auf diesem Gebiet anstellen. Nachfolge Christi und in¬nere Entwicklung sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern eins schließt geradezu das andere ein. Deshalb waren auch die Heiligen recht eigenwillige Persönlichkeiten. Entwe¬der hatten die eigenen Angehörigen oder die kirchliche Obrig¬keit mit ihnen ihre Schwierigkeiten; aber gerade sie haben Menschen zusammengeführt und nicht gespalten, weil sie aus dem gemeinsamen Mittelpunkt gelebt haben.
Ein gutes Beispiel, daß der Weg nach innen nicht zur folgenlo¬sen Innerlichkeit und Vereinzelung führt, ist neben Franz von Assisi der heilige Nikolaus von der Flüe. Bekannt ist, daß er seine Frau und seine Kinder verlassen hat, um in der Einsam¬keit zu leben. Von außen gesehen: für viele Frauen heute noch ein Ärgernis. Doch es war nicht Verschrobenheit, Oberfläch¬lichkeit oder Ausweichen vor der Verantwortung. Es war eine innere Kraft, die dazu drängte. Sein einsames Leben wurde fruchtbar für die Allgemeinheit. Sein Ansehen als kluger Rat¬geber, - er war selbst Ratsherr gewesen, dem die Wahrheit über alles ging -, bewirkte, daß viele ihn in wichtigen Angelegenhei¬ten aufsuchten. Sein wichtigstes Werk war das sogenannte „Stanser Verkommnis" von 1481, das auf seinen Einfluß zu¬standekam und den Zusammenbruch der damaligen Schweiz verhinderte.54
Für die Kirche als Gemeinschaft ist die richtig verstandene Individuation eine Chance für Lebendigkeit und Erneuerung. Dazu noch einmal C. G. Jung: „Der Drang zur Individuation ist natürlich, und eine wesentliche Behinderung der Individu¬alität bedeutet daher eine künstliche Verkrüppelung. Es ist ohne weiteres klar, daß eine soziale Gruppe, die aus verkrüp¬pelten Individuen besteht, keine gesunde und auf die Dauer le¬bensfähige Institution sein kann; denn nur diejenige Sozietät, welche ihren inneren Zusammenhang und ihre Kollektivwerte bei größtmöglicher Freiheit des einzelnen bewahren kann, hat eine Anwartschaft auf dauerhafte Lebendigkeit.55

1.5 Von der Tiefenpsychologie lernen - Zusammenfassung

Aus den zahlreichen Anregungen, die uns verschiedene Rich¬tungen der Psychotherapie bieten, gilt es, die wichtigsten noch einmal herauszugreifen und kurz darzustellen. Vorausgehend allerdings muß gesagt werden: Es kann und soll nicht darum gehen, Methoden zu übernehmen, ohne sich auf die dahinter¬stehende Problematik einzulassen. Wenn wir nach Hilfen aus dem humanwissenwissenschaftlichen Gebiet Ausschau hal¬ten, dann in dem Sinn, daß wir die Lücken unserer Identität, unseren Schatten erkennen und daß wir den im kirchlichen Binnenraum nicht gelebten Wahrheiten zum Leben verhelfen, zunächst in uns selbst und dann in unserem Umfeld.
Einmal geht es um die Wirklichkeit und Eigendynamik des Emotionalen. Damit ist nicht nur die Beziehungsebene zwi¬schen Seelsorgern und Gläubigen gemeint, sondern der ganze Bereich, wo Menschen sich in den tieferen Schichten ihrer Seele angesprochen fühlen, in ihrer Suche nach Bestätigung und emotional-geistiger Heimat. Tatsache ist, daß ein großer Teil des Kirchenvolkes auf dieser Ebene verunsichert ist; des¬halb neigen viele zu irrationalen Entscheidungen, sei es in ex¬tremen Formen der Frömmigkeit oder kirchenpolitischer Positionen. Es sollte vertrauensvoller und angstfreier ins Be¬wußtsein gelangen, daß in den Auseinandersetzungen im Raum der Kirche die affektive Ebene in den Menschen eine entscheidendere Rolle spielt als die kontrovers vorgetragenen Streitpunkte. Die Erfahrung lehrt, daß man über Meinungen reden kann, über Grundmeinungen kaum56; denn diese ent-stammen einem Bereich, der von Erfahrungen der Kindheit oder von bedeutsamen emotionalen Prozessen geprägt und im wesentlichen unbewußt ist.
Das Stichwort „Drewermann" illustriert sehr klar, wie Af¬fekte ihre Eigendynamik entwickeln, wie man mit Argumen¬ten aneinander vorbeiredet, ohne den Kern der Problematik zu treffen. Nur mühsam und langsam wächst die Einsicht, daß sich Affekte nie direkt über Argumente beeinflussen lassen, sondern nur nicht-direktiv, indem man sie wahmimmt, be¬rücksichtigt und gelten läßt. Im Bereich der Affekte muß vor allem der Leiter, die Leiterin einer Gruppe oder einer Ge¬meinde nicht nur Einfühlung aufbringen, sondern auch ein-deutig Stellung nehmen. Nur so entsteht emotionale Sicher¬heit. Voraussetzung dafür ist neben der geistigen Auseinander¬setzung die Durchbildung der Gefühle.
Als zweiter Anstoß ergibt sich, die kirchliche Einstellung zur Vitalität zu überprüfen, d. h. zu Impulsen der positiven Agres- sion und der Sexualität. Inwieweit gelingt es, die Dynamik die¬ser menschlichen Kräfte in ihrem Wert anzuerkennen? In kirchlichen Kreisen ist es immer noch so, daß allein schon ein Wunsch auf diesem Gebiet als verwerflich gilt. Man achte in diesem Zusammenhang einmal auf den abwertenden Beige¬schmack aller Worte, die mit „Selbst" zusammengesetzt sind („Selbst-findung", „Selbst-Verwirklichung", „Selbst-erfah- rung"). Dabei geht es doch wesentüch darum, inmitten und mittels all der schöpferischen Vitalkräften jene Urkraft zu er¬spüren, die zur inneren Ordnung und zum Sinn treibt. Ein Ab¬schnüren der eigenen Impulse verhindert die Lebendigkeit, die Reifung der Persönlichkeit und nimmt auch dem Glauben sei¬nen natürlichen, lebendigen Grund.
Drittens ist die enge Verbindung des Seelischen mit dem Religi¬ösen zu beachten. Es gibt eine Begründung des Glaubens - sie wird Mystagogik oder Initiation genannt - von der Innenseite der Seele, d. h. vom Erleben her. Die innere Hinführung ist überzeugender als der Aufweis von äußeren Gründen. Sie regt einen Prozeß an, überfordert den Menschen nicht und läßt ihm Freiheit. Logische Beweisketten jedoch haben etwas Zwin¬gendes und Kopflastiges, Unlebendiges an sich, lassen das Herz eines Menschen kalt und werden mit Gegenargumenten zu¬rückgewiesen.
Viertens ist die Funktion der Symbole hervorzuheben. Die Bil¬der und Symbole der Hl. Schrift und der Liturgie entsprechen den Bildern der Seele. Sie schlagen eine Brücke von der kirchli¬chen Lehre zum Erleben der Menschen und damit vom Glau¬ben zum Leben. Andererseits wird auf dieser Ebene der Glaube aus dem Leben und das Leben aus dem Glauben geboren und die Schicht der Affekte mit einbezogen. Daraus erst wachsen existentieller Sinn und Ganzheit.
Der fünfte und wichtigste Aspekt ist: Der Weg zu Gott muß nicht gegen den Drang zur Selbstwerdung erkämpft werden. Selbst-findung, Du-findung und Gott-findung korrelieren viel¬mehr im Raum des Glaubens. Was mich mir selbst, was mich anderen und Gott näherbringt, ist zwar im Vollzug jeweils zu unterscheiden, läßt sich aber nicht voneinander trennen.