Die vermiedene Umkehr

 

“Ich bereue nichts” sagte ein Mann, der in verschiedenste Dreiecksgeschichten verwickelt war und keinen Anlass sah, sein Verhalten gegenüber seiner Ehefrau und seinen anderen Frauen zu hinterfragen. In der Tat hat sich in den letzten dreißig Jahren ein großer Wandel im Verständnis von Moral, Sünde und Schuld vollzogen. Soll man ein Gefühl bereuen, das einen beglückend überwältigte und das sogar wie eine Kostbarkeit empfunden wird - ein Erlebnis, das man nicht missen möchte?

Die geschwundene Autorität

Der Rahmen, den die kirchliche Moral zieht, erscheint demgegenüber eng, lebensfremd und lebensfeindlich. Eines ist sicher: Von einer Reue als Schmerz der Seele über eine begangene Tat, wie sie die kirchliche Dogmatik (1) einfordert, ist man in einem solchen Fall meilenweit entfernt.

Sollten tatsächlich Schuldgefühle aufkommen, gelten sie - aus therapeutischer Sicht - eher als Zeichen psychischer Schwäche. Verarbeitung nicht Vergebung ist das Stichwort.

Als Vertreter der Kirche wird man mit dem Vorwurf belastet, dass diese Institution den Menschen jahrhundertelang Angst eingejagt hat. So tut man sich schwer, überhaupt noch von Geboten zu reden und gar noch von solchen, die dem Lebensgefühl des modernen Menschen widersprechen. Und wie soll man Kinder zu einer Einstellung führen, wie die Kirche sie wünscht, wenn man sich selbst eingestehen muss, dass einen Verlautbarungen von oberster Stelle nicht mehr berühren oder noch nie eingehend berührt haben?

Nichts scheint heute auf mehr Ablehnung zu stoßen als eine von außen kommende, durch irgendwelche Prinzipien scheinbar begründete Einmischung in das Privatleben, genauer in den Intimraum, in den Bereich der Gefühle. Sie wird als seelenlose Reglementierung empfunden, welche einem die Lust am Leben verdirbt.

 

Moraltheologische Überlegungen, die die Strenge mildern und seien sie noch so tolerant, vermögen das Bild von Kirche als einer lebensfernen und lebensfeindlichen Institution nicht zu verändern. Die wohlgemeinten Bemühungen werden gar nicht wahrgenommen. Sie interessieren nicht, weil sich der Konflikt mit Kirche als einer normgebundenen Autorität schon längst auf seine Weise gelöst hat. Die Autorität als solche ist abgesetzt, besteht nicht mehr, zumindest nicht, was die persönliche Lebensorientierung anbelangt.

Respekt vor der Privatsphäre

Wie aber nun von Umkehr, Buße und Reue reden, wenn schon die Begriffe als solche Abwehr und Ablehnung auslösen? Um die von der Tradition losgelösten und gegenüber jeder Bevormundung kritischen Menschen unserer Tage zu erreichen, sollte man gerade bei dem ansetzen, was ihnen am heiligsten ist, nämlich bei ihrer Privatsphäre, bei ihrer Suche nach einem Raum des Aufatmens, des Verstehens, der Geborgenheit, bei ihrem Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit und bei dem Drang nach einem Erleben, welches sie einer öden, frustrierenden Alltagswelt entreißt. Wir werden dann am ehesten Zugang zum ganz persönlichen Raum eines Menschen finden, wenn unsere Einstellung geprägt ist von nicht-gemachter und nicht-geheuchelter Ehrfurcht und tief-empfundenen Respekt vor dem Schicksal des einzelnen, vor seinen Entscheidungen, selbst vor seinem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Reue beginnt beim Betroffen sein

Eugen Biser, der selbst als Theologe heute Vortragssäle füllt, meint zum Thema Glaube und Gesellschaft: “Was den heutigen Menschen am Glaube irre macht, ist tatsächlich schon längst nicht mehr die Frage nach der Urzeugung oder der Tierabstammung des Menschen, sondern die Unfähigkeit der Kirche, auf seine Sorgen verstehend einzugehen, seinem vielfach frustrierten Glücksverlangen entgegen zu kommen und ihm in seiner Überforderung, Vereinsamung und Lebensangst einen Raum des Aufatmens, der Solidarität und der Geborgenheit zu bieten.” (2)

 

Biser verlangt von Vertretern der Kirche, den konkreten Menschen in seiner Not und Bedürftigkeit ernst zu nehmen und ihm die Hilfe zu gewähren, die er in seiner oft so verfahrenen Situation bräuchte. Diese liegt allerdings nicht auf der Ebene der Normen, auf deren Begründung und Einhaltung so viel Zeit und Mühe verwendet wird, ebenso wenig auf der Ebene der willentlichen Anstrengungen und des Versagens des Menschen, sondern auf der Ebene des Emotionalen, d.h. des Erlebens, der Widerfahrnis, des Betroffen seins und der personalen Begegnung; hier ist das Thema der Umkehr, der Metanoia angesiedelt. Der erste Schritt ist nicht der Befehl: du musst von heute auf morgen dein Leben ändern, du musst dir das schönste und angenehmste Gefühl ausreißen, du musst deine Überzeugung verleugnen, sondern der erste Schritt lautet: Schau deinem Leben ins Auge! Stell dich deinem Problem! Lass einmal auf dich wirken, was da ist! Lass es zu, was in dir in Bewegung kommt!

 

Die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11 - 30) erhält dann ihre entscheidende Wende, als dieser anfängt, sein Schicksal zu überdenken, als er die Überlegung auf sich wirken lässt: Die Tagelöhner meines Vaters haben genug und ich sitze hier bei den Schweinen! Etwas fängt an, sich in ihm zu bewegen. Er ist nicht mehr der, der selbstsicher jeden Rat und jede Erfahrung anderer in den Wind schlägt, der über alles Bescheid weiß, der seine Pläne hat, der nichts bereut.

 

Vielmehr lässt er - vom Leben gezwungen - die neuen, ungewohnten Aspekte seiner Situation zu und mit ihnen auch die Affekte, die sein Denken und sein Verhalten ändern. In diesem Sinn hat die alte Dogmatik durchaus Recht, dass Reue nicht nur guter Wille, sondern ein Schmerz ist, der den Menschen aufwühlt und sich im Tun auswirkt.

 

Tatsächlich ist es so, dass eine verkehrte Einstellung wesentlich im emotionalen Bereich wurzelt und nicht durch den bloßen Willen verändert wird, sondern durch einen stärkeren Affekt. Mit "tief” ist jene Ebene gemeint, wo wir zuinnerst betroffen und berührt sind; wo wir eher Erleidende als Handelnde sind, wo wir nicht mehr ausweichen, sondern uns stellen und die in uns tätige Dynamik zulassen; hier geschieht echte Reue und Wandlung.

Damit ist gesagt, dass es auch zu den Menschen, die mit Kirche, Umkehr, Reue und Buße nichts mehr anfangen können, einen Zugang gibt. Die Erfahrung der therapeutischen Seelsorge zeigt, dass gerade solche Personen sich auf Prozesse der Wandlung einlassen, die eher abseits der Kirche stehen, die nicht zu den Immertreuen und Unangefochtenen gehören. Meistens sind es die, die vom Schicksal gestoßen und gebeutelt wurden, deren Leben nicht nach Plan verlaufen ist. Sie öffnen sich am ehesten dem tieferen Erleben, das sie Gott nahe bringt.

 

Auf diesem Hintergrund wird der Satz Jesu verständlich, der damals großen Anstoß erregt haben muss: “Zöllner und Dirnen kommen eher in das Reich Gottes als ihr!” (Mt 21, 31). Es wäre ein Missverständnis, hier an soziale Umschichtung zu denken, sondern dahinter steht die schon ausgesprochene Erkenntnis, dass Menschen aufgrund ihres außergewöhnlichen Schicksals für neue Erfahrungen offener sind; denn sie wissen, was Elend ist und wie sehr sie der Rettung bedürfen. Der Zorn Jesu hingegen richtet sich gegen die Selbstsicheren, die alles wissen und alles erklären, die nicht bereit sind, eine  tiefere Betroffenheit zuzulassen, die alles von außen betrachten und sich aus allem, was sie irgendwie in Frage stellen könnte, fein säuberlich heraus halten.

Die Umkehr in der Kirche

Es fällt nicht schwer, Parallelen zwischen den von Jesus angesprochenen Personen und denen unserer Zeit zu sehen. Sehr schnell weiß man, wer die Unbußfertigen, die Verhärteten, die Verstockten sind. Man braucht nur die Kommentare der verschiedenen kirchenpolitischen Richtungen zu lesen. Was auffällt: Es sind immer die von der anderen Seite, - ob sie nun links und progressiv oder rechts, traditionsgebunden und konservativ heißen - die an der allgemeinen bedrückenden Situation und am eigenen Unglück schuld sind. Die gegenseitige Schuldzuweisung bewegt sich auf derselben Ebene wie die des Mannes, der bei all seinen abwechselnden, lockeren Beziehungen von sich sagt: ich bereue nichts. Es ist die Kunst, die Problematik von sich fern zu halten. Es wäre zu prüfen, inwieweit sie gerade im Bereich der Theologie blüht. Als Beispiel bietet sich die Auseinandersetzung mit der Esoterik an.

Grenzpfähle gegen die Überschwemmung

An einer theologischen Fakultät wurde eine Studienwoche zu diesem Thema abgehalten. Die meisten Beiträge bewegten sich auf der Ebene der Apologetik. Es wurde aufgezeigt, wie eine weltanschauliche Strömung aus den rationalen Fugen geraten ist und wie sehr gegen die intellektuelle Redlichkeit verstoßen wird. Bei der Schlussrunde breitete sich allerdings Ermüdung und Langeweile aus. Es war bei aller intellektuellen Leistung ein bedrückendes Gefühl. Die Frage bleibt: Hat man bei allem Aufwand an intellektueller Redlichkeit die Problematik, die sich um die Erscheinung der Esoterik rankt, begriffen? Um ein Bild zu gebrauchen: Kann man eine Überschwemmung aufhalten, indem man Grenzpfähle einschlägt oder die schon vorhandenen noch deutlicher markiert? Offensichtlich nicht. Was allerdings auf theologischer Seite zum Thema Esoterik in Zeitschriften und Veranstaltungen geliefert wird, scheint das Einschlagen von Grenzpfählen zu sein - bestens abgemessen und abgesichert. Aber die Überschwemmung aus dem Bereich des Irrationalen - sprich Esoterik - werden die deutlicher gemachten Markierungen nicht aufhalten. Man denke nur an das Auswuchern der Esoterik-Abteilungen in den Buchhandlungen, an die neuen Esoterikläden, die wie Pilze aus dem Boden wachsen, während die kirchlich orientierten Verlage reihenweise schließen. Man steht kirchlicherseits händeringend und ratlos da und muss hilflos zusehen, wie fremde religiöse Strömungen die seelischen Landschaften besetzen.

Argumente stoßen ins Leere

Man nimmt kaum zur Kenntnis, dass Entscheidungen auf religiösem und weltanschaulichem Gebiet nicht auf der rationalen Ebene erfolgen - es sind im Letzten auch nicht Vernunftgründe, die uns zum Glauben oder in einen kirchlichen Beruf geführt haben - es ist vielmehr die existentielle Ebene, die für solche Dinge maßgebend ist. Damit ist die schon von Eugen Biser angesprochene emotionale und spirituelle Not angesprochen, das Bedürfnis nach einem sinnerfüllten Dasein, nach einem Erleben, das einen der Sinnleere, der Einsamkeit und Angst entreißt. Die Argumente gegen eine „falsche Lehre“ greifen so lange nicht, als die andere Glaubens-Richtung einen Menschen in seinem emotionalen und spirituellen Bedürfnis auffangen kann. Überzeugen kann nur, wer auch den Erlebnisraum öffnen und ihn mit neuen, kraftgeladenen Inhalten füllen kann. Es gibt einen Ausspruch, der im Streit der psychotherapeutischen Meinungen einen Schritt weiter führt. Er lautet: Wer heilt, hat recht! Das heißt: es kommt darauf an, was eine weltanschauliche und religiöse Richtung tatsächlich bewirkt. Hier sind unser christlicher Glaube auf dem Prüfstand und vornehmlich diejenigen, die ihn offiziell, beruflich vertreten und den Anspruch erheben, ihn den Menschen unserer Zeit zu vermitteln.

Wenn heute in einem solchen Ausmaß bei religiösen und emotionalen Bedürfnissen nach anderen Angeboten als den christlichen gegriffen wird, ist eine tiefgehende Besinnung dringend geboten.

Nur Aberglaube?

Ob man sich die Sache etwas zu leicht macht, wenn man alles, was unter Esoterik läuft, als Aberglaube bezeichnet, während wir natürlich die gesunde Lehre haben! Das Etikett “Aberglaube” enthebt einen der Mühe, weiter nach Umfang, nach Ursachen, Auswirkungen und Bedeutsamkeit des Phänomens Esoterik zu fragen und sich selbst damit ins Spiel zu bringen. Wenn etwa in einer Frauenzeitschrift unter Kleinanzeigen 20 Magierinnen ihre Dienste in Bezug auf Partnersuche und Zukunftsprognosen anbieten, kann man sich wundern, auf welch grotesken Aberglauben heute selbst gebildete Menschen hereinfallen. Damit ist der Fall für die meisten abgeschlossen. Wer aber einen Sinn für den christlichen Auftrag und die Sehweise Jesu entwickelt hat, wird sich fragen: Was ist mit der maßlosen Einsamkeit, mit den schrecklichen Wunden und Enttäuschungen misslungener Partnerschaften der Frauen, die auf solche Anzeigen reagieren, was ist mit ihrer Zukunftsangst? Wo bleibt die Wirkung des von uns gelebten Christentums, das wir als Erlösungsreligion anpreisen? Wie kann die zentrale Aussage unseres Glaubens die ihr gebührende Bedeutung und Wirkung wieder erlangen, die da lautet: “Jesus Christus hat uns am Kreuz erlöst”?

 

Das schnelle Urteil über Erfahrungen, Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungsweisen anderer beendet auf billige Weise den Denkprozess und bricht Beziehungen ab. Hier ist wohl einer der tieferen Gründe zu suchen, warum sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden und außerhalb ihrem Bedürfnis nach spiritueller Erfahrung, nach Sinn und menschlicher Nähe nachzukommen versuchen. Wer hört es schon gern, wenn der eigene außergewöhnliche Lebensweg als “esoterisch” oder “privatistisch” mit entwertendem Unterton bezeichnet wird?

 

In diesem Zusammenhang ist eine ehrliche Selbstkritik angebracht. Nach der jüngsten Basler Kirchenstudie (3) beten die aus der Kirche Ausgetretenen häufiger und schätzen sich selbst wesentlich häufiger als religiöse Menschen ein als formelle Kirchenmitglieder. Der meistgenannte Grund für den Austritt ist Enttäuschung über die Kirche. Das lässt vermuten, dass der religiöse Anspruch nicht erfüllt wird, dass man mit seinen existentiellen Fragen in Predigt und Gespräch nicht verstanden und angenommen wird, ja nicht einmal vorkommt.

 

Und was soll man zu der Einstellung sagen, die gerade Intellektuelle haben: Wenn ich von Religion etwas wissen will, dann frage ich nicht die Kirche, sondern ich fahre nach Indien in einen Ashram oder nach Japan in ein buddhistisches Kloster. Können wir uns damit entschuldigen, dass solche Personen Religion als Privatsache betrachten und damit schon die falsche Auffassung von Religion haben? (4) Man kann in Meditationshäusern - oft sogar in solchen, die weder kirchlich noch christlich orientiert sind - Menschen antreffen, die von einer sehr tiefen Spiritualität geprägt sind aber sich gerade mit ihrem Ernst und ihrer Radikalität in keiner Pfarrgemeinde zuhause fühlen. Die religiösen Aufbrüche außerhalb der Kirche sollten uns in eine heilsame Unruhe versetzen; denn sie sind die gelebte Anfrage, inwieweit man im kirchlichen Raum bei Nebensächlichem stecken bleibt und den Fragen nach der Tiefe der Existenz wie des religiösen Erlebens ausweicht.

Überforderung oder Entlastung?

Es könnte den Anschein erwecken als ob es darum ginge, sich neben den täglichen Anforderungen neue Lasten aufzuerlegen. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Um den Menschen in ihrer Angst, Überforderung und Einsamkeit wirkungsvoll begegnen zu können, muss ich mich meiner eigenen Angst, Überforderung und Einsamkeit stellen, sie verarbeiten und mich auf diese Weise entlasten. Nur so erwerbe ich die Kompetenz, bei emotionalen und spirituellen Prozessen Einfluss auszuüben und mitzugestalten. In dem Ausmaß, in dem ich selbst in den Fluss des emotionalen und spirituellen Erlebens eingestiegen bin, werde ich der Überschwemmung aus dem Bereich des Irrationalen Einhalt gebieten. Die existentielle, spirituelle und emotionale Kraft, die dazu erforderlich ist, ist Ergebnis der eigenen verarbeiteten Lebensgeschichte speziell des überwundenen Leids, der täglichen Übung und des inneren Wachstums. Es beginnt dann, wenn ich mich von den unangenehmen Tatsachen der Welt, in der ich lebe, in Frage stellen lasse und zugleich den Wachstumskräften in mir selbst eine Chance gebe. Damit wird eine Einstellung der Erstarrung und Sterilität, welche hinter dem Satz “ich bereue nichts” steckt, überwunden.

Anmerkungen

1.    Ludwig Ott, Abriß der Dogmatik, Freiburg 1954, 507

2.    Vgl. Eugen Biser, Glaubensverständnis, Freiburg 1975, 132

3.    Christ in der Gegenwart, 19/2000/147

4.    ebenda 148