Jesus der verwundete Heiler
Kann man für andere leiden?
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Das heilende Tun Jesu hat seinen besonderen Hintergrund. Hier dürfen wir durchaus eine Parallele sehen zu den Bedingungen und Anforderungen, die eine ernstzunehmende Psychotherapie an den Therapeuten stellt.
1.Heilung ist Ganzheit zu Ganzheit: Nach C. G. Jung ist im Fall einer seelischen Krankheit das Mittel der Heilung kein anderes als der Arzt selbst. „Nur wo der Arzt selber betroffen ist, wirkt er. Nur der Verwundete heilt" (1), Ein Mensch aber, dessen Herz nicht gewandelt ist, wird das Herz keines andern Menschen verändern. Der psychotherapeutisch herausgeforderte Arzt muss der "der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner eigenen Persönlichkeit entgegentreten. Er ist das stärkste Agens der Therapie"(2). Jung beruft sich auf den mittelalterlichen Arzt Paracelsus, der auf Grund seines ganzheitlichen Ansatzes von Leib, Seele, Geist und Kosmos in der alternativen Medizin großen Anklang findet: "Der Arzt ist das Mittel, dadurch die Natur in das Werck gebracht wird...ist dein Herz falsch, so ist auch der Arzt bei dir falsch" (3) Nach C. G. Jung soll der Arzt der lebendigen Ganzheit des Patienten mit der Ganzheit seiner eigenen Persönlichkeit entgegentreten.. Seine Aufgabe ist es, die heilenden Keime im Patienten zu wecken. Er ist nicht nur mit seinem Wissen und Können herausgefordert sondern ebenso als Mensch mit seiner Identität, das heißt mit seinen Emotionen und mit seiner Geschichte. Alles, was sie enthält ist für den Erfolg wesentlich mitbestimmend. Er sollte sich fragen: Was ist in meinem Leben schon geschehen? Welche Höhen und Tiefen wurden schon ausgelotet? Was ist bewältigt? Und was blockiert ungelöst und unverarbeitet den Heilungsvorgang? Im letzten kommt es darauf an, wie viel Lebensbejahung und Hoffnung von ihm ausgeht oder wie viel Skepsis trotz aller klingenden Worte. Keiner, der den Anspruch des Heilers an sich selbst stellt, kann sich selbst draußen lassen.. Die Ärzte werden sogar aufgefordert zu fragen, welche Botschaft der Patient für sie selber bringt. „Was bedeutet er für mich? Wenn der Patient nichts für mich bedeutet, habe ich keinen Angriffspunkt"(4). Der Begriff „der verwundete Heiler" meint die eigene, leidvolle aber bewältigte Lebensgeschichte als Voraussetzung für wirksames therapeutisches Handeln. Man könnte es das Kapital oder die ganz persönliche Investition nennen, die ein guter Heiler einsetzt, um aus dem Leid zu befreien.
Begegnung heilt Begegnung ist einerseits die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung und andererseits die Wirkung zweier voneinander unabhängiger Personen auf einander. Die gegenseitige Anregung und Herausforderung schafft bei beiden etwas Neues; es ist ein Geben und Nehmen auf der Ebene existentieller Betroffenheit. Martin Buber hat den Begriff der Begegnung im pädagogischen Bereich wesentlich geprägt. Für ihn ist die pädagogische Begegnung, die Ich - Du Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, Grundlage pädagogischer Einwirkung. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung," so Buber wörtlich, ..... der andere muss nur in seiner Potentialität erschlossen werden und zwar im Wesentlichen nicht durch Belehrung, sondern durch Begegnung, durch existentielle Kommunikation zwischen einem Seienden und einem Werden Könnenden (5). Die Kunst erfordert den ganzen Menschen( ars requirit totum hominem ) war ein Grundsatz der mittelalterlichen Alchemie. Gemeint ist die Wandlung des Alchemisten selbst. Es geht um das Heilwerden als das letzte, kostbarste aber nur schwer zu erreichende Ziel, welches den ganzen Einsatz, alle Aufmerksamkeit und alle Kräfte erfordert; diesen vollen Einsatz hat Jesus gemeint, als er den Glauben der Bittsteller gelobt hat. Es sei verwiesen auf die Heilung des Gelähmten in Kapharnaum(Mk2,1-12),der blutflüssigen Frau(Lk 8,40-56),des blinden Bartimäus(Mk 10, 46-52).
Heilung erfordert den ganzen Einsatz des Heilers und den ganzen Einsatz des Leidenden.
2.Wie war das mit Jesus?
Die Geschichte Jesu als Heiler beginnt mit der Vision bei der Taufe, dem Rückzug Jesu in die Wüste, seinem Fasten, seiner Auseinandersetzung mit dem Teufel, seinem Aufenthalt bei den wilden Tieren und den Umgang mit den Engeln (Mk 1, 9-13; Mt 3, 13; 4, 11; Lk 4, 1-13). Hier dürfen wir die Quelle der Kraft suchen, die Jesus beseelt hat. Dies wird bestätigt, dass er sich immer wieder in die Einsamkeit zurückzieht, um dort zu beten (Mk 1, 35) und dass er von dort mit Kraft aufgeladen zu den Menschen zurückkehrt (Lk 6, 12-19).
Dass „er den Himmel sich öffnen sieht" (Mk 1,10) " dürfte mehr sein als eine symbolhafte Darstellung der engen Vertrautheit mit Gott. Es gibt Einbrüche in ein Menschenleben, die beglückend und schmerzlich zugleich sind, die einer, der sie nicht hatte, nicht nachvollziehen kann. In der Sprache der Tiefenpsychologie würde es lauten: Das Unbewusste öffnet sich. Damit beginnt aber etwas völlig Neues in einem Menschenleben. Die Faszination der Seele kann einen Menschen in den Bann schlagen. Es ist eine Umkehr von außen nach innen, man wird vom vom Bisherigen, d.h. von den bisherigen vorstellungen, was gut und wichtig ist, von den eigenen angehörigen, von den Freunden und Bekannten, von der Heimat, in der ,an aufgewachsen war, weggerissen.. Auf dieser Linie liegt der Satz „Sofort trieb ihn der Geist in die Wüste" (Mk 1, 13). Das klingt nicht nach trauter Zwiesprache mit dem Vater, sondern nach Gewalt, die ihm von innen her angetan wird. Es ist eine falsche Spur zu meinen, Jesus hätte, weil er Sohn Gottes war, immer nur Harmonie in sich gespürt. Es ist sogar wahrscheinlich, dass er den Gegensatz von Menschlichem und Göttlichem in sich selbst nicht erst am Ölberg und am Kreuz sondern am Anfang seiner bewussten Sendung in aller Schärfe durchleiden musste. Die Erfahrung von Transzendenz kann so überwältigend sein, dass es einen Menschen fast zerreißt. Dazu bieten die Propheten des jüdischen Volkes, in deren Reihe sich Jesus stellt, und die Heiligen der Kirche anschauliche Beispiele. Als Jesaja im Tempel Jahve sieht, schreit er auf: „Weh mir, ich bin verloren (Jes 6, 5). Dann aber brennt ihm ein Engel mit einer glühenden Kohle den Mund aus. Das Feuer erlebt auch Jeremia mit seinem Auftrag, der ihm nur Spott und Hohn einbringt. „Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Innern. Ich quälte mich, es auszuhalten und konnte doch nicht" (Jer 20, 9). Jeremia steht für viele, denen eine Gotteserfahrung widerfuhr und die davon nicht mehr los kamen. Man denke an das zerfurchte Gesicht eines Klaus von der Flühe, der alles andere lieber getan hätte als seine Familie zu verlassen, wäre nicht dieses Feuer in ihm gewesen. Auch an den Philosophen Blaise Pascal sei erinnert, der auf einem sorgsam gehüteten Blatt Papier, dem Mémorial nur mit ein paar aneinandergereihten Worten sein Erlebnis mit Gott schildert. Es beginnt mit „Feuer" (6). Es ist der Versuch, etwas auszudrücken, was man nicht in Worte fassen kann, ein Ereignis, das einen so unmittelbar erfasst, wie wenn man in sich ein Feuer trüge oder mitten im Feuer säße. Heranzuziehen wäre auch das Wort Jesu, das nicht zu den kanonischen Schriften gehört: „Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe" (7). Jesus sieht sogar seine Aufgabe, „Feuer auf die Erde zu bringen" (Lk 12, 49).
Das Reden vom Feuer bedeutet, einen schmerzvollen Prozess durchmachen mit letzter Herausforderung der eigenen Existenz. Der innere Aufbruch ist ein Bruch, der Wunden zurücklässt. Dazu auch das Beispiel des Propheten Elia: Er begegnet Gott nicht im Sturm, nicht im Erdbeben und nicht im Feuer; sondern Gott ist im sanften, leisen Säuseln (1 Kön 19, 11). Es wäre aber ein Missverständnis zu meinen, die vorausgehenden Elemente könnte man, seitdem es das Evangelium gibt, vergessen. Wer Gott begegnet, muss mit Sturm, Erdbeben und Feuer rechnen. Das Leben sorgt meist dafür, dass ein Erdbeben den Grund der Seele erschüttert und dass man wie durch ein Feuer gehen muss. Erst dann gewinnt das Reden von Gott, der im sanften, leisen Säuseln ist, Kraft. Nimmt man die menschliche Seite Jesu ernst, darf man annehmen, dass er mit der Vision bei der Taufe zuinnerst erschüttert, aufgewühlt und aus der Bahn seiner bisherigen Lebenswelt geworfen wurde. Er wurde hinausgetrieben nicht nur in eine andere Landschaft, sondern er wurde hinauskatapultiert aus dem bisherigen Rahmen des Denkens der Tradition des Dorfes, des Volkes und dessen religiöser Führer. Nicht umsonst hatte er eine ganz andere Auffassung vom Sabbat und von Frömmigkeit. Wer von Gott in dieser Wucht berührt wird, dem wird ein ganz persönliches Schicksal auferlegt, das ihn seiner Umgebung entfremdet und isoliert. Man denke an das Auftreten Jesu in seiner Heimat (Lk 4, 16-30). In diesem Sinn war Jesus ein Ausgestoßener, noch bevor ihn der Hohe Rat verurteilte. Er wusste, was es heißt, unverstanden, aussätzig, d.h. ausgesetzt, draußen und von den Dämonen der Dunkelheit, der Einsamkeit, der Angst und des Zweifels bedroht zu sein. Der innere Aufbruch ist ein Bruch, der Wunden zurück lässt.
Jesus war ein verwundeter Heiler schon lange, bevor ihn römische Soldaten folterten, sogar noch bevor er an die Öffentlichkeit trat. Bei seiner Taufe öffnete sich nicht nur der Himmel (Mk 1, 10), sondern auch die Hölle; denn wer vom Teufel persönlich geplagt wird, für den tun sich nicht nur die Verlockungen des Lebens sondern auch die Schrecken der Hölle auf. Mit Himmel und Hölle sind intensivste Erfahrungen der Nähe und der Ferne Gottes gemeint, wie sie uns auch von großen Mystikern überliefert sind. Der heilige Ignatius erlebte beides in einer solch verwirrenden Fülle, dass er Kriterien zur Unterscheidung der Geister entwarf. Wer einen Menschen in seinem Prozess begleitet, muss deshalb über Umsicht und Durchblick verfügen, dass er in der Enge der Beziehung nicht in jedes Loch mit hinein tappt; dass er nicht von Gefühlen, die den anderen in Beschlag genommen haben, angesteckt und ebenso überwältigt wird; er muss den dargebotenen Konflikt, biblisch gesprochen den Dämon, in sich schon überwunden haben. Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass Jesus diese Eigenschaften besaß; eine alles überragende Kraft ist das wesentliche Kennzeichen seiner Persönlichkeit. Besonders Markus schildert ihn als den, der die Dämonen herausfordert und ihnen überlegen ist (Vgl. Mk 1,21 - 28, Mk 3,22 - 30). Jesus macht die Tatsache, dass er stärker ist, durch das Gleichnis vom Hausherrn und Einbrecher deutlich. Wenn der Wächter trotz all seiner Rüstung überwältigt wird, zeigt sich, dass der Räuber doch der Stärkere ist. Damit will Jesus sagen: Wenn schon offenkundig ist, dass der Dämon besiegt wurde, sollten die Schriftgelehrten auch zugeben, dass er die Macht hat, und ihn als den Mächtigeren anerkennen (Vgl. Mt 12,29, Mk 3,27, Lk 11, 21 - 22).
3. Die heilenden Begegnungen Jesu
Jesus erfüllt - so viel kann man sagen - jene Forderung Jungs, dass der Psychotherapeut der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner eigenen Persönlichkeit entgegentreten müsse; dass die persönliche Ausstrahlung des Therapeuten die heilende Kraft weckt und dass bei der Heilkunst allein die schöpferische Persönlichkeit des Arztes das Entscheidende ist . Übertragen auf die Situation Jesu und der Menschen, mit denen etwas geschah, bedeutet das: Jesus hat wesentlich durch existentielle Kommunikation auf die Menschen eingewirkt, also nicht nur mit Worten, sondern mit der Tiefe seiner Existenz. Die Worte kamen aus den Wurzeln seines Wesens und haben Menschen in ihrem Sein angesprochen, aufgerüttelt und bewegt. „Und es geschah, als Jesus diese Reden vollendet hatte, da waren die Scharen außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten". (Mt 7,28). So berichtet Matthäus über die Reaktion der Menschen auf die Bergpredigt und bestätigt, dass hier nicht Belehrung (im Sinne einer Wissensvermittlung), sondern Begegnung stattfand. Begegnung ist einerseits die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung und andererseits die Wirkung zweier voneinander unabhängiger Personen auf einander. Die gegenseitige Anregung und Herausforderung schafft bei beiden etwas Neues; es ist ein Geben und Nehmen auf der Ebene existentieller Betroffenheit. Der eine wird buchstäblich von dem getroffen, was den (die) andern bewegt, und in ihm bricht etwas auf, was wieder zurückwirkt. Es geschieht auf einer Basis, auf der wir selbst nicht unmittelbar handeln, sondern eher nur zulassen können. Es ist dann immer die Frage: Was bei dem (der) einen löst was beim (bei der) anderen aus? Innere Ergriffenheit von etwas Großem, Erhabenen und Schönem - wir können auch sagen vom Religiösen - überträgt sich in einer guten Beziehung von selbst, besonders auch vom Redner auf die Zuhörer. Wenden wir das Gesagte auf Jesus und die leidenden und hoffenden Menschen von damals an, dann heißt das: Die innere Befindlichkeit Jesu, die geistige Kraft seiner Persönlichkeit, sowie sein Berührt sein von Gott, sein Heil sein wirkte sich auf die aus, die sich ihm öffneten. Eine personale Begegnung zeichnet sich dadurch aus, dass der eine den anderen an seiner inneren Welt teilhaben lässt. So wie sich für Jesus bei seiner Taufe der Himmel öffnete und er die volle Annahme und Einheit mit Gott erfuhr („Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen" Mk 1,11), so tat sich auch für jeden, der Jesus im Glauben begegnete, der Himmel auf, d.h. das Glück der vollen Bestätigung und Annahme. Denken wir an den Zöllner Zachäus, den Jesus aus seiner Isolierung herausholt. Durch die Freude, die ihm widerfuhr, wurde er total verwandelt. Er konnte auf die Hälfte seines Vermögens verzichten und Betrügereien wieder gut machen. Er war von seiner Habsucht geheilt (Vgl. Lk 19,-20). Jesus hat nicht durch Ermahnung sondern durch Begegnung die Menschen verändert.
4. Der bedingungslose Einsatz Jesu Es lohnt sich genau hinzuschauen, wie Jesus auf die Bitten der Hilfesuchenden reagiert, wie er sich in die Begegnung einbringt. Markus berichtet von der Heilung eines Aussätzigen: „Da kam ein Aussätziger zu ihm, fiel auf die Knie und bat ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Voll Erbarmen streckte er die Hand aus, berührte ihn und sprach zu ihm: Ich will, sei rein!" (Mk 1,40 - 45). In einer anderen Textüberlieferung steht statt „er erbarmte sich" (splangnistheis) „er geriet in Zorn"( orgistheis). Nach einer Regel der Textkritik sollte man die schwierigere Lesart bevorzugen. Drewermann meint, es sei wahrscheinlicher, dass beide Lesarten auf ein und dasselbe hebräische (oder aramäische) Wort zurück gehen, das ursprünglich „wejaham - „er erhitzte sich" lautete. Und er bemerkt dazu: „In jedem Falle wird deutlich, welch einer inneren Anspannung es bedarf, um sich auf eine Wunderheilung einzulassen." (8). Zugleich sollten wir nicht außer Acht lassen, dass das Wort „er berührte ihn" etwas von der bedingungslosen Zuwendung Jesu zum Kranken aussagt. Einen Aussätzigen zu berühren ist mehr als eine wohlwollende Geste; es wird hier eine Barriere durchbrochen, welche von der Angst der Menschen errichtet und einen Kranken seines Menschseins beraubt hat. Berühren bedeutet in diesem Fall, dass eine Art Einheit und Gleichheit des Heilers mit dem Leidenden geschaffen wird. Mit anderen Worten: Jesus ist selbst zum Aussätzigen geworden, d.h. ein Außenseiter und Ausgestoßener, um Ausgestoßene zu retten.
4.Erlösung durch den Tod Jesu - die Kraft des Leidens
Fragen, die heute von skeptischen Christen gestellt werden, lauten: Was soll der grausame Tod eines Mannes vor 2000 Jahren mit mir zu tun haben? Wieso soll sein Leiden mich erlösen? Wie kann der Opfertod Christi uns zur Lebenskraft und Lebensfreude werden? Kann es sein, dass Gott, der Vater, der die Liebe selbst ist, die Grausamkeit an seinem Sohn gewollt hat? Folgende Überlegung kann uns weiterhelfen: Jesus verkündet das Reich Gottes (Vgl. Mk 1,15). Dieses ist zugleich in ihm, er ist es selbst. Weil »Gott anders ist«(9), ist auch er radikal anders, steht er gegen die Meinung der Zeit. Weil er die Wahrheit darstellt in dem, was er sagt, und in dem, wie er es sagt un in den, wie er ist, passt er in kein Klischee, nicht einmal in das eines Gottesmannes und religiösen Führers. Sein tiefstes Wesen ist Gott selbst. Auf diesem Hintergrund ist es berechtigt zu sagen, dass Jesus deswegen sterben muss, weil er voll und ganz zu dem steht, was die Wahrheit seines Lebens ist, und damit in den Zusammenprall der Gegensätze gerät. Das Kreuz stellt den Schnittpunkt der Linien dar, die menschliche Existenz ausmachen und in die sich Jesus hineingestellt hat. Es geht um die vertikale Ebene, wo nur Mensch und Gott wesentlich sind, und um die horizontale, welche das Verhältnis von Mensch zu Mensch und dessen Einbürgerung in diese Welt meint.
Kann Leiden erlösen?
Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, warum das Leiden Jesu erlösen soll. Zunächst einmal: Kann das Leiden als solches einen Sinn haben? Dazu können folgende Erfahrungen aus der Arbeit mit leidenden Menschen weiterhelfen: Wenn der verzweifelte, trauernde Mensch an den tief liegenden Schmerz herankommt und ihn in der mitfühlenden Nähe des Begleiters ausspricht, tritt eine Wende im Befinden ein. Erst das Durchleiden des Schmerzes bringt ihn zum Grunde, in die Mitte seines Wesens. Er wird ruhiger, gefasster, echter, wesentlicher, empfindet Trost und Frieden und kann sich auch mit einem schweren Schicksal, dem Tod eines geliebten Menschen, einer Trennung oder einer Krankheit aussöhnen. Der bewusst zugelassene Schmerz befreit, während der verborgene, abgeschirmte die Depression, die Unzufriedenheit und Zerrissenheit ständig nährt.
Das Durchleiden des Schmerzes ist die große existenzielle Herausforderung und auch der große existenzielle Gewinn. Es ist der Anstoß für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit. »Aus dem Leiden der Seele geht jede geistige Schöpfung hervor«), sagt Jung auf dem Hintergrund seiner langjährigen Praxis und der eigenen Lebensgeschichte. Leiden kann läutern. Wer meint, man müsse das Leiden absichtlich suchen und dürfe sich keine Freude gönnen, um so das Wort Jesu von der Nachfolge, von der Selbstverleugnung und vom Kreuz-Tragen zu erfüllen, unterliegt einem Missverständnis. Vielmehr geht es darum, der Wahrheit, die bisher aus Angst vor Schmerz vermieden wurde, ins Auge zu schauen und an sich heranzulassen. Dies bringt den Fortschritt und den heilenden Effekt, was im therapeutischen Gespräch immer wieder bestätigt wird. Wir müssen uns das Leben nicht noch schwerer machen, als es schon ist. Jesus hat nicht absichtlich, masochistisch das Leiden gewählt, sondern ist mit den letzten Fasern seiner Existenz zur Wahrheit seines Wesens gestanden und dies nicht nur in den geheimen Winkeln auf den Bergen Galiläas, sondern in der Öffentlichkeit in Jerusalem, vor den Vertretern seines Volkes und vor der Besatzungsmacht. Darin vollzog sich seine Hingabe an den Willen des Vaters. Es ist der Anspruch seiner tiefsten Wahrhaftigkeit, die mit dem Willen Gottes zusammenfällt. Darin besteht sein Opfer. Eine Parallele dürfen wir in der Entscheidung Dietrich Bonhoeffers sehen, im Jahr 1939 aus dem sicheren New York nach Deutschland zurückzukehren und sich so in den Brennpunkt des Geschehens zu begeben. Er hat - wie so viele andere - seinen Einsatz für Würde und Freiheit, den er als von Gott gegeben sah, mit seinem Leben bezahlt.
Kann man für andere leiden?
Wie aber sollte uns das Leiden Jesu zugutekommen? Wir bekennen ja: Er hat für uns gelitten, er ist für uns gestorben. Hier kann wieder der heilende Umgang mit leidenden Menschen weiterhelfen. Nur wer selbst schmerzvolle Prozesse durchgestanden hat, kann verständnisvoll und hilfreich auf Menschen in seelischer Not eingehen. Nur so kann er eine Atmosphäre schaffen, in der schmerzliche und immer noch beängstigende Erlebnisse aufgefangen werden und einen Raum des wohltuenden Angenommen seins finden. Psychotherapie greift nicht, noch weniger Seelsorge, wenn man sie als angelernte Technik versteht.
Jeder Therapeut, Erzieher, Priester und Seelsorger ist sein eigenes Instrument. Was er selbst in seiner Lebensgeschichte zu seiner eigenen Reifung durch gelitten hat, kommt denen zugute, mit denen er es zu tun hat. Noch einmal: Erst der verwundete Heiler kann wirksam für die Leidenden werden. Das Kreuz - der archimedische Punkt oder die Mitte der Welt
Übertragen wir nun das Gesagte auf die Erlösung durch das Todesleiden Jesu. Weil Jesus durch seinen Tod auf die andere Seite der Wirklichkeit gegangen ist, weil er eins geworden ist mit Gott, dem letzten Urgrund, hat er als wirkendes Inbild, als innere Dynamik, als Erlebnisfaktor die Macht, allen Menschen diesen Raum zu öffnen. Immer dann, wenn sein Name gläubig ausgesprochen wird, geschieht dies. In dem Bericht des russischen Pilgers heißt es: „ Das Herzensgebet(die beständige Anrufung des Namens Jesu) erfüllte mich mit solcher Wonne, dass ich nicht glaubte, es könne jemanden auf der Welt geben, der glücklicher wäre als ich"(11). Die Kraft Jesu, die dies ermöglicht, kommt aus dem Prozess der Hingabe und des Leidens. Das Kreuz bewusst bejahen bedeutet demnach, in die Mitte seiner Existenz treten und deren Wandlung erfahren. Von Christus wird uns in der Mitte unserer Existenz ein Raum geöffnet, der stärker ist als jeder Druck von außen, jede Angst und Dunkelheit, stärker als die Macht der Triebe, der erworbenen Mechanismen und sogar des Todes.
5. Ganzheit: die Versöhnung der Gegensätze
Das griechische Wort für ganz holos, ebenso das englische whole(ganz) und holy, das deutsche heilig und heil sind von der Wurzel her verwandt. Mit Ganzheit ist die Zusammenführung der Gegensätze zur Harmonie gemeint: Verstand und Gefühl, kritisches Denken und spirituelle Ergriffenheit, Nähe und Freiheit, sprühende Vitalität und klare Ordnung, schöpferisches Tun und das Erleiden des Unveränderlichen, Einfühlungsvermögen und kritisches Urteil, die Fülle des Erlebens erfahren und die Leere aushalten. Inhaltsaspekt einer Aussage und Beziehungsaspekt(Atmosphäre)stimmen überein. Wie Ganzheit konkret aussehen kann, kommt in der Gestalt des hl. Franziskus ganz besonders in seinem Sonnengesang zum Ausdruck. Er ist der Mensch, der Gott, sich selbst, allen Geschöpfen und Menschen zugleich zutiefst nahe ist.
1.C.G.Jung: Erinnerungen, Träume und Gedanken, Zürich 1962,S.139
2. C. G. Jung GW Bd VIII/2, S.653
3. C.G.Jung: Paracelsica, Paracelsus als Arzt Zürich 1942,S.40 ... „ 4.Jung, Erinnerungen,139
5. Martin Buber zit. n. Grete Schaeder, Martin Buber, Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, 153
6. zit. nach Huub Oosterhuis, Ganz nahe ist uns dein Wort, Wien 1969,S.18 7.Origines, In Jeremiam homilia.XX,3.In:Migne,Patr.gr., T. 13,col.532.. 8.Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Olten 1985,114 9. Vgl.John A.T.Robinson, Gott ist anders Honest to God, München 1965
10. C.G.Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, GW Bd XI,Olten 1971 S.358
11. E.Jungclaussen(Hg), Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Freiburg 1976 ,S.115
Weiterführende Literatur: Barz Helmut u a. Heilung und Wandlung: C.G.Jung und die Medizin Zürich 1986
Frick Eckhard, Durch Verwundung heilen, Zur Psychoanalyse des Heilungsarchetyps, Göttingen 1996
Jungclaussen E. (Hg),Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Freiburg 1976
C.G.Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, GW Bd11, Zürich 1973
Kreppold Guido, Jesus-Heiland oder Medizinmann, Regensburg 2000
III
„Den Menschen mit Barmherzigkeit betrachten"
(Sigmund Freud)
Das Gebot Jesu?
Gedanken zu Ehekrise und Trennung
Es gibt Bereiche, wo wir keinen unmittelbaren Einfluß haben, und das sind unsere Gefühle, Stimmungen, Launen, Sympathien und Antipathien und unsere Antriebe.
Wer kann bestimmen, in wen er sich verlieben will? Die Verliebtheit ist etwas, was über zwei Menschen kommt und was sie sich nicht aussuchen können, im besten Fall noch ein Stück weit kontrollieren. In diesem Raum, der in der Tiefenpsychologie das Unbewußte genannt wird, entscheidet sich das Schicksal zweier Menschen, welche die Absicht haben, miteinander ihr Leben zu gestalten.
Die Emotionen als die Kräfte, die uns bewegen, sind unterirdischen Flußläufen vergleichbar. Wenn wir uns dem Lauf des Flusses anver-trauen können, dann sind wir mit uns und der Welt in Harmonie, wenn nicht, dann treten Konflikte auf.
Eine gute, harmonische Ehe entspricht einem tief eingegrabenen Flußbett, wo einmal zwei Ströme zusammengeflossen sind. Die Gefühle haben eine feste Richtung, ein Ausbruch aus dieser Ehe ist kaum denkbar. Aber was ist, wenn zwei Flüsse ihren Lauf erst suchen müssen, wenn sie vielleicht durch Über-schwemmung zusammenkamen und nach Absinken des Wasserstandes getrennte Rinnen einnehmen? Viele Eheleute gehören zwar äußerlich zusammen, aber der emotionale Fluß ist schon längst auseinandergetriftet entgegen allen guten Vorsätzen und allem guten Willen. Wenn die gefühlsmäßige Nähe fehlt, wenn beide nicht mehr Entspannung, Aufgehobensein und Geborgenheit beieinander finden, gibt es ständigen Anlaß zum Streit, ewige Gespannt-heit, Eifersucht und Verdächtigungen; sie kommen einfach nicht zur Ruhe. Damit erhalten auch die Kinder, um deretwillen man oft noch zusammenbleibt, nicht jenen Raum, wo sie ihre emotionale Sicherheit bekämen. Nur so könnten sie selbst einmal richtige Entscheidungen treffen. Die Not einer solchen Ehe schildert eine Frau auf folgende Weise:
„Ich lebe in einer Ehe ohne gemeinsame Sprache, sodaß ich in mir mehr und mehr eine große Sprachlosigkeit feststelle...
Ich weiß noch nicht, was richtig ist: in dieser Ehe zu bleiben oder zu gehen....
Früher war ich furchtbar aggressiv oder deprimiert. (Sie hatte schwere Depressionen, Selbstmordversuch während der Schwanger-schaft mit ihrem dritten Kind).
Ich kann mit diesem mir fremden Mann nicht leben. Es ist nicht nur so, daß er nichts versteht, was in mir vorgeht. Es ist so, daß ich überhaupt nichts mehr für ihn empfinde. Vor allem kann ich körperliche Nähe nicht ausstehen. Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht mit einem Mann leben kann, der innerlich tot ist, er braust auf: immer diese Drohungen, ich solle doch zufrieden sein und dankbar; denn schließlich tue er alles für die Familie.... was auf dem wirtschaftlichen Sektor stimmt!"
Die Frau hatte nach Jahren völliger Gleichgültigkeit das Erwachen der Religiosität und ihrer Persönlichkeit erlebt; ihr Mann steht dem kalt, ja feindlich gegenüber. Ein Beispiel für viele. Wie kam es zu einer solchen unglücklichen Entscheidung?
Als Mädchen hatte sie den um acht Jahren älteren Mann bewundert. Es war daraus eine Bekanntschaft geworden, aus der sie nicht mehr aussteigen konnte. Ihre Umgebung hatte erwartet, daß sie ihn heiratet, und sie hat es trotz Bedenken getan. Wenn man den Spuren dieser unglücklichen Entscheidung nachgeht, zeigt sich folgendes:
Sie war ein braves, schüchternes, fleißiges Kind, besuchte eine Klosterschule und tat alles, was man von ihr verlangte. Sie hatte zu ihrem Vater gar keine Beziehung. „Vater.....was ist das?" fragt sie traurig. Es wird verständlich, daß sie in der Begegnung mit dem Mann eher den Vater suchte als einen gleichrangigen Partner. Es war wie auf einem fahrenden Zug: sie konnte nicht mehr abspringen! Sobald sie nun auch seelisch erwachsen wurde, im Alter von über 40 und aus den Depressionen herauskam, war ihr der Gatte völlig fremd geworden. Als Grund für ihre falsche Entscheidung führt sie an: Wäre ich doch mehr ich selbst gewesen!
Aber dieses Ich-selbst-sein kann sich kein Mensch selbst geben. Sie lehnte sich an die Mutter an, die depressiv alles hingenommen hat und übernahm deren Haltung.
Wieviel Entscheidungsfreiheit besaß dieses Mädchen, nachdem das Gespür für sich selbst nicht entwickelt war? Ganz andere Mächte bestimmten ihr Leben. Gewiß, die Einflüsse kamen von den Eltern, die Kälte und Härte des Vaters, die depressive Art der Mutter. Aber wieweit ist diese Einstellung wiederum Ergbnis von dem, was diese selbst zu Hause erfahren hatten? Gerade in dem Bereich, in dem über Glück und Unglück, Sinn und Sinnlosigkeit entschieden wird, herrschen Mächte und Gewalten über unser Leben.
Bei den Griechen und Römern sprach man von den Göttern, in der Tiefenpsychologie spricht man von den Archetypen des kollektiven Unbewußten. Das Ich wird wie ein Boot auf den Wellen des Ozeans des Unbewußten geschaukelt. Das Tragische im Menschenleben besteht darin, daß unser kleines Ich im wesentlichen nicht zu viel vermag, vielmehr von den Konstellationen und Vorgängen des Unbewußten abhängig ist. Gerade in einer so engen Lebensgemeinschaft wie der Ehe und der Familie sind die Wirkungskräfte des Unbewußten entscheidend am Gelingen oder Mißlingen beteiligt.
Sigmund Freud sagte, man soll den Menschen mit Barmherzigkeit betrachten.
Das heißt nicht, daß man sich einfach seinen Launen überlassen darf. Die therapeutische Arbeit zielt vielmehr daraufhin ab, das Ich so zu stärken, daß es immer mehr Verantwortung übernehmen kann.
Ich habe mich in dir getäuscht
Viele Frauen, die in einer Ehekrise stecken, sagen: Ich habe mich in meinem Mann furchtbar getäuscht. Vor unserer Heirat und zu Beginn unserer Ehe war er so liebenswürdig, so fürsorglich. Ich konnte mich auf ihn verlassen. Aber dann wurde er zum furchtbaren Tyrannen, der nur seinen Willen gelten läßt. Mein Mann ist heute nicht der, den ich geheiratet habe. Ähnlich klagt ein Mann über seine Frau, sie sei gefühlskalt, eigensinnig - ganz anders als früher.
Gewiß, Menschen können sich verändern im Laufe der Jahre. Meistens aber hat sich nicht der andere verändert, sondern man war einer Illusion erlegen. Freud nennt eine solche Illusion vom geliebten Menschen Übertragungsliebe. Übertragung in der Psychoanalyse meint, daß Erfahrungen der frühen Kindheit auf den Menschen, mit dem ich im engen Kontakt stehe, übertragen werden und damit alle Reaktionsmuster, alle Erwartungen und alle Ängste.
Wenn der andere zur Projektionsfläche kindlicher Übertragungen wird, fällt ein erwachsener Mensch in bestimmter Hinsicht auf der Stufe eines Kindes zurück. Dies zeigt sich im kindischen Verhalten; wie die Ängste eines Kindes, verlassen zu werden, Todesängste sind, so ist es auch bei mancher Eifersuchts-szene bis hin zu erpresserischen Drohungen. Der Geliebte muß so sein wie man es vom Vater oder der Mutter erwartet.
Wie ist es aber, wenn die eigenen Eltern gar nie so waren? Im Unterschied zu Freud, der meint, daß ein Mensch alles in seiner eigenen Lebensgeschichte gelernt hat, kommt Jung zu der Überzeugung, daß in jedem Menschen die Vorstellungen von Vater und Mutter bereits angelegt sind, ähnlich wie die angeborenen aus-lösenden Mechanismen verschiedener Vogel-arten, ihr Nest zu bauen. Jung nennt diese Vorstellung Eltern-Imago, also Eltern-Bild. Der eine Partner sucht beim andern die Wärme, den Schutz, die Sicherheit, die ihm nur der Vater bzw. die Mutter geben kann bzw. hätte geben können.
Je weniger die Erwartungen in der Kindheit erfüllt wurden, desto höher sind sie jetzt, und desto größer ist das Ausmaß der Illusion. Man stülpt dem andern eine Sicht der Persönlichkeit über, die er gar nicht ist. Dies ist ein ständiger Anlaß zu Enttäuschungen. Eine Form der Übertragungsliebe wird in dem Märchen "Das Mädchen ohne Hände" dargestellt.ÿ
Ein Mädchen wird von ihrem Vater dem Teufel geopfert, indem er ihr die Hände abschlägt. Als sie schließlich den Königssohn heiratet, vertauscht der Teufel, d.h. die negative Seite der Vater-Imago, immer die Botschaften zwischen ihr und dem König. Jede gute Absicht, jede Bemühung des Königs um seine Gemahlin wird ins Gegenteil verkehrt. So ist es, wenn eine Ehe unter dem Aspekt der Übertra-gungsliebe geschlossen wurde. Erwartung und Erfüllung kommen nie zusammen und sind ständige Ursachen für Gereiztheit und Konflikte.
Kennzeichen der Übertragungsliebe ist also eine emotionale Unreife bzw. eine Unbewußtheit im Gefühlsbereich, die selbst durch eine akade-mische Ausbildung nicht verhindert wird. Dies schließt ein, daß alle guten Absichten in ihr Gegenteil verkehrt werden; daß entweder ein Partner auf den andern reagiert wie ein Vater oder eine Mutter auf das Kind, den Partner nur in seiner Hilfsbedürftigkeit sieht und sich dabei maßlos überfordert oder daß der andere ein solches Verhalten ständig erwartet.
Solange die Übertragung fortbesteht, können sich zwei Menschen nicht als erwachsene, freie, von Angst befreite Partner lieben. Die Arbeit der Psychoanalyse bzw. der Eheberatung ist, die Partner aus der neurotischen Situation herauszuholen, d.h. die Übertragungen abzu-lösen. Jedoch in vielen Fällen, vor allem, wenn nur ein Partner bereit ist, mitzumachen, bleibt von der gegenseitige Liebe nichts mehr übrig.
Das Unglück einer zerbrochenen Ehe kann aber auch zu einem wichtigen Schritt der inneren Reifung werden, einfach deshalb, weil die Not dazu zwingt, die Problematik des eigenen Lebens anzuschauen und zu bearbeiten. Ein Mensch kommt dann erst zum Frieden mit sich selbst und mit Gott, wenn er auch diesen Teil seines Lebens als zu ihm gehörend annehmen kann.
Das Gebot Jesu
Viele gläubige Menschen leben heute in einer kirchlich ungültigen Ehe, obwohl ihre Beziehung dauerhaft und fest ist und ihr Ehewille durchaus dem entspricht, was im Kirchenrecht gefordert ist. Die Auffassung der Kirche ist nach wie vor die, daß es keine neue gültige Verbindung geben kann, solang das Band der ersten Ehe fortbesteht. Eine Auflösung gibt es nur durch Tod oder durch Annulierung, d.h. durch Ungültigkeitserklärung. Grundlage dafür ist das Wort Jesu in der Bergpredigt:
„Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entläßt - auch der Unzuchtsgrund gilt nicht - gibt Anlaß, daß sie zum Ehebruch verführt wird, und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch" (Matthäus 5,32).
Das Wort Jesu kann man nicht aufheben, aber man kann dazu folgende Überlegung anstellen:
Das Gebot Jesu von der Unauflöslichkeit der Ehe, ebenso die anderen Gebote der Bergpredigt sind zunächst im Raum des Urchristentums zu verstehen. Die ersten Christen waren von einer gewaltigen spirituellen Kraft erfüllt, durch welche die emotionalen Schwierigkeiten überwunden wurden. Das heißt, durch die Kraft des Geistes war es auch möglich, die Gebote Jesu zu erfüllen. Man könnte auch sagen, die Bergpredigt ist die ethische Norm von Erleuchteten. Sie setzt Menschen voraus, die als Erwachsene zum Glauben an Jesus gefunden haben.
Die Schritte zum Glauben waren aber zugleich gewaltige Schritte zur Reifung und Selbst-findung. Darin war die Ablösung von den Eltern als Form der wesentlichen Fremdbestimmung eingeschlossen. Die Nachfolge Jesu, der Eintritt in eine christliche Gemeinde mußte meist gegen den Willen der Verwandtschaft erkämpft werden. „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Weib und Kind, Brüder und Schwester, ja selbst sein eigenes Leben haßt, so kann er mein Jünger nicht sein" (Lukas 14, 25-27).
Wenn diese Worte als Schritte zur Selbstfindung im Glauben verstanden werden, so waren sie die Voraussetzung, unter welcher die Unauflöslichkeit der Ehe möglich war. Weil der Glaubensweg Erwachsener mit der Taufe abgeschlossen wurde, so wurde die Unauflöslichkeit der Ehe mit ihr verbunden. Nur die Ehe von Getauften war unauflöslich; anders war es, wenn ein heidnischer Ehepartner christlich wurde und sein Gatte im Heidentum bleiben wollte. Paulus gestattete die Freiheit, diesen zu verlassen und auch wieder zu heiraten. Auch heute noch gibt es im Kirchenrecht das Privilegium Paulinum (canones 1143-1150), nach dem die Ehe von zwei Ungetauften aufgelöst werden kann, wenn einer sich taufen läßt und der andere das friedliche Zusammenleben verweigert. Die Schwierigkeit ist heute, daß die Taufe nicht mehr mit dem Glaubens- und Selbst-findungsweg Erwachsener verbunden ist, daß Taufe nicht mehr emotionale und spirituelle Reife voraussetzt, trotzdem aber die rechtliche Konsequenz hat, daß Getaufte keine zweite Ehe bei Lebzeiten des ersten Partners eingehen können.
Andererseits gibt es heute Situationen von Eheleuten, die denen des Apostels Paulus fast bis aufs Haar gleichen. Da ist ein Partner, der zum spirituellen und emotionalen Leben erwacht ist, d.h. der mit 40 zum ersten Mal weiß, was Glaube heißt. Gerade dieser Schritt schafft zwischen den Eheleuten eine Kluft so groß wie damals zwischen einem(r) Neuge-tauften und einem(r) Heiden(in). Von der inneren Verfassung her wären hier die Voraussetzungen für das Paulinische Privileg erfüllt. Gäbe es heute nicht so viele getaufte Heiden, wäre manches einfacher.
Durch den Ausfall des Reifungsweges in Verbindung mit der Taufe wurde aus einem Gebot, das der Liebe dienen sollte, für Ungezählte ein starres, ehernes Gesetz.
Man darf fragen:
War es die Gesinnung und der Wille Jesu, Menschen mit unerfüllbaren Forderungen zu konfrontieren und zu entmutigen? Wollte Jesus die Gebote des Alten Testamentes nur verschärfen?
Es läßt sich auf Schritt und Tritt in den Evangelien absehen, daß Jesus die Not und Schwäche der Menschen, aber auch die Sehnsucht nach Glück ernst nahm. Primär ging es ihm darum, daß sie sich ihm im Glauben öffneten. Und damit wurden sie auch befähigt, sein Gebot zu erfüllen. Die neue Existenzweise, die von den ersten Christen berichtet wird, schloß auch die Neuordnung des Unbewußten und damit die Erlösung der Gefühle mit ein.
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