Die Umkehr, die alle fordern und niemand will

 Berechtigte Forderungen - Unbequeme Stimmen
Die Kirchentreuen werden jedes Jahr zweimal, im Advent und in der Fastenzeit, zur Umkehr aufgefordert. Manche reagieren kritisch, ohne es offen zu sagen: „Haben wir nicht schon genug Mühe und Eifer für den Glauben aufgebracht? Es hat den Anschein, dass ständig die Bekehrung der Bekehrten angemahnt wird. Wir sind doch im Glauben aufgewachsen, an die Praxis gewöhnt, was soll da die große Umkehr, dazu noch jedes Jahr aufs Neue?"
Seit dem Sommer 2018 hat jedoch das Thema der Buße eine ganz neue Aktualität gewonnen. Fast jeden Tag kamen Meldungen von sexuellem Missbrauch an Kindern durch Priester der katholischen Kirche in verschiedenen Ländern, zuletzt die Zahlen aus Deutschland. „Fassungslos, erschüttert und beschämt!" sind die häufigsten Worte, die man in diesen Tagen hörte, nicht nur von offiziellen Vertretern, sondern von ganz einfachen Leuten. Enttäuschung und Bitterkeit, noch mehr Zorn ist zu spüren auf eine Institution, die unnachgiebig an starren Prinzipien festhält, wenn es um das Thema Sexualität geht, den Schein von hohen Idealen hochhält und den eigenen Sumpf verheimlicht. Viele fühlen sich schlichtweg betrogen. Das Thema des Missbrauchs verdunkelt in einem kaum dagewesenen Ausmaß das Bild der Kirche. Zu Recht darf man fragen, woran es liegt, dass sich solches ereignen konnte.
Dabei sitzen nicht nur die Täter auf der Anklagebank, sondern auch die Verantwortlichen in der Leitung, welche die Tat vertuschten und die Täter schützten. Dabei hat die oberste Behörde jeweils nur das getan, was bisher üblich war. Damit gewinnt das Thema der Buße eine ganz neue Dimension.
Sie bestand ja darin, sich an den Normen, welche die Kirche vorgibt, immer wieder neu auszurichten. Nun aber steht das allgemeine Denken der Tradition zur Debatte. Weil es immer so war, hielten es die Verantwortlichen für richtig, dass Straftäter auf diesem Gebiet nur versetzt, aber nicht ihres Amtes enthoben wurden, während Priester, die ihre Liebe in einer Eheschließung offen machen, und kirchliche Angestellte bei gescheiteter Ehe ihre Stelle verlieren. Betroffene und kritisch Denkende, welche die Diskrepanz sahen, hatten keine Chance, mit ihrer Sicht gehört und ernst genommen zu werden.
Es wird verständlich, dass kritische Laien die Kirchenleitung zur Buße auffordern, während bisher die obersten Hirten zur Umkehr mahnten. Nach einem öffentlich gewordenen Finanzskandal eines Bistums fordert ein Leserbrief in der Tageszeitung, die Verantwortlichen sollten wörtlich „Demut und Reue" zeigen. Die Kritiker können sich mit dem Bußprediger Johannes dem Täufer solidarisch fühlen, der den offiziellen Vertretern, den Eifrigen und Strengen der Religion mit dem Feuer des Gerichts droht. Seine Mahnrede ist zeitlos gerade für die als erste bestimmt, welche beruflich mit Religion zu tun haben. Auf dieser Linie liegt auch die Verkündigung Jesu. Der Aufruf des Täufers zum Aufhorchen und Umdenken (Mk 1,15), kommt gerade bei denen am wenigsten an, die sich im Besitz der wahren Lehre, der rechten Auslegung und Bewahrung der heiligsten Güter und der altehrwürdigen und unantastbaren Tradition wähnen. Sie hatten sich eine Bestätigung erwartet, stattdessen hören und sehen sie etwas ganz anderes, das sie nicht einordnen können. Sie haben den Anbruch einer neuen Zeit nicht verstanden
und fühlen sich zu Unrecht angegriffen. Hier lohnt sich ein Blick in die Gegenwart. „Umkehr", im Sinne Johannes des Täufers (Mt 3,1-12) und Jesu selbst dürfen wir als Antwort auf die Veränderungen sehen, die heute überstürzt vor sich gehen. Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass Probleme in der Kirche und in der Gesellschaft auftauchen, zu deren Lösung die herkömmlichen Antworten nicht mehr greifen.
So schwer die kirchliche Verfehlung wiegt, sie darf nicht den Blick verstellen auf die aktuellen Probleme einer beunruhigten, gespaltenen und verwirrten Bevölkerung.
Die lauten Forderungen der einen Richtung sind immer Aufforderung zur Umkehr der anderen Seite. Die Zeitungskommentare fordern sie von den Politikern, die Opposition von der Regierung, die Umweltbewussten von der Wohlstandsgesellschaft. Personen der Öffentlichkeit sind einer ständigen Kritik ausgesetzt. Selbst wenn sie eigenes Versagen zugeben, reagiert man gnadenlos. Man verlangt ein Eingeständnis der Schuld ohne Wenn und Aber; die Reue müsse spürbar sein. Jeder Versuch der Rechtfertigung wird noch mehr zur Belastung. Die Aufregung beruhigt sich erst dann, wenn der Betroffene nach seinem Schuldbekenntnis seinen Rücktritt erklärt, mit den alten Worten ausgedrückt: Wenn er in Sack und Asche Buße tut.
Zur Umkehr rufen schon seit mehr als hundert Jahren Philosophen, Psychologen, Schriftsteller und Künstler auf. Seit der Aufklärung des 18.Jahrhunerts wird die einseitig rationale Einstellung der modernen Zeit von ernsthaft Denkenden, welche etwas von Tiefe und Ganzheit menschlicher Existenz spüren, in Frage gestellt. Der bekannteste Ausspruch Friedrich Nietzsches „Gott ist tot. Wir haben ihn getötet." richtet sich gegen einen Gott der Worthülsen, des banalen Geredes, der Scheinsicherheit, gegen eine Frömmigkeit, die für verengte Vorstellungen und Wünsche, für Politik und Macht in Gott einen zuverlässigen Verbündeten sucht. Würden der „Atheismus" und liberale Geisteserscheinungen der Neuzeit als Kritik am herkömmlichen Glauben ernst genommen, könnten sie sogar zu einem tieferen Verständnis führen. Jedoch werden Schöpfungen aus existentiellem Aufruhr in die Literatur, in die Kunst, in die Theologie oder in die Religionswissenschaft eingeordnet und in diesem Rahmen in der Vorlesung an der Universität oder in Vorträgen der Erwachsenenbildung als interessantes Geistesphänomen dargeboten und somit ihrer Schärfe beraubt. Übersehen wird die Dynamik hinter den Texten, die zum Aufbruch des Lesers anstecken möchte. In der gewohnten Art zu denken, in den Bedürfnissen und Gewohnheiten wird sich nichts ändern. Es bräuchte dazu eine Motivation, welche die Tiefe der Existenz aufwühlt und den einzelnen nicht nur auf der rein akademischen Ebene erreicht. Allerdings müssten auch die Aufrufer beachten, dass man im Blick auf die andern von sich selbst erfolgreich ablenken kann. Hier sollte eine Einsicht des Tiefenpsychologen C. G. Jung berücksichtigt werden: „Die Besserung eines allgemeinen Übels beginnt beim Einzelnen und nur dann, wenn er sich und nicht andere verantwortlich macht."

Warnung vor dem Untergang
Zum dringendsten und notwendigen Aufruf zur Umkehr gibt der aktuelle Klimawandel Anlass. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung bezeichnet der Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner die derzeitige Einstellung zu diesem Thema als „das große Verdrängen" . Dazu zitiert er den Leiter der SZ -Wissenschaftsredaktion Martin Urban: „Die Menschheit rast auf eine unvorstellbare, aber gewisse Katastrophe zu, wenn sie nicht auch das Unvorstellbare bedenkt und daraus die richtigen Konsequenzen zieht." Zum Unvorstellbaren zählen die weitere Zunahme der Wetterextreme, das Schwinden von fruchtbaren Böden, die dadurch verursachten Flüchtlingsströme und viele andere einschlagende Übel, welche den ganz normalen Wohlstand bedrohen. Trotz aller Warnungen steuert die Menschheit mit ruhigem Gewissen auf die Klimakatastrophe zu. Jahrzehnte lang wurde uns das Schlimmste bis hin zum Aussterben der Menschheit vorhergesagt. Es gibt aufgeregte Debatten, Verordnungen zum Klimaschutz, Beschlüsse der Klimakonferenzen, politisches Engagement, viel guten Willen und doch bleiben die Ohnmachtsgefühle; denn die geforderte, grundlegende Veränderung ist nicht eingetreten. Ständig vorgebrachte Mahnungen und Horrorszenarien rütteln nicht mehr auf. Man hat sich daran gewöhnt. Die Tatsachen werden verdrängt wie die Gedanken an Krankheit und Tod. Erst in einer extremen Krise, in der das Unheil unmittelbar zu spüren ist, funktioniert die Verdrängung nicht mehr, erst dann wird Hilfe gesucht. Was die Umwelt anbelangt, kann aber die Einsicht zu spät kommen, weil bestimmte Entwicklungen nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Ein Leserbrief fasst noch einmal zusammen, was den westlichen Lebensstil in Frage stellt, und ruft zum Widerstand auf: „Ist nicht auch Widerstand notwendig dagegen, dass wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen ruinieren? Gegen die Ausbeutung von Rohstoffen in Ländern, wo oft Kinder sie aus den Böden kratzen und deren Bewohner wir dann als Flüchtlinge hier nicht sehen wollen? Gegen Konsum und digitale Überwachung? Gegen die Dominanz des Autos in Gesellschaft, Verkehr und Wirtschaft? Letztlich also gegen die Diktatur des Geldes? Es gibt heute nicht den Diktator, gegen den zu demonstrieren wäre. Vielmehr müssten wir uns selbst in Frage stellen, die wir es immer einfacher, bequemer und billiger haben wollen. Es ist großer Widerstand notwendig, aber in ganz anderer Weise als vor 75 Jahren." Dahinter stehen gesicherte Erkenntnisse und ernsthafte Debatten über die Zukunft auf diesem Erdball. Von unserer Lebensweise müsste Grundlegendes, was als selbstverständlich und berechtigt gilt, verändert werden. Allerdings braucht es dazu eine außergewöhnliche Motivation, welche den Menschen bis in seine
innersten Bedürfnisse und Verhaltensweisen erfasst.
Der Beitrag der Psychotherapie ist insofern von Bedeutung, als sie die Schattenseiten des Daseins betrachtet. Damit wird die Angst gemindert, welche die Ursache der Verdrängung ist. Es werden so auch unbequeme Maßnahmen sowohl politisch wie im ganz persönlichen Leben eher möglich. Allerdings wird die Zeit für lange therapeutische Umerziehung zur Rettung vor der Katastrophe knapp. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren muss umgesteuert werden, so sagen es die Experten. Dahinter stehen gesicherte Erkenntnisse und ernsthafte Debatten über die Zukunft und das Zusammenleben auf diesem Erdball.
Die unbequemen Stimmen erinnern in ihrer Dramatik an die Propheten des israelitischen Volkes. Jeremia spricht die Drohung aus: „So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: Ich bringe Unheil über diesen Ort, dass jedem, der davon hört die Ohren gellen werden" (Jer 19,3). Man hat nicht auf ihn gehört. Das Unheil kam, wie man es sich nicht vorgestellt hatte. Jerusalem wurde zerstört, die Einwohner getötet oder verschleppt. Der Prophet Jona hatte einen Auftrag für die Stadt Ninive, der über Tod und Leben entscheidet. Während er einen Tag lang in der Stadt umher ging, rief er: „Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört". Weiter heißt es: „Und die Leute von Ninive glaubten Gott... Und da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte und er tat es nicht" (Jon3,4-,5, 20).
Die Wahl zwischen Untergang und Überleben kann auch anders ausfallen. Ein Christ darf darin einen Hinweis auf die Grundaussage seines Glaubens sehen. Er darf der Zusage Gottes bedingungslos vertrauen, wenn er den Ernst der Situation begriffen hat.

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aus: Guido Kreppold: Stopp!! die Umkehr, die alle fordern und niemand will. Schlosser.Verlagshaus Kirchheim 2019