Psychotherapie als christlicher Auftrag

Carl Gustav Jung hat schon vor 90 Jahren seine Zuhörer - evangelische Pastoren - damit konfrontiert, dass die Menschen in schweren Lebenskrisen, vor allem bei der Frage nach dem Sinn, lieber zum „Seelenarzt" als zum „Seelsorger" gingen, dessen Antwort sie meist schon wüssten.
So pauschal stimmt dieser Vorwurf nicht mehr. Inzwischen gibt es als Zweig der sog. „Praktischen Theologie" (Pastoral- theologie) die Pastoralpsychologie. Ihr erklärtes Ziel ist es, Studenten der Theologie und praktizierende Seelsorger)innen) für den Umgang mit Menschen in Lebenskrisen zu befähigen, wobei heute zwei Aufgabenfelder vorherrschen: die Seelsorge an den körperlich- Leidenden in den Krankenhäusern und an den psychisch-sozial Leidenden im Lebens- und Ar­beitsalltag.
Nach Karl Frielingsdorfist die Pastoralpsychologie einer­seits zu Recht im Aufwind, wie aus der starken Nachfrage nach pastoralpsychologisch geprägten Fortbildungskursen und nach psychologischen Hilfen zur Identitätsfindung auszubildender und tätiger Seelsorger(innen) hervorgeht. Ebenso wird katholischerseits die Bedeutung der Pastoralpsychologie für die per­sönliche Entwicklung und Reifung der Priester und pastoralen Mitarbeiter(innen) sowohl vom Zweiten Vatikanischen Konzil (vgl. Gaudium et spes, Optatam totius) als auch von den bi­schöflichen Rahmenordnungen für die Priesterbildung und von den Rahmenstatuten für Diakone und Laien im kirchlichen Dienst betont. Andererseits führt die Pastoralpsychologie in der praktischen Ausbildung der künftigen Priester und Seel­sorger ein eher kümmerliches Dasein. Sie wird in der „Studien- und Prüfungsordnung" der Katholischen Theologischen Fakultäten wenig oder gar nicht berücksichtigt. Das Angebot einer pastoralpsychologischen Ausbildung existiert nur an einigen Fakultäten.
Das bedeutet, dass nach wie vor die allergrößte Mehrheit der Seelsorger(innen) nicht die fachliche Befähigung erhält, leidende Menschen kompetent zu begleiten und ihnen auf ihrem Lebens- und Glaubensweg ein Stück weiterzuhelfen. Die Vermutung legt sich nahe, dass bei den für die Ausbildung Verantwortlichen unterschwellig ein tiefes Misstrauen gegen die Pastoralpsychologie sitzt, das man etwa so formulieren kann: Es mag gut und recht sein, einem Leidenden aufmerksam, einfühlend und bejahend zuzuhören,

 


aber wo bleibt die Verkündigung, die Weitergabe der Glaubensinhalte? Was ist mit der heilenden Kraft der Sakramente? Wer vermittelt die Normen? Ist für diese - Krisen und Leben begleitende - Art der Seelsorge der Theologe überhaupt zuständig und eine theologi­sche Ausbildung oder sogar die Priesterweihe erforderlich? Kann ein Priester überhaupt soviel Zeit für ein paar wenige aufbringen, wo doch immer mehr Menschen ihn beanspruchen? Könnte das nicht ebenso gut ein(e) Sozialarbeiter(in) oder Psychologe!in)?
So hat man denn auch, um auf die vielfältige Not eine Antwort zu geben, kirchlicherseits ein Netz von Beratungsstellen eingerichtet (Ehe- und Lebensberatung, Erziehungsberatung,
Telefonseelsorge), wo psychologisch geschulte Fachkräfte eine äußerst wichtige Tätigkeit ausüben. Aber im Hinblick auf die anstehenden Probleme ist der Zweifel berechtigt, ob diese Entscheidung allein glücklich ist bzw. ob dieses Engagement ausreicht; denn viele Lebens- und auch religiöse Krisen reichen bedeutend tiefer als in einigen Auffälligkeiten/Symptomen wie etwa in Depressionen, Beziehungsstörungen, diffusen Schuldgefühlen usw. zum Ausdruck kommt und in einer kurzen Krisenintervention bearbeitet werden kann. Was religiös Suchende und am Leben Leidende zutiefst bewegt und um­treibt, sind Nöte, die Kirchenleitung, Priester, Seelsorger, lehrende und ausbildende Theologen, Religionslehrer angehen, berührt das Leid doch existentiell die Mitte des einzelnen und der christlichen Gemeinschaft.


Man darf an den Auftrag Jesu denken: „Dann rief er seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, die unreinen Geister auszu­treiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen" (Matthäus 10,1) - „Amen, amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater" (Johannes 14,12).
Heute geht es mehr und mehr und für zunehmend mehr Men­schen auch leidvoll um einen radikalen Werteverlust und Wertewandel, um die Suche nach Existenz tragender religiöser Erfahrung und Orientierung gebende spirituelle Tiefe, um Sinn und Lebensbejahung, globaler: um den zukünftigen Men­schen, um die Zukunft der Kirche, sogar um die Zukunft der Menschheit. Der Verdacht scheint berechtigt, daß ein solch umfassender existentieller Fragen- und Problem-Komplex, der hinter den Krisen von Jugendlichen, Eheleuten, allein leben­den Erwachsenen, von Priestern und kirchlichen Mitarbeitern steht, an ausgebildete Fachleute delegiert wird, - weil es, von außen betrachtet, vielleicht so aussieht, als handle es sich „nur" um eine rein psychische Störung des einzelnen, der ge­wiß Schonung, möglicherweise sogar Mitgefühl und Mitleid verdiene, und als sei hier der - im biblischen Sinne - priesterli- che Mensch oder gar der seelsorgerlich Tätige nicht zuständig, da es doch wohl um etwas geht, das zwischen „Patient/Klient" und Therapeut zu behandeln sei. Außerdem wolle man nicht noch in die Versuchung geraten, Selbsterlösungstendenzen zu unterstützen, die Ausdruck und Auswuchs des säkularen mo­dernen Selbstverständnisses seien, fern von Gott und dem von ihm initiierten Erlösungsgeschehen durch Jesus Christus. Diese Art Sorge und Angst wird sich als schlechter Ratgeber er­weisen.
In Wirklichkeit hat jede Not, jedes Problem nicht nur eine individuelle, sondern wesentlich auch eine soziale und eine geistig-transzendente Dimension. Das bedeutet einmal, daß die Formen des Zusammenlebens der Christen wie auch der Stil der Verkündigung nach ihrem möglicherweise belastenden
es ginge eigentlich um Befreiung - oder gar krankmachenden Charakter zu hinterfragen sind. Denn: Emotionaler Notstand erweist sich in erster Linie immer als ein Notstand der Liebe, und damit ist das Christentum in seinem Kern als Gemein­schaft von Glaubenden herausgefordert. Wieviel Zuwendung bekommt ein Mensch in seiner Lebens- und Glaubensge­schichte, oder: Wieviel Härte, Demütigung und Ablehnung muß er hinnehmen, gerade in einem sogenannten christlichen Umfeld, in einer als christlich geltenden Familie oder in einer kirchlichen Gemeinschaft? Die Antworten auf diese Fragen ha­ben meist über Glück und Unglück eines Menschen entschei­dend und prägend mitbestimmt.
Es fällt auf, daß im kirchlichen Raum wenig wirkliches und somit heil-sames Verstehen und Einfühlen lebendig und er­fahrbar ist für Menschen, die in ihrer Ehe oder im geistlichen Beruf schwere Krisen durchzustehen haben oder gescheitert sind; daß sie oft jahrelang mit einem Makel behaftet bleiben.
Häufig läßt sich beobachten, daß die sogenannten „Anorma­len", die zum Psychotherapeuten gehen, weil sie spüren, daß sie der gründlichen Hilfe bedürfen, in engstem Beziehungsge­flecht mit den „Normalen" standen bzw. stehen. Wenn es um die emotionale, um die psychische Dimension des Menschen geht, die der Heilung bedarf, sind es meist die Robusteren mit größerer Abwehr- und Verdrängungskraft, die sich „normal" geben, aber durchaus auch „Störungen" in sich tragen und bei anderen solche verursachen. Andererseits sind jene Menschen, die zu Selbsterfahrungskursen gehen oder sich gar einer Psy­choanalyse unterziehen, keineswegs mehr gestört als viele andere, wohl aber sensibler für innere Vorgänge und bereit, an sich zu arbeiten, weil sie emotional und geistig erwacht sind.
Um ein Beispiel zu nennen: Das Wartezimmer eines Nervenarztes ist überfüllt mit Patienten. Kollegen erzählen, dass er sich einem Leidenden nur drei Minuten widmet und ihn mit starken Tabletten entlässt. In Wirklichkeit bräuchte jeder (bzw. jede - die meisten sind Frauen) mindestens 100 Stunden aufmerksames Zuhören, d. h. emotionale sowie fachkompetente Zuwendung. „Nächstenliebe" versteht man in kirchlichen Kreisen jedoch immer noch fast ausschließlich als eine Form äußerer Zuwendung, sprich: Krankenpflege, Almosen, soziale Gerechtigkeit. Der notwendige Blick für das zunächst Liegende scheint hingegen abhanden gekommen zu sein: ob man einander mag oder nicht, wie man miteinander umgeht. Der Mangel an Sensibilität füreinander und die Unfähig­keit, den emotionalen Bereich zu kultivieren, haben schließlich zu dem beklagten Notstand geführt. Ihn zu beheben ist ein urchristliches Anliegen. Aber ohne die Grundkenntnisse und praktische Anwendung psychotherapeutischer Methoden dürfte das kaum möglich sein.
Anders gesagt: Warum sollten sich - generell - Christen und insbesondere Priester und seelsorglich Tätige nicht um die neuen Möglichkeiten bemühen, die so vielen Menschen aus Verzweiflung, aus Angst und Niedergeschlagenheit zu einem sinnvolleren und erfüllteren Leben und zu einem glück­licheren, d. h. wirklichen Miteinander und Füreinander verhelfen?
Allerdings ist zu beachten, dass mit dem urchristlichen Anliegen des Evangeliums wesentlich ein geistig-transzendenter Raum berührt wird. genügt es für den Auftrag als Priester und seelsorgerlich Tätige(r), therapeutische Erkenntnisse und Fakten theologisch zu deuten? Denn das ge­nuin Christliche ist eher eine Erfahrung und ein Sein, etwas, was über das Sozialbedingte einer Lebensgeschichte weit hin­ausreicht. Das bedeutet: Die Übernahme bewähr­ter psychotherapeutischer Methoden in pastorales Handeln kann den Vollzug exemplarischer Glaubenspraxis und des Gottes-Dienstes (theologisch: martyria und liturgia) in hohem Maß erhellen, aber nicht ersetzen; denn darüber hinaus ist in den christlichen Ursymbolen die geistige Heil- und Sinnkraft des Religiösen vorhanden, nach der heute die Menschen - sei es in der Meditation des Zen oder in esoterischen Praktiken - suchen.
Sie gilt es neu zu entdecken und ihren heilenden Wert für die existentielle Not zu erkennen.20 Deshalb wäre es ange­bracht, mehr darauf zu achten, welche Schätze im - auch kirchlich - Christlichen verborgen sind und gehoben werden könnten. Es wäre gewiß der falsche, weil einseitige Weg, ganz und gar auf Psychotherapie und Selbsterfahrunggruppen zu setzen und den Bereich der Verkündigung und der Liturgie als eines letztgültigen und heilenden Sinnangebots beiseite zu las­sen.
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Plädoyer für eine integrierende Seelsorge
In der dogmatischen Konstitution über die Kirche ist gesagt, es sei der dringende Wunsch der Heiligen Synode, alle Menschen durch die Herrlichkeit Christi, das Licht der Völker, zu er­leuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkün­det (vgl. Markus 16,15). Wörtlich heißt es: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit... Die gegenwärtigen Zeitver­hältnisse geben dieser Aufgabe der Kirche eine besondere Dringlichkeit, daß nämlich alle Menschen, die heute durch vielfältige, soziale, technische und kulturelle Bande enger mit­einander verbunden sind, auch die volle Einheit in Christus er­langen."21
Aufgabe der Kirche ist es, die Menschen zusammenzufüh­ren. Als Ideal dürfen wir jenen Zustand betrachten, der in der Apostelgeschichte mit „ein Herz und eine Seele" (Apostelge­schichte 4,32) umschrieben wird. Nun finden Menschen am ehesten zueinander, wenn sie sich in ihren Grundanliegen und in ihrer gemeinsamen Not verstanden wissen. Deshalb sollte sich das christlich-kirchliche Angebot in Hinblick auf den freien Markt der Therapien und Weltanschauungen als umfas­sendes, Einheit stiftendes Heilungssystem erweisen, indem es dem berechtigten Verlangen nach Selbstfindung, nach Umge­staltung der Person und Entgrenzung des Ich, nach religiöser Urerfahrung und nach emotionaler und geistiger Heimat ent­gegenkommt und überzeugende Antworten bietet. Alles hängt davon ab, ob diese Fragen zuinnerst mit dem Glauben an Chri­stus verbunden werden. Man sollte zur Kenntnis nehmen, daß die religiöse Sehnsucht und Erlebnisfähigkeit Ungezählter tie­fer und inniger ist, als in den Formen der Volksfrömmigkeit praktiziert wird. Viele meiden die Sonntagsmesse deshalb, weil ihnen die Art des Betens und des Redens viel zu schablonen­haft und routiniert erscheint. Wo die Zuhörer jedoch spüren, daß das Gesagte vom Innersten durchlebt ist, fühlen sich auch kritischer Denkende angesprochen.
Widerstände gegen christliche Grundwahrheiten werden dann abgebaut, wenn das Verkündete vom Erleben her nach­vollziehbar und somit der Bezug zur konkreten Wirklichkeit des einzelnen spürbar ist. Eine theologische Aussage, die aus der Erfahrung kommend ihre Worte findet, muß nicht trok- ken und weltfremd klingen, sondern kann so die geeignete Hilfe für die Not des Herzens sein. Hier ist daran zu denken, welche Bedeutung die Taufe für die Christen der ersten Jahr­hunderte hatte, welche Erfahrungen hinter den zu Formeln er­starrten Aussagen standen und ob sie nicht dem entsprechen, was heute viele in „Einweihungswegen", „Erleuchtungserleb­nissen" und „innerer Reise" suchen.
Im Grund ist es das Heilige, wonach sich Menschen sehnen.
Es ist ein unbedingter, unverfügbarer Wert, der höchste Bedeu­tung einnimmt. Und nur das Bedeutende erlöst, sagt Jung, wenn er die Neurose als das Leiden der Seele erklärt, die ihren Sinn nicht gefunden hat. In diesem Zusammenhang weist er auf die Symbole der katholischen Kirche hin. Sie sind für die seelische Gesundheit notwendig, weil sie den Kontakt und den Austausch mit der unbewussten Seele herstellen, deren Struk­tur sie entsprechen. Es ist also sehr viel gegen die geistige und emotionale Not getan, wenn es gelingt, den Symbolen wieder Kraft zu verleihen, bzw. deren Kraft zu erschließen.
Konkret heißt das: Wenn die christliche Liturgie die an ihr Teilnehmenden ganzheitlich ergreift und von ihnen verstan­den wird, bekommen Worte wie „Rettung" und „Erlösung" wieder überzeugende Lebenskraft. Das Heilige als Erfahrung eigener Art heilt von der Wurzel her. Priesterlich Tätige müs­sen deshalb keine Psychotherapeuten im allgemein üblichen Sinne sein, wohl aber sollten sie über das innere Wissen um in­tensivierte und reflektierte Formen menschlicher Begegnung verfügen - was man auch therapeutisches Rüstzeug nennen kann -, so daß sie sich befähigt fühlen können und fähig sind, das Sinn-Angebot des Christlichen denen zu öffnen, die kei­nen Sinn mehr sehen.
Es braucht eine Weise „seel-sorgerlicher" Begegnung, die therapeutisches, heilendes Handeln und spirituelle Erfahrung in die christliche Symbolwelt so integriert, daß eines das an­dere in seiner Wirksamkeit vertieft und ergänzt, somit die Ganzheit des Menschen anspricht und zusammenführt, was zusammengehört: die leiblich-materielle, die geistig-bewußte, die psychisch-emotionale und die seelisch-spirituelle Dimen­sion im Menschen.
Im Bereich einer so intimen zwischenmenschlichen Begeg­nung wie der zwischen Therapeut und Klient wird etwas We­sentliches abgeschnitten, wenn das Problem des Religiösen nicht zugelassen wird. Die Mehrzahl der Psychotherapeuten klammert diesen Bereich aus, was bedeuten kann, daß ein Klient seine religiöse Suche und sogar eine religiöse Urerfah- rung, die ihm unerwartet zustößt, als etwas Nebensächliches oder gar Beschämendes empfindet. C. G. Jung nahm sie jedoch als eigene und eigentliche Frage, hatte damit große Erfolge und entdeckte viele Dinge, die das Christliche beleben und berei­chern könnten. Gewöhnlich ist man der Meinung, daß für die neurotische Störung der Psychotherapeut, für die spirituelle Seite der Priester zuständig sei. Das mag in vielen Fällen richtig sein. Zu bedenken ist jedoch, daß existentielle Offenheit Er­gebnis eines gewachsenen Vertrauens ist und daß man die Frage nach dem Religiösen nicht einfach weiterreichen kann wie ein Krankheitssymptom an den Facharzt.
Entscheidend wird sein, inwieweit seelsorgerlich Tätige die Themen der Selbstfindung, der existentiellen Verunsicherung, des totalen Zweifels am Christlichen, an den Menschen, an Gott, an sich selbst innerlich nachvollziehen, d. h. einen Men­schen darin verstehen können. Ihnen sollte bewußt sein bzw. nicht zur fatalen Selbstverständlichkeit werden, daß christli­che Lebenswahrheiten für die größere Mehrheit der Getauf­ten, selbst für viele Kirchenbesucher hohl geworden sind, nicht mehr die Strahlkraft haben, die sie einmal hatten. Des­halb wäre es sinn-los, unbedacht vor die „liebe Gemeinde" hin­zutreten mit gleichsam fremdsprachlichen und deshalb nichts­sagenden, weil sinn-leeren Begriffen wie Offenbarung, Schuld, Sünde, Gnade und Erlösung.
„Warum soll ich mich durch den Tod Christi erlöst fühlen", ist eine der Fragen, die damals schon an C. G. Jung herangetra­gen wurden. Oder: „Sünde ist relativ." Was für den einen ver­boten ist, betrachtet ein anderer als erlaubt, sogar als sein Lebensglück, gegen das doch ein gütiger Gott nichts einzuwen­den habe. Jung bemerkt dazu, daß für ihn als Psychotherapeu­ten, der sich einer weltanschaulichen Neutralität verpflichtet fühlt, die Reaktion auf solch kritische Punkte wesentlich leich­ter sei als für einen Priester, der die Lehre der Kirche zu vertre­ten habe. Für diesen sei es wesentlich schwieriger zu sagen: Ja, Sie haben recht. Man kann auch so wie Sie denken. Meistens fühle er sich vielmehr verpflichtet, ein klares Bekenntnis für Christus abzulegen und Argumente für die eigene Position anzuführen. Doch die habe der andere schon längst gehört, ohne dass sie ihn überzeugt hätten. Er wird sich wieder einmal enttäuscht zurückziehen und sich mit seinem Problem alleingelassen fühlen.

Ich bin mein eigenes Instrument
Was der leidende Mensch braucht, ist vor allem Verständnis für das, was in ihm vorgeht, und nicht eine äußere Belehrung. Im Verstehen, d. h. in der Fühlungnahme mit der inneren Welt des Zweiflers liegt der Schlüssel, um Menschen heilsam zu begegnen und deren Sorgen und Nöte zu erhellen. Die Ebene der Gefühle ist es, die uns als Menschen wesentlich bestimmt und ohne die keine Veränderung geschehen kann. Aber um einen Menschen bedingungslos zu akzeptieren, der die Fundamente des eigenen Glaubens in Frage stellt, braucht es geistige Weite, spirituelle und emotionale Kraft, die in der theologischen Ausbildung nicht vermittelt werden. Auch pastoralpsychologische Kurse reichen nicht aus, sie zu erwerben. Jene Weite und Kraft wachsen einem nur dann zu, wenn man Fragen, die Menschen heute quälen, am eigenen Leib und in der eigenen Seele durchgelitten und eigenständig durchgedacht hat. Es hängt davon ab, inwieweit deren Suchprozesse auch als die eigenen erkannt und nicht zugunsten des alltäglichen „Seelsorge-,, und „Lehrbetriebs" an den Rand der Wichtigkeiten gerückt werden.
Lebenskrisen sind meist auch Zeiten der Entscheidung. Menschen sind am ehesten für Neues und Heilendes, d. h. gerade für die Botschaft Jesu aufgeschlossen, wenn ihr bisheriges Werte- und Verhaltenssystem zusammenbricht. Wenn man dann das weite Feld der Lebensberatung und ihren existentiel­len Hintergrund, d. h. die maßlose seelische Not und die gefor­derte geistige Neuorientierung allein den Nervenärzten und Psychotherapeuten überlässt, bringt man die Leidenden um den wahren und letztgültigen Trost, der vom Glauben ausgeht. Die pastoral und seelsorgerlich Engagierten nehmen sich zugleich selbst die Bedeutung, die ihnen als Verkünder der Botschaft Jesu in zentralen Fragen unserer Zeit eigentlich zukommt.
In einer säkularisierten Gesellschaft hat kirchliche Pastoral dann eine Chance, wenn sie therapeutisch (= „heilend") ist, d. h., wenn sie dem emotionalen Notstand wirksam entgegentreten kann und eine überzeugende Antwort auf die Sinn frage anzubieten weiß, mit anderen Worten: wenn sie die Sehnsucht Ungezählter nach innerer Einheit, nach existentieller Vertiefung und religiöser Erfahrung, nach Nähe und freier Entfaltung, nach Einheit mit sich und untereinander erfüllt. Sie wird in dem Maß Konturen bekommen, als sie spirituell wirkt, also aus spiritueller Tiefe lebt, und zugleich initiatisch ist, d. h. diese Erfahrung erschließt, ermöglicht, vorbereitet.
Um ihrem vollen Auftrag gerecht zu werden, muss Seelsorge Therapeutisches und Spirituelles so in die vorgegebene Glaubenssubstanz integrieren, dass diese als Quelle von Lebenskraft und Heilung und nicht als Fremdkörper erfahren wird. Es geht darum, Menschen von heute lohnende, verheißungsvolle Wege anzubieten, die es ihnen ermöglichen, dort eine geistige und emotionale Heimat zu finden. Gemeint ist sich erlebnismäßig und rational mit den Wurzeln der christlichen Lebensanschauung und Lebensdeutung zu verbinden. Konkret heißt das, die kirchlichen Feste als die Seele des Jahres zu begreifen, Weihnachten zum Beispiel als die Geburt Gottes in uns selbst zu feiern und aus vollem Herzen „Stille Nacht, Heilige Nacht"singen können.
In diesem Sinn hat kirchliche Pastoral integrierend zu sein, d. h. sie vermag es, Menschen aus den verschiedensten weltanschaulichen Lagern vom Innersten her zusammenzuführen. Es ist leicht einzuse­hen, daß eine solche Vision von Seelsorge zugleich Antwort auf die vielfältige Not der Kirche sein könnte, weil sie u. a. die Isolierung des Priesters und Seelsorgers sowie aller seelsorgerlich wirkenden Frauen und Männer von der Welt von heute überwindet, die Spaltungen mildert und dem Trend der Entchristlichung erfolgreich entgegenwirkt. Damit wäre auch ein wirksames Mittel gegen Depression und Resignation im Raum der Kirche gefunden.
Um es kurz zusammenzufassen: Was Psychomarkt und Esote­rik versuchen, nämlich auf die Not und Sehnsucht der Men­schen eine Antwort zu geben, müßte eine christliche Pastoral erst recht vermögen; denn sie erhebt den Anspruch, die hei­lende und beglückende Botschaft Jesu zu vertreten. Allerdings ist dazu erforderlich, daß sie die psychotherapeutischen Mög­lichkeiten mit der Tiefe des Spirituellen, das Zwischenmensch­liche mit dem Numinosen glaubwürdig verbindet.
Die Frage lautet allerdings: Gibt es diese Seelsorge? Und wel­che Wege führen dorthin? Um auf dem Boden der Realität zu bleiben, werden die weiteren Ausführungen von meiner per­sönlichen Geschichte und meiner seelsorgerlichen Erfahrung als der eines Wandlungsweges in den letzten 20 Jahren han­deln. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es sodann, die wichtig­sten psychotherapeutischen Richtungen in ihrer Beziehung zur christlichen Religion und zur Seelsorge genauer anzu­schauen, vor allem daraufhin, wie eine Brücke zum Glauben geschlagen werden kann. Schließlich soll die Auseinanderset­zung um die Sinnkrise des Westens und die östliche Weisheit einen ihr geziemenden Raum einnehmen, wobei es vor allem darum geht, inwieweit Anregungen aus dem Fernen Osten christliche Wahrheiten neu beleben können. Weiter wird auf­zuzeigen sein, wie der Anschluß an die Kraft der frühen Kir­che, an die Wurzeln der persönlichen und allgemeinen Geschichte über die christliche Symbolwelt gelingen kann